Читать книгу Der versiegelte Engel und andere Novellen - Nikolai Semjonowitsch Leskow - Страница 17
Dreizehntes Kapitel
ОглавлениеErlauben Sie, meine werten Herren, hier daran zu erinnern, daß seit dem Beginn meiner Geschichte ziemlich viel Zeit verflossen war und es schon auf Weihnachten ging. Aber dort ist das Wetter um diese Zeit mit dem unsrigen nicht zu vergleichen; es ist launisch, und einmal verbringt man diesen Feiertag bei Winterwetter, das anderemal vom Regen durchnäßt; den einen Tag friert es, den nächsten taut es; bald ist der Fluß mit schmutzigem Eise bedeckt, bald schwillt er an und führt Eisschollen wie beim Hochwasser im Frühling. Mit einem Wort, es herrscht dort um diese Zeit ganz unbeständiges Wetter, oder, wie man es in der Gegend nennt: »Schlackwetter«, — und so war es auch jetzt.
In dem Jahre, in das meine Erzählung fällt, war diese Unbeständigkeit sehr verdrießlich. Während ich mit dem Ikonenmaler auf dem Wege war, hatten wir, ich weiß nicht wie oft, bald Winter-, bald Sommerwetter. Was unseren Bau betrifft, war die Zeit sehr dringend, da die sieben Pfeiler fertig waren und eben die Ketten von einem zum anderen Ufer gespannt wurden. Unsere Arbeitgeber wollten natürlich die Ketten so schnell wie möglich miteinander verbinden, um an ihnen eine Notbrücke zur Materialbeschaffung während des Hochwassers aufzuhängen. Es gelang aber nicht, denn kaum hatte man die Ketten gespannt, als ein derartiger Frost einsetzte, daß man die Arbeit an der Brücke einstellen mußte. So blieb es auch, die Ketten hingen ohne Brücke. Dafür schuf Gott eine andere Brücke: der Fluß war zugefroren, und unser Engländer fuhr über das Eis des Dnjepr, um sich um unsere Ikone zu bemühen. Als er zurückkam, sagte er zu mir und Luka:
»Wartet, Kinder, morgen bringe ich euch euren Schatz.«
Herrgott, was empfanden wir bei dieser Nachricht! Zuerst wollten wir es geheim halten und nur dem Ikonenmaler mitteilen; aber kann denn das Menschenherz so etwas für sich behalten? Anstatt das Geheimnis zu wahren, liefen wir zu allen unsrigen, klopften an die Fensterchen, flüsterten miteinander und bemerkten gar nicht, daß wir von Hütte zu Hütte liefen. Der Schnee erstrahlte im Frost wie Edelsteine, und am klaren Himmel funkelte der Hesperus.
In dieser freudigen Hast verbrachten wir die ganze Nacht, und in der gleichen begeisterten Stimmung erwarteten wir den Tag. Vom frühen Morgen ab wichen wir keinen Schritt von unserem Ikonenmaler und wußten kaum, wohin wir ihm die Stiefel nachtragen sollten, denn jetzt war die Stunde da, in der alles von seiner Kunst abhing. Er brauchte nur einen Wunsch über eine Handreichung oder etwas ähnliches laut werden zu lassen, als schon gleich zehn davonrannten und in ihrem Eifer übereinander stolperten. Selbst der alte Maroi lief sich die Absätze von den Stiefeln weg. Nur der Ikonenmaler selbst war ruhig, da er ähnliches schon mehr als einmal erlebt hatte, und bereitete sich ohne alle Hast zu seiner Arbeit vor: er rührte Eiklar mit Kwas an, prüfte den Lack, legte ein altes Brettchen in der Größe der Ikone zurecht, richtete eine scharfe, haarfeine Säge her, spannte sie in einen starken Bogen, setzte sich dann an das Fensterchen und verrieb die voraussichtlich notwendigen Farben auf der Handfläche mit den Fingern. Wir hatten uns alle vor dem Ofen gewaschen, reine Hemden angezogen, und standen nun am Ufer und schauten nach der Stadt hinüber, aus der unser segenbringender Gast kommen sollte. Unsere Herzen schlugen bald hoch, bald verzagt.
Ach, was waren es für Augenblicke, und sie dauerten vom Morgengrauen bis gegen Abend. Endlich sehen wir, wie von der Stadt her der Schlitten des Engländers auf dem Eise daherjagt, gerade auf uns zu ... Uns alle überläuft ein Schauer, wir werfen die Mützen zur Erde und beten:
»Gott, Vater der Geister und der Engel, sei Deinen Knechten gnädig!« Und während des Gebetes fallen wir nieder auf den Schnee und breiten voll Verlangen die Hände aus, als wir plötzlich über uns die Stimme des Engländers hören:
»He, ihr Altgläubigen, da habe ich euch was mitgebracht!« Und er übergibt uns ein kleines Bündel in einem weißen Tuch.
Luka empfängt es und erstarrt: er fühlt etwas zu Kleines und zu Leichtes darin. Er lüftet die eine Ecke des Tuches und sieht, daß es nur der Beschlag von unserer Ikone ist und nicht der Engel selbst.
Wir stürzen auf den Engländer zu und sagen ihm unter Weinen:
»Man hat Euch betrogen, Euer Gnaden, das ist nicht die Ikone, man hat Euch nur ihren silbernen Beschlag mitgegeben.«
Aber der Engländer ist auf einmal nicht mehr der gleiche, der er bis jetzt zu uns gewesen ist. Sicher hat ihn die Langwierigkeit der Sache verärgert, und er schreit uns an:
»Was faselt ihr da? Ihr habt mir doch selbst gesagt, daß ich nur um den Beschlag bitten solle, und den habe ich auch erbeten, aber ihr wißt einfach nicht, was ihr wollt!«
Wir sehen, daß er aufgebracht ist, und versuchen ganz vorsichtig, ihm klarzumachen, daß wir die Ikone selbst brauchen, um eine Kopie von ihr herzustellen. Aber er hört uns nicht mehr an, jagt uns davon und erweist uns einzig die Gnade, zu befehlen, ihm den Ikonenmaler zu schicken.
Ssewastjan begibt sich zu ihm, und der Engländer fährt auf ähnliche Weise auch ihn an:
»Deine Bauern,« sagt er, »wissen nicht, was sie wollen, sie haben nur um den Beschlag gebeten und erklärt, daß du, um einen Abriß zu machen, nur die Maße brauchtest. Jetzt heulen sie, daß er ihnen nichts nütze. Aber ich kann weiter nichts tun, weil der Erzbischof das Bild selbst nicht hergibt. Also fälsche rasch das Bild, wir wollen es mit dem Beschlag bekleiden, und dann stiehlt mir der Sekretär das echte Bild.«
Der Ikonenmaler Ssewastjan versucht, als verständiger Mensch, ihn mit milder Rede umzustimmen und antwortete:
»Nein, Euer Gnaden, unsere Bauern verstehen ihre Sache schon; wir brauchen wirklich das Bild selbst. Das hat man nur zu unserer Kränkung ausgedacht, daß wir angeblich nur feststehende Nachahmungen malen könnten. Wir haben zwar Vorschriften, aber ihre Ausführung ist der freien Kunst überlassen. So ist uns beispielsweise vorgeschrieben, die Heiligen Sossima oder Gerassim mit dem Löwen abzubilden; der Phantasie des Heiligenmalers aber ist es freigestellt, den Löwen nach seiner Auffassung darzustellen. Ebenso wird der heilige Neophit mit einer Taube abgebildet, Konon Gradarij mit einem Blümchen, Timofej mit einem Heiligenschrein, Georgij und Ssawwa der Stratilate mit Lanzen und Kondrat mit Wolken, weil er die Wolken abgerichtet hat, aber jeder Ikonenmaler hat die Freiheit darzustellen, wie die Phantasie seiner Kunstfertigkeit es ihm erlaubt, und so kann ich wiederum nicht wissen, wie dieser Engel gemalt ist, den man vertauschen will.«
Der Engländer hörte sich das alles an, aber dann jagte er den Ssewastjan wie uns hinaus; wir hören auch keine weiteren Entschlüsse mehr von ihm, und so sitzen wir, meine werten Herren, wie die Krähen am Flusse und wissen nicht, ob wir ganz verzweifeln, oder ob wir noch hoffen sollen. Zum Engländer wagen wir uns nicht mehr, und nun beginnt auch noch das Wetter mit unsrer Stimmung wesenseins zu werden. Ein entsetzliches Tauwetter bricht an, es regnet ohne Unterlaß, der Himmel sieht tagsüber wie eine Rauchwolke aus und ist nachts so finster, daß der Hesperus, der doch sonst im Dezember kaum vom Himmelsbogen verschwindet, kein einziges Mal aufglänzt. Alles war düster wie in einem Gefängnis. Und ebenso begingen wir auch das Weihnachtsfest. Am Heiligenabend aber brach ein Gewitter los, und dann setzte ein Gußregen ein, der zwei Tage und zwei Nächte unaufhörlich niederströmte. Er schwemmte den ganzen Schnee weg und spülte ihn in den Fluß, auf dem das Eis blau zu werden und sich zu blähen begann, um am letzten Jahrestag zu bersten und stromabwärts zu treiben. In den trüben Wellen schiebt sich Scholle auf Scholle, und alles staut sich bei unseren Bauten. Berstend und krachend türmt sich das Eis zu Bergen, und dröhnt — Gott verzeih es mir! — wie entfesselte Höllengeister. Daß die Pfeiler diesen Druck aushielten und stehen blieben, war erstaunlich. Millionen hätten verloren gehen können. Aber uns war es nicht darum zu tun: unser Ikonenmaler Ssewastjan wurde ungeduldig, packte seine Sachen und wollte in andere Gegenden ziehen, weil er sah, daß er hier keine Arbeit erhalten werde, und wir konnten ihn durch nichts zurückhalten.
Auch der Engländer hatte anderes zu tun; das Unwetter hatte auf ihn solchen Eindruck gemacht, daß er fast von Sinnen gekommen wäre: er ging, wie man sich erzählte, immer umher und fragte alle, denen er begegnete: »Wohin bloß, wohin?« Dann hatte er sich plötzlich beherrscht, ließ Luka zu sich rufen und sagte:
»Weißt du was, Bauer: gehen wir deinen Engel stehlen!«
Luka antwortete: »Einverstanden!«
Aus Lukas Erzählung war zu entnehmen, daß der Engländer geradezu danach dürstete, Gefahren auszukosten. Er hatte also vor, morgen zum Erzbischof in das Kloster zu fahren, den Ikonenmaler als einen Vergolder mitzunehmen und zu bitten, man möge ihm die Ikone zeigen, damit sein Begleiter eine genaue Kopie für die Beschläge anfertigen könne. Währenddessen würde Ssewastjan Gelegenheit haben, sich den Engel deutlich einzuprägen, um dann zu Hause eine Nachahmung herzustellen. Wenn dann der wirkliche Vergolder die Beschläge fertig hat, wird man sie zu uns über den Fluß herüberbringen und Jakow Jakowlewitsch wird wieder ins Kloster fahren und den Wunsch äußern, dem festtäglichen Gottesdienst des Erzbischofes beizuwohnen. Er würde im Mantel in die Kapelle treten, sich in dem dunklen Altarraum an den Opfertisch stellen, hinter dem unsere Ikone auf dem Fenster steht, das Bild stehlen, es unter den Mantel stecken und jemandem befehlen, den Mantel, angeblich wegen der Hitze, hinauszutragen. Auf dem Hofe hinter der Kirche würde dann einer der Unsrigen das Bild aus dem Mantel in Empfang nehmen und mit ihm auf das andere Ufer eilen, und hier würde dann unser Ikonenmaler das alte Bild während des Gottesdienstes aus dem Rahmen lösen und das gefälschte hineinstellen, dann sollte es jemand so zurückschaffen, daß Jakow Jakowlewitsch es wieder aufs Fenster stellen könne, als sei nichts geschehen.
»Warum nicht?« sagten wir. »Wir sind mit allem einverstanden.«
»Nur gebt acht,« sagte er, »und denkt daran, daß ich sonst als Dieb dastehe; aber ich will euch glauben, daß ihr mich nicht preisgebt.«
Luka Kirillow antwortete:
»Wir sind nicht, Jakow Jakowlewitsch, solchen Geistes, daß wir unsere Wohltäter verraten. Ich werde die Ikone in Empfang nehmen und Ihnen die beiden zurückbringen, die echte und die Kopie.«
»Nun, und wenn du durch etwas daran verhindert wirst?«
»Was soll mich verhindern können?«
»Nun, du stirbst plötzlich oder ertrinkst?«
Luka dachte nach: wie soll plötzlich ein derartiges Hindernis eintreten? Aber dann bedenkt er, daß etwas derartiges in der Tat vorkommen könne, daß der Schatzgräber den Schatz finde, aber auf dem Weg zum Markte einem tollen Hunde begegne, — und er antwortete:
»Für diesen Fall, gnädiger Herr, lasse ich Ihnen einen Menschen zurück, der, wenn ich nicht eintreffe, die ganze Schuld auf sich nimmt und selbst den Tod erduldet, Sie aber nicht preisgibt.«
»Und wer ist es, auf den du dich so verläßt?«
»Der Schmied Maroi,« antwortete Luka.
»Dieser Alte?«
»Ja, er ist nicht jung.«
»Aber er sieht gar zu einfältig aus!«
»Wir brauchen auch seinen Verstand nicht. Aber er ist ein Mensch, der würdigen Geist in sich trägt.«
»Was für ein Geist kann denn in einem dummen Menschen wohnen?«
»Der Geist, Herr,« antwortete Luka, »wird nicht nach dem Verstande bemessen, der Geist atmet, wo er will und wächst gleich dem Haar bei dem einen lang und üppig und bei dem andern spärlich.«
Der Engländer überlegte:
»Gut, gut. Das sind alles interessante Empfindungen. Aber wie soll er mir heraushelfen, wenn ich in die Patsche gerate?«
»Das macht er so,« antwortete Luka: »Sie werden in der Kirche am Fenster, und Maroi draußen vor dem Fenster stehen. Bin ich dann bis zum Schlusse des Gottesdienstes nicht mit dem Bilde gekommen, so wird Maroi die Scheibe einschlagen, durch das Fenster steigen und alle Schuld auf sich nehmen.«
Das gefiel dem Engländer:
»Interessant,« sagte er, »interessant. Aber warum soll ich dem dummen Menschen mit dem Geiste glauben, daß er nicht selbst davonläuft?«
»Nun, das ist eben Sache des gegenseitigen Vertrauens.«
»Gegenseitiges Vertrauen,« wiederholte er ... »Hm, gegenseitiges Vertrauen! Soll ich für einen dummen Bauern nach Sibirien, oder er für mich unter die Knute? Hm, hm, wenn er sein Wort hält ... unter die Knute ... Das ist interessant.«
Man schickte nach Maroi, erklärte ihm, worum es sich handle, und er sagte: »Nun, was ist dabei?«
»Und du wirst nicht davonlaufen?« fragte der Engländer.
Maroi antwortete: »Warum denn?«
»Damit man dich nicht peitscht und nach Sibirien verschickt.«
Aber Maroi erwiderte: »Nun, weiter nichts?«
Der Engländer ist vor Freude lebendig geworden:
»Reizend,« sagt er, »wie interessant!«