Читать книгу Herkules und die goldenen Äpfel - Rundwanderung durch die Stadt Kassel - Nicole Erler - Страница 4

Ein Versprechen wird gegeben

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Adrian war auf dem Parkplatz hinter dem Herkules angekommen und stellte das Auto ab. In diesem Sommer war er nach Feierabend schon einige Male hier gewesen, um sich zu entspannen. Langsam schlenderte der junge Mann vom Parkplatz aus in Richtung Herkules. Freitagabend. Kaum ein Mensch war hier unterwegs, wahrscheinlich wegen des Fußballspiels, das heute übertragen wurde.

Sein Blick fiel auf den grün schimmernden Mann, der imposant über Kassel thronte. Mit dem linken Arm stützte er sich auf einer Keule ab. Ohne das Ding wäre es auf Dauer auch ziemlich anstrengend so dazustehen, Wind und Wetter zu trotzen. Über die Keule war das Fell eines Löwen geworfen. Adrian stellte sich vor, wie sich Herkules in kalten Winternächten heimlich das Fell über seinen Rücken legte, um sich zu wärmen.

Von links näherte er sich dem Oktogon mit der Pyramide, die der Statue als Aussichtsplattform diente. Schon konnte er einen kleinen Teil der Stadt erspähen. Die Sonne ging gerade langsam hinter ihm unter. Entspannt setzte Adrian sich auf die Stufen aus Tuffstein am Eingang des Oktogons. Die Stadt erstreckte sich zu seinen Füssen. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf bequem an eine Basaltwand. Sein Herz schlug langsam und regelmäßig. Wochenende!

Das Gestein, das er mit seiner Schläfe berührte, fühlte sich vertraut an. Ihm war, als würden die letzten Sonnenstrahlen durch das Oktogon hindurch auf seinen Rücken fallen. Ein lauer Luftzug streifte sein Haar. Er saß im Palast der Winde.

Wie so oft in letzter Zeit dachte er an seine Pläne in den Urlaub zu fahren. Wie gerne würde er mal wieder neue Orte entdecken, vielleicht eine Studienreise machen, bei der er noch etwas lernen konnte. Und er wollte sich verlieben. Ja, am besten noch vor der Reise, damit er sie gleich mitnehmen konnte. Ein Lächeln überflog sein Gesicht.

Plötzlich begann die Erde zu beben. Adrian schrak auf. Er hatte noch nie von Erdbebengefahr in Nordhessen gehört. Aber aus dem Erdkundeunterricht wusste er noch, dass viele der Berge um Kassel herum erloschene Vulkane waren. Natürlich inaktiv, aber konnten sich die Wissenschaftler wirklich so sicher sein? Vielleicht machte sich unter ihm schon die brodelnde Lava bereit. Wieder bebte es. Der Himmel verdunkelte sich. Adrian wollte weglaufen, damit das Bauwerk nicht auf ihn fiel, doch er war wie gelähmt. Es knarrte, als würde ein nie geöltes Türscharnier aufgehen. Er dachte, dieses unsäglich laute Geräusch müsste die ganze Stadt hören.

Von oben fielen die ersten Steine. Dicht neben seinem Körper schlugen sie mit lautem Knall auf und zerbarsten in tausend Teile. Erneut ging ein Beben durch das Gemäuer, diesmal mischte sich ein Geräusch unter, das wie ein dunkles Räuspern klang. Adrian traute seinen Augen nicht. Ein riesiges Gesicht beugte sich herab. Es war so gewaltig groß, dass er nur eine Gesichtshälfte erkennen konnte. Als es immer näher kam, sah er bald nur noch das linke Auge. Ein grünes Auge. Aber nicht nur die Pupille war grün, alles vom Auge: das Lid, die Brauen, die Falten unter dem Auge. War das der berühmte grüne Star? Wie konnte er sich darüber jetzt Gedanken machen? Er war in höchster Gefahr, vielleicht sogar dem Tode nah. „Adrian!“, gurgelte die windige Stimme.

Oh Himmel, das Gesicht kannte seinen Namen. Wie war das möglich? „Wer bist du?“, schrie Adrian dem grünen Auge angstvoll entgegen. „Erkennst du mich denn nicht?“ „Nein, würde ich sonst fragen?“ „Sie nennen mich Herkules.“ Die Stimme klang rau und heiser. Natürlich, wenn man so lang nichts zu sagen hatte. „Du bist nur eine Statue, du kannst nicht sprechen.“, sagte Adrian trotzig und mehr zu sich selbst. „Aber du unterhältst dich doch gerade mit mir.“ „Nein, ich träume nur. Ganz sicher. Ich hatte einen anstrengenden Tag. Ich bin eingeschlafen und du hast dich in meinen Traum geschlichen.“ „Wie du willst, Adrian.“, sagte der grüne Riese mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Siehst du, du kennst meinen Namen! Das ist der Beweis, dass es ein Traum ist.“ „Letzte Woche hast du dich mir vorgestellt, am Dienstag. Erinnerst du dich nicht?“

Adrian wurde stutzig. Ja richtig, das stimmte. Er hatte der Statue einen Monolog gehalten, sich vorgestellt, ein paar Dinge erzählt. Hoffentlich war er nicht zu intim geworden. „Was willst du von mir?“, fragte Adrian unsicher. „Ich gewähre dir drei Wünsche, wenn du die drei goldenen Äpfel findest, die die ewige Jugend und Unsterblichkeit versprechen. Mach dich auf die Suche!“ Ein Grollen ging durch das Bauwerk. Es wurde heller. Adrian hielt sich die Hand vor die Augen, um sich vor herunterfallendem Staub zu schützen. Als er die Hand wieder senkte, war das grüne Auge verschwunden.

Adrian sprang auf und rannte los – um sein Leben. Er musste nur schnell genug sein und das Auto erreichen, dann wäre er in Sicherheit. Mehrfach, ohne dabei seine Geschwindigkeit zu verringern, drehte er sich im Laufen zur Statue um, doch der große Mann stand dort wie sonst, starr und stumm.

Auf dem Parkplatz angekommen, riss Adrian die Autotür auf, ließ den Motor an und gab Vollgas. Bloß schnell weg hier. Er zitterte noch immer am ganzen Körper, als er den Wagen Richtung Druseltalstraße steuerte. Sollte er zur Polizei fahren? Keiner würde ihm das glauben. Er war einfach überarbeitet, das war doch offensichtlich. Adrian dachte wieder an seinen Plan in den Urlaub zu fahren. Morgen würde er ins Reisebüro gehen. Zu Hause angekommen würde er eine kalte Dusche nehmen und sich ins Bett legen. Er musste sich schonen.

Am nächsten Morgen fühlte Adrian sich erstaunlich frisch. Schon als er das rechte Auge aufschlug – er hatte die Angewohnheit, die Augen nacheinander aufzuschlagen – fiel ihm alles wieder ein. Herkules, das Grollen, der Staub, die goldenen Äpfel. Er musste plötzlich lachen. Alles war nur ein Traum gewesen. Und eigentlich konnte er doch froh sein, so etwas Interessantes zu träumen. Das passierte nicht jedem.

Er stand auf und füllte zufrieden seine Kaffeetasse. Die Kaffeemaschine war auf 7.30 Uhr programmiert gewesen. Das Radio war auch schon an. Mit einem Seufzer setzte er sich auf sein Sofa und nahm einen Schluck heißen Kaffee. Es ging ihm wieder gut. Alles halb so schlimm. Es war Samstagmorgen. Die Sonne schien. Er würde jetzt erst mal richtig schön frühstücken.

Der Radiosprecher verlas die Nachrichten. „Am Herkules im Wilhelmshöher Bergpark der Stadt Kassel, seit 2013 Weltkulturerbe, haben letzte Nacht Randalierer Teile des Oktogons zerstört. Das Bauamt Kassel schätzt den Schaden auf mehr als 10.000 Euro. Das Bauwerk musste nach eingehender Untersuchung für Besucher bis auf Weiteres geschlossen werden. Anwohner des Stadtteils Bad Wilhelmshöhe hatten gestern gegen 20 Uhr starken Lärm gemeldet. Als die Polizei eintraf, waren die Täter jedoch schon geflohen.“

Adrian stockte der Atem. Er ließ das Brotmesser fallen und hielt einen Moment inne. Dann zog er sich entschlossen seine Wanderkleidung an, schmierte sich Brote, packte auch ein paar Äpfel und zwei Flaschen Wasser in seinen Rucksack, dazu den Stadtplan, Sonnencreme und Sonnenbrille. Er musste sich unbedingt ansehen, wie er das Bauwerk zurückgelassen hatte. Er war fassungslos und gleichzeitig breitete sich ein Glücksgefühl in ihm aus.

Er beschloss, mit Straßenbahn und Bus zu fahren. Vielleicht hatte ihn gestern doch jemand beobachtet und sein Kennzeichen aufgeschrieben oder sich seinen Wagen gemerkt. Mit der Linie 3 fuhr er bis zur Endstation Druseltal und weiter mit dem Bus 22 bis zum Besucherzentrum am Herkules. Heute war deutlich mehr los. Menschenmengen schoben sich in das Gebäude und im Augenwinkel sah Adrian, dass schon der ganze Busparkplatz für Touristenbusse zugeparkt war. Die Menschen beruhigten ihn. Hinter dem Besucherzentrum stand Herkules entspannt und still auf seine Keule gestützt. Noch einmal rief Adrian sich die Worte von Herkules in Erinnerung: Er hatte ihm drei Wünsche versprochen, wenn er die goldenen Äpfel fand. Wie sollte er das bloß anstellen?

Als er vor dem Bauwerk stand, betrachtete er die Stelle, an der er am Abend zuvor gesessen hatte. Dieser Teil war nun abgesperrt. Der Basaltschutt war zu einem Haufen zusammengeräumt. Adrian blickte nach oben und sah, dass mehrere Kubikmeter Gestein fehlten. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hätte tot sein können.

Aber dann kam ihm der Gedanke, dass Herkules es doch anscheinend gut mit ihm meinte. Auf einmal war Adrian ganz ruhig und klar. Die Suche nach den goldenen Äpfeln konnte beginnen. Warum er plötzlich so sicher war, dass er sie finden würde, konnte er sich nicht erklären...

Herkules und die goldenen Äpfel - Rundwanderung durch die Stadt Kassel

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