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Herbstzeitlose

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Der Künstler und Theologe Fabian Vogt trifft eine schwere Entscheidung: Nachdem seine Ex-Frau ihm das Kind entzieht, verzichtet er auf einen zermürbenden Rechtsstreit.

Von Fabian Vogt

Du hast die feinen Blütenkelche zuerst entdeckt. Weißt du noch? Unter einer alten Esche mit dunkler Borke, ein Stück abseits vom Weg. Da standen sie mit ihren sechs blass-lilafarbenen Blättern und den leuchtend orangen Stempeln, die so frech emporragten, als hätte jemand ein Feuerwerk im Flug angehalten.

„Komm schnell her!“, hast du gerufen. Und ich bin natürlich sofort zu dir hingelaufen. So, wie ich immer komme, wenn du rufst. Wie könnte ich deinen Wünschen jemals widerstehen?

Du hast am Boden gehockt und ganz sanft mit den Fingerspitzen an die feinen Härchen getippt, die in der spätherbstlichen Sonne glitzerten: „Guck mal, die Blumen! Wie heißen die? Warum blühen die noch?“

Ich wusste weder das eine noch das andere und habe mich dafür ein bisschen geschämt. Aber das passiert mir ja andauernd. Du stellst Fragen, und ich muss zu meiner Schande eingestehen, dass ich sie trotz der vielen Jahre auf Schulbänken und in Hörsälen nicht beantworten kann. Vielleicht, weil dir ganz andere Dinge wichtig sind als mir. Ich ertappe mich dabei, dass ich überlege, ob dein Blick auf die Welt nicht schöner und wahrhaftiger ist als der meine.

Weißt du noch, wie lange wir dort zusammen gesessen haben? Zehn Minuten, eine Viertelstunde? Ich habe keine Ahnung. Mit dir verfliegt die Zeit so schnell. Irgendwann haben wir aus den Blumen ein Spiel gemacht: Wer kann die dunklen Linien auf den Blättern nachziehen, ohne abzusetzen? Ich habe dich gewinnen lassen, weil deine Augen dann immer anfangen zu strahlen wie Scheinwerfer in einem Seerosenteich. Als würdest du gerade in diesem Augenblick das Geschenk des Lebens auspacken. Davon bekomme ich nie genug. Außerdem war mein Verhalten sicher pädagogisch wertvoll. Oder nicht? Ich bin mir unsicher. Und die Fachleute ändern da ja ständig ihre Meinung.

„Dein Lachen, das wie ein gurrender, sprudelnder Wasserfall der Gefühle über mich hinwegbraust, ein unbeschwertes Fest der Laute. Jetzt, in diesem Moment, kann ich es hören.“

Am Schluss hast du mich schelmisch von der Seite angesehen und eine der Blüten abgebrochen. Ich musste dir helfen, sie in das Knopfloch deines weinrotkarierten Hemdes zu stecken, und du hast sie mit stolz geschwellter Brust vor dir hergetragen. Der erfolgreichste General hätte seine Orden nicht eindrucksvoller präsentieren können.

Danach sind wir zur Schaukel auf dem Spielplatz gelaufen, der in dieser launischen Jahreszeit schon ziemlich müde aussah und anfing, sich mit Blättern zuzudecken. Du warst wie immer zehn Schritte vorneweg, und ich habe dir bestimmt fünf Mal hinterhergerufen: „Lass auf keinen Fall los!“

Du hast nur gelacht. Mit diesem Lachen, das wie ein gurrender, sprudelnder Wasserfall der Gefühle über mich hinwegbraust, ein unbeschwertes Fest der Laute. Jetzt, in diesem Moment, kann ich es hören: dieses Lachen, dem keiner etwas entgegensetzen kann, weil es die Vernunft und die Argumente einfach davonjagt. Und noch bevor ich bei dir an dem rostbraunen Gerüst angekommen war, bist du schon mit beiden Beinen in den Himmel geklettert.

Ich werde mich an diesem Anblick wohl niemals sattsehen: die fliegenden Haare, die Unterschenkel, die wie eine fleißige Maschine auf- und niedergehen, und das konzentrierte Gesicht mit dem vor Freude weit geöffneten Mund. An diesem Tag habe ich auch die Blüte an deinem Hemd bewundert, die das Abenteuer des Schaukelns mit einer stoischen Ruhe über sich ergehen ließ, auch wenn es mehrmals so aussah, als würde sie beim nächsten Abschwung ganz gewiss davonsegeln.

Ich habe unten gestanden und dich geneckt. Bin mal links und mal rechts von dir aufgetaucht, habe deine Füße kurz festgehalten oder dich gekitzelt. Und dann haben wir beide angefangen zu kichern, du hoch und spitz, ich tief und verwegen. Es hat uns einfach überrollt. Ein herrliches Versinken in der Fröhlichkeit, Eintauchen in ein Miteinander, das uns der Wirklichkeit entzog, als gäbe es in dieser Welt nur dich und mich.

Plötzlich hast du mit einer Hand losgelassen. Ich weiß bis heute nicht, warum, aber die Schaukel geriet ins Schlingern, du bekamst Angst, dein rechtes Bein blieb am Boden hängen, und du bist vornübergestürzt, mit voller Wucht auf den Ellenbogen.

„Und doch wusste ich sofort, dass ich mir wieder bittere Vorwürfe würde anhören müssen: Mangelnde Aufsichtspflicht, fehlendes Verantwortungsbewusstsein, überhaupt kein Interesse an dem Kind.“

Einen Moment war alles still. Als wäre die Zeit einfach verschwunden. Mehr verwundert als leidend hast du mich vom Boden aus mit großen Pupillen angestarrt. Und erst dann, nach einer halben Ewigkeit, sind die Staudämme in deinen Augen gebrochen und haben dein Gesicht, das plötzlich in tausend Stücke zerbrach, überschwemmt.

Weinend, als müsstest du das Leid der ganzen Welt tragen, hast du in meinem Arm gelegen. Ich war – wie so oft – hilflos, habe dich gestreichelt, dir tröstende Worte ins Ohr geflüstert und geguckt, ob du ernsthaft verletzt bist. Aber außer einer Schramme am Arm war nichts passiert.

Und doch wusste ich sofort, dass ich mir wieder bittere Vorwürfe würde anhören müssen: „Mangelnde Aufsichtspflicht, fehlendes Verantwortungsbewusstsein, überhaupt kein Interesse an dem Kind“ und und und.

Ich hätte am liebsten mitgeheult. Für dich war die kleine Wunde nach einem großen, heißen Kakao aus der Thermoskanne und einer guten Vorlesegeschichte bald nur noch ein aufregendes Abenteuer, aber ich wurde meine Traurigkeit nicht los.

Am Tag darauf hat deine Mutter bei mir angerufen. Ich habe die Nummer auf dem Display gesehen und mich direkt in mir verbarrikadiert. Ich fürchte mich vor ihr. Immer noch. Warum, weiß ich gar nicht. Vielleicht, weil sie inzwischen aller Welt so eindrucksvoll erzählt, dass ich der Teufel in Person sei, dass ich langsam anfange, es selbst zu glauben. Und das kann einen Menschen zerfressen.

Tatsächlich war ihre Stimme kalt und schneidend. Und was sie sagte, klang wie ein Befehl, dem man nicht widersprechen darf. Sie wollte gar nicht diskutieren, sie wollte auch nicht ins Gespräch kommen, sie wollte einfach mitteilen. Das hat sie dann auch getan. Ohne zu zögern.

„Dieses Telefonat gehörte zu den schrecklichsten Erfahrungen, die ich je machen musste.“

Obwohl ich nicht geglaubt hätte, dass sie mir überhaupt noch mehr wehtun kann, ist es ihr gelungen. Möglicherweise täusche ich mich, aber ich hatte den Eindruck, als läge da ein genussvoller, nur mühsam unterdrückter Triumph in ihrer Stimme, als sie ihre Botschaft Wort für Wort durch den Hörer tropfen ließ? Nun: Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Darauf kommt es aber gar nicht an. Ihre Mitteilung war auch so verderblich. Leise sagte sie: „Er will dich nicht mehr sehen!“

Es hat lange gedauert, bis diese Worte bei mir angekommen sind. Deine Mutter sagte mir trocken, dass du mich nicht mehr sehen willst. Und um mir ganz klarzumachen, was das bedeutet, fügte sie noch befriedigt hinzu: „Wir haben doch beschlossen, niemals etwas gegen den Willen des Kleinen zu machen.“

Ach ja! Da warst du gerade vier Jahre alt geworden. Aber das konnte sie schon immer gut: ein Gespräch mit emotionalen Argumenten aushebeln. Ein Bekannter sagte mir kürzlich, dass deine Mutter sich mir in vielen Bereichen unterlegen fühlte. Ich bin da unsicher. Zumindest hat sie sich ein eigenes Waffen­arsenal angeschafft, mit dem sie vortrefflich umzugehen weiß. Sie versteht es, so mit ihrem Gegenüber zu reden, dass der andere sich auf jeden Fall schuldig fühlt, ganz gleich, für welchen Lösungsweg er sich entscheidet. Nein. Vergiss das. Wenn ich eines nicht will, dann, dass wir vor dir aufeinander herumhacken. Trotzdem gehört dieses Telefonat zu den schrecklichsten Erfahrungen, die ich je machen musste.

Sie hat sogar noch einmal mit weichem, leicht vorwurfsvollem Ton hervorgehoben, dass die vorläufige Besuchspause wirklich nur dein Wohlergehen im Sinn habe: „Wenn der Kleine dich im Augenblick nicht treffen will, dann machen wir eben eine Unterbrechung der Besuche. Du willst doch auch, dass es ihm gut geht.“

Natürlich möchte ich, dass es dir gut geht. Natürlich möchte ich nichts tun, was du nicht möchtest, aber darf sie mir daraus so einfach einen Strick drehen? „Gib ihn mir doch bitte mal!“, habe ich interveniert: „Er ist alt genug, mir das selbst zu sagen. Ich wüsste auch gar nicht, welchen Grund er dafür haben sollte. Als ich ihn dir gestern gebracht habe, war er auf der Fahrt unglaublich gut gelaunt und hat von all den herrlichen Ausflügen erzählt, die er mit mir demnächst unternehmen will. Ja, er möchte sogar mit mir in den Urlaub fahren, zu diesem eindrucksvollen Tierpark, in dem ich ihm letztes Jahr die Wildschweine und die Okapis gezeigt habe.“

„Er will dich nicht sprechen.“

„Wie bitte?“

Dann hat sie aufgelegt. Sie muss mir andauernd zeigen, dass sie nun bestimmt, wie lange unsere Gespräche dauern. Kleiner Mann! Bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist! Ich kann es nicht glauben. Verstehst du? Das kann doch nicht sein, dass du mich wirklich nicht mehr sehen willst. Oder will ich es nur nicht glauben? Was hat dir deine Mutter eingeredet, dass du so etwas überhaupt denken konntest? Wenn du es denn jemals gedacht hast.

„Warum, warum – verdammt noch mal – solltest du mich nicht mehr sehen wollen?“

Jetzt, da ich das hier aufschreibe, spüre ich noch deine kleine, verschwitzte Wange an meinem Hals. Du warst nach unserem Spaziergang ein richtig müder Krieger, ein furchtloser Kämpfer, der nacheinander alle Spielgeräte besiegt und sich an der Schaukel sogar eine – inzwischen längst mit Faszination betrachtete und mit einem bunten Pflaster verdeckte – Wunde eingefangen hatte.

„Wir müssen fahren. Die Mama wartet schon!“, habe ich gesagt, als du mit einem riesigen Glas Orangensaft vor mir auf dem langen blauen Sofa ausgestreckt lagst – und auf einmal hast du dich an mich geklammert, als wolltest du mich nie mehr loslassen. Und ich hatte genauso das Bedürfnis, alles Trennende ein für allemal wegzuwischen. Ich erinnere mich, wie sehr mir auffiel, dass du immer noch diesen ganz eigenen Geruch hast, den ich schon interessant fand, als du noch ein Baby warst. Eine Mischung aus Karamell, Sand und Lavendel.

Du hast dich lange an mich gekuschelt, meinen Rücken gestreichelt und mir dann von den Dinosauriern erzählt, die du im Kindergarten gerade kennengelernt hast: Tyrannosaurus Rex, Brontosaurus, Diplodocus, Iguanodon und Triceratops. Ich kannte nur die ersten beiden Gattungen; und selbst die verwechsle ich manchmal. Warum, warum – verdammt noch mal – solltest du mich nicht mehr sehen wollen?

Weißt du, was mich am meisten beschäftigt? Die Frage, wie ich nun auf diese zerbrochenen Jahre schauen soll, voller Groll oder mit Dankbarkeit. Deine Mutter hat sich schon entschieden. Zu schnell, wie ich finde. Für sie war unsere gemeinsame Zeit eine einzige Höllenfahrt. Als die viel zu spät aufgesuchte Paartherapeutin sie fragte, wofür sie denn im Rückblick auf unsere Ehe dankbar sei, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen: „Für nichts!“ Wenn du älter wirst, dann verstehst du vielleicht, wie weh so etwas tut.

Ich möchte mich nicht so kalt und schäbig von dieser Zeit verabschieden. Ich habe sie auch nicht so düster und falsch erlebt. An vielen Stellen habe ich wohl den Luftschlössern mehr Aufmerksamkeit geschenkt als unserer Etagenwohnung, aber meine Freude über das bunte Miteinander, die Reisen, die Erfahrungen und die Sehnsüchte, war genauso ehrlich wie meine Hoffnung.

„Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder an einem Spielplatz vorübergehen werde, ohne dass mir die Tränen kommen.“

Soll ich einfach sagen, dass sie mir, dass wir einander zehn Jahre unseres Lebens geraubt haben, und es dabei belassen? Ich kann das nicht. Und vielleicht ist genau das mein Problem. Dass ich mir jedes Mal inniglich wünsche, dass eine Geschichte gut ausgeht. Das ist nun einmal ein Tick von mir. Ich bin nicht in der Lage, mitten in einem Film den Fernseher abzuschalten, bevor ich nicht weiß, wie alles endet. Ja, selbst wenn ich längst ahne, wie alles ausgeht, fiebere ich mit den Helden solange weiter, bis das Gute gesiegt hat.

Ich wollte so gerne, dass die Geschichte von deiner Mutter und mir gut ausgeht. Vielleicht habe ich mir darum den Abgrund verschwiegen. O nein, ich sage nicht, dass sie allein schuld wäre. So einfach mache ich es mir auf keinen Fall. Ich wollte das Kaputte, den Druck, die Angst und das zunehmende Zerwürfnis nicht sehen. Und nun muss ich entscheiden: Schließe ich mich deiner Mutter an und verfluche alles, was war, oder rette ich etwas von der Schönheit, von der Leidenschaft und der Hingabe? Schneide ich die Vergangenheit weg wie eine faule Stelle an einer Kartoffel, oder finde ich meinen Frieden? Den Frieden damit, dass ich offensichtlich einen falschen Weg gegangen bin.

Kleiner Mann! Ich laufe mindestens einmal pro Woche über unseren Spielplatz. Immer den gleichen Weg, den wir damals zusammen gegangen sind. Und manchmal ist mir dabei, als hätte ich dein Lachen gehört. Dann hebt sich mein Kopf, der es sonst nicht wagt, über den Wegrand hinwegzublicken, und ich schaue hoffnungsvoll die vielen schreienden Kinder an, die sich dort vergnügen. Und wenn ich feststellen muss, dass du doch nicht dabei bist, ist es jedes Mal so, als hätte mir jemand einen Schlag direkt in den Magen versetzt.

Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder an einem Spielplatz vorübergehen werde, ohne dass mir die Tränen kommen. All die Spielgeräte sind für mich eine große Bibliothek der Erinnerungen. Und ich schlage sie auf, um mich daran festzuhalten. Da! Auf so einer rostigen, ehemals knallroten Rutsche bist du schon hinabgesaust, als du noch nicht einmal richtig sitzen konntest. Ein kleines Bündel Mensch mit einer lauten Stimme und zwei vorwitzigen Zähnen im Oberkiefer, die dich wie ein Hase aussehen ließen. Ich glaube kaum, dass du dich daran erinnerst. Aber ich weiß es noch. Und ich werde es nie vergessen. Die Mama hat dich oben hingelegt und losgelassen – ich habe dich unten aufgefangen. Beim ersten Mal konnte ich sehen, wie dir der Schreck in die Glieder gefahren ist und du plötzlich stocksteif wurdest. Doch mit jedem Mal hat sich dein Grinsen den Ohren mehr angenähert. Und als du dann laufen konntest, warst du jedes Mal einem Tobsuchtsanfall nah, wenn einer von uns beiden dir helfen wollte, die steilen Stufen zu erklimmen. „Allein, allein!“, hast du gerufen. Das war eines deiner ersten Worte. Wer hätte damals geahnt, dass ich dich eines Tages allein lassen muss?

An dem Tag, an dem wir die lila Blumen betrachtet haben, wolltest du unbedingt mit mir boxen. Weißt du noch? Im Sandkasten, in dem noch einige vergessene Förmchen lagen, wie Korallen am Meeresgrund. Wie komme ich nur auf ein so romantisches Bild? Eigentlich war es ein dunkelgraues, vom Regen stumpf gewordenes Eckchen auf dem Spielplatz.

„Weißt du, wovor ich Angst habe? Dass du eines Tages sagst, ich hätte nicht um dich gekämpft.“

„Das hier ist unser Ring. Lass uns kämpfen!“, hast du gesagt, dich hingestellt und die kleinen Fäuste weit geschwungen, mit einem eisernen Willen und doch so wenig Kraft. Wenn ich dich jetzt vor mir sehe, denke ich, dass ich genauso bin: Ich will dich endlich wiedersehen, aber ich habe die Kraft nicht mehr. Nein, so darf ich es nicht sagen. Das klingt irgendwie fremd. Mir fehlen wohl die Worte dafür. Wie soll ich es dir nur erklären? Weißt du, wovor ich Angst habe? Dass du eines Tages sagst, ich hätte nicht um dich gekämpft. Wie sollte ich denn? Kann ich gegen deinen erklärten Willen kämpfen? Ich bin so ratlos.

Ich habe alle Energie gebraucht, um die Wut, den Hass und die Verletzung in mir unter Kontrolle zu bekommen. Das ist, als ob man einen übervollen Schrank zumachen will, aus dem andauernd etwas anderes hervorquillt. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich kann auch nicht mehr. Deine Mutter und ich, wir haben zehn Jahre lang gekämpft. Erst nebeneinander und dann gegeneinander, leider nie miteinander. Unsere Ehe war in all den Jahren ein „Ich“ und ein „Du“. Ein wirkliches „Wir“ ist daraus nie geworden. Das Seltsamste daran ist: Seit du da bist, verstehe ich, wie es eigentlich hätte sein müssen. Denn jetzt geht es mir gut, wenn es dir gut geht.

Die Freunde, zu denen deine Mutter den Kontakt nicht abgebrochen hat, sagen mir, dass du das Leben genießt, dass du dich prächtig entwickelst und ein sehr aufgeweckter Junge bist. Sie denken, dass sie mir damit eine Freude machen, aber sie quälen mich. Kann es dir denn gut gehen, wenn ich nicht an deiner Seite bin? Ich erschrecke, wenn ich so etwas denke, weil ich spüre, dass in diesem ganzen Streit nicht nur das Sehen oder Nichtmehrsehen eine Rolle spielt. Es geht auch um mich. Und das bekomme ich nicht so schnell in den Griff.

„Ich habe mir vorgestellt, wie du von Polizisten aus dem Haus deiner Mutter geführt wirst. Weinend, weil du nicht begreifen kannst, was mit dir passiert.“

Eines habe ich noch keinem erzählt, aber dir möchte ich es gerne sagen: Ich bin inzwischen dankbar, dass deine Mutter gegangen ist. Ich fühle mich elend und traurig bei diesem Gedanken, aber er ist trotzdem wahr. Mama hat nicht nur sich, sondern auch mich aus einem sich immer mehr verfestigenden Lügengefängnis befreit. Obwohl! So kann ich das nicht stehen lassen. Dass sie die Mauern gesprengt hat, dafür bin ich ihr dankbar, dass sie nicht versucht hat, es mit mir gemeinsam zu tun, nehme ich ihr wohl mein ganzes Leben lang übel.

Ich war bei einem Anwalt, einem großen Mann, der ein bisschen wie der Räuber Hotzenplotz aussieht. Der sollte mich beraten. Er hat sich in seinem weichen Ledersessel vor einem modernen Kunstdruck lässig nach hinten gelehnt und mir aufmunternd zugenickt: „Machen Sie sich mal keine Sorgen. Das kriegen wir hin. Überhaupt kein Problem. Sie haben ja schließlich alle Rechte.“

Zuerst habe ich mich gefreut, aber dann fing er an, mir die ganze Palette der Möglichkeiten aufzuzeigen: „Sehen Sie: Wenn Ihre Ex-Frau sich nach dem Urteil weiterhin weigert, Ihnen den Umgang zu ermöglichen, dann wird der Junge eben vom Jugendamt oder von der Polizei abgeholt. Zum Glück sind die Richter in unserer Stadt sehr väterfreundlich. Wie gesagt: Das kriegen wir hin.“ Und dann wollte er wohl, dass ich ihm sage, wie froh ich über seine Ermutigungen bin. Aber ich war es nicht.

Ich habe mir vorgestellt, wie du von Polizisten aus dem Haus deiner Mutter geführt wirst. Weinend, weil du nicht begreifen kannst, was mit dir passiert. Eine merkwürdige Scheu ist über mich gekommen, die ich von mir gar nicht kenne. In meiner Fantasie hatte ich dich längst ein Dutzend Mal aus dem Kindergarten entführt und mit auf eine lange Reise nach Indien genommen, wo uns keiner findet. Oder nach Taka-Tuka-Land. Manchmal komme ich vor lauter Verzweiflung auf so seltsame Gedanken. Dabei bin ich sicher, dass es dir in Indien gefallen würde. Da leben die Elefanten mit den kleinen Ohren. Hey, du bist doch einmal unglaublich erschrocken, als dir im Zoo einer von diesen Kerlen eine Karotte mit dem Rüssel aus der Hand zog. Darüber haben wir noch ganz oft gesprochen.

Wenn du mir wieder mal so sehr fehlst, dass ich nicht schlafen kann, dann schmiede ich sogar noch finsterere Pläne. Dann lasse ich deine Mutter von der Mafia entführen und in ein sizilianisches Verließ werfen, aus dem sie erst wieder herausdarf, wenn sie unterschreibt, dass ich dich regelmäßig sehen darf. Und der Obergangster macht ihr sehr deutlich, dass schreckliche Dinge passieren, wenn sie sich nicht daran hält. Und diese Drohung sagt er mit so finsterer Miene, dass sie gehorcht.

„Ein befreundeter Psychoanalytiker sagte mir, ich müsse lernen loszulassen. So ein Idiot!“

Entschuldige, ich schweife ab. Wahrscheinlich ist daran meine Sehnsucht nach dir schuld. Viele meiner Freunde haben mir geraten, dem Vorschlag von Räuber Hotzenplotz zu folgen und um dich zu kämpfen. Sie verstehen nicht, dass ich nicht kann. Ein paar Mal hatte ich schon den Telefonhörer in der Hand, um ihn anzurufen. Aber dann sehe ich immerzu das Polizeiauto vor mir – und ahne, dass das keine Lösung sein kann. Das mit dem Kämpfen muss irgendwann einmal vorbei sein. Dir zuliebe, mir zuliebe, aber auch deiner Mutter zuliebe, der ich bei aller Verletztheit nichts Böses wünsche. Und doch möchte ich schreien, wenn ich begreife, dass ich an deinem Leben keinen Anteil mehr haben soll. Ein befreundeter Psychoanalytiker sagte mir, ich müsse lernen loszulassen. So ein Idiot! Wahrscheinlich hat er Recht, aber wie soll das denn gehen? Was wird aus der Zeit, die wir zusammen hatten?

Neulich habe ich beim Aufräumen hinter der Anrichte die lila Blüte gefunden, ja genau, die Blüte aus deinem Knopfloch. Sie ist einfach getrocknet und sieht noch fast genauso schön aus wie damals. Sie ist ein bisschen älter geworden, aber die Falten stehen ihr gut. Ich nehme an, dass du sie verloren hast, als du im Flur dein buntes Hemd möglichst schnell ausziehen wolltest, um noch das Sandmännchen zu sehen, bevor ich dich zurückbringe. Vielleicht ist sie auch erst später dorthin gekommen. Ich weiß es nicht. Ich habe sie in einen alten Bilderrahmen unter Glas gesteckt. Zu dem Bild, dass dich auf dem Klettergerüst zeigt. Das Bild, das ich im Sommer im Schwimmbad gemacht habe. Du hängst darauf kopfüber nach unten und winkst.

Manchmal stelle ich das Bild weg, weil ich den Anblick nicht ertrage. Es hat so viel von dir – und ich habe so wenig. Außerdem war deine Lust am Klettern einmal Anlass für einen Riesenstreit zwischen deiner Mutter und mir. Sie wollte dich immer vor allem bewahren. Ich wollte, dass du dich Herausforderungen stellst. Du warst von Anfang an ein Klettermax. Sobald du laufen konntest. Und wie oft hatte auch ich Angst um dich, wenn du in schwindelerregenden Höhen herumgeturnt bist.

Erstaunlich: Du wolltest immer ganz nach oben. Das kenne ich. Nur habe ich dabei die Bodenhaftung verloren. Nein, ich habe nicht zu viel gearbeitet, wie deine Mutter gerne behauptet. Ich war mit meinen Gedanken zu oft nicht bei ihr. Diesen Vorwurf hätte sie mir zu Recht machen können. Aber sie redet ja nicht mehr mit mir.

Erst nach ihrem Anruf ist mir klar geworden, dass ihr irgendjemand gesagt haben muss, dass es seit kurzem eine neue Frau in meinem Leben gibt. Oder hast du deiner Mutter davon erzählt? Wie dem auch sei: Offensichtlich hat diese Information sie so sehr getroffen, dass sie meinte, sofort zurückschlagen zu müssen. Wie absurd. Ich habe dir gesagt, dass ich weiß, wie sehr ein Kampf um dich auch ein Kampf um meine eigenen Fragen und Zweifel wäre. Jetzt verstehst du sicher, dass es bei deiner Mutter genauso ist. Obwohl sie mich verlassen hat, gibt sie mir die Schuld an allem und versucht, sich wieder zu finden. Würde ich um dich kämpfen, dann ginge es nur ganz am Rand um dich. Vor allem fände eine erneute Schlacht zwischen deiner Mutter und mir statt. Und das hast du nicht verdient. Wenn ich, um dich zu sehen, deine Mutter besiegen muss, dann will ich das nicht. Schließlich lebst du bei ihr. Ich kann nur beten, dass wir beide, deine Mutter und ich, irgendwann so weit sind, dass wir tatsächlich über dich reden können.

„Eines Tages möchte ich dich wiedersehen, eines Tages werde ich dich wiedersehen. Dieses Leben ohne dich, das kann nicht sein.“

Kleiner Mann! Ich habe nur ein Stück deines Lebens mitbekommen. Das verblüffende Aufwachen eines neuen Wesens, das ganz langsam lernt, dass es ein Mensch ist. Ich habe mit dir gelernt und dabei gespürt, dass ich immer noch dabei bin, mich selbst zu entdecken. Deine Mutter hat mich aus der Verantwortung entlassen. Es ist ihr ein Gräuel, dass ich, der angebliche Zerstörer ihres Lebens, dir etwas mit auf den Weg geben sollte. Dabei möchte ich dir gerade jetzt so viel sagen.

Vielleicht sage ich dir nur eines. Das, was ich lange Jahre weder deiner Mutter noch mir selbst sagen konnte: Pass auf! Man kann in etwas hineinrutschen, das man später Liebe nennt. Ehe man sich versieht, werden aus Küssen Beziehungen, die besser Küsse geblieben wären. Manchmal scheint es so viel einfacher, „Ja“ zu sagen als „Nein“! Gerade dann, wenn man niemandem wehtun will. Man kann sich Liebe denken. So sehr, dass man irgendwann das Nachdenken über die Liebe mit der Liebe selbst verwechselt. Lass nicht zu, dass dir das eines Tages auch passiert. Der Preis für die vermeintliche Wohlanständigkeit ist zu hoch: Lügen sind wie ein Geschwür, das im Inneren wütet und erst Symptome hervorbringt, wenn es groß und mächtig wird.

Hier sitze ich mit meinen Fragen, und vor mir liegen all die Zeitabschnitte, die auf einmal nicht mehr zusammenpassen wollen: die Zeit mit deiner Mutter, die Zeit mit dir, die Zeit nach der Trennung und die neue Zeit, die auf mich wartet. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir wünschen soll, dass es zwischen diesen Lebensphasen klare Trennlinien gibt oder nicht. Im Moment sehe ich sie jedenfalls noch nicht. Alles, was war, hinterlässt Narben.

Sechs Monate haben wir uns nicht mehr gesehen. Und ich schaudere, wenn ich an diese leere Zeit ohne dich denke. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Hast du eine Idee? Ich habe dir immer wieder Postkarten geschrieben und Geschenke geschickt. Aber das reicht mir nicht mehr. Ich will mit dir teilen, was mich bewegt und freut, ich will hören, wie du mit den Buchstaben kämpfst, die Zauberwelt der Zahlen eroberst und den Kindergarten in eine geheimnisvolle Oase verwandelst, in der es noch Tiger und Giraffen gibt. Ich verspreche dir: Ich werde dich niemals aufgeben.

Darum habe ich mich entschieden, dir von nun an Briefe zu schreiben. Dies hier ist mein erster. Du bist sicher noch zu klein, um sie zu begreifen – aber eines Tages wirst du sie neu lesen. Und vielleicht verstehst du dann. Eines Tages möchte ich dich wiedersehen, eines Tages werde ich dich wiedersehen. Dieses Leben ohne dich, das kann nicht sein.

Ich habe mir fest vorgenommen, deiner Mutter nichts Schlechtes zu unterstellen, aber ich werde meine Briefe vervielfältigen. Falls sie dir die Originale nicht gibt, bekommst du irgendwann einmal die Kopien. Spätestens dann, wenn du nach mir fragst. In Gedanken nehme ich dich ganz fest in die Arme.

Dein Vater

PS: Ich habe nachgeschaut und weiß jetzt, wie die Blumen mit den lila Kelchen heißen. Sie haben einen ganz komischen Namen – Herbstzeitlose. Sie blühen dann, wenn alle anderen Pflanzen sich schon auf den Winter vorbereiten. Zwischen September und November. Und eines muss ich dir unbedingt noch sagen: Ich habe dich lieb. Unsagbar lieb!


Fabian Vogt ist evangelischer Pfarrer, Künstler und Schriftsteller. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Oberstedten bei Frankfurt.

Wenn sich der Himmel wieder öffnet

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