Читать книгу WELTENTRÄUMER - Nicole Seidel - Страница 4
Estel Winter
ОглавлениеNeid und Missgunst gebar sich unter den Völkern
- Kriege entstanden daraus
und verseuchte auch die vierte Welt Amar,
die nur von niederen Menschen besiedelt ward,
da diese leichter zu manipulieren waren.
8. Strophe des Götterdunkel-Epos von Archivar Cevenar
Die Sommerhitze staute sich zwischen den hellen Mauern der Gebäude und hielt die eifrigen Menschen nicht davon ab, ihren freizeitlichen Vergnügungen nachzugehen. Fast jeder dritte hielt ein Eis in der Hand und kämpfte damit, es mit seiner Zunge aufzunehmen, bevor es geschmolzen über die Hand lief. Kaum mehr ein Stuhl war unbesetzt an den unzähligen Cafés, die sich nach und nach unter bunten Sonnenschirmen, die wenig Schatten spendeten, die breite Fußgängerzone entlang schlängelten. Die stehend heiße Luft war erfüllt vom Duft schwitzender Körper, künstlichen Fruchtaromen und drückendem Ozon.
Unbemerkt bahnte sich ein schlanker, schwarzhaariger Mann seinen Weg durch die leichtbekleideten Frauenkörper jeden Alters, peinlich darauf bedacht, diese nicht zu berühren. Noch mehr Abstand wahrte er zu den stinkenden Männerleibern, deren Schweißgeruch ihm mehrmaliges Naserümpfen hervorbrachte, bevor er die Person ausmachte, mit der er in diesem nachmittäglichen Trubel verabredet war.
Am Rand einer Ansammlung von runden Tischen saß ein blonder Ponton von ihm. Überdurchschnittlich groß war dieser, von schlankem fast androgynem Wuchs, doch kräftig wie ein Silberlöwe. Der gestählte Körper des wartenden Mannes steckte in perfekt sitzenden hellen Jeans, einem weißen T-Shirt, das sich makellos über die feinen Muskeln spannte, und die pedikürten Füße wurden in teuren Designer-Flipflops präsentiert. Das lange strohblonde Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und die Augen hinter schwarzen Gläsern einer trendigen Sonnenbrille versteckt. Das Gesicht schien zu lang und das Kinn ein Tick zu spitz zu sein. Ein einladendes Lächeln lag auf den rosigen schöngeschwungenen Lippen. Eigentlich hätte dieser blonde Adonis jeden Frauenblick auf sich ziehen müssen, doch nahm fast überhaupt niemand Notiz von ihm.
Glandyr blickte seinem Freund entgegen, der sich unbemerkt seinen Weg durch die Menschenleiber bahnte. Dieser hatte sich in beige-grau-karierte knielange Bermudas und ein ärmelloses schwarzes Hemd gekleidet. An seinen perfekten Füßen staken dunkle Sandalen und das lange schwarze Haar hatte er unter einem dunkelbeigen trendigen Hut verborgen, der ihn auch etwas vor der sommerlichen Sonne schützte. Der Blonde grinste noch breiter und grüßte den dunkleren mit einer einladenden Handgeste. "Wird Zeit dass du kommst, Varyon."
Die umbradunklen Augen fixierten sein Gegenüber ungehalten. "Glandyr, du weißt wie sehr ich die Menschenwelt verabscheue. Und ich bin auch kein Fan von heißen Sommernachmittagen", maulte der schwarzhaarige Adonis, doch nicht der allerkleinste Schweißfleck zeichnete sich auf seiner dunklen Kleidung ab.
Hätte jemand der Menschen die beiden Männer tatsächlich einmal richtig betrachtet, wäre aufgefallen, dass kein unappetitlicher Schweißtropfen die blasse Haut herablief. Sie hatten so makellos helle Haut, als wäre sie noch keiner sommerlichen Sonne ausgesetzt worden. Vielleicht nahm deshalb niemand von ihnen Notiz, weil sie nicht aus dieser Realität zu kommen schienen?
"Ich hab sie gefunden", entgegnete der blonde Glandyr und nippte an seinem perlenden Wasserglas, indem die Eiswürfel bereits zur halben Größe geschmolzen waren.
"Sonst wäre ich kaum gekommen", murrte Varyon und suchte mit seinen Augen die nähere Umgebung ab, ohne dabei groß den Kopf zu wenden. "Nun, wer ist es? Ist sie hier?"
"Hinter mir am übernächsten Tisch, das alte Mädchen in Schwarz", offenbarte Glandyr ihm. Unmerklich nickte er in die besagte Richtung.
Varyon starrte über die Schulter des Freundes hinweg und erblickte eine einsame Gestalt am übernächsten runden Tischchen sitzen. Eine blasse Frau in einem schwarzen langen Sommerkleid, die schlanken Arme frei, aber voller kleiner roter Flecke - aufgekratzte Mückenstiche. Das unscheinbare ernstblickende Gesicht wurde von einer weißblonden Pagenfrisur umrahmt, deren dunkler Ansatz darauf schließen ließ, dass das graudurchzogenen Haar vor langer Zeit mal blondiert worden war. Selbstvergessen und leicht bucklig kauerte sie über einem Notebook, in das sie eifrig etwas tippte. Vor sich ein fast leeres hohes Glas mit Apfelsaft. Die Unbekannte hätte einen wunderschönen Schmollmund, wenn sie ihn nicht so verkniffen hätte und die stahlgrauen Augen verunstalteten schattige Höhlen, die ihr ein müdes Aussehen verliehen. Sie trug schwarze Kreuze umgekehrt als Ohrringe und eine billige silberne Kette in Rosenkranzform baumelte ihr über den großen Busen. Schwarze Römersandalen und schwarzlackierte Fußnägel lugten unter dem gehäkelten Saum des Kleides hervor und zeichneten sie als Gothicliebhaberin aus.
"Das ist nicht dein Ernst!"
Glandyr lachte kurz auf, war ihm die abweisende Reaktion seines Freundes zu bekannt, da auch er ähnlich reagiert hatte, als er sie erkannt hatte. "Doch, das ist sie. Versuch in ihre Gedanken zu dringen."
Varyons Geist näherte sich der eifrig schreibenden Frauengestalt. Als er sie fast erreicht hatte, hielt sie inne und blickte ihm entgegen. Doch die grauen Augen mit dem Bernsteinkranz in der Mitte schauten durch ihn hindurch in weite Ferne. Noch scheute er sich, sie zu berühren, mochte die Berührung auch nur von geistiger Natur sein. Sie war so unscheinbar, verbittert, auch schon älter und so unvollkommen, dass ihn leichter Ekel überkam. Schließlich griff er nach ihrem Geist, der sich gerade phantasievolle Bilder einer fremden, fernen Welt ausmalte.
Sein Kopf lag auf seinem rechten Arm und sie konnte sein friedlich schlafendes, hübsches Antlitz sehen. Die hohen Wangen, der grade Schwung seiner Nase und die vollen Lippen, die sie bereits geküsst hatte. Sein weißes Haar fiel ihm locker ums Gesicht und sie hätte ihm gerne eine einzelne Strähne fortgewischt, als er die Augen aufschlug. Sein silberner eindringlicher Blick erfasste sofort ihre zarte Gestalt. Wie sie dicht bei ihm stand in der viel zu großen Männerkleidung und in beiden Händen fest die Dolche umklammert hielt.
Er richtete sich auf, umfasste den Schwertgriff, hob es aber nicht an. Seine abwartende Haltung und sein gefasster Gesichtsausdruck sagten Amandyl, dass er sich nicht wehren würde, wenn sie ihm jetzt beide Klingen in den Leib rammte.
Ich muss es tun, dachte die Schwarzelfenprinzessin. Ihre Hand fuhr zu seinem Hals, die Dolchspitze drückte gegen seine Kehle, doch er nahm nur die Hand vom Schwert. "Ich sollte dich töten", flüsterte Amandyl.
"Dann solltest du es schnell tun", antwortete ihr Liendacyl und lehnte sich etwas zurück. Er bot sich ihr wehrlos dar: hob den Kopf und legte seine Kehle frei. Spreizte die Arme zur Seite und das aufgeschnittene Hemd offenbarte seine makellose Brust. Ein Stoß ins Herz oder ein Schnitt durch die Kehle und es wäre vorbei. Sie könnte zu ihrer Mutter zurück segeln und ihr Leben, wie es ihr vorbestimmt wäre, weiterleben.
Liendacyl umfasste ihre Hand und führte die Dolchspitze an sein Herz. Er drückte die Klinge tiefer in seine Haut und als Blut floss, zog sie ihre Hand zurück. Amandyl wich verwirrt vor ihm zurück, in ihr tobte ein Unwetter von Gefühlen.
Der junge Eiselfenprinz wartete und sah sie unentwegt mit seinen leuchtend silbernen Augen an. Er spielte nicht mit ihr, denn er lächelte nicht, das erkannte das Mädchen bitter. Und eine Wut loderte in ihr auf. Mit einem Wutschrei sprang sie auf ihn zu und ihr erhobene rechte Hand sauste herab.
Die Klinge bohrte sich in die hohe Lehne des Stuhls, dich neben seinem Kopf. Dann war Amandyl über ihn und suchte seine Lippen. Liendacyl zog sie zu sich herab und sie küssten einander leidenschaftlich.
Varyon riss sich abrupt aus der Liebesszene heraus, die ihm so realistisch erschienen war, als wäre er daneben gesessen und hätte Liendacyl und Amandyl gut gekannt.
Glandyr bemerkte den verblüfften Gesichtsausdruck seines Freundes und lächelte amüsiert. "Sie hat eine begnadete Phantasie, nicht wahr?" Und mit einem verschwörerischen Tonfall in der melodischen Stimme fügte er hinzu: "Leider passt du besser in ihr Beuteschema, da sie eher auf schwarzhaarige Typen steht."
Das Gefühl von innerer Erregung drückte Varyon beiseite und holte sich ins Diesseits zurück. Die schwarzhaarige Schwarzelfe Amandyl aus der Vision hatte so überhaupt nichts gemeinsam mit der weißblonden Menschenfrau, die ihm zwei Tische entfernt gegenüber saß - ohne dass diese ihn bemerkt hatte. Stattdessen hätte er ein Bruder dieser Amandyl sein können. "Was hast du alles über sie herausgefunden?"
Und Glandyr berichtete seinem schwarzhaarigen Freund, was er über die Person - die übrigens Estel Winter hieß - herausgefunden hatte.
Die freien Tage vergehen immer viel zu schnell, dachte Estel, als sie am Abend den Fernseher abschaltete und sich zu Bett begab.
Sie arbeitete von Frühling bis Herbst für Steven Miller, der einen kleinen Ausflugsdampfer für etwa 300 Passagiere hatte und seine Runden über den großen Shermontsee schipperte. Sie saß in einem kleinen Häuschen und verkaufte hauptsächlich die Fahrscheine für die Besucher, die rüber zur Sonnenschein-Insel oder an der Küste weiter zur nächsten großen Stadt Alpensville wollten. Die hüglige fruchtbare Gegend um Shermont war ein beliebtes Urlaubziel, darum war auch ganz viel der hiesigen Unterhaltung darauf abgestimmt. Dafür war im kargen Winter total tote Hose.
Frühmorgens radelte Estel, heute trug sie eine marineblaue Bermuda und eine weiße Bluse, die noch verschlafenen Hauptstraße zum See hinunter. Neben dem Verkaufshäuschen war ein kleiner Kiosk hinter den sie ihr Rad abstellte. Tory Esteban, der Besitzer des Kiosks, grüßte sie wie jeden Morgen herzlichst, während er die Auslagen mit seinen kitschigen Souvenirs öffnete und herrichtete. "Es soll heute noch heißer werden, als gestern", gestand ihr Tory, ein schnauzbärtiger untersetzter Mann mit dunkler Haut.
Mir bleibt auch nichts erspart, dachte Estel und erwiderte laut: "Das wird die Urlauber nicht von einer Tour abhalten. Schönen Tag noch, Tory." Sie schloss das Verkaufshäuschen auf, warf ihre Tasche auf das Sideboard und ging hinunter zum Kai um ihrem Chef Steven und Kapitän der MS Gloria einen "Guten Morgen" zu wünschen.
Kurz vor ihrer Mittagspause stand ein schwarzhaariger junger Kerl in der Schlange vor ihrem Verkaufshäuschen und fragte sie nach gängigen Touren aus, ohne aber ein Ticket zu kaufen. Wehmütig sah sie ihm nach und musste sich dann einem Elternpaar mit drei kleinen quengelnden Kindern widmen.
In der Pause löste sie Stevens Frau Georgina ab und Estel ging mit ihrer Vesperbox und einer Thermoskanne lauwarmen Grüntee ans Ufer und setzte sich auf die Kaimauer in die Sonne, da die schattigen Plätze schon alle belegt waren. Mit wenig Appetit aß sie ihr Wurstbrötchen, nippte gelangweilt an ihrem Tee und blickte in die Runde.
Da sah sie diesen gutaussehenden Typen wieder, der in dunkelkarierter Bermuda und einem ärmellosen Shirt an einem Baum lehnte und zu ihr herüber sah. Sah er wirklich her? Er schien ihren starrenden Blick bemerkt zu haben und schlenderte nun direkt auf sie zu. Verlegen blickte Estel weg und packte ihre Mittagsvesper zusammen.
Ein Schatten fiel auf Estel und fragte: "darf ich mich zu dir setzen?"
Sie blickte auf und der schwarzhaarige Kerl lächelte sie charmant an. Ihr Herz setzte zwei Schläge aus und sein Lächeln wurde noch charmanter. Ohne auf ihre Einladung zu warten, setzte er sich neben sie auf die Kaimauer. Estel schwieg betroffen, noch nie hatte je so ein hübscher Mann gewagt sie anzusprechen.
"Mittagspause?" fragte er.
Estel nickte, das Blut schoss ihr in die Schläfen und ihr fiel seine makellose helle Haut über den sehnig-kräftigen Muskeln auf.
"Machst du den Job schon länger?" wollte der unbekannte Schöne wissen und zeigte auf das Verkaufshäuschen.
Wieder nur ein Nicken. Verdammt, reiß dich zusammen, dachte Estel. "Schon fast sieben Jahre. Übrigens ich bin Estel Winter."
"Freut mich Estel", er streckte ihr zur Begrüßung die Hand hin. "Ich bin Varyon."
"Hallo Varyon", antwortete Estel und ergriff seine Hand.
In dieser Sommerhitze waren die schlanken Finger und die weiche Handfläche überraschend kühl und ein angenehmes Kribbeln überzog Estels Haut. Sie konnte sich an ihm nicht sattsehen, entdeckte immer wieder neue kleine Wunder an ihm. So verdeckte sein rabenschwarzes Haar den größten Teil seiner Ohren und war locker im Nacken zusammen gebunden. Er musste zudem fast zwei Meter groß sein, war sehr sportlich und hatte sehr dunkelbraune, mandelförmige Augen.
Nach bangen schweigenden Minuten ließen sich die beiden wieder los. "Ich sage es am besten ganz frei heraus", durchbrach Varyon die Stille zwischen ihnen - denn um sie herum herrschte die einlullende Hektik eines glutheißen Sommernachmittages. "Estel, ich würde dich gerne näher kennenlernen. Wann hast du Feierabend? Ich könnte dich nach Hause begleiten?"
"Oh, das ist keine gute Idee", wandte Estel ein, dachte aber: ich könnte dich auf der Stelle vernaschen.
"Warum?" Varyons Stimme hatten einen wohlklingenden Bariton.
Immer verlegener werden packte Estel ihre Sachen zusammen und erhob sich. "Ich muss noch was erledigen!" raunte sie und stürmte davon.
Der schwarzhaarige Mann blieb verwundert sitzen und sah der Frau hinterher, die hinter dem Verkaufshäuschen verschwand. Glandyr trat an seine Seite und meinte von oben herab: "Nicht besonders viel Glück bei ihr gehabt?"
Varyon schüttelte den Kopf. "Ihre Gedanken sagen etwas anderes, als dass was sie tut. Wie erfahre ich, wann sie Feierabend hat? Damit ich es erneut versuchen kann."
"Das ist einfach, mein Freund", entgegnete der Blonde über beide verdeckten, spitzen Ohren grinsend, "sieh nach den Öffnungszeiten." Dann reichte er seinem Partner ein winziges Fläschchen mit einer milchigen Substanz darin, eine eingepackte Spritze und einen daumengroßen Bergkristall. "Hier das Gift. Wenn du doch noch bei ihr landest, dann mach schnell, wir haben schon genug Zeit vergeudet."
"Du hast bei der Suche Zeit vergeudet", verbesserte ihn Varyon und steckte die Utensilien in seine Außentasche der Bermuda.
Estel schulterte sich ihren Rucksack und öffnete das Fahrradschloss. Sie war müde, brauchte dringend eine Dusche. Als sie gerade aufsteigen und losfahren wollte, bemerkte sie den gutaussehenden Kerl, der gerade auf sie zu kam. "Haben sie ...du den ganzen Nachmittag gewartet?"
Varyon nickte und sah sie wie ein betretener Pudel an. "Ich hatte heute grad nicht sehr viel zu tun."
Na, dachte Estel, dann sollte die Warterei belohnt werden. "Zu Fuß wohne ich etwa eine halbe Stunde von hier", gestand die Frau und schob ihr Rad neben ihm her.
Unterwegs unterhielten sie sich über belanglose Attraktionen, die es in Shermont gab und kamen bald an einen schlichten gepflegten Wohnblock mit zwölf Parteien an. Estel parkte ihr Fahrrad vor dem Haus und band es an einem Laternenpfahl fest.
Sie mussten keine Treppen steigen, denn die Frau hatte ihr Apartment gleich linksseitig im Erdgeschoss. "Ich hab keinen Besuch erwartet", entschuldigte sie sich schon ihm Voraus für etwaige Dinge, die unordentlich herum liegen sollten und schloss die Wohnungstür auf. Etwas verlegen blieben beide im kleinen Eingangsbereich stehen.
"Hübsch", meinte Varyon und hatte sich dabei kaum umgesehen. "Lass dich von mir nicht stören, falls du dich frischmachen willst."
"Gut, eine Dusche könnte ich schon vertragen, war ein heißer Tag." Estel deutete auf ihren Wohnbereich, während sie im Schlafzimmer verschwand. "Wenn du möchtest, kannst du dich ja auch unterstellen", fügte sie kurz darauf hinzu und ging ins Bad.
Varyon betrachtete fasziniert den mit Zeichnungen und Manuskripten überladenen Tisch neben dem Sofa. Die Frau zeichnete gut, meist Elfenporträts oder weitere Fantasiewesen aus dem Lande Ennoria. Ihr Wissen über diese Welt bestätigte dem Elbae, dass sie die richtige Person gefunden hatten. Er holte die Spritze und das Fläschchen hervor. Schon hörte er das Wasser im Bad angehen und zog die Spritze auf.
In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Emotion, als er ins Badezimmer trat. Estels Silhouette hinter dem Duschvorhang seifte sich gerade ein. Er zog sich die Sandalen und das Shirt aus und legte die Spritze griffbereit auf den Rand der Wanne.
Da hatte Estel ihn bemerkt und lugte am Vorhang vorbei. Er grinste sie an und zog sich die Bermudas hinunter. Die Frau seufzte über seinen nackten vollkommenen Anblick und bedeckte scheu ihre Blöße, als Varyon zu ihr in die Wanne stieg. Er drängte sie unter den für so einen heißen Sommertag, viel zu warmen Wasserstrahl und beugte sich über sie, um sie zu küssen. Die Frau ging ihm gerade mal bis unter die Brust.
Das warme Wasser brauste über sein langes schwarzes Haar und über das Runentattoo auf seiner Wirbelsäule. Estel verlor ihre Zaghaftigkeit und umfing den Adonis mit ihren Armen. Sehnsüchtig tasteten ihre Finger über seine helle Haut, liefen die Konturen seiner Muskeln ab und strichen ihm durchs nasse Haar. Tief blickte sie ihm in die dunklen Augen, verzehrte sich nach seinen Küssen, seiner warmen starken Nähe. Varyon griff ihr zwischen die Beine und die Frau stöhnte auf.
Das muss ein Traum sein, dachte Estel und begutachtete den Mann in ihrer Dusche. Sein Lächeln war vielversprechend, wie seine fordernden Finger. Er hatte sein nasses Haar hinter die spitzen Ohren geschoben und sie entdeckte den filigranen Kreis von Runen, der um seine linke Brust tätowiert war. Sie stutzte in ihrer Bewegung, sah genauer hin. Elfenohren und Elfenrunen?
Varyon merkte schnell dass etwas nicht stimmte und Estel vor ihm zurückdrängte. In ihren Gedanken konnte er lesen, dass sie die Wahrheit über ihn erahnte und griff sich die Frau fester. Sie begann sich zu wehren, bat ihn sie wieder loszulassen und er ergriff die Spritze. Er hatte keine Mühe die zappelnde Frau so lange festzuhalten bis er ihr den Inhalt der Spritze in die Blutbahn gespritzt hatte, dann ließ er sie los und trat zurück. Die Giftspritze ließ er achtlos in die Wanne fallen.
Estel stolperte zurück, hielt sich den Hals, wo er die Spritze angesetzt hatte und schrie fast: "Was hast du mir gegeben? Was hast du mit mir vor? Wer ...was bist du?"
Kommentarlos drehte Varyon das Wasser ab und zog den Duschvorhang beiseite. Estel kauerte sich ängstlich gegen die Fliesen und ein erster Weinkrampf schüttelte sie. Erst jetzt registrierte ihr Verstand, dass der Mann seit dem er zu ihr hereingetreten war, nie erregt gewesen war.
Varyon kletterte heraus, hielt ihr die Hand hin und bat: "Komm her!" Als sie nicht reagierte, griff er ihr in die Haare und zerrte sie mit Gewalt aus der Wanne. Zitternd stand Estel vor ihm. Er reichte ihr ein Handtuch, in das sie sich schnell einwickelte.
Auf dem Weg zum Schlafzimmer hörte er jemanden fordernd gegen die Haustür klopfen. Der Elbae packte die Frau und hielt ihr mit der anderen Hand den Mund zu. Vorsichtig ging er zur Tür und spähte durch den Spion. Estel trommelte ihre Füße gegen das Sperrholz und versuchte sich zu befreien. "Hör auf damit!" rief Varyon und öffnete die Haustür, um seinen blonden Kameraden einzulassen.
Estel erstarrte, als der zweite Mann ihr Apartment betrat. "Hallo Estel", grüßte Glandyr sie und schloss hinter sich die Wohnungstür.
"Wie lange braucht das Gift, bis es wirkt?" wollte Varyon wissen.
Der Blonde zuckte die kräftigen Schultern. "Kann bis zu einer Stunde gehen." Und als er den nackten Zustand seines Freundes bemerkte, fügte er an: "Hast du dich mit ihr schon amüsiert?"
"Nicht wirklich", gestand ihm Varyon und trug die erstarrte Estel in ihr Schlafzimmer und warf sie dort aufs Bett.
Das Handtuch löste sich, schnell raffte Estel es um ihre Nacktheit und starrte angstvoll den beiden Männern entgegen.
"Ich zieh mich an", meinte der Schwarzhaarige und verschwand.
Der ebenso gutaussehende zweimetergroße Blonde blickte sanft lächelnd auf Estel herab. Dann setzte er sich neben sie auf die Bettkante und versuchte ihr das pitschnasse Haar aus dem Gesicht zu streifen, doch sie schlug seine Hand fort. "Wir tun dir einen Gefallen", meinte Glandyr zu ihr, "wenn wir dich hier fortholen." Er versuchte es erneut.
Estel schob wieder seine Hand weg und sagte dazu tapfer: "Fass' mich nicht an! Ihr wollt mich umbringen? Wieso? Was für ein Gift war das?"
"So viele Fragen auf einmal", antwortete der blonde Elbae ruhig und betörend, "ich bin Glandyr. Weißt du was wir sind?"
"Was wollt ihr von mir?" Estel schüttelte den Kopf und wich gegen die Rückwand zurück, als Varyon neben seinem Freund auftauchte. "Es gibt keine Elfen", stammelte sie panisch.
"Wir sind auch keine Elfen", entgegnete der Schwarzhaarige, "und kommen auch nicht von Ennoria. Weißt du, wer du bist?"
"Ich verstehe das nicht!" Tränen kullerten Estel aus den stahlgrauen Augen und die beiden Männer merkten, dass sie wohl kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Das Gift schien noch nicht zu wirken.
Glandyr versuchte sie zu beruhigen, hielt sie an den Schultern fest und sprach ruhig auf sie ein. "Estel beruhige dich! Das ganze wird nicht wehtun, aber du musst dich beruhigen!" Er betonte jedes einzelne der letzten Worte.
"Sie weiß nichts", meinte Varyon, nachdem er in ihren Geist gedrungen war und spielte mit dem Bergkristall, den ihm sein Freund mit dem Gift überreicht hatte. "Ich kann nach nebenan gehen, wenn du dich noch mit ihr amüsieren willst, Glandyr?" Er legte den Kristall auf das Nachttischchen.
"Nein, Varyon. Du kannst bleiben." Der Blonde hatte von der zitternden Frau abgelassen. "Wir warten."
Allmählich schwand das Zittern und folgte einer bleiernen Müdigkeit. Estel kämpfte damit, ihre Augen offen zu halten und stöhnte resigniert. Sie fühlte in sich keinen Schmerz, das Gift schien sie nur zu lähmen, einzulullen und machte sie schläfrig.
"Es beginnt", hörte sie einen der beiden sagen. Einer - vermutlich der blonde Glandyr - zog sie auf die Matratze und drapierte eine Decke über sie. Man presste ihr den Bergkristall zwischen die Lippen und eine große warme Männerhand legte sich auf ihre Stirn. Sie hatte die Augen geschlossen. Und mit jedem vergehenden Atmen starb ihre Lebenskraft.
Sie fingen ihre Seele mit dem letzten Atemzug in dem Kristall auf und Glandyr bedeckte den toten Leib der Frau vollends mit der Decke.
Unbemerkt verließen sie das Apartment von Estel Winter und schwangen sich auf ein Motorrad. Der röhrende Motorenlärm durchbrach den schwülen Sommerabend. Sie verließen Shermont und fuhren auf direktem Wege in ein angrenzendes Waldstück. Dort stellten sie das Motorrad einfach an den Straßenrand und rannten alsbald im schnellen Laufschritt zwischen den Bäumen hindurch.
Unbeirrt fanden die beiden Elbae ihren nur für sie sichtbaren Weg und stoppten schließlich auf einer kleinen Lichtung bei einer uralten Ulme. Der knorrige Stamm war vom Blitz gepalten worden und bildete einen morschen Hohlraum. Glandyr sprach einige beschwörende Worte und die Luft um den Stammspalt flirte. Ohne zu zögern ging der Blonde darauf zu und war mit einem weiteren Schritt auch schon verschwunden. Varyon folgte ihm unmittelbar.
Die beiden hochgewachsenen Männer fanden sich in einem Raum wieder, der mit weiß-schwarzen Marmorwänden umsäumt war. Die trockenen Überreste eines alten Eichenbaumes wuchsen hinter ihnen in die Höhe, auch hier gab es einen gespaltenen Stamm, dessen Hohlraum ein Transportportal bildete. An der Wand gegenüber reihten sich drei große Schränke, in denen die Männer ihre irdenen Kleider verstauten und die eigenen eleganten dunkelblauen Elbaekleider aus mehreren Schichten Seide und golddurchwirkten Gazestoff überstreiften.
Sie vergeudeten dabei keine Zeit und eilten bald durch die weitläufigen Korridore des gewaltigen Gebäudekomplexes aus weiß-schwarzem Marmor. Ihr Dahineilen wurde von den meisten der Elbae, die ihnen unterwegs begegneten, mit missbilligenden Blicken gestraft.
Schließlich kamen Glandyr und Varyon an ihrem Ziel an. In einem Bereich des Westflügels waren mehrere Säle mit allerlei Labor-Krimskrams vollgestellt. Im größten und vordersten Saal wurde meistens unterrichtet, doch zu dieser Abendstunde war alles verwaist. Daneben lagen zwei weitere Säle, in denen die Lehrmeister ihre Experimente abhielten, davon suchten sie den hinteren auf, der auch einen Zugang in den Keller hatte - in dem sich Verliese befanden.
Meisterin Tarjanwen erwartete sie bereits und ließ von ihrer Arbeit ab, als die beiden Männer in den Saal kamen. "Habt ihr sie gefunden und mitgebracht?" fragte die Elbin mit den wallenden rostbraunen Haaren, die dreimal so alt wie die beiden Männer zusammen waren, aber man sah es ihrer zeitlosen Gestalt nicht an. Sie trug über ihrer indigofarbigen Seidenkleidung einen mit allerlei bunten Flecken verschmutzten Kittel aus silbergrauem Leder.
Varyon reichte seiner Lehrmeisterin den Bergkristall. Tarjanwen hielt ihn sich ans Auge. "Gut, dass ihr euch beeilt habt. Die Seelensteine sind lang nicht mehr so rein, wie früher und die gefangene Seele kann schneller verloren gehen."
Sie legte den Kristall in eine Vorrichtung in einer Ecke des Zimmers. Es war ein brusthohes Gestänge unter dem ein keiner Teppich lag. Ganz oben war die Halterung, der Kristall wurde unter einen Trichter gespannt und die Elbin träufelte sofort eine fluoreszierende Flüssigkeit hinein und sprach dazu magische Worte. Tropfen für Tropfen fiel die Essenz auf den Kristall und begann ihn zu schmelzen. Plötzlich zischte es und kleine Blitze und Funken sprühten vom Kristall auf. Dann fiel ein größer werdender Schatten auf den Boden und einen Lidschlag später lag ein zierliches schwarzhaariges nacktes Mädchen auf dem Teppich. Sie musste etwa zehn Jahre alt sein und schien bewusstlos.
"Das ist aber nicht die Kleine aus Amar", erwiderte Varyon verwundert.
"Das ist ihre wahre Gestalt", entgegnete Tarjanwen. "Du solltest die Kleine binden, bevor sie aufwacht. Und du Glandyr holst ihr etwas zum Anziehen."
"Das ist noch ein Kind", wandte der schwarzhaarige Elbae ein und holte aus einem Regal neben der Kellertür einige Fesselbänder hervor.
"Lass dich von ihrem Äußeren nicht täuschen, Varyon. Sie mag noch ein Kind sein, aber ein Wesen wie sie ist in jedem Alter gefährlich. Ich werde nun das Mûl-Elixier für sie brauen."
Glandyr eilte mit einer Hose und einer Tunika aus sandfarbenen feinen Linnen herbei, das sie dem Mädchen überstreiften. Nun band Varyon ihre Hände und die Füße mit den Fesselbänder zusammen. Keine Sekunde zu früh, denn schon erwachte das Kind. "Sie erwacht", fügte Varyon ein.
"Setzt sie hier auf den Stuhl und haltet sie fest", befahl ihnen Tarjanwen und zupfte sich ein Haar aus, das sie in eine Viole fallen ließ. Die darin befindliche klare Flüssigkeit löste es sofort auf.
Das Mädchen knurrte wild, als sie merkte, dass sie gefesselt war und zu einem Stuhl trug, doch sonst blieb sie überraschend ruhig.
Die rothaarige Elbae trat an das Kind heran und stieß ihr eine Hohlnadel in die Handvene. Blut quoll hervor, das sie mit der Nadel aufnahm und ebenfalls in die Viole gab. Das Blut bildete rote Schlieren die sich beim Umrühren auflösten, die Flüssigkeit blieb klar. Tarjanwen beugte sich zu dem Mädchen hinab und fragte: "Weißt du, wer und wo du bist?"
Die ungewöhnlichen hellgrünen Augen funkelten die Elbin böse an. Jede Faser ihres kleinen Körpers sagte den hochgewachsenen Elbae, wie sehr die Gefangene sie hassen musste - obgleich sie sicher noch nie in ihrem Leben einen Fuß hierher gesetzt oder Kontakt zu dem Volk der Elbae gehabt haben konnte. Schließlich legte sich ein böses Grinsen auf ihre schmalen blassen Lippen, als sie Varyon neben sich erblickte. "Ich bin Estelwen sell' Ardhol' Ôl aep Ennoria und du großer Mistkerl von einem Sylevalh-Elbae wirst einen qualvoll langsamen Tod sterben, für das was du Estel Winter angetan hast!" Das nichtssagende Gesicht des Mädchens verzerrte sich noch mehr zu einer hasserfüllten Fratze.
"Uh, jetzt bekomme ich aber Angst", schmunzelte der schwarzhaarige Elbae. Auf den Befehl seiner Lehrmeisterin griff er Estel ins Haar und fixierte ihren Kopf. Mit der anderen Hand umfasste er ihr Kinn und drückte ihr den Kiefer auf.
Estel stöhnte vor Schmerz auf, doch keiner der großen Elbae achtete auf ihre Belange. Tarjanwen goss ihr den Sklaventrank in den Mund und fuhr mit einer Geste über ihren Hals, so dass das Mädchen es auch schluckte und nicht wieder ausspuckte. "Wenn es bei ihr wirkt, dann ist sie meine Sklavin und tut alles was ich ihr befehle. Doch für heute genug, bringt sie runter in eine der Zellen."
Glandyr schob seinen Kameraden zur Seite und hob das Mädchen auf die Arme und trug sie zum Keller. Ihr Zorn war Übelkeit gewichen, das Mûl-Elixier musste sehr unangenehm geschmeckt haben.
"Was wollt ihr von mir?" fragte Estel verwirrt.
"Du wirst für uns träumen", antwortete ihr Glandyr.
"Der Sklaventrank wirkte bereits bei der ersten Dosis", erläuterte Meisterin Tarjanwen vor dem obersten Rat von Synda. Sie hatte ihren fleckigen Arbeitskittel gegen eine nachtblaue Samtrobe getauscht und ihre rostbraunen Locken mit sonnengelben Bändern zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr zeitlos schönes Antlitz wies schattige Anzeichen von Müdigkeit und Erschöpfung auf. Seit mehreren Tagen brachte sie die Nächte damit zu, den Geist des Mädchens Estelwen, die eine Tochter des Weltenträumers Aldasor war, bei ihren Träumen zu führen. "Sie ist noch zu jung, zu schwach, um unsere Welt zu verändern. Nicht einmal die Zwillinge konnten ihre Kraft erhöhen."
"Was sollen wir deiner Meinung nach nun tun?" fragte der oberste Ratsherr Melyon - ein grauhaariger uralter Elbae, dessen weises Antlitz noch ohne die üblichen Alterserscheinungen war. Er trug stets das hoch-edle Weiß und einen schlichten Goldreif mit einem weißen Diamant auf der Stirn.
"Sie hat keine Gwylwileth. Entweder besorgen wir uns irgendwoher die Tiere oder wir müssen doch ihren Vater nach Sylevalh locken. Aber er wird noch weniger dazu bereit sein, uns zu helfen, wie seine Tochter."
"Diese Schmetterlinge gibt es nur in Minuilheim", meinte eine Ratsherrin, die links neben Melyon saß, "uns ist verboten diese Welt zu betreten."
"Das weiß ich, Herrin Seryel." Tarjanwen zögerte einige Herzschläge, bevor sie fortfuhr: "Wir nutzen Estelwen als Lockmittel, um den Weltenträumer zu fangen oder zumindest seine Gwylwileth."
"Das muss gut vorbereitet werden", fügte Ratsherr Melyon an, "der Ardhol' Ôl ist eines der ältesten und mächtigsten Wesen aus Minuilheim."
Tarjanwen verneigte sich vor den dreizehn Mitgliedern des Synda-Rates und verabschiedete sich mit den Worten: "Ich habe da bereits einen Plan."