Читать книгу Ewig Dein. - Nicolas Bjausch - Страница 3
Im Garten.
Оглавление"Marlon? Willst du mit mir den Tatort ansehen?" Die Stimme seiner Mutter drang dumpf durch die geschlossene Tür von Marlons Zimmer.
"Nein", gab Marlon knapp zurück. Er saß am Schreibtisch und bereitete seine Schulsachen vor.
"Ach, komm doch", bat seine Mutter erneut. "Zu zweit ist es doch spannender."
"Nein", wiederholte Marlon und bemühte sich, nicht genervt zu klingen. "Ich muss das Zeug für morgen vorbereiten."
"Na gut", hörte er seine Mutter antworten. Das konnte allerdings noch nicht alles gewesen sein, das wusste Marlon. Tatsächlich dauerte es keine fünf Sekunden, bis seine Mutter hinzufügte: "Falls du es dir überlegst, kannst du ja später noch runterkommen."
"Gut, gut, ich überleg mir's!" rief Marlon. Er schrieb seinen Namen auf das neue Heft. Hinter dem Wort "Klasse" war ein freies Feld zum Eintragen. Marlon malte die "10" sauber hinein. Und wieder ärgerte es ihn. Eigentlich hätte die "11" da hingehört. Morgen war der erste Schultag nach den Sommerferien. Morgen wäre der erste Tag von Marlon in der Oberstufe gewesen. Aber auf dem letzten Zeugnis stand der Vermerk "Klassenziel nicht erreicht". Es hatte sich schon länger abgezeichnet. Aber als Marlon es schwarz auf weiß vor sich stehen hatte, war es eine Katastrophe. Für ihn jedenfalls. Seine Mutter hatte nur tröstende Worte für ihn übrig.
Schon in seiner alten Klasse hatte er es nicht leicht. Wirkliche Freunde hatte er schon seit Jahren nicht mehr, bis auf Robin. Und jetzt waren sie nicht mal mehr in einer Stufe. Marlon würde die zehnte Klasse wiederholen und in eine neue Gruppe von Schülern kommen. Er ahnte, dass sein Ruf als Außenseiter ihm schon längst vorausgeeilt war. Es würde die Hölle werden.
Die laute Spätsommerabendluft wehte durch das geöffnete Fenster in Marlons Zimmer hinein. Es war bereits so dämmerig, dass er seine Schreibtischlampe angeschaltet hatte. Das weiße Licht hätte jede Mücke aus dem Viertel angelockt.
Marlon kannte ein paar Leute aus der Stufe, die bisher unter seiner Stufe gewesen war, vom Sehen. Doch ihm fiel niemand ein, mit dem er je geredet hätte. Aber er war sich sicher, dass sie über ihn geredet hatten. Er gehörte zu der Handvoll Schülern des Schwarzener Gymnasiums, über die alle redeten. Meistens, wenn er über den Schulhof ging, wurde getuschelt, gleich darauf gekichert. Dabei war Marlon nicht auffallend hässlich. Er kleidete sich nicht gerade stylish, sondern ganz normal. Schuld war vor allem seine Mutter. Jeder wusste, dass seine Mutter häufig wie eine Klette an ihm klebte. Sie fuhr ihn morgens mit dem Wagen bis zum Schulhof. Nach der letzten Stunde stand sie schon bereit, um ihn abzuholen. Als er einmal seine Sporttasche zu Hause vergessen hatte, war sie sogar in der großen Pause mit der Tasche in die Schule gekommen und hatte ihn über das Sekretariat ausrufen lassen. In der Stufenfahrt an die Nordsee in der achten Klasse hatte sie sich als freiwilliger Elternteil zur Begleitung gemeldet und Marlon zehn Tage im Kreise seiner Klassenkollegen nicht aus den Augen gelassen. Sie war so... peinlich.
Es klopfte. "Sag mal, willst du nicht doch runterkommen? Das ist der Tatort aus Hamburg, der ist doch immer besonders gut."
"Nein!" rief Marlon energisch. "Ich bereite mich auf morgen vor und gehe dann ist Bett."
Sie nahm die Genervtheit in seiner Stimme wahr. "Ist ja schon gut."
Seine Mutter war nicht immer so gewesen. Vor dem Unfall damals waren sie eine ganz normale Familie gewesen. Als der Geisterfahrer ihnen auf der Autobahn ins Auto gefahren war, nahm Marlons Leben eine böse Wendung. Nachdem sein Vater, der am Steuer gesessen hatte, bei dem Unfall ums Leben gekommen war, hatte seine Mutter sich schlagartig verändert. Die Fürsorge für ihren Sohn verwandelte sich in permanente Sorgen. Seitdem schwebte seine Mutter permanent über ihm. Nur selten war es möglich, dass Marlon Schritte machte, die nicht irgendwie von ihr überwacht wurden.
Marlon erschrak, als sein Handy auf dem Nachttisch zu summen begann. Er stand vom Schreibtisch auf und nahm es. Es war Robin, natürlich. Wer sonst hätte ihn anrufen sollen?
"Hi", sagte Marlon, nachdem er das Gespräch angenommen hatte.
"Na, wie ist es, Alter?" fragte Robin am anderen Ende der Leitung.
"Hm, weiß nicht so genau."
"Hey, wir treffen uns morgen früh vor der ersten Stunde. Und dann in der Pause."
"Ja, ich weiß", gab Marlon skeptisch zurück.
"Ich find's auch scheiße", sagte Robin. "Mit wem soll ich jetzt reden?"
Robin gehörte ebenfalls zu den Außenseitern der Schule. Bei ihm lag die Sache allerdings anders: Robin war ein typischer Computernerd, der stundenlang vor seiner Konsole hocken konnte. Er interessierte sich besonders für Fächer wie Biologie und Physik, war aber auch keine große Leuchte in der Schule. Doch im Gegensatz zu Marlon hatte er die zehnte Klasse geschafft. Irgendwie konnte Marlon verstehen, warum sich die meisten anderen über Robin lustig machten. Aber er war nun einmal der einzige Freund, den Marlon hatte.
"Wir packen das schon irgendwie", sagte Marlon. "Vielleicht gibt's ja in meiner neuen Klasse nicht nur Idioten."
"Hoffentlich", antwortete Robin. "Ich muss mich wieder mit den gleichen Hirnis rumschlagen."
Ein Heft lag auf dem Boden vor dem Schreibtisch. Marlon hob es auf und legte es zu den anderen auf den Tisch. In dem Augenblick hörte er das durchdringende Summen einer Mücke an seinem freien Ohr. "Au je, auch das noch."
"Was'n los?"
"Die Moskitos greifen an", erklärte Marlon. "Ich muss mal das Fenster zumachen, sonst fressen die mich heute Nacht auf."
"Das wäre in der Tat schade", bemerkte Robin.
Marlon fasste nach dem Fenstergriff und wollte das Fenster schließen. Da sah er im Dämmerlicht etwas unten im Garten, an der Pforte zum Garten der Nachbarn.
"Moment mal", sagte Marlon.
Es war eine Person. In heller Kleidung.
"Was, Moment?" fragte Robin.
"Da ist jemand", erwiderte Marlon leise. "Unten im Garten."
"Wer ist da? Ein Einbrecher?"
Marlon verbarg sich an der Seite des Fensters, so dass man ihn von draußen nicht sehen konnte. "Warte mal kurz." Er lugte vorsichtig hinter der Fensterkante hervor. Dann erkannte er das Mädchen. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein. Ihr braunes, gewelltes Haar fiel auf ihren oberen Rücken. Das weiße Kleid, das sie trug, sah merkwürdig aus.
"Ein Mädchen", flüsterte Marlon.
"Hast du dir eine Prostituierte bestellt?" witzelte Robin.
Marlon überging die Bemerkung. "Sie steht an der Pforte, zum Garten von nebenan. Aber auf unserer Seite."
"Wer wohnt denn da drüben?"
"Keine Ahnung, die sind erst kürzlich eingezogen. Wir kennen sie nicht, ihr Eingang geht ja zur anderen Seite raus."
Das Mädchen drehte den Kopf nach oben und blickte zu Marlons Fenster. Und plötzlich, obwohl Marlon dachte, dass sie ihn eigentlich nicht sehen konnte, lächelte sie ihn an.
Marlon erschrak und fuhr zurück hinter die Fensterkante.
"Und?" fragte Robin. "Was ist los?"
"Sie hat mich gesehen", flüsterte Marlon. Er beugte sich wieder ein Stück vor, um noch einmal nach ihr zu sehen.
Aber der Garten war leer. Das Mädchen war verschwunden.