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Die Kleeblätter

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Die Träumerin wird von der Sonne gekitzelt, während sie im Gras liegt und den Stängel des Kleeblattes rasant zwischen ihren beiden Zeigefingern zwirbelt.

„Amélie-Fleur, komm jetzt bitte ins Haus. Und das Händewaschen nicht vergessen. Hörst du?“

„Jaja, Madame Véronique.“

Wie auf Kommando beginnt der Magen zu knurren. Das träumende Mädchen ist mit einem Mal hellwach, springt auf beide Füße und rennt ins Haus. Amélie-Fleur hüpft die Treppenstufen hinauf und läuft in ihr Kinderzimmer. Die Hungrige zieht ein kleines selbstgebasteltes Kästchen aus Pappmaschee unter dem Bett hervor. Amélie-Fleur weiß, dass Klee mit 4 Blättern Glück bringen soll. Sie weiß auch, dass Klee mit 4 Blättern ganz selten zu finden ist. Madame Véronique hat es ihr neulich erst erzählt.

„Ich bin ein Glückskind. Eins … Zwei … Drei … Vier … Fünf … Sechs … Sieben … Neun … Zehn.“

Amélie-Fleur kneift die Augen zusammen und runzelt die Stirn. Sie bemerkt sofort, dass eine Zahl fehlt.

„Eins … Zwei … Drei … Vier … Fünf … Sechs … Sieben … Acht … Neun … Zehn.“

Sie schlägt die Hand gegen die Stirn und muss über sich selbst lachen. Hat sie doch glatt die 8 beim Zählen übersprungen. Die Fünfjährige blickt in das kleine selbstgebastelte Kästchen aus Pappmaschee und grinst über beide Ohren.

„Das sind viel mehr als 10. Ich bin ein richtiges Glückskind. Ich habe schon eine Million Trilliarde Kleeblätter gefunden“, flüstert Amélie-Fleur und kichert vergnügt. Das Mädchen legt das vierblättrige Kleeblatt zu ihren anderen Kleeblättern in die Schatztruhe und versteckt den grünen Schatz wieder unter dem Bett. Amélie-Fleur flitzt über den Flur, hüpft auf das Treppengeländer und rutscht schnell wie der Sausewind auf dem schmalen Holz hinunter. Unten angekommen stolpert sie über den frisch gewischten Dielenboden und schlittert über den feuchten Wasserteppich geradewegs in den Speisesaal. Dort sitzen bereits alle hungrigen Mäuler an der großen gedeckten Tafel.

„Blüüüümchen!“

Auch wenn er dabei wieder am Daumen lutscht, die Rufe des kleinen Pierre sind nicht zu überhören. Amélie-Fleur wird heute bei ihm am Tisch essen. Das Gemüse auf dem Teller lacht und die Hungrige lacht zurück. Mit einem Happs sind die grünen Brokkoliaugen, die gelbe Paprikanase und der rote Tomatenmund verschwunden.

Im Garten der Villa Regenbogen befindet sich ein farbenprächtiges Gemüsebeet. Das gesunde Gemüse bauen die Kinder mit Madame Véronique gemeinsam an. Alle haben großen Spaß dabei. Die Gemüsebauern beobachten und kontrollieren über Wochen, wie die Sonne am Tag und der Regen in der Nacht alles wachsen lassen. An heißeren Tagen kommt der Wasserschlauch zum Einsatz. Das gemeinsame Bepflanzen endet dann meistens in einer nassen, rutschigen, matschigen und sehr lustigen Wasserschlacht. Nach dem Motto ‚Immer auf die Kleinen‘ hat schon so mancher Matschball den daumenlutschenden Pierre getroffen.

Am Mittagstisch sitzen alle Altersstufen beisammen. Die älteren Kinder behalten stets die jüngeren im Auge. Die Klänge der Suppenlöffel und Teller, das genüssliche Schmatzen, aber vor allem das Kinderlachen hallen durch den Speisesaal. Amélie-Fleur hat viele Geschwister und immer wieder kommt ein neues Geschwisterchen hinzu. Amélie-Fleur lebt in der Villa Regenbogen, seit sie denken kann. Für das Mädchen sind die anderen spielenden Kinder ihre Schwestern und Brüder. Madame Véronique sagt immer, dass das Lachen aller Kinder die Sonne am Himmel erstrahlen lässt, denn Madame Véronique erinnert sich an keinen einzigen Regentag oder Wolkenhimmel in den vergangenen Jahren zurück. In der Regenbogenallee scheint immer die Sonne. Tag ein, Tag aus. In den Nächten, wenn alle unter ihren Kuscheldecken träumen, ob groß, ob klein, gießen die Wolken am Himmel die bunten Blumen und die immergrünen Wälder auf der Erde. Der Mond und die Sterne schauen dabei tanzend zu.

Amélie-Fleur weiß, dass ihr Name ‚tapferes Blümchen‘ bedeutet. Madame Véronique hat es ihr neulich erst verraten. Amélie-Fleur, das kleine Mädchen mit den langen braunen Zöpfen, den vielen Sommersprossen um die Nase herum und der großen Zahnlücke, ist wahrhaftig ein tapferes Blümchen. Madame Véronique fand Amélie-Fleur vor 5 Jahren auf der Türschwelle ihrer Villa, dem ältesten Gebäude mit der Hausnummer 1, in der Regenbogenallee. Das Baby schlummerte in einem Weidenkorb. Um es herum lagen unzählige rote Rosenblätter. Wie wunderbar sie dufteten. Am Korb haftete ein Stück Papier, auf dem eine Nachricht stand.

‚Bitte beschützen Sie meinen kleinen Engel, mein tapferes Blümchen, meine Amélie-Fleur. Er darf sie nicht in seine Hände bekommen.‘ Darunter hatte Madame Véronique den Namen Alissia entziffert. Die Mutter des Findelkindes musste geweint haben, denn die Tinte auf dem Papier war verwischt. Madame Véronique stellte Amélie-Fleur den anderen Kindern im Spielhaus vor und schenkte ihr ein neues liebevolles Zuhause.

Die Kinder in der Villa Regenbogen besitzen nicht viel zum Spielen, aber sie haben einander. Die Spielsachen sind Spenden der Dorfbewohner.

Seit 2 Jahren geschehen merkwürdige und unerklärliche Dinge in der Regenbogenallee. Wenn der Mond mit der Sonne den Platz am Himmel tauscht und die Sonne die Regenbogenallee erhellt, verschwinden Eltern. Spurlos. Als hätte der Mond sie einfach mitgenommen. Zurück bleiben verwirrte Kinder. Nur wenige Familien flüchten durch den tiefen und finsteren Wald in den Nachbarort, denn die Dorfbewohner sind zu verängstigt und glauben ganz fest daran, dass etwas Böses im Wald lauert. Womöglich ein riesengroßes Ungeheuer mit zotteligem roten Fell und leuchtend gelben Augen. Großeltern, Tanten, Onkel und Freunde sind sehr besorgt. Die Verwandten möchten die zurückgelassenen Kinder schützen und bringen sie zum ältesten Gebäude mit der Hausnummer 1. Madame Véronique räumt Platz in den Zimmern und nimmt die elternlosen Kinder in der Villa Regenbogen auf. Rund um die Uhr spielt, singt, bastelt und liest sie mit ihren Schützlingen. Madame Véronique schenkt ihnen all ihre Zeit und all ihre Liebe, so dass das Kinderlachen nie verstummt und in der Regenbogenallee auch weiterhin, Tag ein, Tag aus, die Sonne scheint.

Wenn Amélie-Fleur in manchen Nächten nicht richtig einschlafen kann, stellt sie sich ans Fenster und blickt hinauf zum Mond und zu den Sternen. Vom Sternezählen wird sie so müde, dass sie nach ein paar Versuchen schlafend in die kuscheligen Kissen fällt. Sehr oft träumt Amélie-Fleur von einer wunderschönen Frau mit einer roten Rose im Haar. Diese wunderschöne Frau sieht aus wie eine Königin. Ein funkelndes Diadem schmückt ihren Kopf. Das lange hellblaue Ballkleid schimmert, als würde Sternenstaub darauf herabrieseln. Ein edler Mann in einem glänzenden dunkelblauen Anzug nimmt die Hand der wunderschönen Frau. Der König. Eine goldene Krone mit einem funkelnden grünen Smaragd schmückt sein Haupt. Der funkelnde grüne Smaragd sieht aus wie ein vierblättriges Kleeblatt. Eine zauberhafte Melodie erklingt. König und Königin tanzen auf einer gigantischen rosa Wolke aus Zuckerwatte.

Irgendwann ist leider jeder Traum zu Ende geträumt. Die Melodie verstummt. Amélie-Fleurs Fantasie löst sich wie ein Nebelschleier auf, und das Mädchen erwacht. Amélie-Fleur liebt diesen immer wiederkehrenden Traum. Sie vermisst ihre Mama und ihren Papa. Auch wenn sie keine einzige Erinnerung an ihre Eltern besitzt. Lediglich der Abschiedsbrief ist ihr geblieben. Und die Fantasie. Die Fantasie ist der wertvollste Schatz jedes Kindes. Und diesen Schatz trägt Amélie-Fleur fest verankert in ihrem Herzen. Dieser Anker hält besser als jeder Superkleber. Somit werden König und Königin auch weiterhin in Amélie-Fleurs Träumen auf einer gigantischen rosa Wolke aus Zuckerwatte tanzen.

Die Sonne lacht am Himmel. Ein neuer Tag. Spiel und Spaß warten auf die kleinen und großen Bewohner der Villa Regenbogen. Nach dem Frühstück toben alle Kinder immer im Garten. Sie klettern auf dem Klettergerüst, schaukeln, backen Kuchen im Sand oder spielen Verstecken. Amélie-Fleurs Lieblingsplatz ist der Teich. Am Teich blühen die buntesten Blumen. Dort schwimmen, fliegen und krabbeln auch die meisten ihrer tierischen Freunde. Amélie-Fleur rupft einen grünen Stängel aus der Erde. Sie springt auf und hüpft jubelnd auf der Stelle.

„Waaaaahnsinn! Jetzt habe ich über eine Million Trilliarde Kleeblätter! Juchhuuuuu! Ich habe wieder eins gefunden.“

Alle Kinder und Madame Véronique brechen in Gelächter aus. Aber nicht wegen des Freudentanzes, den die Fünfjährige aufführt. Das Mädchen hört auf wild herumzuzappeln, hält beide Hände an die Ohren, lauscht einem melodischen Gekrächze und muss ebenfalls lachen. Die Schlafmütze Kikeriki ist laut und deutlich zu hören. Kikeriki kräht mal wieder viel zu spät. Was die Kinder und Madame Véronique immer köstlich amüsiert. Alle haben vor Lachen Tränen in den Augen. Amélie-Fleur widmet sich wieder ihrer Entdeckung. Sie zwirbelt den Stängel zwischen den Zeigefingern.

„Mein neuer Schatz.“

Hat sie heute doch tatsächlich erneut ein glückbringendes Kleeblatt gefunden.

„Vielleicht funktioniert es diesmal …“

Amélie-Fleur schließt die Augen, atmet tief durch und küsst jedes der vier Kleeblätter.

„Ich wünsche mir beide zurück. Ich wünsche mir, dass Mama und Papa wieder da sind“, flüstert sie. Im nächsten Moment wird das wünschende Mädchen nassgespritzt. Amélie-Fleur zuckt zusammen. Ihr Herz schlägt Purzelbäume. Sie blinzelt zaghaft und öffnet ganz langsam die Augen. Auf der Wasseroberfläche schwimmt etwas Dunkelgrünes, was vier Beinchen von sich streckt. Amélie-Fleur legt den Kopf schief und runzelt die Stirn.

„Hast du mich nassgespritzt? Das war ja ein gewaltiger Bauchplatscher.“

Amélie-Fleur muss kichern. Über den schwimmenden Frosch und erst recht über ihre Ängstlichkeit. Beim Herausklettern sieht es aus, als würde der Frosch angestrengt schielen. Wieder muss sie kichern und setzt sich zu ihm auf den Steinriesen am Teich.

„Hast du einen Namen?“

„Quaaak!“, antwortet der dunkelgrüne Hüpfer.

„Ich nenne dich Monsieur Grenouille. Hihihi … ‚Herr Frosch‘ gefällt mir.“

„Quaaak!“, erwidert ihr neuer dunkelgrüner Freund.

„Waaas?“, rief Amélie-Fleur laut. „Bist du nun ein Frosch oder etwa nicht? Also heißt du ab jetzt Monsieur Grenouille.“

Das Mädchen quietscht vor Lachen und fällt dabei rückwärts ins weiche Gras. Der dunkelgrüne Hüpfer lacht quakend mit. Herr Frosch vollführt seinen nächsten spritzigen Bauchplatscher und taucht vergnügt im Teich. Madame Véronique kommt hinzu. Sie ist eine sehr kluge und belesene Frau. Sie möchte dem Mädchen den Unterschied zwischen Fröschen, Kröten und Unken erklären. Die Kinder lieben die Erzählstimme der älteren Dame. Alle rennen zum Teich. Gespannt sitzen sie im Kreis und hören aufmerksam zu.

Knöpfchens Abenteuer

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