Читать книгу Die Ecke von gestern - Nicole Krieg - Страница 4
Kapitel
ОглавлениеPaco war aufgewacht vom Geschrei seiner Eltern und dem Klirren von umhergeworfenen Tellern. Dieses Mal war es ein gnädiges Erwachen, denn er hatte einen furchtbaren Alptraum gehabt, in dem er im See geschwommen war und er plötzlich an den Beinen nach unten auf den Grund gezerrt wurde. Dort erwarteten ihn Skelette, an denen noch Kleider- und Hautfetzen hingen, sie griffen nach ihm mit ihren Knochenhänden und gurgelten „Rette uns!“
Nun lag er wach, nassgeschwitzt von der Hitze und vom Grauen des nachhallenden Traumes. Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Jalousie.
„Wir dürfen niemandem, wirklich gar niemandem davon erzählen“, hatte ihm Helmut dort am Straßenrand eingeschärft und ihn dabei an den Schultern gepackt. „Wenn die Militärs herausfinden, dass sie Zeugen für ihre Schweinereien hatten...“
Paco erinnerte sich nun auch an eine Szene, als seine Tante aus Buenos Aires vor einigen Monaten zu Besuch war.
„Das ist alles so falsch“, sagte sie am Tisch beim Mate, „ich habe Dinge gesehen...“
Sie war Ärztin und erzählte, wie man ihr angeschossene Oppositionelle gebracht hatte, auch von den schrecklichen Wunden eines Gefolterten, der es geschafft hatte, aus einem der Verhörgefängnisse zu fliehen. Pacos Mutter hatte sie dann angefahren: „Halt deinen Mund! Wir wollen das nicht hören und nicht wissen! Und hier sitzen Kinder am Tisch!“
Tante Rosa war seither nicht mehr dagewesen. Und in Pacos Innerem lagerte und gärte nun dieses Wissen. Er würde nie wieder im Lago San Roque baden oder fischen können. Beim Gedanken an Fisch drehte sich ihm beinahe der Magen um: er hatte diese Fische gegessen, die womöglich an den Leichen der Abgeworfenen genagt hatten, denn eines war sicher: diese zwölf Menschen waren weder die ersten noch die letzten Opfer der Militärdiktatur.
Das Geschrei aus dem Erdgeschoss ließ nicht nach. Da nun Sommerferien waren bekam Paco es in voller Länge mit. Es war immer da. Papa brüllte, Mama kreischte schrill und es schepperte von berstendem Geschirr. Welches Service musste dieses Mal daran glauben? Paco hatte Hunger, aber er wollte nicht nach unten in die Küche in das Kriegsgebiet. Er öffnete seine Tür einen Spalt und sofort kam Artus, sein Schäferhund hereingesprungen und leckte ihm übers Gesicht.
„Ach Artus!“ Paco knuddelte ihn und er sprang auf sein Bett. Das durfte Mama nicht sehen, aber die zeterte ja immer noch da unten in der Küche.
Die Tür knallte, der Motor des Ford heulte auf.
„Hurensohn alter!“ hörte man noch schrill durchs Haus hallen. „Ja hau du nur ab und lass mich allein!“
Dann war es still.
„Jetzt kann ich wohl frühstücken“, sagte Paco zu Artus, „falls ich noch einen heilen Teller und eine Tasse finde.“
Er trödelte im Bad herum, bevor er sich auf den Weg nach unten machte. Als er die Treppe hinunterstieg strahlte ihm der Hintern der Haushälterin Doña Amelia in einem kreischend orangefarbenen Rock entgegen. Sie fegte die Reste des gestern gekauften Geschirrs auf eine Kehrschaufel.
„Morgen Doña Amelia“, sagte Paco, „gibt’s Frühstück?“
„Wart noch kurz, Kleiner, ich muss erst saubermachen.“ Sie erhob sich und strich sich eine hellblonde Strähne aus dem Gesicht. Am Ansatz wuchsen die Haare schwarz nach und sie trug zu dem orangen Rock eine grasgrüne Bluse. Doña Amelia war ganz bestimmt farbenblind. Irgendwann würde Paco das mal testen und sie fragen, welche Farbe sein Hemd hatte oder so etwas. Aber jetzt war er einfach nur hungrig. Doña Amelia drückte Paco an ihren Riesenbusen.
„Ich mach dir gleich was, du kleine Bohnenstange. Aber jetzt lass mich hier noch erst fertigputzen.“
Sie bückte sich wieder mit ihrem Besen und der Kehrschaufel und murmelte dabei, „feinstes Meißner Porzellan einfach mal komplett zerdeppert, die sind echt nicht ganz dicht.“
„Ich ess bei Miguel“, rief Paco auf dem Weg zur Tür über die Schulter. Ihm war das alles zu dämlich.
„Komm, Artus, wir gehen!“ Der Hund erhob sich und sprang freudig zu ihm.
Kurz vor der Tür durchfuhr ein stechender Schmerz Pacos Ferse.
„Ay ay ay“, stieß er hervor, zog eine Scherbe mit Rosenmuster heraus und steckte sie in die Tasche. So weit waren die Bombensplitter gespritzt! Er ging ins Bad und tupfte das Blut mit Klopapier ab.
„Ich sag immer du sollst nicht ohne Schuhe rumlaufen, Paco!“ rief es aus der Küche.
Ja, dachte Paco, ist hier wie im Krieg: Überall Tretminen und Granatsplitter. Er humpelte zur Tür, dort standen seine Badeschlappen. Artus folgte der Blutspur und sie traten in die Hitze. Pacos Magen knurrte, aber das war ihm jetzt gleich. Wenn er da drin bliebe, gäbe es zwar Frühstück, dafür würde aber irgendwann auch Mama auftauchen und weiterzetern mit ihm als einzigen Zuhörer. Seine Geschwister Helmut und Helga waren wo auch immer. Dann lieber fasten.
Sie überquerten die Straße Richtung Fluss und gingen zu der baufälligen Holzbohlenbrücke, die eigentlich gesperrt war. Mich hält sie aus, dachte sich Paco, wenn sogar der fette Limoni drüberwabbeln kann und nichts passiert.
Schon von der Brücke aus sah er Miguel am anderen Ufer in der Sonne liegen.
„Che boludooo!“ rief er von oben und Artus rannte bereits bellend zu Miguel und leckte ihn von oben bis unten ab.
„Boah eh, du und dein Hund!“ Miguel knuffte Paco in die Seite. Der zog sich das T-Shirt über den Kopf und sprang in den Fluss. Er ließ sich ein Stück abtreiben bis zur ersten Stromschnelle, dort packte er einen Felsen und zog sich daran hoch, umkletterte das Gebrodel und schwamm dann weiter. Paco liebte den Fluss, das Wasser ließ ihn für kurze Zeit das Kriegsgeschrei in seinem Kopf vergessen. Seine Ferse brannte, aber das war ihm egal. Er lag jetzt an einer ruhigen Stelle und ließ das Wasser an sich vorbeiströmen. Miguel kam mit Artus dazu.
„Du bist ganz schön früh auf.“
„Ja, du weißt doch – es ist Krieg.“
„Wart mal, ich kann hellsehen: neues Geschirr – schon kaputt?“
„Woher du das wieder weißt…“ Paco lachte kurz auf, aber es klang bitter.
„Ihr solltet auf Campinggeschirr umsteigen, da gibt’s was aus Blech oder Alu oder so. Damit können sich deine Alten schön bewerfen und es kriegt nur Beulen und Kratzer…“
Paco antwortete nicht. Er hielt seinen Kopf unter Wasser und ließ sein Gehirn durchspülen. Als er wieder auftauchte schnappte er sich Miguel und tunkte ihn unter. Er hatte ihn überrascht, doch sofort ergriff Miguel unter Wasser Pacos Beine und zog sie weg. Sie rangelten und prusteten, Artus bellte und platschte um sie herum, bis sie irgendwann erschöpft auf zwei großen Steinen am Ufer in der Sonne lagen. Miguel war kleiner und stämmiger als Paco und seine Gesichtszüge ließen indianische Vorfahren erahnen. Sein schwarzes Haar stand borstig vom Kopf ab und sein Gesicht hatte immer etwas Freches, als ob er sich über die ganze Welt lustig machte.
Pacos Magen knurrte laut.
„Ich könnt ne ganze Kuh fressen“, murmelte er.
In dem Moment hörte man ein langgezogenes Rufen.
„Ha – meine Mutter ruft zum Essen“, sagte Miguel, komm doch mit.
„Nee du, lass mal. Ich geh heim. Sonst gibt’s wieder Stunk. Iss du schon, ich komm nachher wieder.“