Читать книгу China seit 1978 - Nicola Spakowski - Страница 7

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1 Einleitung

Die Volksrepublik China hat seit 1978 – dem Jahr, das als Beginn der Reformpolitik gilt – beachtliche Erfolge erzielt: Sie hat das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von 156 US-Dollar im Jahr 1978 auf 10.262 US-Dollar im Jahr 2019 gesteigert.1 Gleichzeitig hat sie nach Weltbankberechnungen 850 Mio. Menschen aus der Armut geholt und, gemessen am eigenen, niedrigeren Grenzwert, im Jahr 2020 die absolute Armut sogar ganz beseitigt.2 Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums befinden sich die Dollar-Milliardäre. Hier wies China 2021 mit 1.058 Personen erstmals einen höheren Wert als die USA mit 696 Personen auf.3 Armutsreduktion und Wohlstandsgewinn waren begleitet von einer Reduzierung der Analphabetenrate von 34,5 Prozent im Jahr 1982 auf 2,67 Prozent im Jahr 2020.4 Auch im internationalen Vergleich hat China in seiner Wirtschaftsleistung rasant aufgeholt: Sein Anteil am globalen BIP (US-Dollar) lag 1978 bei 1,74 Prozent und 2019 bei 16,28 Prozent.5 Bereits 2010 hatte China Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft überholt. Dass sich das Land in seiner Wirtschaftsleistung an den ersten Platz vor die USA setzen wird, gilt vielen Analysten als eine Sache von wenigen Jahren. Dabei ging Chinas Wachstum mit einer fundamentalen ökonomischen Umstrukturierung einher. So lag der Anteil des Agrarsektors am BIP 1978 bei 27,7 Prozent, 2019 nur noch bei 7,1 Prozent. Der Anteil des Dienstleistungssektors stieg im selben Zeitraum von 24,6 auf 53,9 Prozent.6 China ist auch längst nicht mehr das Niedriglohnland, das die Welt ausschließlich mit Billigprodukten versorgt: 58 Prozent seiner Exporte entfielen 2019 auf mechanische und elektronische Güter.7 Wachstum und Fortschritt im ökonomischen Bereich trugen schließlich zu einem immer größeren politischen Einfluss Chinas in der Welt bei.

Internationale Beobachter deuten diese Entwicklungen als Zeichen für den »Aufstieg« Chinas – kommen in der Bewertung desselben aber zu einem gespaltenen Urteil. Während die einen Bewunderung für das Wirtschaftswachstum und geradezu Neid auf die hohe Effizienz des chinesischen Systems äußern, finden die anderen nur Verachtung für Menschenrechtsverletzungen und Repression. Dem Lob für die Eigenständigkeit des chinesischen Weges steht die Verurteilung der Abweichung von westlichen Normen gegenüber. Auch die Erwartungen an die zukünftige Entwicklung Chinas könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Im Extremfall wird China als neue Supermacht imaginiert, die einer illiberalen Weltordnung zum Durchbruch verhelfen wird; oder es wird schlichtweg der Kollaps des chinesischen Systems prophezeit. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ihrerseits verschreibt sich der »großen Renaissance der chinesischen Nation« und begeht zentrale Jubiläen der Staats- und Parteigeschichte als Meilensteine auf dem Weg der Verwirklichung des »chinesischen Traums«: 40 Jahre Reform und Öffnung im Jahr 2018, 70 Jahre VR China 2019, 100 Jahre KPCh 2021. Zum hundertjährigen Parteijubiläum im Juli 2021 möchte die chinesische Führung China zu einer »Gesellschaft bescheidenen Wohlstands« gemacht haben. Bis zum Jahr 2049, dem hundertjährigen Jubiläum der Staatsgründung, soll China ein entwickeltes Land sein.

Das vorliegende Buch ist von zwei Anliegen getragen. Zum einen möchte es diesen extremen und vielfach politisierten Einordnungen ein Bild der Heterogenität und Komplexität entgegensetzen, das zu differenzierteren Urteilen zwingt. So verbirgt sich hinter den beeindruckenden aggregierten Werten für die nationale Entwicklung Chinas ein drastisches Entwicklungs- und Wohlstandsgefälle zwischen den Küstenprovinzen und dem Hinterland sowie zwischen Städten und ländlichen Regionen. Der Unterschied zwischen Stadt und Land entscheidet sogar maßgeblich über die soziale Situation und die Aufstiegschancen des Einzelnen. Vorstellungen von einem in seinen ökonomischen oder politischen Strukturen spezifischen chinesischen »Modell« blenden Variationen und komplexe Beziehungsgefüge innerhalb des Landes und auch die Interdependenz zwischen China und dem Ausland aus. So weist China eine Vielzahl regionaler, wenn nicht sogar lokaler Entwicklungsmodelle auf. Die KPCh hält sich nicht allein durch Repression, Zwang und Kontrolle an der Macht, sondern über diverse Instrumente der Kooperation mit der Gesellschaft. Außerdem ist das Land über Handel, Investitionen und Lieferketten eng mit anderen Ländern verflochten. Hierfür ist die Interdependenz zwischen China und Deutschland ein gutes Beispiel: China ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands mit einem Volumen von 212,1 Mrd. Euro – selbst im Corona-Jahr 2020.8 Deutsche Automobilkonzerne bezeichnen China sogar als ihren »zweiten Heimatmarkt«, was mit der Bilanz des VW-Konzerns gut veranschaulicht werden kann: Bei diesem betrug 2019 der Anteil der in China verkauften Pkw 38,6 Prozent.9 Schon dieses einzige Beispiel von Verflechtung legt nahe, dass wir, wenn wir schon von einem »Aufstieg« Chinas sprechen, uns selbst als Teil dieses »Aufstiegs« begreifen müssen. Allein über China als Absatzmarkt deutscher Autos profitieren wir von einem Regime, das eine zahlungskräftige, autoaffine Mittelschicht geschaffen und an sich gebunden hat. Dass Volkswagen auch in Xinjiang ein Werk unterhält, spitzt das moralische Dilemma der ökonomischen Kooperation mit China nur noch zu. Im Übrigen ist eine dichotomische Gegenüberstellung von einem autoritären China und einem liberalen Westen allein deshalb verfehlt, weil auch »der Westen« weder durch Einmütigkeit der Werte noch durch Geschlossenheit des Handelns gekennzeichnet ist.

Das zweite Anliegen besteht darin, das postmaoistische China nicht mit dem China Xi Jinpings gleichzusetzen. Das vorliegende Buch stellt deshalb keine reine Bestandsaufnahme aktueller Gegebenheiten dar, sondern ist ein Geschichtsbuch, das die Entwicklung Chinas seit 1978 nachzeichnen und Erklärungen für die hohe Dynamik derselben liefern möchte. Das heutige China findet in dieser Darstellung einen prominenten Platz und spielt auch zwangsläufig in das Verständnis vergangener Dekaden hinein. Es ist aber weder das zwingende Resultat der 1978 beschlossenen Abkehr vom Maoismus noch das Ergebnis eines früh beschlossenen Masterplans, an dessen Ende China ein zentraler »player« auf der globalen Bühne sein würde. Genauso wenig ist die Repression, die das China Xi Jinpings auszeichnet, alternativlos, denn Xis Vorgänger haben der Gesellschaft immer wieder größere Freiräume oder gar Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt. Bürgerinnen und Bürger des Landes haben diese vorübergehenden Freiräume genutzt, um sich für ein demokratisches China einzusetzen. Auch diese vorläufig gescheiterten Alternativen waren und sind Teil der gesamtgesellschaftlichen Dynamik und verdienen eine Stimme.

Diese historische Perspektive auf das postmaoistische China wird im ersten, chronologisch strukturierten Teil des Buches eingenommen ( Kap. 2), in dem der Reformprozess als Abfolge wechselnder Führungsgenerationen dargestellt wird, die in spezifischen nationalen und internationalen Kontexten agierten und eine je eigene Programmatik verfolgten. Sie wurden dabei wiederholt von Aktivistinnen und Aktivisten herausgefordert, die versuchten, mehr Mitwirkung zu erkämpfen oder sogar einen Systemwandel herbeizuführen. Die folgenden Kapitel ( Kap. 36) sind systematisch angelegt und umreißen die wesentlichen Kennzeichen von Politik, Wirtschaft, Außenpolitik und Gesellschaft Chinas. Dabei wird auch zu zeigen sein, wie diese vier Bereiche zusammenhängen, konkret: wie ein autoritäres Regime immer neue Wachstumsstrategien verfolgt und hierfür gezielt bestimmte Bevölkerungsgruppen als Produzenten oder Konsumenten mobilisiert. Überschneidungen zwischen chronologischen und systematischen Kapiteln sind nicht zu vermeiden, denn jedes Kapitel soll in sich selbst verständlich sein. Wo ein Punkt nur angerissen werden kann, wird auf umfassendere Ausführungen in einem anderen Kapitel verwiesen.

Schließlich muss noch auf ein grundsätzliches Problem zeithistorischer Darstellungen hingewiesen werden: Wo wird das Ende gesetzt? Und welche Bedeutung hat ein solcher zeitlicher Schnitt für ein Gesamtnarrativ – und seine imaginierte Fortschreibung in die Zukunft? Diese Schwierigkeit besteht besonders in Bezug auf einen äußerst dynamischen Gegenstand wie China und vor dem Hintergrund einer fast schon dramatisch wechselnden Weltlage. Die Arbeit am Manuskript dieses Buches begann Anfang 2017 und endete im März 2021. In diesen Zeitraum fallen die Kodifizierung der Machtkonzentration bei der KPCh und ihrem Vorsitzenden Xi Jinping 2017/18 und die Verstärkung der staatlichen Repression, wie sie sich v. a. in den Randgebieten bemerkbar macht. Es wurden die drastischen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang bekannt. Und Hongkong erregte seit 2019 mit Massenprotesten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit – und mit von Peking erlassenen Gesetzen, die der Hoffnung auf eine Demokratisierung der »Sonderverwaltungszone« ein vorläufiges Ende bereiteten. Global waren die Jahre seit 2017 geprägt von der Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump, der sich mit dem Slogan »America first« von multilateralen Institutionen verabschiedete und China in einen Handelskrieg zwang. Sein Nachfolger Joe Biden kehrt zwar zum Prinzip des Multilateralismus zurück, behält den ökonomischen Protektionismus und den konfrontativen Kurs gegenüber China aber bei. Auf diesen schwang auch die EU-Kommission ein, die China 2019 zum »systemischen Rivalen« erklärte. Die Anfang 2020 ausgebrochene Corona-Pandemie schließlich dürfte sich nicht nur momentan verheerend auf die einzelnen Länder der Welt ausgewirkt haben, sondern globale Kräfteverhältnisse weiter verschieben. Jeder der genannten Aspekte ändert die Perspektive auf China. Dass das vorliegende Buch im März 2021 endet, ist aber eine rein pragmatische Entscheidung und soll keine Aussage über die Zukunft des Landes implizieren. Spekulationen über Chinas Zukunft werden im abschließenden Kapitel des Buches ( Kap. 7) eigens problematisiert.

Dieses Buch ist als Einführung in die Geschichte Chinas seit 1978 gedacht. Es richtet sich an Studienanfängerinnen und -anfänger des Faches Sinologie und an Leserinnen und Leser jenseits der Fachwelt, die an globalen Entwicklungen und speziell an China interessiert sind. Das Buch versteht sich als Sachbuch, das den aktuellen Wissensstand wiedergibt und mit ausgewählten Literaturempfehlungen zu einer Vertiefung der hier präsentierten Einsichten einlädt.10 Es ist gleichzeitig geprägt von meinen eigenen, langjährigen Auseinandersetzungen mit der Geschichte und Gegenwart Chinas, Studien- und Forschungsaufenthalten, Reisen, Begegnungen und Gesprächen im Land selbst. Bei der Recherche für das Manuskript wurde ich unterstützt von meinen studentischen Hilfskräften Joleen Meiners und Ricardo Rudas Meo. Hilfreiche Kommentare zu früheren Fassungen und wichtige Gespräche über einzelne Probleme verdanke ich meinen Kolleginnen und Kollegen Nina Degele, Jennifer Stapornwongkul und René Trappel. Peter Kritzinger und Ronja Schrand vom Kohlhammer Verlag haben den Band kompetent betreut. Allen genannten Personen danke ich sehr herzlich.

Weiterführende Literatur

Fingar, Thomas/Oi, Jean C. (Hg.) 2020: Fateful Decisions, Choices That Will Shape China’s Future, Stanford.

Fischer, Doris/Müller-Hofstede, Christoph (Hg.) 2014, Länderbericht China, Bonn.

Joseph, William A. (Hg.) 2019: Politics in China, An Introduction, 3. Auflage, New York.

Lam, Willy Wo-Lap (Hg.) 2018: Routledge Handbook of the Chinese Communist Party, London und New York.

Rudolph, Jennifer/Szonyi, Michael 2018: The China Questions, Critical Insights into a Rising Power, Cambridge und London.

China seit 1978

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