Читать книгу Die nackte Zeit - Nicolas Scheerbarth - Страница 2
ОглавлениеI. Kapitel
Mein Name ist Ripold Heinrich Winkel, und ich wurde am 4. August des Jahres 1852 als drittes Kind des Schullehrers Leopold Friedrich Winkel in Friedberg im Großherzogtum Hessen geboren. Nach erfolgreichem Abschluss der höheren Schule ermöglichten mir die Einkünfte und Beziehungen meines Vaters als Heimat- und Naturforscher die Aufnahme eines Studiums der Biologie in Frankfurt am Main. Hier kam ich in Kontakt zu Johannes Freiherr von Hunspach, der sich als Mitglied der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft zu jener Zeit durch mehrere vorzüglich geplante und erfolgreiche naturkundliche Expeditionen einen Namen gemacht hatte. Bald lud er mich ein, an seinen Unternehmungen teilzunehmen. In Folge bereisten wir von 1875 bis 1876 den Nordosten Britisch-Indiens und von 1879 bis 1880 die junge, blühende Kolonie Deutsch-Ostafrika.
Es war nicht lange nach unserer Rückkehr, dass Nachrichten über ein wachsendes Interesse an der Erforschung der Pole nach Frankfurt drangen. Zahlreiche Expeditionen brachen in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts auf, um dem ewigen Eise seine Geheimnisse zu entreißen. Auch Johannes Freiherr von Hunspach zog es in das unbekannte Neuland. So schifften wir uns an einem freundlichen Spätsommertag im September des Jahres 1883 in Bremerhaven ein, um den südlichen Polargebieten unsere Aufwartung zu machen. Frohgemut betrat ich die Planken unseres für die Expedition gecharterten Dampfschiffs, schenkte Stadt und Hafen kaum einen Abschiedsblick - und ahnte nicht, wie lange es dauern sollte, bis ich deutschen Boden wieder sehen oder betreten würde!
Die Expedition verlief zunächst zu unserer größten Zufriedenheit. Das Wetter blieb erträglich, und im südlichen Polarmeere angekommen profitierten wir ab Januar von einem milden Sommer. Nach einem kurzen Besuch der Südlichen Orkneyinseln stießen wir rasch an die Küste vor, von der man zu jener Zeit bereits vermutete, dass sie ein noch unbekanntes, ausgedehntes Festland umgab. Hier nun sollte mich mein Schicksal ereilen. Die Einzelheiten des Unglücks sind mir bis heute verborgen geblieben, doch so viel ist gewiss: Ich stürzte während einer Exkursion in eine Gletscherspalte und verlor das Bewusstsein.
Erst einige Zeit nach meiner Rettung fanden die unglaublichen Hilfsmittel meiner Retter eine mögliche Erklärung, was dabei geschah. Ich schien versucht zu haben, mich mit meinem Eispickel an der Wand festzuhalten, während ich in die Tiefe stürzte. Dabei beschädigte ich die dünne Trennwand einer Gasblase, die dort vielleicht seit zehntausenden von Jahren eingeschlossen gewesen war. Die genaue Art und Herkunft des Gases konnten bislang selbst die Zauberkräfte dessen, was heute als Wissenschaft gilt, nicht mit Sicherheit bestimmen. Die Theorien gehen von den Folgen eines Vulkanausbruchs bis zur Fracht eines Meteoriten aus den fernsten Fernen des Weltalls. Sicher ist allein das Ergebnis: Ich blieb, tiefgekühlt und von dem exotischen Gasgemisch in bester Form konserviert, für sehr, sehr lange Zeit bewusstlos.
***
Die ersten Male, als ich mein Bewusstsein schließlich wiedererlangte, waren wie ein Fiebertraum. Geräusche, Lichter und Stimmen wirbelten um mich wie ein Mahlstrom, und ich kann heute nicht mit gutem Gewissen behaupten, damals bereits erste Erkenntnisse über die Welt gesammelt zu haben, in die mich mein Unglück so unversehens gestoßen hatte. Gewiss bin ich mir jedoch, welches Bild mein erstes wirkliches Erwachen prägte. Es war das Gesicht einer Frau. Freundlich lächelte sie mich an, mit einem angenehmen, wenn auch etwas herben Antlitz, umrahmt von blonden Haaren, so kurz geschnitten, wie ich es nie zuvor bei einer Frau erblickt hatte.
"Guten Morgen, Herr Winkel," sagte sie. Zweifelsohne sprach sie deutsch, doch ihre Aussprache hatte einen eigenartigen, mir unbekannten Akzent.
"Guten Morgen," brachte ich mühsam hervor.
"Oh, Sie spreschen! Das ist gut. Machen Sie sisch nur nischt zu viele Mühe. Sie sind noch sehr, sehr schwach. Aber keine Sorge! Das wird wieder. Sie werden bald ou kee sein!"
"Ou ...?"
"Oh, entschuldigen Sie! Isch meine, in Ordnung! Sie werden sisch bald wieder besser fühlen."
"Besser. Ja. Das ... bin ich ... ich meine ... war ich lange ... dort unten?"
In diesem Moment, und ohne zunächst meine Frage zu beantworten, ergriff sie meine Hand. Diese Geste war es, die meine Aufmerksamkeit zum ersten Mal von dem Gesicht der Frau auf die weiteren Umstände meiner Umgebung lenkte. Zuerst fiel mir auf, dass sie einen weißen Kittel mit eigenartigen Abzeichen an den Kragenspiegeln trug, fast als sei das Kleidungsstück Teil einer militärischen Uniform. Sie musste eine Krankenschwester sein, doch da war manches, das für mich nicht ins Bild passte. Die Haube fehlte, und in dem ungewöhnlich tiefen Ausschnitt blickte ich weit hinab auf sonnengebräunte Haut. Dies waren Freizügigkeiten, die man im Deutschen Reich einer Krankenschwester niemals gestattet hätte.
Doch ich war nicht in Deutschland, soviel stand bereits für mich fest. Meine unmittelbare Umgebung war zwar nur ein einfaches, in hellem, freundlichem Gelbgrün gestrichenes Krankenzimmer, doch schon die wenigen Einzelheiten der Einrichtung, derer ich im ersten Umschauen gewahr wurde, zeigten in Farben und Formen einen so fremdartigen Charakter, das ich unwillkürlich davon ausging, mich in den Händen einer freundlichen, doch bislang unbekannten Nation zu befinden.
Nun sprach die Frau mich an, offenbar bemüht, meiner Frage weder auszuweichen noch sie allzu direkt zu beantworten: "Es war eine ganze Weile. Bitte machen Sie sisch jetzt darüber keine Gedanken! Sie werden alles erfahren, sobald sie sisch etwas kräftiger fühlen."
"Aber ... können Sie ... wo bin ich hier ...", stammelte ich.
"Sie sind in Sischerheit," antwortete die Frau. "Sie sind in einem Krankenhaus. In McMurdo Station. Das ist ein Stützpunkt der Vereinigten Staaten von America. Hier, auf Antarctica."
"Vereinigte Staaten ... oh ... ein Stützpunkt! Haben Sie ... Kontakte zu einer deutschen Expedition? Freiherr von Hunspach ... der Leiter ..."
"Oh, machen Sie sisch keine Sorgen! Wir haben Ihre Leute schon contacted ..."
"Kon ...?"
"Isch meine, informiert. Es kommt jemand aus Neumayer herüber, sobald das Wetter es erlaubt."
"Neumayer?"
"Oh sorry! I forgot! Neumayer ist die deutsche Station. Die kennen Sie sischer noch nicht. Dort sind Ihre Leute."
"Eine Station ... das ist ... neu. Oh Gott! Wie lange ... bitte, ich flehe Sie an: Wie lange war ich dort unten?"
"Oh, es war schon einige Zeit! Doch es wird alles gut! Sie müssen sich erst noch etwas ausruhen. Glauben Sie mir, Sie werden alles erfahren."
"Ja, gut, wie Sie ... wünschen, Schwester!"
Mit strengen Krankenschwestern sollte man sich nie streiten.
"Oh, isch bin keine 'Schwester'! Ich bin Jay Milland, Chief Staff Surgeon der US Navy. In Ihrer Marine wäre das ein Oberstabsarzt."
"Eine Frau?" entfuhr es mir. Im selben Moment noch bedauerte ich die Frage. Immerhin sprach ich offensichtlich mit den Menschen, die mich vor dem sicheren Tod gerettet hatten. Ich musste mir eingestehen, dass ich über die Streitkräfte der Vereinigten Staaten nicht das geringste wusste, und so exzentrisch sie sich auch organisieren mochten, stand mir doch kein Urteil darüber zu. Die Frau, Jay Milland, lächelte jedoch nur.
"Ja, das ist für Sie erstaunlich. Wir wissen das. Aber isch bin die einzige hier, die so gut deutsch sprischt. Meine Mutter ist von Deutschland, und wir haben einige Jahre in Wiesbaden gelebt."
"Oh, Wiesbaden! Dann kennen Sie meine Heimat! Ich bin aus Friedberg."
"Friedberg ... ja ... isch erinnere misch. Eine schöne Stadt. Doch jetzt müssen Sie sisch ausruhen! Sehen Sie das hier?"
Sie hielt mir ein kleines, graues Kästchen aus einem glatten, mir völlig rätselhaften Material vors Gesicht. Darauf war eine Reihe Erhebungen in verschiedenen Farben.
"Wenn Sie diesen roten Knopf drücken, komme isch. Es kann einen Moment dauern, aber isch bin immer für Sie da."
Dann fuhr sie fort, mir die Knöpfe zu erklären, doch ich musste weit erschöpfter sein, als ich angenommen hatte, denn mit dem warmen, ruhigen Klang ihrer Stimme schlief ich ein.
***
Einige Tage später war ich mit den Knöpfen vertraut, die mein Bett wie von Zauberhand veränderten, mein Essen herbei riefen, und vor allem Frau Doktor Milland. Erstaunlich rasch hatte ich mich an den Gedanken einer Frau als Ärztin gewöhnt, auch wenn Ihr Offiziersrang mir noch einiges Kopfzerbrechen bereitete. Dass die Amerikaner sehr unorthodoxe Meinungen hinsichtlich der gebührenden Stellung einer Frau in der Gesellschaft hegten, erschien mir durchaus glaubhaft, doch noch nie hatte man gehört, dass die weiblichen Sanitätskräfte, die es dort seit dem Bürgerkriege gab, selbst militärische Ränge bekleideten, gar die von Offizieren!
Dennoch muss ich gestehen, dass ich mich nicht dazu bringen mochte, die Worte meiner Betreuerin in größerem Umfang anzuzweifeln. Denn nicht nur ihre freundliche Art hatte mich in Bann geschlagen. Auch ihre Erscheinung wirkte auf meine offenbar so lange eingefrorenen Säfte auf eine Art und Weise, die mich unter anderen Umständen schamesrot gemacht hätte.
Übrigens war sie die einzige Frau, die ich bisher in dieser amerikanischen Station zu Gesicht bekommen hatte. Einige Hilfstätigkeiten wurden abwechselnd von zwei Männern erledigt, deren ruhiges, ernstes Auftreten mir den militärischen Hintergrund wahrscheinlicher werden ließ. Sie sprachen nur wenige Worte deutsch und waren folglich wenig mehr als stumme Diener. Die erstaunlichste Erfahrung für mich war, einen der Männer vor meinem weiblichen Arzt regelrecht stramm stehen zu sehen, während sie ihn offenbar wegen einer Nachlässigkeit zurecht wies.
In dieser fremdartigen Traumwelt, in der ich erwacht war, war Frau Doktor Milland für mich also nicht nur der einzige Bezug zu einer vorerst verborgenen Wirklichkeit. Ihre Arbeit brachte es auch mit sich, dass sie mir näher kam als je eine Frau nach meiner Mutter. Sie nahm eigenartige Untersuchungen an mir vor, bei denen sie mich ohne jede Scheu oder Umständlichkeit berührte.
Einmal, als ich nachts brennenden Durst verspürte, mein Wasser leer fand und sie rief, erschien sie ohne ihren Kittel. Ihr Oberkörper war bedeckt von etwas, das wie ein leinernes Hemdchen aussah. Und unter diesem Hemdchen - ich wage es kaum, meine Beobachtung in Worte zu fassen - zeichneten sich deutlich die beiden runden, harten Spitzen eines weiblichen Busens ab, als trüge sie darunter nichts als die blanke Haut!
Während ich als Naturforscher mittlerweile auf den Beginn einer hoffnungsvollen Karriere blicken konnte, war mir der Erfolg als Ehemann und Familiengründer bisher versagt. Das akademische Leben brachte eine gewisse Abgeschiedenheit mit sich, während mir andererseits in der Fremde der Stadt Frankfurt die familiäre Unterstützung fehlte, die Wahl und Werbung eines heiratsfähigen Mädchens in der Regel voraussetzten.
Dabei bewunderte ich das schöne Geschlecht. Erste, dumpfe, verschwitzte Erfahrungen mit seiner Eigenart hatte ich aus dem Bücherschrank meines Vaters entnommen, aus Büchern mit Abbildungen antiker Statuen und Gefäße, die mir manche Lektion in der Betrachtung spärlich bekleideter und sogar entblößter Frauenkörper gaben.
Weitere Erkenntnisse folgten in der Studentenzeit. Einmal nahmen einige fidele Kommilitonen mich mit ein Haus, das dem Studium einer ganz besonderen Form der Naturkunde gewidmet war. Unter den Händen eines erfahrenen Mädchens verfiel ich in einen Taumel der Erregung, die jedoch viel zu rasch zu Ende ging und mich seltsam unerfüllt zurückließ. Wohl hatte die kleine Liebesdienerin ihre Brüste entblößt und mich davon kosten lassen, doch alles übrige war unter kratzigen Rüschen und allerlei Tand und Stoffen verborgen geblieben.
Gänzlich neue Eindrücke verschafften mir die Expeditionen meines Mentors Freiherr von Hunspach. Bei den Naturvölkern, vor allem jenen Ostafrikas, bekamen meine stillen Sehnsüchte jede nur erdenkliche Nahrung. Kleidung war hier vielerorts völlig unbekannt, und nicht nur das Auge durfte sich an freier, natürlicher Schönheit erfreuen. Bei manchen Stämmen überstieg der Begriff der Gastfreundschaft alles, was ich jemals in meinen kühnsten, einsamen Träumen zu hoffen gewagt hätte.
Hier nun, in dieser verzerrten Wunderwelt, lagen die Dinge offenbar anders. Mit keiner Geste, in keinem Moment, übertrat Frau Doktor Milland mir gegenüber die Grenzen des Anstands, wenn man von der verwirrend unvollständigen, formlos offenherzigen Kleidung absah, die diese Amerikaner für angemessen hielten und die den Traditionen ihres Westens zu entsprechen schien. Man hatte schon gehört, dass Frauen dort, wie nun auch Frau Doktor Milland, zuweilen in Hosen herumliefen, mit Waffen zu hantieren wussten und ganz allgemein im Notfalle die Rolle von Männern übernahmen.
"Der Sturm in den Bergen hat nachgelassen," verkündete mir Frau Doktor Milland eines Morgens. Es gab hier in der Dunkelheit der Polarnacht keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, doch die "Uhr" auf meinem Nachttisch zeigte mir die Tageszeit, nachdem ich gelernt hatte, die elektrisch beleuchteten Ziffern darauf zu verstehen. "Sie schicken jetzt jemanden aus Neumayer. Mitnehmen können die Sie nischt, denn dort gibt es ja nischts als die Forschungsstation, aber dann haben Sie wenigstens jemanden, mit dem Sie rischtig reden können!"
"Oh, Frau Doktor Milland, das ist sehr freundlich ... wobei ich mir gestatten möchte anzufügen, dass ich, seit ich hier aufgewacht bin, niemals das Gefühl hatte, mit Ihnen ... ich ... nun, die Konversation mit Ihnen entsprach in jeder Weise dem, was ich unter 'richtigem Reden' verstehen möchte!"
"Oh, thank you, that's ... danke, meine isch!"
"Ihr Beherrschung des Deutschen ist bewundernswert, und so sehr ich mich nach der Rückkehr in den Kreis meiner Kameraden sehne, so gerne bin ich doch hier, solange es eben sein muss!"
"Sie sind sehr freundlisch!" Wieder ergriff sie meine Hand. Es war eine Geste, die nicht als intim zu verstehen ich inzwischen gelernt hatte. Amerikaner verhielten sich auch in dieser Hinsicht offenbar ganz anders als wir Europäer. Dennoch gab es diesmal einen Unterschied. Sie drückte sie nicht einfach, sondern sie strich leicht darüber. "Vor allem, wenn isch daran denke, was für ein netter Patient Sie bisher waren ... und so tapfer in dieser fremden Welt!"
"Oh, ich danke Ihnen, doch Tapferkeit war von mir bisher nun wirklich nicht gefordert, auch wenn ich einräume, dass manches hier mich doch stärker verwirrt, als es Ihnen vielleicht erscheint. All diese Geräte ... woher hat Amerika nur all diese Wunder, von denen wir in Europa noch nie etwas gehört, gar gesehen haben?"
"Oh, Sie werden überrascht sein!" Sie lächelte mich an. "Sie waren lange dort im Eis. Länger, als Sie glauben."
"Bitte! Sagen Sie es mir! Wie lange war ich bewusstlos? Wochen? ... Monate? Ich möchte es wissen! Ich möchte es von Ihnen wissen!"
Ich blickte direkt in Ihre graugrünen Augen, und sie erwiderte den Blick in einer Art und Weise, die ein wenig Traurigkeit, doch gleichzeitig eine fast einen Zug von Zuneigung erkennen ließ. Mir schwindelte. Sollte ich hier, unter diesen unwahrscheinlichsten aller nur vorstellbaren Umständen, eine Seele gefunden haben, die sich der meinen zuneigte? Ich durfte nicht vergessen, dass sie ein Arzt war, unerhört vielleicht für eine Frau, doch für mein laienhaftes Verständnis ihrer bisherigen Behandlung meiner Schwäche von ausreichend bewiesener Fähigkeit.
"Well, isch denke, Sie sind wieder fit genug. Es wird aber eine echte Schock sein!"
"Schock?"
"Oh, das Wort kennen Sie nischt. Es wird Sie erschrecken, meine isch."
"Sprechen Sie offen zu mir! Einmal muss ich es doch erfahren, und aus Ihrem Mund ist es mir lieber als aus jedem anderen," hörte ich mich sagen, und spürte im gleichen Moment, wie mir das Blut in die Wangen, sie schamrot zu färben.
"Oh, Sie sind lieb! Nun gut. Aber fassen Sie sisch. Es waren viele Jahre. Sehr viele Jahre. Die Welt hat sisch verändert, seit Sie verschollen sind. Sie werden sie nicht wiedererkennen."
"Sie quälen mich, Frau Doktor Milland! Sprechen Sie die Wahrheit aus. Ich bin ein Mann, und auch wenn ich auf keine militärische Ausbildung bauen kann, so fehlt es mir doch nicht an Mut und der Bereitschaft, mich dem Unvermeidlichen zu stellen!"
"Ou kee!" Ich hatte inzwischen gelernt, dieses eigenartige amerikanische Wort als Zustimmung zu verstehen. "Sie sind ... wann hier auf Antarctica angekommen? 1884?"
"Ja. Es war der 14. Februar, als wir zu der Exkursion aufbrachen ... als ich verunglückte."
"Well, heute schreiben wir den 3. Juli ... des Jahres Zweitausendundelf."
Ich starrte sie an. Eine jähe Leere erfüllte mich so vollkommen, wie mich nie zuvor ein Gefühl erfasst hatte. Ich schien ins Bodenlose zu stürzen. Mehr als ein ganzes Jahrhundert sollte ich im Eis gelegen haben! Konnte ich dieser Frau glauben? Ein Teil meines Verstandes weigerte sich. Doch all die wunderbaren, unerklärlichen Dinge, die mich umgaben, sprachen für sie, sprachen für eine lange, lange Zeit des Fortschritts seit meinem Unfall.
"Zwei tausend ...", stotterte ich schließlich.
"Ja, das ist leider die Wahrheit. Sie waren 127 Jahre im Tiefschlaf, und es ist eine Sensation, dass Sie leben. Man wird sich auf Sie stürzen. Das Gas aus Ihrem Körper ... wir konnten eine winzige Menge einfangen ... ist zur Zeit der kostbarste Stoff, den es auf diesem Planeten gibt. Wir verstehen seine Zusammensetzung nicht, noch nicht, doch wenn wir sie analysieren können, wird es eine Revolution auslösen. Und Sie armer Mensch sind ganz allein."
Da war er wieder, dieser Blick von ihr. Langsam kroch der Schrecken in die Leere, die mich erfüllte, ein eiskaltes, abgrundtiefes Erschrecken. Und dann riss etwas in mir. Ich muss aufgeschrien haben, bevor ich schluchzend zusammenbrach. Was dann geschah, entzieht sich meiner Erinnerung, verschwindet im Nebel einer zeitweiligen Besinnungslosigkeit, die mich umfing und mich Dinge tun ließ, die zu tun ich noch Minuten zuvor für völlig ausgeschlossen gehalten hätte. Denn als ich, immer noch zitternd und schluchzend, wieder zu mir kam, fand ich mich in den Armen von Frau Doktor Milland liegen wie ein kleiner Junge in den Armen der Mutter, den Kopf an ihren Busen gepresst, die Arme mit der Kraft der Verzweiflung um ihren Leib geschlungen.
***
Die folgenden Tage verbrachte ich in einem Zustand weitgehender Apathie. Ich aß nur, wenn Frau Doktor Milland mich förmlich fütterte, folgte mechanisch ihren Anweisungen bei Untersuchungen und Behandlungen, und blieb bei all dem innerlich leer wie ein ausgegossener, besser noch, wie ein zerbrochener Krug.
Unterdessen erschien bei mir ein gewisser Timo Hegemann, der sich als stellvertretender Leiter der deutschen Südpolarstation vorstellte. Um gerecht zu sein, muss ich zugeben, dass er sich redlich um mich bemühte, sehr freundlich war und mir mancherlei Hilfen anbot. Doch zum einen war ich nicht in der Verfassung, meine Gedanken auf kommende Dinge zu lenken. Zum anderen wirkte er trotz seiner offenkundigen Herkunft aus meiner Heimat wie ein Fremder. Er nutzte unsere gute deutsche Muttersprache auf eine Art und Weise, die sie mir wie eine Fremdsprache klingen ließ, und seine ganze Art ließ jede gesittete Erziehung missen. Gewiss, er war Geologe und Verwalter, kein Arzt, doch unwillkürlich zog ich Vergleiche zu der so viel einfühlsameren Art meiner "Ärztin". Ja, man benutzte im Deutschen tatsächlich nun diese weibliche Form!
Nach mehreren Tagen reiste Herr Hegemann wieder ab, nicht ohne mir versichert zu haben, dass er alles in seiner Macht Stehende tun werde, um mich rasch nach Hause zu bringen - welches dieses Zuhause im Jahr 2012 auch immer war. Ich sollte in einem "Flugzeug" zuerst nach Südamerika und dann in die Heimat gebracht werden, sobald die Amerikaner mich für reisetauglich erklärten. Zuerst vermutete ich einen lenkbaren, angetrieben Fesselballon, was in meinen Augen schon eine wunderbare Erfindung gewesen wäre. Doch dann zeigte mir Jay das Foto eines solchen Apparats, und alle meine Hoffnungen schwanden, die Welt in nächster Zeit zu verstehen, in die mich mein Schicksal gestoßen hatte.
Ich nutze die intime Form nicht ohne Grund. Denn unterdessen hatte eine weitere Veränderung stattgefunden, und diese war ausnahmsweise von angenehmster Art. Man hatte mich zu einer der zahlreichen, mir unverständlichen Untersuchungen in eine riesige Maschine gesteckt, in der ich lange Zeit völlig bewegungslos liegen musste. Danach fühlte ich mich eigenartig verwirrt und zeigte, ohne recht zu wissen weshalb, zum ersten Mal seit meinem Erwachen Anzeichen von Nervosität und Ungeduld. In dieser Situation blieb Frau Doktor Milland, Jay, länger als sonst bei mir und versuchte, beruhigend auf mich einzuwirken.
"Ich muss es Ihnen einfach gestehen," brachte ich schließlich mühsam hervor, und ob meiner Schwäche standen mir Tränen in den Augen, "ich fühle mich so entsetzlich hilflos! Ich bin ein Mann in den besten Jahren, gewohnt, meine Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Ich habe an gefahrvollen Expeditionen teilgenommen, dem Tod mehr als einmal ins Auge geblickt, und kann mich des Umgangs mit einigen der hervorragendsten Naturforschern meiner Zeit rühmen. Doch hier ... bin ich nichts! Ich bin immer noch schwach und bedarf Ihrer Hilfe, und Sie, Frau Doktor, gewähren mir diese auf wunderbarste, verständnisinnige Art. Aber ich bin doch ganz allein und weiß nichts über die Welt, in die mich mein Schicksal so grausam verpflanzt hat."
"Oh, ja, isch verstehe! Sie armer Kerl!" antwortete sie. "Haben Sie noch etwas Geduld. Wir werden fertig mit unseren Untersuchungen in der nächsten Woche, und wenn das Wetter mitspielt, fliegen wir Sie dann nach Buenos Aires. Ihre Leute sind auch schon ganz ungeduldig, Sie nach Deutschland zu bringen ..."
"Gibt es denn das Deutsche Reich überhaupt noch?"
Nun erhielt ich nach einigem, wie ich am Ende feststellen musste, berechtigten Zögern eine kurze Übersicht über die Weltgeschichte der vergangenen 120 Jahre. Danach war ich unglücklicher als zuvor. War es Trost oder Zuneigung - die Ärztin legte mir die Hand auf die Schulter.
"Seien Sie nischt zu traurig. Deutschland ist heute ein schönes, reisches Land. Oh, by the way ... ich möschte Ihnen etwas anbieten. Wir in America benutzen meistens den Vornamen. Wenn Sie wollen ... wenn du willst, kannst du 'Jay' zu mir sagen, und ich werde dich 'Rip' nennen."
***
Es blieb nicht aus, dass auf der Grundlage dieser neuen, familiären Umgangsform unsere Vertrautheit weiter wuchs. Jay erzählte mir manches von sich, zeigte mir farbige Photograpien ihrer Familie und auch aus ihrer früheren Militärzeit. Ich war nach den letzten Wochen bereit gewesen, Frauen als Ärzte zu akzeptieren, und dass ein ausgebildeter Mediziner Hilfskräften vorgesetzt war, als logische Folge. Doch ich konnte kaum fassen, dass es nun auch Frauen gab, die ihr Land mit der Waffe in der Hand verteidigten, ja Truppeneinheiten, Schiffe oder diese "Flugzeuge" kommandierten.
Inzwischen gewann ich auch eine ungefähre Kenntnis der Räume des Hospitals. Mehrfach führte Jay mich in den Bereich, in dem sich ihr Quartier befand, und bald lernte ich, den Weg dorthin auch alleine zu finden. Eines Tages waren wir dort verabredet, denn sie wollte mir etwas zeigen, das sich "Film" nannte. Rechtzeitig fand ich mich am Eingang des Offiziersquartiers ein, doch Jay erwartete mich nicht wie sonst.
"Doktor Jay Milland?" fragte ich den Wachhabenden, der dort am Zugang ein kleines Schreibpult besetzte.
"Oh, I'm sorry, Sir! She isn't here yet. But she told me ..."
"Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich verstehe Sie leider nicht."
"Oh, yes, I see ... you're the Iceman ... Ok. Doctor Milland is down there ..." Er wies mit der Hand den Gang hinab. "She's in the spa area ... room 920.07."
Er schrieb mir eine Zahl, die offenbar einen Raum bezeichnete, auf ein kleines Stück Papier. Ich folgte dem Gang, den der Soldat mir bezeichnet hatte und erreichte tatsächlich eine Türe mit der genannten Nummer.
Dahinter umfing mich eine süßlich riechende, feuchtwarme Luft, wie ich sie aus den Tropen kannte. Von einem Vorraum zweigten mehrere Türen ab, und da man mich hier her geschickt hatte, fühlte ich mich berechtigt, an ihnen mein Glück zu versuchen. Hinter einigen der Türen schienen sich die Räume eines Bades zu befinden. Doch es brannte kein Licht, und es war niemand anwesend, der mir weitere Auskunft über den Aufenthalt von Jay hätte geben können. Schließlich wurde ich doch fündig, und, bei Gott, dies war sicher der Moment in meinem neuen Leben, der mir am deutlichsten zeigte, wie ungeheuerlich weit sich die Menschheit in allem verändert hatte!
Ich öffnete eine weitere Türe und fand den Raum dahinter beleuchtet. An einem Haken an der Wand hingen einige Kleidungsstücke, die ich als Teile einer Uniform erkannte, wie Jay sie manchmal zu tragen pflegte. An der Wand gegenüber stand eine große, laut summende Maschine, aus deren Ritzen ein Licht drang, wie ich es selbst in dieser Zeit noch nie gesehen hatte. Es war von grellem Violett und schmerzte in meinen Augen. Schon wollte ich mich abwenden, als mein Blick auf einen Spalt an der Maschine fiel. Dort ragte eine menschliche Hand hervor! Verwirrung und leiser Schrecken ergriffen mich, und zaghaft rief ich "Jay?" in den Raum.
Das Ergebnis in Worte zu fassen, ist mir selbst heute kaum möglich. Die Hand bewegte sich, griff nach oben, und dann wurde der obere Teil der Maschine nach oben gedrückt. Ich blickte in eine Art Bratröhre aus schierem, blendendem Licht. Und darin lag Jay Milland, wie Gott die Frau geschaffen hatte, völlig entblößt in paradiesischer Nacktheit!
Ich stand wie erstarrt, und auch wenn mir jede Faser meines Selbst, von Erziehung und Sitte gebot, mich abzuwenden, vermochte ich doch keinen Muskel zu rühren. Der unglaubliche, phantastische und überdies in äußerstem Maße reizvolle Anblick hielt mich im Bann, einem Banne, der auch anhielt, als Jay nun mit einer fließenden Bewegung aus der Maschine kletterte und dann als nackte Eva vor mir stand.
"Oh Rip, I'm so sorry! Entschuldige, isch habe die Zeit vergessen! Und jetzt ... du schaust ... oh, das ist eine sunbed ... wie sagt man ... Solarium. Künstliches Sonnenlicht. Für die Haut und die Nerven."
Sie hatte meinen Blick falsch gedeutet. Wohl verwirrte mich die Lichtmaschine hinter ihr, doch in weit größerem Umfang verwirrte mich Jay selbst. Sie stand vor mir in all ihrer Nacktheit, als sei dies ein gewöhnliches Zusammentreffen zweier Bekannter unter den allergewöhnlichsten Umständen. Ihr Körper war zugleich reifer und kräftiger als die der Mädchen, die uns unsere Gastgeber im afrikanischen Hochland ins Zelt geführt hatten - die einzigen Frauen, die ich bisher ausgiebig in diesem Zustand hatte betrachten dürfen - ein Körper, der süße Reize und mütterliche Festigkeit versprach und dessen Anblick mir in jäher, brünstiger Lust fast die Sinne schwinden ließ.