Читать книгу Patrick Hohmann - Der Bio-Baumwollpionier - Nicole Müller - Страница 6
ОглавлениеPatrick Hohmann und das weiße Gold
»Es kann nicht sein, dass ein Bauer aus Indien mein T-Shirt subventioniert.«
Ein Frühsommertag, es ist kalt und windig. Im Garten des Restaurants »Tisch + Bar«, in Riesch-Rotkreuz, haschen die Kellnerinnen nach den Speisekarten, die davonsegeln, während die Gäste mit dem Gewicht ihrer Hand die Servietten am Davonflattern hindern. Ein Kellner kniet am Boden und fegt die Scherben eines hinuntergefallenen Glases aus dem Kies. Patrick Hohmann will zahlen. Er beugt sich über das Kartenlesegerät, das ihm die Kellnerin entgegenschiebt, hält das Gerät mit beiden Händen umfangen. »Ich sehe ja nichts«, sagt er und lacht. Ein erster Tippversuch misslingt. Hohmann blickt auf und blinzelt hoch zum Gesicht der Kellnerin, geblendet vom Licht. »Ich kann nichts sehen«, sagt er und lacht noch immer, entzückt wie ein Kind, das mehrere Male hintereinander in eine Pfütze springt. Erneut beugt sich der groß gewachsene Mann über das Tippfeld, die Augen ganz nah am kleinen Bildschirm. »Jetzt hat es geklappt«, sagt er zufrieden und lehnt sich zurück. Nichts sehen und es doch nochmals versuchen. Hinausgehen ins Ungefähre, scheitern und einen weiteren Versuch unternehmen. Sich auf das Eigene konzentrieren, während die Welt davonfliegt. Es ist, als würde in dieser winzigen Szene im Kleinen sichtbar, was Patrick Hohmann als Unternehmer im Ganzen ausmacht.
Patrick Hohmann ist ein Pionier der Bio-Baumwolle. Die Firma Remei, die er zusammen mit seiner Frau Elisabeth Hohmann Holdener und weiteren Freunden gegründet hat, ist der größte Anbieter von Bio-Baumwolle weltweit. Die zertifizierte bioRe® Baumwolle und die bioRe® Textilien, die aus ihr hergestellt werden, genügen fünf Kriterien: Sie basieren auf biologischem Anbau, sind fair produziert, CO2-neutral, ökologisch und hautfreundlich. Darüber hinaus herrscht volle Transparenz über die gesamte Produktionskette. Konsumentinnen und Konsumenten können jeden einzelnen Zuarbeiter digital überprüfen, die ganze Linie zurück bis zum Bauern, der die Baumwolle ausgesät, großgezogen und geerntet hat.
Patrick Hohmann betrachtet das Geschäftsmodell, das er entwickelt hat, als Folge reiner Logik. Für den studierten Textilingenieur ist es selbstverständlich, dass man die Natur nicht mutwillig zerstört, wo sie doch die Lebensgrundlage aller Menschen ist, ganz gleich, auf welchem Kontinent sie leben. Auf Vernunft gründet für ihn auch ein Gemeinwesen, das in der Balance ist. Die ungleiche Behandlung von Menschen und die Tatsache, dass die Globalisierung den Armen ein asymmetrisches Risiko aufbürdet: Alles unlogisch. »Es kann doch nicht sein, dass ein indischer Bauer mein T-Shirt subventioniert«, so Hohmann.
Bis in die 1990er-Jahre hinein war Patrick Hohmann ein Garn- und Baumwollhändler wie andere auch. Eines Tages jedoch kommt Hohmann mit einem indischen Baumwollbauern ins Gespräch: »Ich wollte wissen, wie viel er verdient. Rund 1 Dollar pro Kilogramm. Und wie viel er davon in Chemie investiere: 70 Cents. Weil der Einsatz der Pestizide vom Staat zu 50% subventioniert ist, gehen gleichzeitig nochmals 70 Cents an die Chemie. Für wen arbeitet der Bauer also? Er hat keine Beziehung zum Händler oder zum Kunden, produziert ins Leere und verschuldet sich dabei erst noch.« Die betriebswirtschaftliche Absurdität geht Hohmann nicht mehr aus dem Kopf. Wie kann es sein, dass ein Produkt, das mehr als 1,40 Dollar Aufwand erzeugt, nur einen Dollar einbringt? Und wie kommt es, dass die Menschen in der Landwirtschaft kaum etwas verdienen, während am anderen Ende der Produktionskette, beim Geschäft mit der fertigen Kleidung, die Gewinne nur so sprudeln?
Um das Singuläre an der Lebensleistung von Patrick Hohmann zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, wie weit Baumwolle in die Gesellschaft hineinreicht. Wer sich einmal im Alltag umschaut, wird verblüfft sein, wie präsent dieser Stoff überall ist. Wir tragen T-Shirts, Blusen und Hemden. Wir schlüpfen in Jeans, streifen Baumwollsocken über. Babys liegen auf Baumwolltüchern und halten ihr baumwollenes Nuckeltüchlein in der kleinen Faust. In den Restaurants liegt makelloser Damast auf den Tischen. Wir schlafen unter Decken mit Baumwollbezügen, ziehen Vorhänge zu, alles aus 100% Cotton. Abgesehen von diesen für alle sichtbaren Textilien versteckt sich die Baumwolle aber auch in Dingen, die überraschen. So etwa in Geldscheinen oder in der Umhüllung von Kaffepads. Selbst das, was unter dem Label »Speiseöl« verkauft wird, ist oft nichts weiter als Öl aus den Baumwollsamen.
In einer umfassenden, spannend zu lesenden Studie mit dem Titel »King Cotton« hat der deutsche Historiker Sven Beckert, Professor an der renommierten Harvard University, der Baumwolle ein Denkmal gesetzt. Er weist nach, dass die industrielle Revolution von der Baumwolle entfacht wurde und Europa immensen Reichtum bescherte. Bis 1760 kleideten sich die meisten Menschen in Europa in Leinen und Wolle, in höheren Ständen vielleicht noch in Seide. Diese Stoffe kratzten, waren schwer zu waschen und ließen sich nur mit Mühe färben. Die Welt unserer Ahnen war – abgesehen von den bunten Kirchen und den schön bemalten Herrenhäusern – farblos, und sie roch ziemlich streng. Mit dem Aufkommen der Baumwolle änderte sich dies fundamental.
Beckert weist in seinen Forschungen nach, dass die Globalisierung, wie wir sie kennen, von der Baumwolle initiiert, angeschoben und zur Blüte gebracht wurde. Die tiefe Kluft, die heute den globalen Norden vom globalen Süden trennt, hat im Wesentlichen mit der Baumwollindustrie des 19. Jahrhunderts zu tun. Anders als andere Rohstoffe wie etwa Reis oder Tabak kennt die Baumwolle zwei intensive Phasen: jene auf dem Feld und jene in den Fabriken. Baumwolle muss entkernt und zu Ballen gepresst werden, ihre Fasern müssen zu Garn versponnen werden. Das Garn muss zu Stoff verwoben, gewirkt oder gestrickt werden, je nachdem, ob daraus ein Jersey-Spannlaken oder ein leichter Sommerpullover entstehen soll. Und schließlich müssen die Stoffe gefärbt und konfektioniert werden.
Es war nicht allein die Erfindungsgabe der technisch versierten Europäer und Amerikaner, nicht allein ihr Geist der Aufklärung, die Manchester, das elsässische Mulhouse oder Lowell in Massachussetts zu Zentren der Weltwirtschaft werden ließen. Es war vielmehr das, was Beckert »Kriegskapitalismus« nennt: die mit Gewalt vorgenommene Enteignung von Land und die Versklavung von Menschen in Asien, Afrika und den beiden Amerikas. Erst der Kriegskapitalismus brachte die Teilung in einen agrarisch geprägten Teil der Welt und in einen produzierenden Teil der Welt hervor. Es war die Baumwollindustrie, die ganz entfernte Gegenden miteinander verknüpfte und zu Schicksalsgemeinschaften verschweißte. »Die Baumwolle [ist] ein Schlüssel zum Verständnis der modernen Welt, der großen Ungleichheiten, die sie charakterisieren, der langen Geschichte der Globalisierung und der sich ständig wandelnden Ökonomie des Kapitalismus«,1 so Historiker Beckert.
Während Jahrhunderten bauten die indischen Bäuerinnen und Bauern Baumwolle zum Eigengebrauch an. Die Stoffe, die sie am Handwebstuhl webten, waren für sie selbst bestimmt, allenfalls noch zur Abgabe an die lokalen Herrscher. Nach der industriellen Revolution, d.h. nach dem Aufkommen des Maschinenzeitalters an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, wurden die indischen Märkte mit billigen, maschinell hergestellten Baumwollstoffen aus Europa, hauptsächlich aus England, geflutet. Damit waren die Entwicklungsmöglichkeiten der indischen Wirtschaft gekappt, die Bauern wurden gewaltsam in die Arbeit auf dem Feld gezwungen. Es ist kein Zufall, dass Mahatma Ghandi den handgewobenen Khadi-Baumwollstoff zum Symbol des gewaltfreien Widerstandes gegen die Briten machte. Voller Stolz trug er das traditionelle, handgewobene Beinkleid namens Dhoti und forderte seine Landsleute auf, einheimische Stoffe zu tragen. Damit zeigte er den Inderinnen und Indern einen Weg auf, die Einwilligung in die eigene Unterdrückung zu verweigern. Ghandis gewaltloser Widerstand war erfolgreich: Bis heute ziert das Spinnrad die indische Flagge.
Als sich im 19. und im frühen 20. Jahrhundert die Arbeiterinnen und Arbeiter in den höllisch lauten, verrauchten Fabriken Europas zu wehren begannen, höhere Löhne und Sozialleistungen verlangten, kehrte die Textilindustrie schrittweise nach Asien und Afrika zurück. In den Ländern, in denen heute Textilien produziert werden, kommt es in unregelmäßigen Abständen zu Skandalen, die uns zwar aufschrecken, die uns aber auch mit einem diffusen Gefühl der Ohnmacht erfüllen. Als am 24. April 2013 eine Näherei in Bangladesh einstürzte und 1135 Menschen unter sich begrub, war die Empörung überall auf der Welt groß. Gleichzeitig wurde aber aus der Berichterstattung ersichtlich, dass die Schuldigen nicht so einfach gefunden werden können, dass im Gegenteil gewaltige systemische Kräfte wirken, die den einzelnen Menschen oft ratlos zurücklassen.
Die Baumwollindustrie ist ein globales, arbeitsteiliges, extrem ausdifferenziertes Milliardengeschäft mit einer Menge an Stellschrauben und Parametern, von denen wir uns, die wir ganz gewöhnliche T-Shirt-Träger sind, keinen Begriff machen. Die Baumwolle wird meist in strukturschwachen Gegenden angepflanzt und geerntet. Dort fehlt in der Regel eine zuverlässige Versorgung mit Strom. Der Rohstoff wird abtransportiert und damit entschwindet für die betreffende Region auch die Möglichkeit, an der weiteren Wertschöpfung der Baumwolle teilzuhaben. Die Entkernung des Rohstoffes, das Verspinnen der Baumwollfasern zu Garn, das Weben, all dies sind Arbeitsschritte, die andernorts erfolgen, weit weg von dort, wo die Baumwolle das Licht der Sonne erblickt hat. Nicht selten wird der Rohstoff zur Weiterverarbeitung sogar in ein anderes Land gebracht. Die Baumwollindustrie ist eine nomadisierende Industrie, die der Spur des günstigsten Preises folgt: Wenn es günstiger ist, die tansanische Baumwolle in Sambia zu verspinnen, dann schafft man sie eben nach Sambia, auch wenn es in Tansania Spinnereien gibt, die die Arbeit übernehmen könnten.
Die Abnehmer von Baumwollprodukten agieren global. Die Anbieter dagegen hängen von lokalen Rahmenbedingungen ab. So ist es durchaus möglich, dass eine Regierung im Land A den Mindestpreis für Baumwolle anhebt mit dem Ziel, Mehreinnahmen für die einheimischen Bauern zu generieren. Wenn aber die globalen Abnehmer den gleichen Typ Baumwolle in Land B günstiger bekommen können, dann verdienen die Bauern in Land A nicht nur nicht mehr, sondern gar nichts mehr. Das System ist fragil und vertrackt. Auch die Tatsache, dass der Baumwollpreis in Dollar notiert, setzt die Bauern großen Risiken aus. Die Ernte kann gut sein, die Qualität auch, aber wenn der Dollar eine Abwertung erfährt, dann erhalten die Bauern real weniger Geld in ihrer Landeswährung. Zu den systemischen Risiken gesellt sich die Abhängigkeit vom Wetter, ein Risiko, das sich in Zeiten des Klimawandels laufend verschärft.
»Der Konsument trägt Baumwolle oder kauft Karotten und weiß gar nicht, was eigentlich dahintersteht«, sagt Patrick Hohmann. Will man es etwas genauer wissen, so ist man rasch mit unangenehmen Tatsachen konfrontiert. Rund 200 Millionen Menschen leben direkt oder indirekt von der Baumwolle, von ihrem Anbau oder den nachgelagerten Arbeitsprozessen. Großmächte im Anbau von Baumwolle sind Indien, China und die USA. Platz fünf, sechs und sieben belegen Brasilien, Pakistan und die Türkei. Von den jährlich rund 80 Millionen Tonnen geernteter Baumwolle ist nur ein verschwindend kleiner Teil Bio-Baumwolle, man schätzt ihren Anteil auf 1%. Baumwolle in der Art, wie sie heute üblicherweise angebaut wird, ist ein Desaster für Mensch und Umwelt. Der Aralsee zum Beispiel, der zu Usbekistan und Kasachstan gehört, war vor 30 Jahren noch so groß wie ganz Bayern. Heute ist der einstige See praktisch trockengelegt, geblieben ist eine giftige, staubige Salzwüste, eine Folge der beim Baumwollanbau in Usbekistan verwendeten Pestizide. Mit einem ausgeklügelten Bewässerungssystem haben die sowjetischen Ingenieure den 30 Meter tiefen See angezapft, denn es braucht zwischen 10000 und 20000 Liter Wasser für 1 Kilogramm Baumwolle. Wo natürliche Niederschläge fehlen, kommt es zu massiven Umweltschäden, die das Weltklima verschlechtern und uns alle angehen. Wasser ist nicht das einzige Problem. Auch die Beschädigung der »grünen Lunge« gehört zu den Folgen des industriell angelegten Baumwollanbaus. So werden in Brasilien Jahr um Jahr Tausende Hektar Urwald abgeholzt und gerodet, um Baumwolle zu pflanzen.
Es gehört zu den bitteren Ironien der Baumwollbranche, dass die Umweltsünden Hand in Hand gehen mit einer zunehmenden Verarmung der Menschen, die die Baumwolle anbauen. So muss China, der größte Baumwollproduzent der Welt, immer wieder gigantische Mengen an Baumwolle aufkaufen und horten, um die eigenen Produzenten per Staatsintervention zu schützen. Die Baumwolle wird dem Markt entzogen und künstlich verknappt, um den Preis stabil zu halten. Auch die USA verzerren mit ihrer Subventionspolitik den Markt. Bis 2014 erhielten die amerikanischen Baumwoll-Farmer mehr Subventionen, als der Verkauf des Rohstoffes einbrachte. Als Brasilien die USA wegen dieser Handelsverstöße einklagte, mussten die Vereinigten Staaten von Amerika 300 Millionen Dollar Buße bezahlen und die Subventionen an ihre Farmer in Texas, Georgia, Arkansas, Mississippi und Kalifornien streichen. Wirklich verändert hat sich aber nichts. Die Baumwoll-Farmer werden weiterhin staatlich unterstützt mit Defizitgarantien, mit Entschädigungen, die als Unterstützung für Hurrikan-Opfer getarnt sind, und mit massiv vergünstigten Ernteausfall-Versicherungen. Dabei ist es nicht etwa so, dass die amerikanischen Baumwoll-Bauern besonders begütert wären. Viele von ihnen kommen nur mit einem Zweitverdienst über die Runden, mit einem Job irgendwo in der Stadt. Sie sind ebenfalls Opfer eines Marktes, bei dem es zu keiner echten Preisbildung mehr kommt. Manche von ihnen würden gern aus der Baumwolle aussteigen, haben sich aber mit einem Maschinenpark verschuldet, der nur für die Baumwollernte zu gebrauchen ist. Eine Maschine, die die Baumwolle mechanisch erntet, kostet schnell einmal 750000 Dollar – zugleich erlauben Monokulturen wenig Flexibilität. Hinzu kommt, dass die Baumwoll-Farmer Angestellte auf der Gehaltsliste stehen haben, Menschen, für die sie sich verantwortlich fühlen. Abgesehen davon muss es eine deprimierende Erfahrung sein, ständig am Tropf der Steuerzahler zu hängen und ein Produkt herzustellen, das keinen wirklichen Gewinn abwirft.
Es gibt aktuell keine genauen Zahlen, wie viel der insgesamt angebauten Menge an Baumwolle transgen ist. Je nach Quelle wird ihr Anteil mit 64–81% beziffert.2 Zwischen 51 Millionen Tonnen und 65 Millionen Tonnen Rohbaumwolle jährlich sind folglich transgen. Das heißt, dass das Erbmaterial der Baumwollpflanze mit einem Protein manipuliert wurde, das die klassischen Baumwoll-Schädlinge tötet bzw. töten sollte. Falls Sie nicht ganz bewusst ein Kleidungsstück aus Bio-Baumwolle gekauft haben, dann tragen Sie gerade jetzt, wenn Sie diese Zeilen lesen, ein Kleidungsstück aus genmanipulierter Baumwolle. Die Erfahrung zeigt, dass in den ersten drei, vier Jahren die Ernte von genmanipulierten, hybriden Pflanzen tatsächlich üppiger ausfällt und der Verbrauch von Pestiziden zurückgeht. Nach dieser Frist jedoch entwickeln die Schädlinge Resistenzen, und das bedeutet schärfere Pestizide in noch höheren Dosen, noch mehr Genmanipulation, erneut aggressivere Pestizide etc. Genmanipuliertes Saatgut ist außerdem patentiert. Nicht zuletzt ist der Samen, der aus einer genmanipulierten Pflanze entsteht, nur eingeschränkt keimfähig. Die Idee dahinter: Der Bauer muss jedes Jahr frisches Saatgut kaufen und spült so den Großkonzernen Geld in die Kasse. Swissaid schätzt, dass drei Agrarkonzerne inzwischen rund zwei Drittel des gesamten Baumwoll-Saatgutes besitzen. Das ist nicht nur eine gefährliche Einschränkung der Bio-Diversität, sondern eine existenzielle Bedrohung für die Bauern.
»Näherinnen sind unterbezahlt«, kommentiert Patrick Hohmann, »aber die Landwirtschaft ist noch unterbezahlter.« Die Bauern in armen Ländern haben keine Ersparnisse. Deshalb kaufen sie Saatgut und Pestizide auf Pump. In der Hoffnung natürlich, dass der Verkauf der Ernte genügend Geld einbringt, um die Ausgaben zu decken. Wenn etwas dazwischenkommt – ein Schädlingsbefall, schlechtes Wetter, Wasserknappheit –, schnappt die Schuldenfalle zu. Jedes Jahr berichten indische Tageszeitungen wie »Times of India« oder »The Hindu« von Suizidserien der Bauern in ländlichen Gebieten. Obwohl der Ton der Artikel durchaus mitfühlend ist, wird selten über die effektiven Hintergründe berichtet.
Ein einzelner Mensch kann gleichzeitig viel und wenig ausrichten. Wenn Patrick Hohmann irgendwo auf dem Perron eines Bahnhofes steht, ist er ein Passant unter Passanten. Ein großer, breitschultriger, freundlich wirkender Mann in Windjacke und Chinos, den Rucksack über die eine Schulter geworfen. Er hat sein halbes Berufsleben dafür eingesetzt, das Los der Bauern zu verbessern und Baumwolle mit der Natur und nicht gegen die Natur zu produzieren. Trotzdem wird das Geschäftsmodell, das er gemeinsam mit seinen Partnern in jahrelanger Arbeit entwickelt hat, immer wieder herausgefordert und angepasst. Die Produktionsabläufe der bioRe® Sustainable Cotton & Textiles sind enormen Fliehkräften und der Übermacht einer Industrie ausgesetzt, bei der die Rendite an erster Stelle steht. Dem Sog der Maximierung zu widerstehen erfordert menschliche Wärme, Mut und sehr viel Erfindungsgabe von der Art, wie sie David zum Sieg gegen Goliath verholfen hat.
Patrick Hohmann hat Verantwortung übernommen und diese Verantwortung im Bereich der Baumwolle konkretisiert. Das ist zweifellos beeindruckend, aber nur ein Teil dessen, was ihn als Zeitgenossen so inspirierend macht. Patrick Hohmann ist ein Wirtschaftskünstler. Wenn man sein Lebenswerk verfolgt, dann verblüfft vor allem die Mischung aus nüchterner Analyse, Kreativität und Rechenkünsten, knochentrockenem technischen Wissen und Experimentierlust. Er ist Buchhalter und Philosoph in einer Person. Die absolute Akzeptanz von Schwierigkeiten hat ihn als Unternehmer erfolgreich gemacht. »Es steht nirgendwo geschrieben, dass das Leben einfach sein soll. Das Leben ist immer ein bisschen Glück und ein bisschen Unglück«, so der Unternehmer. Patrick Hohmann weiß, dass das, was er erreicht hat, fragil und beweglich bleibt. In diesem Sinne besteht die eigentliche Inspiration dieses Pioniers in einer Geisteshaltung, die mit agilen, leicht beweglichen Konstellationen umzugehen versteht und angemessen auf sie reagieren kann. Kreativ und mit feinem Gefühl für die Bedürfnisse von Mensch, Natur und Tieren.
Patrick Hohmann und sein Team weigern sich, sich entmutigen zu lassen. Einem weitgehend gesichtslosen System setzen sie das Vertrauen auf den einzelnen Menschen entgegen. Die Mächtigen werden uns nicht retten, so viel ist klar. Pioniere wie Patrick Hohmann oder Filme wie »Tomorrow« und »Fair Traders« zeigen auf, dass Veränderung im Kleinen beginnt, als eine »Grass-root«-Bewegung, die andere inspirieren und begeistern kann. Das Neue entsteht fast immer an den Rändern der Gesellschaft. Es bereitet sich langsam vor, oft im Verborgenen, getragen von einzelnen Menschen, die unzufrieden sind mit den Verhältnissen und neue Wege gehen möchten. »He may be a dreamer«, könnte man über Patrick Hohmann in Abwandlung von John Lennons Song sagen. »But he is not the only one.« Mit etwas Glück und weiteren Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, kann das Neue vom Rand in die Mitte der Gesellschaft wandern, bis man eines Tages den Kopf darüber schütteln wird, was man einst für »normal« zu halten bereit war. »Eine Systemauflösung ergibt sich nur, wenn das System überflüssig geworden ist«, meinte Patrick Hohmann einmal. Das war einer von diesen Sätzen, die er so bescheiden ins Gespräch streut und die man erst hört, lange nachdem sie gesagt worden sind. Es lohnt sich, über diese Aussage nachzudenken.