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Vielfach Nebel und Hochnebel

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Die Urteilsbegründung des Volksgerichtshofes, 2. Senat, betr. die öffentliche Sitzung vom 18. Dezember 1939, hält fest:

Nachdem der Angeklagte auf der Nebenstelle der Dresdner Bank unter den Linden noch den gesamten Restbetrag seines Reisekreditbriefes in Höhe von 305.– RM sich hatte auszahlen lassen, begab er sich nach dem Anhalter Bahnhof und fuhr nach Berchtesgaden ab. Dort traf er im Laufe des 25. Oktober 1938 ein, nahm im dortigen Hotel «Stiftskeller» Wohnung und blieb bis zum 31. Oktober 1938 im genannten Ort.

Der genannte Ort muss damals, wenn man dem «Berchtesgadener Anzeiger» Glauben schenken kann, eine beträchtliche Anziehung auf Touristen ausgeübt haben. Für den Monat August 1938 wurden, wie das Fachorgan «Der Fremdenverkehr» vermerkte, in Berchtesgaden und Umgebung 77 948 Übernachtungen gezählt. Man konnte hier oben Schuhplattler-Aufführungen sehen, verträumte Kapellen, eine bedeutende Stiftskirche, relativ unberührte Berge, ein Ganghofer-Denkmal und Hitler. Dieser hatte, seit er in seinem Berghof die Landschaft genoss, eine erkleckliche Vermehrung des Fremdenverkehrs bewirkt. Man hatte ihm auf einer Erhebung, der Reichskanzler-Adolf-Hitler-Höhe, einen Gedenkstein hingesetzt, das dankbare Gewerbe hatte allen Grund dazu. Die Präsenz des bekannten Politikers brachte nicht nur zusätzliche Touristen ins Gebirge, sondern auch einen Tross von Bediensteten, Polizisten, Soldaten, Ministerialbeamten. Gleich hinter Berchtesgaden, in Bischofswiesen, war eine Aussenstelle der Reichskanzlei gebaut worden.

«Fast jeden Tag», schreibt Josef Geiss in seiner schön bebilderten Broschüre, «besuchten Hitler Hunderte von Menschen». Er hat sich ihnen gern und oft gezeigt und Tuchfühlung mit dem Volk gehabt, Hände gedrückt, Kinder gestreichelt, ein paar freundliche Worte gewechselt. Hier war er zugänglicher als in Berlin, volkstümlicher, fast unzeremoniös, die Höhenluft hat ihn halt entspannt. Man konnte gruppenweise zum Berghof pilgern, Metalldetektoren wie heute in den Flughäfen gab es nicht, eine manuelle Durchsuchung fand nur in Ausnahmefällen statt, die Besuchergruppen wurden von den Wachtposten oberflächlich gemustert.

Er war populär.

Im Oktober war allerdings die Führer-Sightseeing-Sason schon vorbei, es gab nur noch wenige Gruppen, denen ein unauffälliger Schweizer Tourist sich hätte anschliessen können. Aber so ganz unmöglich war das nicht. Ein PR-Film des Verkehrsvereins Berchtesgaden, der im Archiv des Verkehrsvereins Berchtesgaden liegt und heute vom Verkehrsverein Berchtesgaden nicht mehr propagandistisch eingesetzt wird, denn er ist ein Stummfilm und auch politisch nicht ganz auf dem neuesten Stand, zeigt, auf eine muntere Art, wie nahe man dem Führer auf die Haut rücken konnte. Man sieht eine Reisegesellschaft, die irgendwo im Unterland den Zug besteigt, einfache Leute, die sich an der Natur und den Monumenten freuen, erster Halt München, Frauenkirche, Feldherrnhalle, Braunes Haus. Dann zunehmend gebirgige Landschaft, Winken aus den Fenstern, Verzehr von Reiseproviant, gute Laune, Ankunft in Berchtesgaden, Schuhplattler von der brünstigsten Art, ein Hotel, zufällig der «Stiftskeller», wo Bavaud abgestiegen ist, samt behäbigem Wirt, die Kapelle St. Bartholomä mit Watzmann-Ostwand, ein monumentales Berg-Kruzifix und abschließend, Sehenswürdigkeit neben andern, der Berghof. Die Reisegesellschaft säumt die schmale Strasse, auf welcher gleich der Wagen des Reichskanzlers herunterkurven wird.

Da kommt er schon, langsam, ein schönes Kabriolett, vermutlich Mercedes, der Chef lässig neben dem Fahrer, ein Dackel rennt knapp vor dem Wagen über die Strasse, das Kabriolett bremst, fährt Schritt-Tempo, der Volkskanzler ein bis zwei Meter vom Spalier der Leute entfernt und ungeschützt in nächster Nähe des Volkes – kein schlechter Moment für einen Pistolenschützen.

Der Film des Verkehrsvereins Berchtesgaden stammt aus dem Jahre 1935, als das Gelände um den Berghof noch nicht abgesperrt war. 1938 war der Zutritt viel schwieriger geworden.

Am 25. Oktober ist Bavaud in Berchtesgaden eingetroffen, am 28. Oktober kam H. «Der Führer wieder auf dem Obersalzberg, bei einem Besuch auf dem Kehlstein mit seinen Gästen, Reichsminister Dr. Goebbels und Frau und ihren Kindern Helga, Hilde und Helmut», steht im Lokalblatt unter einem entsprechenden Foto. Während H., der Kinderfreund, mit den Kindern von Goebbels poussierte, trainierte Bavaud im Wald das Pistolenschiessen; er habe, so heisst es in der Anklageschrift, zu diesem Zweck während der Spaziergänge im Walde auf Bäume aus kurzer Entfernung, etwa auf sieben bis acht Meter, insgesamt ungefähr 25 Schüsse abgegeben.

Die Schiessübungen sind nicht aufgefallen, keine Polizei ist eingeschritten. Das ist eigenartig, denn Berchtesgaden liegt nicht dort, wo Schützenvereine und Milizsoldaten das Schiessen zu einem festen Bestandteil der Landschaft machen.

Schüsse sind in dieser stillen Natur deutlich hörbar, auch solche aus einer kleinkalibrigen Pistole, der Schall trägt kilometerweit.


PR-Film des Verkehrsverein Berchtesgaden, 1935. Touristen in unmittelbarer Nähe des «Berghofs». Im Kabriolett vorne rechts: H.

(Wir haben für den Film die Szene nachgestellt. Man kann den Ton weit in der Runde nicht überhören. Und Bavaud besass keinen Schalldämpfer.)

In Berchtesgaden ging damals alles seinen gewohnten friedlichen Gang. Ende Oktober spielte das Mirabell-Tonkino an der Rainerstrasse «Diskretion Ehrensache» mit Heli Finkenzeller, Hans Holt, Theo Lingen u. d. gr. Komikeraufgebot. Der Wetterbericht des Reichswetterdienstes stellte für den 26. Oktober in Aussicht: Vielfach Nebel und Hochnebel, der sich auch tagsüber nur stellenweise auflöst, weiterhin schwachwindig und kalt, in Höhen vorwiegend heiter, leichter Nachtfrost. Im «Berchtesgadener Anzeiger» suchte gebildetes älteres Frl. mit jahrel. Erfahrung in Pensionsbetrieb, gesund und arbeitsfreudig, gewandt im Verkehr, Maschinenschr., Nähen u. beste Köchin, auch Diät und Veget., passende Stellung, Schriftl. Angebote unter C. L. an die Geschäftsstelle. Auf dem Wimbachlehen, Ramsen, war eine Kuh, beim Kalb stehend, zu verkaufen, in Bad Reichenhall kam der Jud Veilchenblau vor den Richter, und die Bergführer waren unterbeschäftigt, wie das Lokalblatt vermerkte: «Dass sich die Eingliederung der Ostmark in bezug auf Nachfrage nach Bergführern in unserem Gebiet ungünstig auswirken würde, war wohl vorauszusehen nach der langen Grenzsperre und dem begreiflichen Verlangen des deutschen Bergsteigers nach verhältnismässig leicht auszuführenden Hochtouren in den Gletschergebieten.»

Bavaud war hier fremd, er sprach fast kein Deutsch und suchte Anschluss. Die Anklageschrift hält fest:

Auf Anregung des Betriebsführers des Hotels «Stiftskeller» suchte der Angeklagte während der Schulzeit in der Oberschule in Berchtesgaden den dort tätigen Studienassessor Ehrenspeck auf und brachte diesem gegenüber nach der Vorstellung zum Ausdruck, dass er infolge seiner mangelhaften Kenntnis der deutschen Sprache einen Verkehr mit französisch sprechenden Personen in Berchtesgaden suche. In der Folgezeit waren dann der genannte Studienassessor Ehrenspeck und der von diesem weiter hinzugezogene Studienassessor Reuther wiederholt mit dem Angeklagten in verschiedenen Gaststätten in Berchtesgaden zusammen.

Die beiden Studienassessoren haben sich gefreut, sie konnten ihr Französisch praktizieren, und Ehrenspeck liess den jungen Schweizer in der Schule auftreten; endlich jemand, der den Gymnasiasten einen französischen Originalton vorführte. (Vielleicht hat Maurice mit ihnen den subjonctif durchgenommen oder eine Passage aus «Les Lettres de mon moulin» vorgelesen.)

Ehrenspeck ist unterdessen gestorben, aber Reuther, der in Würzburg lebt, erinnert sich genau an den manierlichen, sauber gekleideten jungen Mann, welcher kurze Zeit bei Ehrenspeck hospitiert und einen vortrefflichen Eindruck gemacht habe. Er habe sich als Bewunderer des Nationalsozialismus ausgegeben und sich nach den Möglichkeiten erkundigt, auf den Berghof zu gelangen und den Führer zu sprechen. So etwas sei damals häufig vorgekommen, schwärmerische Leute aus aller Herren Länder seien in Berchtesgaden aufgetaucht, um einen Blick auf den Führer zu erhaschen, und der junge Schweizer sei deshalb nicht besonders aufgefallen. Man habe ihm bedeutet, dass es wohl unmöglich sein dürfte, in einer Privataudienz von H. im Berghof empfangen zu werden; und weil dieser sich sehr unregelmässig dort oben aufhielt, habe auch keine Garantie bestanden, ihn irgendwie, wenn auch nur kurz, zu Gesicht zu bekommen. Deshalb habe man dem jungen Mann empfohlen, sich am 9. 11. nach München zu begeben, weil H. mit Sicherheit immer am Erinnerungsmarsch teilgenommen habe und Maurice dort den Gegenstand seiner Verehrung ohne jeden Zweifel würde sehen können.

Er, Reuther, sei dann aus allen Wolken gefallen, als ihn die Gestapo wegen Maurice verhört habe; desgleichen Ehrenspeck. Man habe dem jungen Mann nie und nimmer ein Attentatsvorhaben zugetraut, er sei auch nicht im geringsten nervös gewesen, und nichts, aber auch gar nichts in seinem Verhalten, hätte sie misstrauisch stimmen können. Auch Major Deckert von der Sicherungsgruppe Berchtesgaden, der hin und wieder an ihrem Stammtisch in der «Post» aufgekreuzt sei, habe keinen Verdacht geschöpft und wäre doch, als Mit-Verantwortlicher für die Sicherheit des Führers, sozusagen professionell in der Lage gewesen, etwaige unlautere Absichten des Hospitanten Bavaud zu durchschauen; dieser habe sich jedoch auch in des Majors Anwesenheit völlig locker verhalten. Man habe sich eben gar nicht vorstellen können, dass ein so korrekt gekleideter, anständiger, sanfter, ehrerbietiger junger Mann etwas Finsteres im Schilde führe; Attentäter habe man sich als dunkle, fanatische, eventuell glutäugige Individuen ausgemalt; und gar ein Attentäter aus der lieblich-harmlosen Schweiz –.

Der Vetter von Ehrenspeck, Adolf Ehrenspeck, der heute noch als Anwalt in Berchtesgaden tätig ist, hat Bavaud nicht kennengelernt, aber Willy hat ihm von der Geschichte erzählt. Auch ihm sei der Hospitant in keiner Weise verdächtig erschienen, und Attentate habe man sich generell nicht vorstellen können in dieser reinen Bergwelt. Sein Vetter sei übrigens nicht allzu gut angeschrieben gewesen bei der vorgesetzten Schulbehörde, weil er erstens nicht der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beigetreten und zweitens, obwohl schon längst im heiratsfähigen Alter, immer noch ledig geblieben war; das sei übel vermerkt worden, einen anständigen Schulmeister habe man sich damals nur verheiratet vorstellen können, und nachdem sein Vetter mehrmals freundlich darauf hingewiesen worden sei, habe er dann doch noch geheiratet, und zwar standesgemäss, nämlich die Tochter eines Oberbergrates aus den nahen Salzbergwerken, eine ehemalige Schülerin, und sei diese Ehe mit Elfriede aber nicht glücklich geworden, weil sein Vetter eher ein Einzelgänger gewesen sei und für die Ehe nicht talentiert. Auf dessen Schulkarriere habe es sich nicht positiv ausgewirkt, dass er, obwohl unwissentlich und unwillentlich, in die Sache mit diesem Attentäter verwickelt gewesen sei, eventuell sei ein kleiner Verdacht an ihm hängen geblieben, weil schon andere Minuspunkte gegen ihn vorgelegen hätten.

Das Gymnasium gibt es immer noch, und Studienrat Schertl, der schon zu Bavauds Zeiten dort unterrichtet hat, ist immer noch im Amt und sagt, alles sei damals, 1938, ganz normal gewesen, nichts Ausserordentliches sei passiert in jenen Zeiten. Er hat deutsche Literatur, Altphilologie, Geschichte und Kunstgeschichte unterrichtet, damals. Gewisse Dichter seien in der Schule nicht behandelt worden, das empfinde er als ganz normal, auch ohne staatliches Geheiss hätte er keine Lust gehabt, Brecht, Thomas Mann, Alfred Döblin durchzunehmen. Juden habe man natürlich nicht im Schuldienst toleriert, auch Kommunisten nicht, das sei selbstverständlich gewesen. Er selbst sei politisch nicht engagiert gewesen, sondern habe sich ganz normal, wie andere Lehrer, verhalten.

Alles ganz normal, sagt Schertl nach jedem dritten Satz.

In der Geschichte habe man den Akzent mehr auf die Mythen-Forschung gelegt, zum Beispiel seien die Sagen rings um den Watzmann, den bekannten Berchtesgadener-Berg, ein beliebter Schul-Stoff gewesen, auch die Geschichte des Oktoberfestes habe dazugehört. Vor dem Unterricht habe die Schülerschaft mit dem Hitlergruss gegrüsst, und nur wenige seien nicht Mitglied der HJ gewesen, Kinder von Generälen etc., deren Eltern mit Verachtung auf die Nazis heruntergeschaut hätten.

Hitler-Bilder seien, soweit vorrätig, in jedes Zimmer gehängt und dafür die Kruzifixe entfernt worden, was allerdings die überzeugten Katholiken nicht als schön empfunden hätten, in dieser traditionell frommen Gegend, und so sei denn die Mutter eines Schülers, eine spinnerte Person, nachts durch ein Schulfenster eingestiegen und habe ein Hitler-Bild ab- und das Kruzifix wieder aufgehängt.

Der Zwischenfall habe für die Frau keine Weiterungen gebracht, weil man sie als deppert angeschaut habe, so was mache ein normaler Mensch nicht. Abgesehen davon habe stets eine gute Disziplin und tadellose Ordnung geherrscht zu jener Zeit, die Kinder von Göring und Bormann seien hier zur Schule gegangen, ganz normal, ihre Väter hatten auf dem Obersalzberg den zweiten Wohnsitz. (Vielleicht hat Bavaud auch mit den Göring- und Bormann-Kindern die französische Grammatik geübt.)

Nur ganz zum Schluss sei ein unangenehmer Zwischenfall zu verzeichnen gewesen. Eine fanatische Lehrerin, die nicht merkte, dass sich das Blatt wendete, habe sich im Frühjahr 1945 auf die Strasse gestellt und einen amerikanischen Panzer mit dem Hitler-Gruss begrüsst, worauf der Panzer mit einer Maschinengewehr-Garbe geantwortet habe und die Lehrerin tot umgefallen sei. Sonst habe die Politik im Lehrkörper keine Opfer gefordert, nur im Krieg seien einige Lehrer, und natürlich auch Schüler, umgekommen.

***

Auf dem Friedhof von Berchtesgaden sind innen an der Umfassungsmauer zahlreiche Grabplatten eingelassen. Es handelt sich nicht um eigentliche Gräber, die entsprechenden Gebeine sind abwesend. Jede Platte zeigt ein wetterbeständiges Foto, meist junge Gesichter. «Zum Andenken an den tapferen Krieger Anton Stangassinger vom Gebirgsjägerregiment 137. Teilnehmer am französischen, russischen und Afrika-Feldzug», heisst eine Inschrift. «Er ruht in russischer Erde». Andere ruhen in kretischer, rumänischer, ungarischer Erde. Die Fotos schauen in Richtung Berghof, die Blicke der Toten fixieren starr den Hang, wo der andere wohnte, der ihnen die Feldzüge samt Tapferkeit eingebrockt hat.

Auf manchen Platten sind auch die Orden erwähnt, Ritterkreuz etc., usw.

Alles ganz normal.

1938 waren die hier Verewigten noch fröhliche Soldaten gewesen.

«In den letzten Tagen», schrieb das Lokalblatt zu Bavauds Zeiten, am 27. Oktober 1938, «hielt ein Bataillon des Gebirgs-Jäger-Regiments 137 seinen Einzug in Saalfelden. Am Samstag trat es zur Vereidigung an. Auf dem festlich geschmückten Hauptplatz hatten sich zur Begrüssung viele Saalfelder eingefunden. Der Führer des Bataillons, Major Heller, machte die angetretenen Rekruten auf die Mannes- und Soldatenpflichten aufmerksam und nahm ihnen den Eid ab. Jedem alten Soldaten lachte das Herz im Leibe angesichts der strammen Soldaten. Eine besondere Weihe erhielt die Feier durch die Teilnahme der Gebirgsjägermusik aus Bad Reichenhall, die nachmittags auf dem Hauptplatz ein Konzert gab.»

An Allerseelen werden die Grabplatten regelmässig mit Blumen geschmückt.

***

Man habe sich damals angepasst und ohne Anpassung keine Arbeit kriegen können, sagt Studienrat Schertl. Er sei nach

der Ausbildung arbeitslos gewesen und habe erst nach seinem Beitritt zum Nationalsozialistischen Lehrerbund die Stelle in Berchtesgaden bekommen. Man passe sich an, sagt die junge Referendarin Heike B., die seit kurzem am Berchtesgadener Gymnasium fungiert, und während der Ausbildung dürfe man zwar denken, was man wolle, aber bei der Stellen-Vermittlung spiele die Persönlichkeits-Bewertung, wie sie es nennt, eine Rolle, und einige von ihren Kollegen seien deshalb stellenlos, und sie finde diese Entwicklung beunruhigend, aber am besten verhalte man sich ruhig, machen könne man nichts. Dann zahlt sie und geht mit Studienrat Schertl wieder ins Gymnasium, der nachmittägliche Unterricht beginnt pünktlich wie immer, und wir gehen auch wieder an die Arbeit nach dem gemütlichen Mittagessen im Gasthof, und seine Bodenständigkeit wird uns lange in Erinnerung bleiben und die Knödel lange den Magen beschweren.

Am Obersalzberg gibt es keine deutschen Soldaten mehr, die Amerikaner halten die Gegend besetzt seit 1945, ihre Soldaten erholen sich vom Militärdienst und fahren dort Ski, wo einst die Häuser der prominenten deutschen Politiker gestanden sind. Sie nennen das RECREATION AREA, Erholungsgebiet. Als Villi die Uniformen sieht, wird er ganz verstört, wir müssen ihn beruhigen, er hat prinzipiell etwas gegen Uniformen und bleibt noch lange zapplig, das ist der Arbeit nicht zuträglich. Diese Seckel, sagt Villi, haben vor kurzem noch Krieg geführt in Südostasien und sich dann hier erholt, wo sich schon der andere erholte.

Villi tut, als ob der Vietnamkrieg noch nicht fertig wäre, und als ob, im Winter 1979, nicht ein Präsident regierte, der für die Menschenrechte schwärmt. Des Führers Residenz ist geschleift worden von den Amerikanern, es ist Gras darüber gewachsen. Nur die unterirdischen Gänge sind intakt geblieben, der Unterbau. Man muss 1 Mark einwerfen, das Drehkreuz bewegt sich, es geht in die Tiefe, DAS VERSCHMIEREN DER WÄNDE WIRD VON KONTROLLORGANEN ZUR ANZEIGE GEBRACHT, steht auf den von dieser Inschrift verschmierten Wänden. Es sind aber keine Kontrollorgane zu sehen, wir sind allein hier unten, und es ist kalt. Irgendwo tropft Wasser. HIER BEFINDEN SIE SICH CA. 10 METER UNTER DER ERDE. GERADEAUS SEHEN SIE: 1 MASCHINENGEWEHRSTAND UND 1 SEHSCHLITZ. Bei jeder rechtwinkligen Biegung des Ganges wieder 1 Maschinengewehrstand und 1 Sehschlitz. HINTER DIESER BACKSTEINMAUER BEFANDEN SICH DIE PRIVATEN RÄUME VON ADOLF HITLER UND EVA BRAUN. NICHT BETRETEN. EINSTURZGEFAHR. Wendeltreppen, rostige Türen, verrostete Geschichte, der Widerhall vom Schlurfen unserer Schuhe in den endlosen Gängen, Wendeltreppen und wieder ins Licht, dann Hundegebell. Ein fletschender Wolfshund, ein deutscher Schäfer, ein historischer Hund, wartet am Ausgang des Bunkers, bedroht Villi, der Hunde nicht riechen kann und wegrennt und auf das Autodach flüchtet, wohin ihm der Hund nicht folgen kann.

Hier hat früher ein renommierter Wolfshund gelebt, Blondi, der hat H. auf seinen Spaziergängen begleitet und sei von ihm geliebt worden.

***

Bei der Rückkehr in die Pension Watzmann sitzt einer am Tisch, der uns bekannt vorkommt. Irgendwo haben wir den schon gesehen. Der sitzt starr vor seinem Bier und hat eine Haarsträhne in die Stirn gekämmt, schräg. Dann reisst er die Hand hoch und ruft: Wir brauchen wieder einen Führer.


Das meint er nicht ernst, er macht sich einen Jux, und alle finden das lustig, wenn Herr L., der tagsüber in einem Comestible-Laden arbeitet, zur Karnevalszeit den H. mimt, hier, wo der richtige H. gelebt hat. Man klopft sich allgemein auf die Schenkel. Nachdem er sein Schnäuzchen abgeschminkt hat und die Strähne nach oben gekämmt ist, findet L. wieder zurück zu seiner eigenen Stimme und sagt jetzt in ruhigem Ton, er spiele den H. schon lange und mit immer gleichbleibendem Erfolg, zuerst für die amerikanischen Soldaten, dann auch für deutsches Publikum, und ein kleiner H. könne, Spass beiseite, nicht schaden in der deutschen Politik, damit die Situation bereinigt und alles Fremde ausgemerzt werde, das alte Reich werde nicht wieder kommen, aber ein kleines Deutschland, ein echtes Deutschland, und eine Ordnung.

Niemand widerspricht, im Gegenteil; breite Zustimmung am Stammtisch.

Auch die Plaketten auf dem Friedhof finden alle ganz normal. Es war ein Raubkrieg, die halbe Welt wurde verwüstet, die jungen Berchtesgadener in die Armee gepresst, Bauchschüsse, abgefrorene Glieder in Russland, Hunger, Verlassenheit und Krepieren. Vor sich den Feind und hinter sich den General, und auf dem Friedhof sind es tapfere Krieger geworden. Das muss vermutlich so sein, sonst wäre der Nachschub nicht in den Krieg gezogen, wenn die Wahrheit auf den Gräbern ständ.

Von Bavaud weiss man, dass er Pazifist gewesen ist.

Es ist kalt in Brandenburg

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