Читать книгу Meister Siebenhardts Geheimnis - Nikolaus Klammer - Страница 6

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Prolog

20 Jahre vorher


Der Tod holte auf. Gegen Mittag verwandelte sich der eisige Regen übergangslos in ein dichtes Schneetreiben. Erbarmungslos trieb der Sturm nun dicke, feuchte Flocken fast waagerecht vor sich her. Er schleuderte sie mit aller Gewalt den drei Fliehenden entgegen. Sie konnten keine zehn Fuß weit sehen auf ihrer schmalen und rutschigen Felsenstufe mitten im Nichts der fast senkrecht aufragenden Nordflanke des menschenfeindlichen Berges Gynashort.

Es grenzte an ein Wunder, dass keiner von ihnen ausglitt und sie gemeinsam in die wolkenverhangene Tryas-Schlucht stürzten, von deren bodenlosem Abgrund sie oft nur eine Unachtsamkeit und ein Stolpern trennte.

Die schweigsame Sakket ging vorsichtig voran. Sie tastete sich mit der rechten Hand am glitschigen, nassen Felsen entlang, während sie die andere schützend vor ihr Gesicht hielt. Durch ein Seil mit ihr verbunden folgte drei Schritte dahinter Erson. Den Abschluss bildete Idris Henk Baldaar. Ihn hatte noch im Verbotenen Tal ein auf gut Glück abgeschossener Pfeil eines ihrer hartnäckigen Verfolger knapp unter dem rechten Schulterblatt getroffen und schwer verwundet. Erson hatte den Schaft zwar auf der Stelle direkt oberhalb der Wunde abgebrochen und diese dann notdürftig verbunden, aber es war nicht die Zeit geblieben, die mit Widerhaken versetzte Pfeilspitze mit dem Messer herauszuschneiden. Er hatte auch nicht die chirurgischen Kenntnisse, solch eine Operation sauber durchzuführen. Deshalb drang die Pfeilspitze mit jeder Bewegung tiefer in Idris' Fleisch und dieser gutmütige Bär von einem Mann litt gewaltige Schmerzen. Er trug sie wortlos und mit stoischer Miene.

Allerdings wurde der Schritt von Idris mit jeder Stunde unsicherer. Seine Begleiter und er tasteten sich deshalb immer langsamer auf der manchmal nur einen Fuß schmalen, zudem bröckligen Felsenstufe zwischen Himmel und Hölle weiter, von der die Gejagten hofften, dass sie ein Weg hinauf aufs Gipfelplateau und nicht nur eine weitere Sackgasse war. Sie kamen langsamer voran, als ihnen lieb war. Schließlich konnte jederzeit wieder einer ihrer Verfolger in ihrem Rücken auftauchen; einer der blutrünstigen Barbaren des Nordens, die sich selbst so trefflich Tudasgarda, der „Tod aus dem Himmel“, nannten. Weil das Freundestrio sich heimlich in die Tabuzone ihres heiligen Berges Gynashort gewagt hatte und sie dabei von einem Späher ertappt worden waren, jagte ein Trupp der besten Männer der Tudasgarda hinter ihnen her. Diese Elitekrieger hießen bei ihrem Volk, das ein primitives Wendisch sprach, Kling'Arta, also „Himmelskrieger“. Sie verfolgten die drei Eindringlinge bereits seit vier Tagen erbarmungslos durch die Wälder und über die Felsen. Und sie kamen immer näher! Manchmal meinte Erson, er könne bereits ihren keuchenden Atem in seinem Nacken spüren. Er drehte immer häufiger seinen Kopf nach hinten, versuchte, mit seinen Blicken den dichten Nebel zu durchdringen, der sich nur wenige Schritte hinter ihm und Idris wieder wie ein grauer Vorhang über den Weg schob. Der Ausblick nach vorn war derselbe: Die Flüchtigen waren gefangen in einer Welt aus waberndem, eisigem Dampf und feuchtem Schneetreiben, aus der ihnen in jedem Moment der Tod entgegentreten konnte. So viele Arten zu sterben gab es auf dem Gynashort und nur eine, am Leben zu bleiben.

Es war nicht das erste Mal, dass der verlockende Bericht von Henne, dem Biberjäger, Sakket, Erson und Idris dazu verleitet hatte, sich heimlich und vorsichtig dem himmelhohen Massiv inmitten des unwegsamen Rauen Gebirges zu nähern und sich in die verbotenen Jagdgebiete der grimmigen Tudasgarda, die ihr Land rund um den Gynashort eifersüchtig bewachten, zu schleichen. Glaubte man Hennes Erzählungen, dann barg der mächtige Berg in seinem Inneren die verborgene alte Stadt Bridon und ihre unvorstellbaren Schätze. Nie war es ihnen jedoch gelungen, einen Aufstieg auf den Gipfel und den Weg zu der alten Königsburg zu finden. Wieder und wieder hatten sie unverrichteter Dinge und mit leeren Beuteln in ihre von Kanälen gemusterte Heimatstadt Garda heimkehren und sich dem Spott ihrer im warmen Nest der Lahmen Curie zurückgebliebenen Kumpane stellen müssen.

Diese ständigen Grenzverletzungen konnten auf die Dauer nicht gutgehen und dieses Mal waren die drei Schatzjäger von einer Gruppe Himmelskrieger ertappt worden - gerade als die Gefährten endlich von weitem einen vielversprechenden Pfad den Nordhang hinauf entdeckt hatten; ganz wie es ihnen vom alten Henne versprochen worden war. Seitdem hetzten sie nun schon auf der Flucht diesen Saumpfad empor und hatten längst das Ende ihrer Kräfte, aber nicht das Ende des Weges erreicht. Wenn sie nicht bald den Gipfel des Gynashorts und damit einen Ort betraten, den die Tudasgarda nach den Worten des Jägers angeblich nicht zu betreten wagten, da sich dort der von ihren grauenvollen Daimona bewachte Eingang zu der sagenhaften Stadt befand, dann würden über kurz die abgeschnittenen Köpfe der drei auf Pfähle gespießt den Tabor der Barbaren zieren und ihre Herzen bei einem ihrer grausigen Festmahle als Speise für die tapfersten der Krieger dienen.

„Halt!“, rief Erson und stemmte sich gegen den Fels. Er griff das Seil fester, das an seinem Gürtel befestigt war und ihn plötzlich nach hinten zog. Der verwundete Idris war an einer etwas breiteren Stelle erneut ins Stolpern geraten und nur seine Verbindung mit den anderen hatte verhindert, dass er in die Schlucht stürzte. So kippte er, von Ersons Kraftakt gezwungen, auf die andere Seite gegen einen großen Felsblock, rutschte langsam an ihm zu Boden. Er rang dort pfeifend um Atem, der als dichte Wolke über seiner vermummten, in sich zusammengekauerten Gestalt stand. Sakket kam besorgt zurück, wollte sich an Erson vorbei quetschen. Er versperrte ihr den Weg.

„Wir müssen weiter! Wir können nicht schon wieder pausieren“, drängte die gertenschlanke Frau. Erson sah sie mit einer seltsamen Miene an und schüttelte den Kopf. Auch wenn er es noch nicht wahrhaben wollte: Die Flucht war vorbei, hier und jetzt. Idris würde keine fünfzig Fuß mehr weiter gehen können. Wenn er sich überhaupt noch einmal erhob. Sakket erwiderte den Blick ihres Freundes, der ihr wie ein Bruder war. Sie kannte den dicken Erson schon seit den Tagen ihrer gemeinsamen Kindheit im düsteren Waisenhaus der Gemeinschaft der Leidenden Gene in Garda und verstand ihn auch ohne Worte. Die Zeit für eine verzweifelte Entscheidung war gekommen und nur Sakket hatte von den Gefährten die Entschlossenheit, sich ihr zu stellen. Sie war eine geborene Anführerin und die treibende Kraft der kleinen Gruppe. Sie drückte sich an Erson vorbei und beugte sich zu Idris hinab, sprach aufmunternd auf ihn ein.

Aber er reagierte nicht. Erst als Sakket einen Handschuh abstreifte und mit ihrer bloßen Hand die Wange des Verletzten berührte, bewegte er sich, hustete. Dann schien er sich zu fangen und kam wieder etwas zu sich. Trotzig schob er seine Kapuze vom kahlen Schädel und sah auf. Seine großen braunen Augen, die Sakket immer an den Blick eines treuen Hundes erinnerten - so überrascht und sanftmütig blickte ihr großer Freund in die Welt - ruhten sanft und fast mitleidig auf dem Mädchen, das er wie auch Erson heimlich liebte. Er hatte nie viel von diesen Schatzsuchen gehalten und nur ihr zuliebe an ihnen teilgenommen, weil er Sakket beschützen und in ihrer Nähe sein wollte.

„Es geht nicht mehr“, stellte Idris nüchtern fest. „Hier ist mein Pfad zu Ende.“

Seine Stimme klang entschlossen. Auch Erson trat nun heran, schob einen Arm hinter die Schulter von Idris und richtete ihn ein wenig auf, weil er ihm das Atmen erleichtern wollte. Dabei hob er den Mantel seines Freundes leicht an und spähte nach dem Verband über dessen Wunde. Er klebte vollgesogen von feuchtem, frischem Blut, das das starke Herz seines Freundes großzügig aus der schweren Verletzung am Rücken pumpte. Es war ein Wunder, dass Idris es überhaupt bis hierher geschafft hatte. Bei dieser großen Wunde und dem Blutverlust hätte er eigentlich schon seit einem Tag tot sein müssen.

„Komm, mein Freund“, sprach Erson wider besseren Wissens ihm und wohl auch sich selbst Mut zu, „es ist nicht mehr weit, denke ich, vielleicht noch einen Furlong. Ich werde dich tragen.“ Idris musterte überrascht den kleinen, untersetzten Mann, mit dem er so viele Abenteuer erlebt hatte. Dann lachte er schallend.

„Vergiss es. Du kannst doch nicht einmal einen vollen Bierkrug stemmen!“ Idris' Lachen ging in ein gequältes Husten über und sein Gesicht verzerrte sich unter den Schmerzen. „Nein, hört: Ihr müsst mich zurücklassen. Vielleicht kann ich unsere Verfolger ein wenig aufhalten und euch etwas mehr Zeit verschaffen. Dann hätte das alles einen Sinn.“

Er tastete nach seiner Pistole, die er in einer Tasche an seinem Gürtel trug. Die kleine, schmale Waffe verschwand fast in seiner an Bärentatzen erinnernden Hand, die seltsamerweise sechs Finger hatte. Er richtete sich unterstützt von seinen Gefährten weiter auf, lehnte nun halb gegen den Felsen. Er spuckte Blut aus.

„Idris Henk Baldaar!“, rief Sakket vorwurfsvoll den ganzen Namen ihres Freundes. So sprach sie ihn nur an, wenn sie wütend auf ihn war. „Das machen wir auf keinen Fall! Wir schaffen es alle gemeinsam!“

„Weißt du nicht mehr? Wir drei oder keiner“, wurde sie von Erson unterstützt. Idris schüttelte müde seine Glatze und deutete mit einem ironischen Blick zurück.

„Diese Entscheidung müssen wir nicht mehr treffen“, sagte er. Gleichzeitig war ein triumphierendes Heulen zu hören. Sakket und Erson zuckten zusammen und wirbelten herum. Durch ein mutwilliges Spiel des Sturms rissen für einen kurzen Moment die dicken Schneewolken auf, zerfaserten über dem schwindelerregenden Abgrund. Tatsächlich verirrte sich ein verlorener Sonnenstrahl hinab auf das schmale Felsband. Die Sicht hinunter wurde plötzlich besser und man konnte ein langes Stück des Weges zurückblicken, den die drei geflohen waren. Erst jetzt bemerkten sie, wie hoch sie schon waren; ihr Pfad hatte sie schon viele Furlong über den Talgrund hinauf geführt. Und auf diesem engen Weg rannten ihnen auch weiterhin ihre Verfolger hinterher! Sie waren noch immer ihrer Beute auf der Spur.

Nur wenige hundert Fuß hinter und zwei Serpentinen unter ihnen kamen fünf, nein, sechs Krieger der Tudasgarda eilig näher. Wie Schweißhunde hetzten sie den Pfad entlang, missachteten dabei die Gefahren des schmalen Felsenabsatzes. Endlich hatten sie ihre Jagdbeute entdeckt und es war ihr vielstimmiger, zufriedener Ruf, der zu den dreien herauf klang. Die Himmelskrieger beschleunigten noch ihr Tempo und kamen in halsbrecherischer Geschwindigkeit heran, gerieten dann jedoch an der Bergflanke aus dem Blickfeld der wie zu Eis erstarrten Gejagten, weil der Pfad einen Bogen in einen kleinen Tobel machte, den ein Wasserfall an dieser Stelle in den Fels gegraben hatte. Erson wusste noch, dass dort viel lockeres Geröll und Splitt über den Weg gerutscht war und die Stelle zusammen mit dem von oben herabstürzenden Wasser nur schwer begehbar machte; vor allem, wenn man wie die Tudasgarda kein festes Schuhwerk, sondern nur zusammengebundene Lederstreifen an den Füßen trug. Aber bald würden die furchterregenden Krieger wieder aus dem Einschnitt im Felsen auftauchen und dann gerieten Sakket, Erson und Idris in die Reichweite ihrer todbringenden Pfeile und den Bolzen ihrer Armbrüste. Den Gefährten blieben nur noch wenige Augenblicke.

Idris fingerte an dem feuchten Knoten, mit dem das Sicherungsseil an seinem Gürtel befestigt war, das ihn mit den anderen verband. Seinen klammen Fingern gelang es nicht, ihn zu lösen.

„Bei Inets brennendem Schwanz! Vielleicht wollt ihr mir mal helfen?“, fluchte er. „Was wartet ihr noch? Ich bin der einzige, der eine Waffe besitzt, auch wenn sie nur ein Spielzeug ist. Verdammt!“

Erson wurde rot. Dass die drei ihre Jagdflinte verloren hatten, war seine Schuld gewesen. Er hatte ungeschickt nach ihr gegriffen. Dabei war sie ihm aus den feuchten Fingern geglitten und unwiederbringlich in eine tiefe Felsspalte gerutscht.

„Niemals“, antwortete er trotzig, aber da hatte Sakket schon kurzentschlossen ihr Messer gezogen und schnitt einfach das Führungsseil durch, an dem Idris verzweifelt zerrte.

„Was ...?“ Ohne auf seinen Protest zu achten, packte sie Erson am Oberarm, zog ihn zurück, weg von seinem Freund. Ihr Griff war kraftvoll und zwingend. Sie nickte Idris aufmunternd zu, der sich nun hinter dem niedrigen Felsen eine Deckung suchte und mit seiner Pistole in die Nebelschwaden zielte, die sich wieder über den Weg gelegt hatten.

„Nein!“ Erson riss sich trotzig von Sakkets Umklammerung los und drehte sich erneut zu Idris. Er wollte nicht wahrhaben, dass die drei ihr Blatt bereits ausgereizt hatten. Er würde seinen Freund hier am Ende der Welt nicht einfach im Stich lassen und den Kling'Arta der Tudasgarda opfern. Das konnte nicht sein, das passte nicht in sein Weltbild. Es musste einfach noch einen Ausweg geben. Bisher war da immer einer gewesen: Das eine Schlupfloch, das er zuverlässig lange vor den beiden anderen entdeckte und durch das sie sich immer wieder aus einer Gefahr hatten retten können. Erson hatte es noch jedes Mal entdeckt. Auch heute würde ihm etwas einfallen ...

Ein schwarzer Schatten zischte so knapp an Ersons Kopf vorbei, dass er das dunkle Brummen einer wütenden Libelle zu vernehmen meinte. Das Geschoss schlug direkt hinter ihm in die mürbe Felswand. Ein paar Holzsplitter von dem Bolzen und kleinere Steinbröckchen spritzten Erson von der Seite ins Gesicht und rissen seine Wange blutig. Abgelenkt hob Erson die Hand zum plötzlichen Schmerz und sah überrascht zurück. Gleichzeitig ertönte Idris erster Schuss und wurde grollend wie ein ferner Donner von den Felswänden zurückgeworfen, laut in den Ohren klirrend. Wie die Friedensglocke von Kalar hörte er sich an. Freilich verfehlte Idris auf diese Entfernung sein Ziel um einige Fuß, jenen ersten und vorwitzigsten der Tudasgarda-Krieger, der jetzt auf dem Pfad nur eine einzige Kehre unter ihnen erneut aus dem Bergschatten aufgetaucht war und mit seiner Armbrust auf die Flüchtigen angelegt hatte. Dennoch erreichte der Schuss von Idris, dass sich der trotz der bitteren Kälte halbnackte Mann eilig hinter den Felsvorsprung zurückzog.

Der große Mann wandte sich halb zu Erson, brüllte ihn an, ohne die Felskante aus den Augen zu lassen, hinter der der tätowierte Krieger Schutz gesucht hatte:

„Der Bolzen könnte jetzt auch in deinem Auge stecken. Und dann würde dir auch deine legendäre Gesundheit nicht mehr helfen. Hau endlich ab; du kannst hier nichts mehr tun! Ich habe ein volles Magazin im Lauf und eines im Gürtel stecken und solange ich schießen kann, wird sich keiner trauen, seine Nase vorzustrecken!“ Wie zur Demonstration drückte er ein weiteres Mal ab und schoss ein flüchtiges Loch in die sich weiter verdichtenden wirbelnden Schneewolken.

„Aber sie werden dich töten!“

„Versteh endlich, Erson. Ich bin doch schon lange tot. Seit mich dieser beschissene Pfeil erwischt hat. Inet sei verdammt! Warum machst du es mir so schwer? Nimm mein Opfer an.“ Dann sah er doch noch flüchtig zu Erson und in seinem dunklen Welpenblick lagen Zärtlichkeit und Abschied.

„Du hast mich vor dem Stadtbüttel von Garda gerettet, weißt du noch? Und aus dem Straflager in Segdaheim befreit. Jetzt revanchiere ich mich, mein Freund.“ Seine Stimme brach und er wischte sich über die Augen.

„Blöder Schnee“, murmelte er und konzentrierte sich wieder auf die Flanke, hinter der sich ihre Feinde vor seinem Sperrfeuer verbargen. Er hatte alles gesagt. Sakket trat hinter Erson und legte ihre Hand auf die Schultern des verzweifelten kleinen Mannes, der zum ersten Mal in seinem Leben um seine nächsten Worte rang und keine fand.

„Es hat keinen Sinn“, sagte sie nüchtern. „Lass uns endlich gehen.“ Kurz noch zögerte Erson, dann drehte er sich mit einem Schulterzucken um und stapfte wie beleidigt den schmalen Pfad ein paar Fuß weiter hinauf, bis das Seil zwischen ihm und Sakket gespannt war.

„Lebewohl, mein Geliebter. Die Mutter der Leidenden sei auf all deinen Wegen mit dir. Ihre Tränen sind meine Tränen, ihr Schmerz wühlt in meiner Brust ...“, flüsterte Sakket den Anfang des Maraia-Gebets und folgte Erson. Sie ließ sich widerstandslos von ihm weiterziehen. Idris sah ihnen hinterher, bis sie im Nebel verschwanden. Er murmelte etwas, aber niemand hörte seine Worte.

Verbissen und so eilig, wie es ihnen bei dem kaum erkennbaren Pfad möglich war, stolperten Sakket und Erson weiter. Das Opfer von Idris durfte nicht vergebens sein. Bald verbreiterte sich die Felskante und damit auch der Pfad. Er war jetzt zwar leichter begehbar, aber die Fliehenden kamen trotzdem langsamer vorwärts. Denn der Weg führte nun erheblich steiler nach oben und auch das Schneetreiben wurde noch dichter. Doch stumm und stur setzten sie einen Schritt vor den nächsten, vom Grauen in ihren Rücken vorwärts getrieben. Allein auf ihren Weg konzentriert stapften sie weiter, nur selten blieb einer der beiden kurz um Atem ringend stehen. Keiner hatte dem anderen etwas mitzuteilen. Aber beide lauschten sie immer wieder angestrengt nach hinten. Sie nahmen es erleichtert zur Kenntnis, wenn erneut ein oder zwei Schüsse zu hören waren. Einmal meinte Erson sogar, Idris triumphierend rufen zu hören.

Endlich, sie waren sicher schon eine Stunde auf diese Weise an der kahlen Flanke weiter den Berg empor gewandert, brach Sakket in Ersons Rücken das Schweigen:

„Nimmt dieser Kothaufen von einem Berg denn nie ein Ende? Ich habe das Gefühl, wir sind auf diesem verdammten Pfad schon dreimal um ihn herumgestolpert ...“ Erson blieb keuchend stehen und wartete kurz, bis Sakket ihn eingeholt hatte. Dann ging er weiter und erklärte:

„Der Gynashort ist nach der Wendspitze die höchste Erhebung zwischen Seeland und der Provinz“, spielte er den Reiseführer. Es tat ihm gut, lenkte ihn und vielleicht auch Sakket etwas ab. „Höher ist nur noch das Babelmassiv jenseits des Alten Südwalls. In Hennes Karte steht, dass der Gynashort nach dem alten wendländischen Längenmaß exakt 3296 Meter hoch ist. Wenn ich mich nicht täusche, sind das etwa 17 Furlong, also zwei Meilen ...“

„Exakt sind das, auf drei Stellen gerundet, 16,384 Furlong oder 2,048 Meilen“, unterbrach ihn Sakket und schaffte es fast, Erson zum Lächeln zu bringen. Jedes Kind, das der Orden der leidenden Gene in seinem Waisenhaus in Garda aufgezogen hatte, brachte etwas Besonders mit sich, das es für die Adepten und Magister interessant machte. Bei Idris waren das die zusätzlichen Daumen, die auf dem Rist seiner Hände saßen, bei Erson selbst seine verblüffend schnelle Selbstheilung nach Verletzungen. Er war auch noch nie krank gewesen. Und Sakket? Nun, sie konnte erstaunlich gut mit Zahlen umgehen. Die Geschwindigkeit, mit der sie rechnete oder mathematische Zusammenhänge begriff, war einzigartig.

„Also gut“, fuhr er fort, „nehmen wir an, dass wir den Gynashort bereits zwölf Furlong hoch erklommen hatten, als wir diesen Felsenpfad fanden - also schon ein gutes Stück über der Baumgrenze waren - dann sollten wir es nicht mehr weit bis zum Gipfelplateau haben, vielleicht noch zwei Stunden oder drei, auf jeden Fall sind wir lange vor Sonnenuntergang ...“

Ein entsetztes Kreischen unterbrach Ersons gelehrten Vortrag. Obwohl es nach nichts Menschlichem klang, war es doch der verzweifelte Todesschrei eines in den Abgrund Stürzenden. Spitz und schrill drang er aus der Tiefe der Schlucht zu ihnen empor. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Schrei dort unten im bodenlosen Nichts verklang, nur langsam leiser werdend. Beide lauschten. Aber es war nichts weiter zu hören, kein Rufen, keine Schüsse. Nur das Heulen des Windes drang an ihre Ohren. Der Berg hatte sich seine majestätische Ruhe zurückerobert. Was auch immer weit unter ihnen geschehen war, welches Drama sich abgespielt hatte: Jetzt war es vorbei.

„Ob die Tudasgarda noch hinter uns her sind? Meinst du, er hat sie alle aufhalten können?“, fragte Erson und vermied es, den Namen seines Freundes auszusprechen. Sakket schüttelte den Kopf.

„Wir müssen weiter“, presste sie zwischen ihren dünnen Lippen hervor und übernahm wieder die Führung. Hatte der Wind den Schnee bislang so nass und schwer aus den Wolken getrieben, dass er sofort auf dem Boden und auf der dadurch wie ein Bleigewicht lastenden Kleidung der Flüchtenden schmolz, so verwandelten die sich Flocken jetzt in kleine und harte Kristalle. Sie bildeten eine gefährlich rutschige Eisschicht auf dem Pfad. Sie knirschte wie mit ihren Zähnen zornig unter den Sohlen der festen Schuhe. Nur langsam tappend kamen die beiden voran. In der eisigen Höhe, deren Luft einem dünnen Messer gleich durch ihre Nasen in die Lungen stach, wurde es ihnen immer schwerer, Atem zu finden. Die Felleisen mit den Vorräten und dem Zelt drückten mit jedem Schritt heftiger auf ihre gebeugten Schultern. Für den dicken und kurzatmigen Erson wurde es bald zur Qual. Funken tanzten vor seinen Augen und er schwankte beim Gehen. Doch Sakket zog ihn einfach weiter.

Ersons Gedanken gingen zurück an den Tag, an dem er und seine Gefährten zum ersten Mal von der goldenen Stadt im Herzen des Gynashorts gehört hatten. Das war in der Lahmen Curie gewesen, der etwas verrufenen Spelunke am großen Binnenhafen von Garda. Sie war eine schmierige und verräucherte Bruchbude, die wacklig auf ihren Stelzenfüßen über dem stinkenden Tryas-Kanal balancierte, der den gesammelten Unrat und die Abfälle der Stadt zum Fluss schwemmte, oft auch einen Selbstmörder oder einen Leichnam, aus dessen Rücken noch der Griff eines Messers ragte. Garda war eine arme, von Verbrechen und Streitigkeiten gequälte Stadt ohne Recht und Ordnung. In ihr kämpften drei mächtige Kaufmannshäuser und eine Diebesgilde um die Vorherrschaft und die Diebe waren unter ihnen noch die ehrlichsten und den Gesetzen am treuesten. Der Stadtbüttel war bis in die Knochen korrupt und der Stadtrat eine Mördergrube, in der die Vertreter der Kaufleute eine handfeste Politik betrieben und regelmäßig mit Knüppeln übereinander herfielen.

In der Lahmen Curie gab es allerdings den besten Bisamratten-Braten nördlich des Rauen Gebirges und das dunkle Bier war billig und süffig. Das allein hätte schon genügt, das Gasthaus zum beliebtesten Treffpunkt der Seefahrer, Kaufleute und Gauner zu machen. Oft waren auch alle drei Professionen in einer einzigen zwielichtigen Person vereint, die im Schatten einer der Nischen des Lokals ihren undurchsichtigen Geschäften nachging. Die günstige Lage des Gasthauses gegenüber des größten Bordells von Seeland machte die Lahme Curie allerdings zu einer wahren Goldgrube, in der die humpelnde Wirtin wie eine Spinnenkönigin ihre Netze webte.

Auch die miteinander wie Geschwister verbundenen drei jungen Menschen, die sich nach ihren elenden Hungerjahren im Waisenhaus der Gemeinschaft der Leidenden Gene ewige Treue und Freundschaft geschworen hatten und sich im Hafen mit mehr oder weniger legalen Handlangerarbeiten über Wasser hielten, waren Stammgäste bei der Lahmen Curie und lauschten jeden Abend mit roten Ohren begierig den Erzählungen, die die weitgereisten Gäste am Kaminfeuer vor einer interessierten Runde zum Besten gaben.

Die großartigste Geschichte war jene gewesen, die der alte Jäger Henne mit leuchtenden Augen von der legendären Stadt Bridon zu erzählen wusste. Dreitausend Jahre nach dem Fall der Vorgänger, jener legendären Vorzeit, als mit den Feuersternen, die vom Himmel fielen, der Großen Welle nach dem Sturz des bleichen Máni und dem buchstäblichen Zerbersten der Erde das diesige Morgenerwachen der Geschichte stattfand und die ersten ungenauen Erinnerungen der heutigen Welt begannen, hatte sich der Sage nach über Bridon in einem gewaltigen, jede Beschreibung spottenden Erdbeben innerhalb von Augenblicken der Gynashort emporgefaltet und die Stadt schlicht unter sich begraben - mitsamt ihren überraschten Bewohnern, all den Wundern ihrer Techné und ihren gewaltigen Schätzen. Denn es steht geschrieben, dass in jener Stadt der diamantengeschmückte Palast der Könige vom Vorher, der goldene Hort der Vorgänger bewahrt würde. Dies geschah während der entsetzlichen Reichskriege zwischen den Herrschern Máeriqas, Turini Sud und dem weisen König Launin, Kriegen, die das Aussehen der Welt bis heute prägten und zugleich das letzte Aufblitzen des Abendrots über der Welt der Vorgänger bedeuteten. Bridon war der Mittelpunkt von Máeriqas' Reich gewesen - Máeriqas, der der Unglückselige genannt wurde. Er wurde mit seinem Land, seiner Königsburg und seinen Untertanen von den Gesteinsmassen des Rauen Gebirges verschüttet. Das war beinahe dreitausend Jahre her oder auch viertausend; niemand wusste das so genau. Doch noch immer hatte der Berg seine Geheimnisse nicht preisgegeben.

Seit der Erzählung von Henne suchten Sakket, Idris und Erson nach einem Eingang in den Gynashort, einen Weg ins mythische Bridon. Fünf Jahre ihres Lebens hatten die drei inzwischen für ihre Suche verschwendet. Und wohin hatte sie das alles geführt? Idris war wohl tot und Sakket und Erson längst dabei, ihm auf seinem Weg zu folgen. Sie weigerten sich nur, es wahr zu haben.

Sakket blieb plötzlich stehen. Erson bemerkte es zu spät und rumpelte in ihren Rücken. „Schau“, sagte sie und deutete auf den Boden, „wir sind tatsächlich nicht die ersten hier oben.“

Neben dem Pfad hatte jemand ein paar Steine zu einem Hügel aufgeschichtet. Oben auf der Spitze der künstlichen Pyramide steckte ein kurzer Stab, an dem Bänder mit Fluchsprüchen, Tierknochen und Sträuße von kleinen länglichen Gegenständen im Wind tanzten. Letztere sahen Erson ein wenig nach zusammengebundenen, vertrockneten Chilischoten aus. Er sah genauer hin und erschauderte. Das waren mumifizierte menschliche Finger! Die Warnung der Tudasgarda war eindeutig: Bis hierher und nicht weiter!

Während der Pfad hinter ihnen auch auf natürliche Weise entstanden sein konnte, waren an dieser Stelle endlich Stufen in den Felsen gehämmert. Unter der Schneedecke konnte man sie kaum ausmachen, aber direkt vor den beiden Schatzsuchern endete der Felsenweg. Es begann eine von Menschen geschaffene Treppe, die die ansonsten unüberwindliche Felsenklippe empor kletterte und die an einigen ausgesetzten Stellen sogar rostige eiserne Ketten als Geländer aufwies. Erson folgte dem weiteren Aufstieg mit dem Blick. Die bequemen Stufen waren etwa einen halben Fuß hoch und vier Fuß breit. Sie führten steil empor; nach jeweils vierzig von ihnen kam ein Absatz und sie änderten die Richtung. Das ging so weiter, bis die gewaltige steinerne Treppe sich weiter oben vor seinem Blick in den Wolken verbarg. Erson bückte sich und wischte eine Stufe vom Schnee frei. Sie war erstaunlich sauber und glatt gearbeitet, wirkte wie poliert. Erson konnte sich nicht vorstellen, dass die barbarischen Himmelskrieger zu solch einer feinen Arbeit in der Lage waren, noch dazu in diesen Höhen, in denen bereits die Luft dünn war. Das sah ihm tatsächlich nach einer Arbeit von erfahrenen Steinmetzen aus, so unglaublich dies in dieser Höhe sein mochte.

„Meinst du, das haben die Vorgänger geschaffen?“, fragte Sakket ehrfürchtig.

„Wohl nicht, die Treppe wurde sicher erst nach dem Untergang der Alten Reiche in den Fels gemeißelt; lange, nachdem der Gynashort entstanden ist.“ Erson zögerte. „Es kann freilich auch sein, dass unsere Geschichtsschreibung irrt und Bridon später in den Berg hinein gebaut wurde. Es ist wie die Geschichte mit dem Ei und der Henne. Was war zuerst?“

Sakket lachte befreit auf und klopfte ihrem Gefährten anerkennend auf die Schulter: „Auf jeden Fall ist hier oben etwas. Bisher habe ich die ganze Geschichte von dem Weg auf den Berg nicht geglaubt. Mich hätte es auch nicht gewundert, wenn der Pfad plötzlich vor einem Abgrund zu Ende gewesen wäre. Aber das hier sieht mir doch ganz nach einer Einladung aus.“

„Die haben aber nicht die Tudasgarda ausgesprochen“, erwiderte Erson und erntete einen der Pergamentstreifen von dem grausigen Speer neben der ersten Stufe. Er vermied dabei sorgfältig eine Berührung der eklen Mumienfinger, die wie lebendig mit den Böen spielten. „'aSaqe dAlegk – w'DanQo sol TudAsqo eLegk'“, entzifferte er mühsam die unleserliche und verwische Schrift auf dem Papier. „Das ist altwendisch und wenn ich es richtig übersetze, soll das heißen: 'Gehst du weiter, dann frisst deine Eingeweide ein silberner Tod'.“

„Charmant. Was ist das: Ein silberner Tod?“, erkundigte sich Sakket. Erson zuckte mit den Schultern.

„Ich habe keine Ahnung. Eine Waffe vielleicht? Oder eine Krankheit? 'TudAsq eLegk', ein Tod aus Silber. Jedenfalls wird er auch auf den anderen Spruchbändern erwähnt. Wer den Gipfel betritt, ist ihm ausgeliefert. Offenbar hatte der alte Henne Recht. Der Gipfel ist ein Tabu der Tudasgarda. Dieser Speer stellt eine Art letzte Warnung dar. Etwas verbirgt sich dort oben vor den Augen der Welt. Es muss den Himmelskriegern verdammt wichtig sein, dass niemand zur Spitze des Gynashorts vordringt. Wenn ich denke, wie hartnäckig sie uns verfolgen ...“ Er verstummte abrupt, denn ihm war Idris eingefallen. Auch das Mädchen schien an ihn zu denken und eine Weile standen die beiden stumm beieinander, in ihren Gedanken verloren. Obwohl beide nicht besonders abergläubisch waren, wollte keiner den ersten Schritt tun.

„Dann schauen wir mal, was wir finden“, sagte Erson schließlich und ließ das Papier mit dem Fluch los. Es flatterte wie ein aufgeregtes Insekt im Wind davon. Er band sich von dem Seil los, das sie beim Treppensteigen nur behindert hätte. Sakket rollte es sorgfältig zusammen und steckte es zurück in ihr Felleisen.

„Welche Farbe mein Tod hat, ist mir egal. Der in meinem Rücken ist jedenfalls blutrot. Wenn der vor mir silbern ist, dann ist das zumindest ein Hoffnungsstreifen“, erklärte sie dabei. Sich in einen grimmigen Humor zu flüchten, war Sakkets Art, mit gefährlichen Situationen umzugehen. Erson wusste das und lächelte deshalb pflichtschuldig, auch wenn ihm alles andere als zum Spaßen zumute war.

Anfänglich war es schwierig, die überfrorene, schlüpfrige Treppe zu begehen, aber nach den ersten einhundert Fuß hatten sich die beiden an das stupide Aufwärtssteigen gewöhnt und fielen in einen gleichmäßigen, kräfteschonenden Rhythmus. Der Aufstieg wurde auch leichter, weil der Wind weiter oben stärker blies und der Schnee sich nur an ungünstigen Stellen auf den ausgesetzten Stufen hielt. Sie gewannen schnell an Höhe, aber insgesamt war es wesentlich anstrengender, die steilen Treppenstufen zu erklimmen, als vorher dem nur gemäßigt aufwärts führenden Pfad zu folgen. Auf jedem der quadratischen, erstaunlicherweise mit feinen flaschengrünen Fliesen ausgelegten Absätze – jeden zierte ein weiterer der unappetitlichen Speere, an denen neben den warnenden Spruchbändern Dinge hingen, die keiner der beiden genauer untersuchen wollte – verschnauften sie für ein paar Minuten, um dann den nächsten Abschnitt der Treppe in Angriff zu nehmen. Sie schien sich endlos nach oben fortzusetzen, buchstäblich eine Treppe in den Himmel hinein. Erson fiel unsinnigerweise ein altes Lied ein, das er nicht aus dem Kopf bekam und beim Stufensteigen vor sich hinsummte.

An einem Absatz, der durch eine überhängende Felskante einigermaßen vor Wind und Schnee geschützt war, rasteten die beiden Schatzsucher etwas länger. Sie kauerten sich eng beieinander in eine Ecke, zitternd in ihre Mäntel vergraben. Erson kramte aus seinem Rucksack, den er neben sich abgelegt hatte, hartes Zweibrot und gepökelte Lammfleisch-Streifen hervor. Beides verband sich im Mund zu einem salzigen Brei, mit dem man Ziegel hätte verfugen können. Aber es war die erste Mahlzeit des Tages und sie schlangen sie mit Hilfe ihres Wasservorrates gierig hinunter. Erson fühlte Sakkets prüfenden Blick auf sich ruhen.

„Was?“

„Ach, es ist nichts weiter“, erwiderte sie und musterte neugierig sein feistes Gesicht, das ihn auf Menschen, die ihn nicht kannten, harmlos und naiv wirken ließ. Das Mädchen wusste, wie sehr dieser erste Eindruck täuschte. „Ich bin nur jedes Mal von neuem verblüfft, wie schnell deine Wunden abheilen. Vorhin war deine linke Wange noch von dem Bolzenschuss des Tudasgarda aufgerissen und blutig. Und jetzt kann ich gerade noch ein wenig Schorf entdecken. Das ist schon etwas ganz Besonderes.“

„Das dachten die Brüder im Waisenhaus auch. Sie haben mit Genuss an mir herumexperimentiert. Besonders der Adept Seyferd hatte seinen Spaß. Ich weiß nicht, wie oft er mich mit kochendem Wasser verbrüht oder an einer Kerze verbrannt hat, um anschließend neugierig den 'Heilungsprozess' zu untersuchen, wie er das nannte ...“, erinnerte sich Erson grimmig, während er mit einer Hand über seine fast verheilte Wange strich, deren tiefe Fleischwunde er längst vergessen hatte. Er wischte dabei den letzten Schorf weg. Die Haut darunter war makellos. Ja, seine Wunden heilten schnell. Deshalb war er auch für die Bruderschaft so interessant gewesen.

„Wie könnte ich ihn vergessen“, nickte Sakket düster. „Er war oft in der Nacht im Schlaflager der Jungen unterwegs und suchte sich seine Opfer. Wir Mädchen hörten ihr Weinen durch die Zimmerdecke. Sicherlich hat ihn sich inzwischen Inet geschnappt.“

Erson wusste, dass dem so war, dass Seyferd schon lange im eisigen Feuer der Hölle schmorte, aber er behielt sein Wissen für sich. Was zwischen ihm und dem Adepten in jener Nacht vor bald zehn Jahren geschehen war und wie dieser dabei eines intimen Körperteils und anschließend seines Lebens verlustig ging, bevor Erson mit Sakket und Idris in der Verwirrung des von ihm gelegten Feuers aus der Folterkammer in die zweifelhafte Freiheit der Kanäle von Garda floh, hatte er allerdings noch nie jemandem erzählt; selbst der Frau nicht, die er liebte. Manchmal träumte er noch davon. Es gab Wunden, die konnte sein Körper nicht heilen; sie bluteten in seinem Inneren noch nach Jahren.

„Wie spät mag es sein?“, wechselte Sakket zu Ersons Erleichterung das ihm unbequeme Thema und streckte prüfend ihre Nase in den Wind. Aber hier, inmitten des dichten Nebels der grauen Schneewolken, die der Sturm weiterhin hartnäckig gegen die Bergflanke trieb, war nicht einmal zu erahnen, in welcher Richtung die Sonne stand. Die beiden hatten bei all den Serpentinen und Drehungen ihres Weges vollkommen die Orientierung verloren und Sakket hätte es nicht verwundert, wenn ihr Erson erklärt hätte, dass sie die Erde längst verlassen und in Ariels lichtem Himmelsreich umherstolperten.

Auch Erson schnupperte in den Wind. Seine zuverlässige goldene Zwiebel, die er einem reichen betrunkenen Geldsack aus Bedendorf gestohlen hatte, über den er einmal zufällig im Schlamm des Straßengrabens vor der Lahmen Curie gestolpert war, war längst stehengeblieben, weil er bereits vor Tagen vergessen hatte, sie aufzuziehen. Er musste raten.

„Ich denke, es ist inzwischen später Nachmittag. Wüsste ich nicht genau, dass der Gynashort nicht der Berg der Götter ist, würde ich denken, wir klopfen gleich an die Pforten von Arielsgarda.“ Offenbar hing er ähnlichen Gedanken nach wie seine Freundin.

In diesem Augenblick hörten sie es beide: Deutlich ertönten eilige, aber feste Schritte, die unter ihnen die Treppe emporstiegen. Auch das gleichmäßige, wenngleich angestrengte Keuchen von mehreren Männern klang kurz zu den Rastenden herauf. Dann war wieder Ruhe. Beide starrten sich betroffen an.

„Das kann nicht schon ...“, begann Sakket panisch. Erson legte ihr sofort einen Finger auf die Lippen. Er rutschte zur Seite und spähte vorsichtig über den Rand des gefliesten Absatzes in die Tiefe. Ein ganzes Stück unter ihnen, einige Treppenkehren und drei-, vierhundert Fuß tiefer, erkannte er die Schemen der grausamen Krieger der Tudasgarda, die unverdrossen die Stufen zu ihnen emporstiegen. Dass die beiden ihre Verfolger gehört hatten, lag wahrscheinlich an einer Laune des Windes, der nun von unten stramm in die Höhe blies. Nur dieser Glücksfall hatte sie davor bewahrt, bei ihrer Rast von den brutalen, bis an die Zähne bewaffneten Himmelskriegern überfallen zu werden. Erson begann zu zählen, dann scheuchte er Sakket auf.

„Schnell, wir müssen weiter“, drängte er und half ihr in die Höhe. Sie warfen ihre Felleisen über und hetzten die nächste Treppe empor. „Es sind nur noch drei Verfolger übrig“, sagte Erson, „Idris hat ganze Arbeit geleistet.“

„Das sind immer noch zu viele. Wir könnten uns nicht einmal eines Einzigen von ihnen erwehren. Ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell wieder an uns herankommen!“

„Wir können es nicht ändern. Deshalb sollten wir auf der Gipfelebene sein, bevor sie uns einholen. Und hoffen, dass der alte Henne Recht hatte und die Tudasgarda es nicht wagen, auf den Gynashort zu klettern.“ Er sah nach oben, aber ein Ende der Treppe war immer noch nicht zu erkennen. Eine steil emporragende Felsklippe, um die sich die Stufen in einer langgezogenen Wendel aufwärts drehten, verdeckte nun die Sicht.

„Der Weg nach oben ist unsere einzige Chance“, ergänzte er. Gleichzeitig ertönte von unten ein dreistimmiges Triumphgeschrei. Ihre Verfolger hatten sie ebenfalls entdeckt und vervielfachten ihre Bemühungen, ihre Opfer einzuholen, bevor diese den Gipfel erreichten. Doch die langsam schmaler werdende Treppe um die letzte, mächtige Klippe machte es niemandem leicht: Verfolgte und Verfolger rutschten bei fast jedem Schritt aus, rappelten sich wieder auf und kämpften sich weiter empor, Stufe für Stufe, Absatz für Absatz, hinauf in das immer dichter werdende Grau des Himmels, in dem nadelfeiner Schneegeriesel die größeren Flocken ersetzt hatte und wie erkaltete Asche in ihre Augen wirbelte. Die beiden konnten kaum mehr nach vorn sehen. Obwohl Sakket und Erson verzweifelt ihre letzten Reserven mobilisierten, kamen ihnen die Krieger immer näher. Das war ein grausames Rennen, das die beiden nicht gewinnen konnten.

Dann, die schrecklichen Tudasgarda waren nur noch einen Absatz unter ihnen, war überraschend die Treppe zu Ende. Sakket und Erson stolperten die letzten Stufen hinauf und standen vor einer massiven, senkrechten Felswand. Hier fand ihre Flucht ein Ende. Sie waren in einer ausweglosen Sackgasse gefangen.

„Das darf nicht sein!“, schrie Sakket verzweifelt und schlug mit der Faust gegen den Felsen. „Die Götter können uns nicht so verhöhnen.“

„Dort!“ Erson deutete aufgeregt zur Seite. Einige Schritte weiter links war eine eiserne Leiter fest mit dem Stein verankert; ihre weit auseinander liegenden Sprossen führten geradewegs in schwindelerregende Höhe. Sie wirkte nicht sehr vertrauenerweckend oder stabil, aber sie war der einzige Weg weiter hinauf.

„Da lang!“

Die beiden stürzten zu der Leiter und machten sich an den schwierigen Aufstieg; das Mädchen voran, das geschwinder und natürlich weitaus flinker als der dicke Erson war. Schnell verbreiterte sich der Abstand zwischen den beiden. Die Leiter wackelte unter der Erschütterung und Rost rieselte hörbar im Inneren der Rohre herab. Die brüchigen Metallsprossen waren häufig durchgebogen und ab und an fehlte auch eine; ihre mit Feuchtigkeit vollgesogenen Umhänge und die schweren Rucksäcke behinderten sie beim Klettern und zogen sie nach unten. Aber die beiden kamen doch voran und hatten bereits die Hälfte der Felswand überwunden, als der erste der Tudasgarda auf dem Absatz unter ihnen auftauchte und sich verblüfft umsah, weil die Flüchtigen sich scheinbar in Luft aufgelöst hatten. Dann entdeckte er ebenfalls die Leiter. Aber anstatt Anstalten zu machen, den Flüchtigen weiter zu folgen, holte er von seinem Rücken die geschulterte Armbrust, mit deren tödlichen Bolzen Erson schon einmal nähere Bekanntschaft geschlossen hatte. Der Krieger lud seine Waffe gemächlich und zielte dann mit aller Ruhe. Auf diese Entfernung konnte er die beiden überhaupt nicht verfehlen, die ja nicht ausweichen oder Schutz suchen konnten, sondern wie die Ziele in einer Schießbude hilflos an der Wand hingen. Gerade als der grimmige Krieger den Auslöser betätigen wollte, erreichten seine Partner ebenfalls laut keuchend den Absatz neben der Leiter.

„Ne, da laqo! Seq w'Dalod … taboo“, brüllte einer in einem barbarischen Altwendisch. Er trug auf seiner Glatze einen Helm in der Form eines Stierkopfes mit zwei geschwungenen Hörnern und war der Anführer der Verfolger, ein Kriegshäuptling der Tudasgarda. Mit einer fast spielerischen Geste seines Kampfstabs stieß er den Krieger mit der Armbrust gedankenschnell zur Seite. Dieser stolperte panisch mit den Armen rudernd auf den Abgrund zu und wäre fast die Treppe hinabgestürzt. Seine Waffe flog allerdings in hohem Bogen durch die Luft und zerbrach auf ihrem Weg die Stufen hinab. Der Tudasgarda hatte seinen Schuss allerdings noch abgeben können, er verfehlte Sakket und Erson offenbar, auch wenn Erson zuerst nicht wusste, wo der Bolzen gelandet war. Erst als er nach oben sah, um Sakket zum Weiterklettern anzufeuern, entdeckte er den gefiederten Bolzen-Schaft, der eine Handbreit aus ihrem Rucksack ragte. Sie musste dort etwas besonders Festes hineingepackt haben, das ihr nun das Leben rettete, denn die Wucht des kleinen Pfeils hätte sonst mühelos das Felleisen, ihre dicke Winterkleidung und ihren Leib durchbohrt. Die mit Bronze verstärkten Armbrustbolzen der Himmelskrieger konnten fingerdicke Kupferplatten durchschlagen. Erson erschauderte bei dem Gedanken, wie knapp seine Freundin dem Tod entgangen war und fragte sich, was sie dort in ihrem Gepäck verbarg, das einen Bolzen stoppen konnte. Aber noch waren die beiden längst nicht in Sicherheit. Sie mussten schleunig weiter die Leiter empor! Erst wenn sie über dem Rand der Klippe waren, waren sie fürs Erste in Sicherheit.

Der erstaunte und aufgeregt gestikulierende Krieger unter ihnen balancierte sich aus und machte einen drohenden Schritt auf seinen Anführer zu, aber dieser bezwang ihn mit einem einzigen abschätzigen Blick. Der Himmelskrieger ging sofort in die Knie und neigte seinen nackten Schädel in Demut, bis die Stirn den Boden berührte. Erst dann schlug der Mann mit dem Stierhelm einmal fest mit seinem Stab auf den Boden. Diese Mischung aus Waffe und 'Zauberstab' bezeichnete ihn nicht nur als eine wichtige Persönlichkeit unter den Tudasgarda, sondern auch als Schamanen, der in den Mysterien der Himmelskrieger unterrichtet war, heilen konnte und mit seinem grausamen Daimon Zwiesprache hielt. Es war ein heiliger Mann; ihn zu bedrohen, war Ketzerei. Der Gehörnte sagte ein paar für Erson unverständliche Worte zu seinen beiden Begleitern, dann wandte er sich zu der Treppe, lehnte seinen Stab vorsichtig gegen die Felswand. Nach einem kurzen Zögern umfasste er die Handläufe der eisernen Leiter, rüttelte einmal fest an ihnen. Sakket und Erson waren eilig weiter gestiegen, das Mädchen hatte inzwischen fast schon am oberen Ende der Leiter erreicht. Aber die Erschütterung der mürben Metallrohre und die Worte, die der Schamane ihnen zurief, ließen beide verharren. Sie mussten sich festhalten, damit sie nicht wie reifes Obst herunterfielen.

„Flieht nicht weiter! Niemand darf euch noch etwas antun. Oberone sei mein Zeuge, ich spreche wahr. Dies ist der Hohe Ort der Tudasgarda; der Eingang in Inets Reich. Der Gipfel des Gynashorts ist tabu; selbst den Göttern graut vor ihm. Wer ihn erreicht, ist doppelt gesegnet. Denn hier darf kein Blut mehr vergossen werden. Hierher gelangt nur, wer bereits gestorben ist“, dröhnte seine kraftvolle Stimme zu den zwischen Himmel und Erde Schwebenden hinauf. Der Schamane sprach zu Ersons Verblüffung akzentfrei seine Muttersprache. Es war die herbe, einfache Sprache der Provinz, die die lingua franca der Händler und Kaufleute der Welt war. Der Stierhelm erschütterte damit einige Vorurteile von Erson. Er hatte die Tudasgarda nur als verrohte Barbaren kennengelernt, die kaum eine Stufe über den Wölfen und Bären in ihren mit zugespitzten Holzpfählen gesicherten Taboren lebten, erst seit kurzem des Feuers mächtig waren, aber noch immer ihr Fleisch ungebraten fraßen und ab und an auch die Innereien harmloser Wanderer. Aber er hatte seinen Freund Idris nicht vergessen und dachte nicht daran, einem der Himmelskrieger zu trauen. Selbst wenn er in der melodiösen Ostsprache avec la langue angélique parliert hätte.

„Weiter!“, rief er Sakket zu. „Lass ihn reden.“

„Wahrlich! Ihr seid gesegnet. Auf euch liegt der Finger der Vorgänger und er presst sich in euer Herz. Kehrt mit uns um und wir werden euch sicher zu den Grenzen unseres Landes begleiten. Euch wird von den Tudasgarda kein Leid mehr geschehen. Bei Oberone, Neptunion und Ariel! Bei den ewigen Wächtern der Wälder, der Gischt der Wellen und den Wolken über Tudasgard. Ich schwöre es. Und steht denn nicht geschrieben im 3. Buch des Baruch: „Du hast dein Haupt auf den Gipfel des Berges gelegt. Vor deinem nun strahlenden Blut neigen sich der Himmel und die Erde in Ehrfurcht. In Frieden und Wahrheit wirst du eingehen in mein Reich.“

Erson konnte sich bei so viel ergreifendem Pathos nicht zurückhalten:

„Du kannst lesen?“ Er lachte spöttisch.

Es war sicherlich ein Fehler, den Schamanen zu beleidigen, der gerade ihr Todesurteil aufgehoben hatte. Aber die alten heidnischen Naturgottheiten der Tudasgarda waren nicht die seinen und mit dem spitzfindigen und zweideutigen Buch des Baruch, dessen wirre Weisheiten er im Waisenhaus hatte auswendig lernen müssen und in dessen Namen der Adept Seyferd Unaussprechliches getan hatte, brauchte man ihm wirklich nicht zu kommen. Er verharrte auf seiner Sprosse, spuckte in die Tiefe und verfehlte den Schamanen nur knapp.

„Ich mag mich täuschen, aber hat der alte Schwätzer nicht weiter gesagt: „Verflucht ist dein Geschlecht bis ins vierzehnte mal vierzehnte Glied und es wird verkümmern an der Sünde, die du begingst. Wende dich nicht um, denn zurück kannst du nicht.“

„Was machst du?“, rief Sakket entsetzt, die endlich ein gutes Stück über Erson am Ende der Leiter angekommen und dabei war, sich über ihren Rand zu schwingen. „Warum reizt du ihn? Er hält unser Leben in seiner Hand. Nur sein Wort hindert seine Krieger daran, sich auf uns zu stürzen.“

Der Anführer der Himmelskrieger hatte offenbar keine Lust mehr, sich auf eine theologische Diskussion mit Erson einzulassen. Wieder erzitterte die Leiter unter seinem harten Griff. Aus einigen der Verankerungen bröckelten kleine Steine und das Metall der Leiter quietschte wie unter Protest. Die Stimme des Schamanen war nun voller Hass, während er immer mächtiger an den Handläufen riss. Erson vermeinte fast zu erkennen, wie dessen Muskeln dabei anschwollen.

„Auf dem Gipfel erwartet euch keine goldene Stadt. Denn diese sucht ihr doch, nicht wahr?“, schrie der Schamane wütend und zerrte weiter. „Dort oben warten auf euch nur die bleichen Knochen eurer Vorgänger, ASKUFT, das Orakel ... und der TudAsq eLegk, der ewige Wächter. Noch niemandem ist es gelungen, an ihnen vorbei zur verschlossenen Tür zu gelangen. Sie werden euch vernichten, wie alle Frevler vor euch! Kommt herunter, ihr Narren. Das Gift des silbernen Wächters ist längst in euch. Mit jedem Luftholen atmet ihr es tiefer ein! Es wird euch zerfressen wie alle anderen, die sich hierher wagten.“ Er wandte sich an seine Begleiter und zischte ihnen in seiner Sprache etwas zu. Sie traten an seine Seite und packten ebenfalls die rostige Leiter.

Endlich erkannte Erson, was die Krieger vorhatten und panisch begann er, die wackelnden Sprossen weiter emporzusteigen, um Sakket endlich einzuholen. Die Leiter schwankte gefährlich und erste Verankerungsbolzen lösten sich so leicht aus dem Fels, als wäre dieser aus Gips.

„Wenn ihr nicht kommt, dann pflücken wir euch wie die reifen Apúls-Früchte! Und euer Blut wird nach dem Willen der Daimona nicht hier oben vergossen, sondern im Tal, in das ihr stürzen werdet! Das ist kein Frevel.“ Der Schamane lachte höhnisch. „Der Weg nach unten ist lang. Ihr werdet Zeit haben, eure Sünden zu bereuen.“

Den drei Kriegern gelang es mühelos, gemeinsam mit einem Ruck das untere Drittel der brüchigen Leiter aus dem Fels zu zerren. Dann stießen sie auf mehr Widerstand. Sie traten zurück und rissen weiter, dabei selbstmörderisch über dem Abgrund hinter ihnen balancierend. Überall sprangen die Bolzen wie Korken aus geschüttelten Schaumweinflaschen aus ihren Dübellöchern oder brachen an den Flansch-Nähten. Plötzlich ging es für Erson nicht mehr senkrecht, sondern in einem steilen Winkel nach oben. Dadurch kam er schneller voran. Aber nur kurz, denn direkt über seinem Kopf brach die Leiter von den Scherkräften ermüdet an ihrer linken Seite mit einem lauten Knall auseinander. Sie kippte schräg mit ihrer panisch weiterkletternden Last zur Seite, sich dabei verwindend, hing sie nur noch an der dicken rechten Stange, deren Metall wie unter Schmerzen kreischte. Die Tudasgarda jubelten und verdoppelten ihre Anstrengungen. Nur eine akrobatische Verrenkung verhinderte gerade noch, dass Erson kopfüber in die Tiefe stürzte. Er umklammerte mit Armen und Beinen den übriggebliebenen Handlauf und schwang sich mit ihm vom Felsen weg, anschließend wieder auf ihn zu. Dabei brachte er sich in eine günstige Position. Dann zerbarst auch das rechte Eisenrohr.

Sakket schwang sich in diesem Moment über die Kante der Leiter in Sicherheit, die oben bei ihr noch einigermaßen stabil verankert war und von zwei geflochtenen Eisenkabeln gehalten wurde. Sie stand nun ganz vorne auf einer stabilen, eisernen Hängebrücke, die nach wenigen Fuß mit einer eleganten Biegung über eine tiefe Felsspalte zu einem düsteren Loch im Berg führte, in dessen Inneren erstaunlicherweise ein rotes Licht blinkte. Aber sie hatte im Moment kein Interesse an ihrer neuen Umgebung. Sie schälte sich blitzschnell aus den Gurten ihres Rucksacks und schleuderte ihn von sich, warf sich herum und legte sich flach auf das Gitter des Bodenblechs, robbte mit dem Oberkörper über den Rand der Brücke.

„Erson!“ Tief unter ihr standen nur noch zwei der Krieger und reckten ihre geballten Fäuste in die Höhe. Einer der beiden hielt drohend den Kampfstab des Schamanen. Dieser hatte den herabstürzenden unteren Teil der Leiter nicht rechtzeitig losgelassen und rutschte gerade mit ihm gemeinsam über die Rampe der Stufen direkt in den Abgrund der Tryas-Schlucht. Sein ausdauernder Wutschrei übertönte die Flüche seiner zurückgebliebenen Krieger und auch die Hilferufe von Erson, der mit beiden Händen die unterste der übrig gebliebenen Sprossen umklammert hielt und panisch versuchte, mit seinen Füßen Halt am glitschigen Fels zu finden. Sakket streckte verzweifelt ihre Arme aus. Die beiden trennten vielleicht fünf Fuß, aber es hätten auch hundert sein können. Erson war außerhalb ihrer Reichweite. Neben ihr knirschten und knarzten mit jeder Bewegung ihres Freundes die unter ihrer Last ermüdeten Kabel, mit denen die Leiter noch an der Brücke befestigt war. Zurück auf die Leiter zu steigen, war für das Mädchen Selbstmord, die rostige Metallkonstruktion würde ihr zusätzliches Gewicht nicht tragen können. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre Reste noch immer den wohlbeleibten Erson trugen.

„Lass mich nicht allein!“, rief sie hinunter. „Untersteh' dich und lass mich hier oben zurück.“ Ihre Blicke begegneten sich und Erson lachte tatsächlich auf.

„Soweit kommt es noch! Ich mache doch jetzt nicht schlapp!“, erwiderte er gelassen, fand tatsächlich in diesem Moment an einem nur halb aus dem Fels gerissenen Scharnier den Halt, den er gesucht hatte. Schwer keuchend schob sich der dicke Mann eine Sprosse nach oben. Dann sammelte er kurz seine Kräfte, zog sich noch eine Sprosse empor. Seine Rechte erreichte Sakkets ausgestreckte Hand, die Erson sofort fest packte. Das Mädchen zog ihn in einem letzten Kraftakt zu sich empor. Keinen Augenblick zu spät: Während Erson endlich neben ihr auf der Brücke landete, pfiff nur knapp hinter ihm ein Pfeil durch die Luft, der ihm gegolten hatte.

Nachdem sie ihren Anführer verloren hatten, galten den beiden übrig gebliebenen Kling'Arta der Tudasgarda die Tabus ihres Schamanen wenig. Einer hatte sich seines Jagdbogens erinnert und ein paar Pfeile hinter den Flüchtigen hergeschickt. Aber sein Angriff kam zu spät. Ohne die Leiter war den Himmelskriegern die Chance genommen, ihren Opfern weiter zu folgen. Die Jagd war vorbei, das Wild entkommen. Die Himmelskrieger hatten sich in ihrem Zorn selbst ihren Weg zerstört. Die Felswand, die die altersmüde Leiter überbrückt hatte, war selbst mit der besten Ausrüstung nicht besteigbar und für zwei halbnackte frierende Wilde schon gar nicht. Ihnen blieb nur noch ein Pfad offen: Ihre Wunden zu lecken und mit eingezogenen Schwänzen zurück in ihren Tabor. Aber noch war ihnen das nicht klar und sie tobten wie Irrsinnige dort unten auf ihrem schmalen Felsen.

Sakket und Erson waren in Sicherheit. Vorerst.

Erson schloss erschöpft seine Augen. Er spürte, wie sein ganzer Körper durchsackte und er atmete in einem langen Stöhnen die Luft aus, die er angehalten hatte, seit er neben seiner Begleiterin auf der schmalen Brücke zusammengesunken war. Im Augenblick wollte er nur noch schlafen; am besten drei, vier Tage am Stück. Weder die Kälte noch das weiterhin hartnäckige Wutgeschrei der beiden letzten Tudasgarda konnten ihn jetzt stören, weder die unbequeme Lage, zu der ihn sein Rucksack direkt gegen das engmaschige Gitter der Brücke zwang, noch die Tatsache, dass er bereits seit Stunden dringend pinkeln musste. Auch dass Sakket auf ihn einsprach und an seiner Schulter rüttelte, machte ihm nichts; im Gegenteil: Der Singsang ihrer für ihn im Moment vollkommen unverständlichen Worte wirkte wie ein Schlaflied auf ihn. Seine Leidensfähigkeit hatte eine Grenze und diese war mit den letzten Ereignissen überschritten. Er zog sich in sich selbst zurück.

*

Ein Lichtstrahl fiel direkt in sein Gesicht. Er brauchte ein wenig, bis er dessen überraschende Wärme auf seinem Gesicht wahrnahm. Aber dann nieste er und schlug die Augen auf. Er blickte fassungslos in ein großes, blendend hellblaues Viereck, eine fransige Lücke zwischen den jagenden Wolken, die rasch größer wurde. Sakket und Erson richteten sich auf. Um die beiden funkelte und glitzerte die Welt, als wären die beiden in einem Kristall eingeschlossen. Das war ein atemberaubendes Wunder: Die rettende Hängebrücke ragte jetzt wenige Fuß über die dichten, wabernden Schneewolken des Sturms hinaus, der sie tagelang so eifersüchtig und hartnäckig verfolgt hatte, als wäre er ein Verbündeter der Himmelskrieger. Erson fühlte sich in einem verzauberten Land. Nun war auch nach endlosen Tagen der Düsternis wieder die Sonne zu sehen, noch bleich zwar, wie verschämt verbarg sie sich hinter einem zarten weißen Schleier, aber ihr Antlitz brachte die ganze Umgebung zum Leuchten. Der dünne Nebel, der zerfasernd aus den Wolken emporstieg, saugte sich wie ein Schwamm mit ihrem tiefstehenden goldenen Licht und ihrer Wärme voll. Weit ging nun der Blick über das bewegte Wolkenmeer bis zum fernen Horizont. Die schneebedeckten Gipfel der umstehenden Berge ragten wie die Inseln des Engel-Archipels aus ihm empor.

„Wenn das kein Zeichen ist“, murmelte Sakket ergriffen. Sie legte ihren Kopf auf Ersons Schulter, blinzelte in die Sonne und Tränen liefen in schmalen Rinnsalen ihre schmutzigen Wangen hinab. Auch ihrem dicken Begleiter war zum Weinen zumute, aber er hatte es bereits als Kind im Waisenhaus verlernt. Dort hatte er auf bittere Weise begreifen müssen, dass es besser war, seine Tränen und Gefühle tief in seinem Inneren zu verschließen. Er hielt sie vor der Welt verborgen; für immer, wie er glaubte. Dazu hatte er sich vorgestellt, unter seinem Herzen sei eine kleine Truhe, in der er all seinen Kummer einsperren und wie einen Schatz horten konnte. Dennoch war ihm gerade, als würde diese versteckte Truhe seine Brust sprengen. Ihm wurde mit einem stechenden Schmerz bewusst, dass er diesen wunderbaren Ausblick nicht mit seinem Freund Idris teilen konnte. Erst jetzt, als er nicht mehr um sein Überleben kämpfen musste und zum ersten Mal seit Tagen einen Moment der Ruhe geschenkt bekam, stand ihm sein ungeheuerlicher Verlust vor Augen: Was nutzte es noch, dass er Recht behalten und tatsächlich den Weg auf den Gynashort gefunden hatte, wenn er diese Genugtuung nicht mehr mit dem Menschen teilen konnte, der in den letzten zehn Jahren beinahe in jeder Minute um ihn gewesen war und jeden Moment der Freude und des Leides mit ihm geteilt hatte? Obwohl er freilich noch immer Sakket, sein geliebtes Mädchen, umarmen und spüren konnte, war doch eine schmerzende Leere an seiner Seite. Ihm war, als hätte er einen Teil seines Körpers verloren, als wäre ihm ein Arm ausgerissen worden.

Erson starrte blicklos auf die Traumlandschaft, die die Wolken unter ihm bis zum Horizont formten, spielerisch auftürmten und mit einem Windhauch wieder verwarfen. Gegenden, die nie ein Mensch zuvor gesehen oder betreten hatte, Länder, die nur sie beide hoch oben auf dem Gipfel der Welt erblicken konnten. Er wartete hartnäckig und vergeblich auf Tränen. Seine Augen brannten und die Lider schmerzten, aber dieser Strom war versiegt; diese Erleichterung blieb ihm verwehrt. Es war ihm nicht möglich, wie Sakket neben ihm um den toten Freund zu trauern.

„Sollten wir uns nicht langsam mal hier oben umsehen?“, fragte sie nach einer gefühlten Ewigkeit und wandte sich erwartungsvoll an ihn. Trotzig rieb sie sich die Tränen aus den Augen. Da war sie wieder, die Anführerin, die immer nach vorne blickte. So kannte Erson sein Mädchen. Aber ein dünnes Rinnsal aus hellem Blut rann dabei aus ihrer Nase, lief über ihre Lippen und tropfte vom Kinn. Sie schien sich dessen nicht bewusst zu sein.

„Du blutest“, stellte Erson überrascht fest. Eine kurze Panik überschwemmte ihn. Hatte der Bolzen sie doch verletzt? Er steckte noch immer in dem Felleisen, das sie achtlos zur Seite geworfen hatte. Aber, nein, das konnte nicht sein. Sakket wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und betrachtete ihn dann mit einem Schulterzucken.

„Das ist nichts“, sagte sie ruhig und warf ihren Kopf in den Nacken, während Erson seinen feuchten Winterumhang öffnete und in der Innentasche nach seinem Taschentuch kramte. „Das muss die Höhe und die dünne Luft sein. Mir ist auch ein wenig schwindlig. Spürst du denn nichts?“

Erson schüttelte den Kopf und reichte ihr einen nicht mehr allzu sauberen Stofffetzen, den Sakket gegen ihre Nase presste. Dann stand er auf. Er fühlte in sich. Gut, er hatte einen ordentlichen Muskelkater in den Beinen und der Rücken tat ihm vom Rucksack schleppen weh. Aber sonst ging es ihm gut und er war trotz der überstandenen Strapazen nicht allzu sehr erschöpft. Die Ruhepause hatte ihm geholfen. Wahrscheinlich unterstützte ihn einmal mehr seine erstaunliche Fähigkeit zur Gesundung.

„Du solltest noch ein wenig ausruhen“, sagte er besorgt und legte seinen Rucksack und auch Umhang ab, der nass und klamm auf den Schultern lastete. Obwohl es hier oben, fast auf dem Gipfel des Gynashorts, empfindlich kalt war und jeder Atemzug als kleine gefrorene Wolke über ihnen stand, fror Erson in der kristallenen klaren Luft nicht. Er fühlte sich von einem Tonnengewicht befreit.

„Ich sehe mich mal ein wenig um.“ Sakket rückte gehorsam gegen das Geländer der Brücke, lehnte sich zurück und schniefte zustimmend. Erson machte einen vorsichtig prüfenden Schritt, aber der aus Rauten geformte Metallrost, auf dem er stand, wirkte sehr stabil, war mit der alten rostigen Leiter, die ihnen fast zum Verhängnis geworden wäre, nicht zu vergleichen. Er lauschte in die Umgebung, doch außer einem leisen Schnaufen von Sakket, die durch den Mund atmete, drang außer dem Rauschen des Windes kein Laut mehr an sein Ohr. Die Tudasgarda hatten wohl inzwischen die Vergeblichkeit ihrer Flüche eingesehen oder sich heiser geschrien, von dort unten war auf jeden Fall nichts Götterlästerliches mehr zu hören. Erson musterte als erstes interessiert Sakkets Felleisen. Durch Tasten erfühlte er ein festes, etwa zwei übereinandergelegte Fäuste großes Stück Holz, in das der Bolzen tief eingedrungen war und so fest steckte, dass er ihn auch mit Gewalt nicht herausziehen konnte.

Der kleine untersetzte Mann wusste sofort, was das war; auch wenn er nicht geahnt hatte, dass das Mädchen das schwere Kunstwerk aus schwarzem Eisenholz den ganzen langen Weg mit auf den Berg geschleppt hatte. Es war eine hölzerne, grob geschnitzte Statue, um die sie vor einiger Zeit auf dem Schwimmenden Markt von Garda stundenlang gefeilscht und sie dann noch immer überteuert erworben hatte. Sie stellte Maraia dar, die tränenreiche und freundliche Fürstin des Neuen Glaubens. Der gewiefte Devotionalien-Händler hatte behauptet, die Figur wäre aus einer unbekannten Baumart geschnitzt, von der ein Stamm an die weißen Ufer der Kornsteinküste geschwemmt worden war, nachdem er wohl jahrhundertelang von den Wellen übers salzige Nordmeer getrieben und dabei fast zu Stein verwandelt worden war. Selbstverständlich hatte die unglaublich massive, pechschwarze Statue der friedliebenden Weinenden Mutter heilende und behütende Kräfte. Das konnte gar nicht anders sein. Die tolerante, niemanden bevormundende Maraia-Religion war gerade in der Provinz und den großen Städten des Ostens auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie hatte dort längst erfolgreich den alten Aberglauben an die grausamen Daimonen, an boshafte Naturgeister und das ehrwürdige alte Baruch-Dreigestirn Oberone, Neptunion und Ariel und ihren höllischen Gegenpart Inet verdrängt.

Und tatsächlich hatte Maraia, die weinende Mutter eines namenlosen, verzweifelten Schöpfergottes, hier ein offensichtliches Wunder bewirkt und ihr Idol aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz Sakkets Leben bewahrt. Erson, der an nichts Übernatürliches glaubte, hatte bisher immer über ihre Hinwendung an die sentimentale Fürstin des Leides gespottet. Aber er nahm sich vor, von jetzt an den Mund zu halten und nach einer glücklichen Heimkehr ein wenig Salzwasser an einem Maraia-Altar zu spenden.

Kopfschüttelnd trat Erson weiter auf die Hängebrücke hinaus, die sanft nach unten durchgebogen wie ein Brandungsboot nur ein paar Fuß über dem Wolkenmeer schwebte. Sie schwankte leicht unter seinen Schritten. Er erreichte nach etwa dreißig Schritten ihren tiefsten Punkt zwischen der vorgelagerten Klippe, die sie auf so abenteuerliche Weise erklommen hatten und ihrem anderen Ende, das zu einem schmalen Höhleneingang im Gipfelfelsen des Gynashorts führte. Dort blinkten im Inneren der Höhle in gleichmäßigem Rhythmus abwechselnd zwei rote Lichter in der Finsternis, die aber nicht die schwarzen Schatten der Höhlenöffnung erhellen konnten. Wie tief der Abgrund zwischen der Klippe und der gegenüberliegenden Bergspitze war, den die filigrane Brückenkonstruktion so leichtfertig überspannte, war wegen den dichten Wolken unter ihm nicht zu erkennen. Auf jeden Fall war dies der einzige Weg, der zu der geheimnisvollen Höhle führte, die ihm beim Näherkommen immer mehr wie der Eingang zu einem künstlich geschaffenen Tunnel aussah.

Erson kratzte mit dem Fingernagel am silbrig glänzenden, ihm vollkommen unbekannten Metall des Geländers. Wer auch immer diese erstaunliche Konstruktion einst geschaffen haben mochte, hatte dabei auf ein metallurgisches Wissen zurückgreifen können, das heutzutage verloren gegangen war. Die Brücke hatte im Gegensatz zu der brüchigen Leiter keinerlei Rost angesetzt und widerstand dabei offenbar mühelos den Unbilden des Wetters auf dem rauen Gynashort. Als würde sie regelmäßig poliert, gab es nicht einmal ein paar matt angelaufene, abgewetzte Stellen. Trotzdem musste die Hängebrücke unfassbar alt sein. War sie bereits von den Vorgängern errichtet worden? Konnte es tatsächlich noch ein Bauwerk geben, das ihren selbstmörderischen Untergang unbeschadet überstanden hatte? Erson erinnerte sich nicht, schon einmal von etwas Ähnlichen gehört zu haben. Die Vorgänger hatten sich in ihrer alles vernichtenden Höllenfahrt so vollkommen selbst ausgelöscht, als ob es sie nie gegeben hätte. Nur wenige Erzählungen gab es über diese Gespenster und sie waren alle unglaubhaft. Wahrscheinlicher war, dass die silbern schimmernde Brücke während der Máeriqas-Dynastie entstanden und damit immerhin auch schon einige tausend Jahre alt war, aber nicht in ein Reich der Legenden und Mythen einer unfassbar weit entfernten Vorzeit führte. Kurz fiel ihm der „silberne Tod“ der Tudasgarda ein. Aber Erson verwarf diesen Gedanken: Nicht alles, was silbern glänzte, war gefährlich. Diese Brücke konnte niemanden umbringen. Aber hatte der Schamane nicht auch von einer Tür gesprochen? Und er hatte von jemandem namens ASKUFT geredet, der sie hier oben erwarten würde. Das war eine unangenehme Neuigkeit gewesen. Dieser seltsame Name war Erson noch nie begegnet, auch Henne hatte ihn nicht erwähnt. Als ob der mysteriöse TudAsq eLegk alleine nicht schon ausreichte, sollte auch noch irgendein Orakel auf sie warten!

Erson stand nun direkt vor dem dunklen Stollen, der in den Berg führte. In dessen nachtschwarzer Dunkelheit konnte er außer den zwei kleinen Blinklichtern ein Stück weiter hinten kaum etwas erkennen. Der Eingang in den Berg war gerade einmal so hoch, dass der untersetzte Erson aufrecht darin stehen konnte. Aber er war ganz eindeutig künstlich geschaffen, mit handwerklichem Geschick und mit Maschinen in den Berggipfel gegraben. Hier sockelte die Hängebrücke mit metallenen Trossen befestigt auf einem festem Grund, der aus einer fugenlosen dunkelgrauen Steinfläche künstlich errichtet war.

Erson hatte so etwas schon einmal gesehen. Aus diesem schwärzlichen Materialmix, dessen genaue Zusammensetzung unbekannt war und der auf altwendisch B'Ton genannt wurde, bestand auch die legendäre route toxique, die Straße der Schmerzen. Sie begann knapp hinter der Hossberger Seenkette mitten im Wald von Sedasta und führte schnurgerade in die Jenseitigen Lande, die niemand betrat, der seinen Verstand beisammen hatte. Wer es dennoch wagte, kehrte nicht zurück. Den Anfang dieser unglaubliche vierzig Fuß breiten Straße der Schmerzen hatten Erson und seine Freunde vor einigen Jahren neugierig beschritten. Sie waren ihr einige Meilen weit bis zum kleinen Dorf Ende gefolgt, dem letzten Grenzposten der Zivilisation. Dahinter markierten gewaltige Felsschluchten, tote Aschewüsten, bodenlose Gräben und zerklüftete Fjorde den Abgrund, der das Ende der Welt war. Diese Straße war wahrscheinlich zur gleichen Zeit entstanden wie der gewaltige Südwall, zu dessen Bau König Launin der Sage nach ein ganzes Gebirge hatte abtragen lassen. Das war während der Kriege der drei Reiche zu Anfang der Geschichte gewesen.

Erson klatschte erfreut in die Hände. Alles wies darauf hin, dass der alte Henne Recht hatte: Dieser Tunnel war ein Eingang nach Bridon! Das Geräusch, das er mit seinen Händen machte, wurde als Echo mehrmals laut von den Wänden zurückgeworfen. Gleichzeitig verloschen die roten Blinklichter, als hätte sie das Geräusch ausgeschaltet. Erson trat alarmiert einen Schritt zurück. Es wurde taghell in dem kurzen staubigen Tunnelstück. An der Decke gingen knisternd in gleichmäßigen Abständen kalte, weiße Leuchten an und auch an den Seiten erstrahlte in Handhöhe ein Lichtband. Erson kniff geblendet die Augen zusammen, während er einen weiteren Schritt zurücktaumelte und gegen einen Körper in seinem Rücken stieß. Entsetzt zuckte er zusammen, aber es war nur Sakket, die sich inzwischen erholt hatte und ihm gefolgt war.

„Ist das eine Einladung?“, fragte sie und ließ das Gepäck, das sie über die Brücke getragen hatte, auf den B'Ton fallen. Erson wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigte, bevor er wieder ausatmete und seine Augen öffnete.

„Musstest du dich so anschleichen? Ich wäre fast gestorben vor Schreck.“ Dann zuckte er als Antwort auf ihre Frage hilflos mit den Schultern. „Wir sollten sehr vorsichtig sein. Das ganze Gerede um die Gefahren und die Todesfallen auf dem Gipfel und den silbernen Tod der Himmelskrieger: Das kann nicht nur ein Ammenmärchen sein, um damit kleine Kinder zu erschrecken und die Schatzsucher zu vertreiben. Es muss zumindest ein Korn Wahrheit darin stecken. Wahrscheinlich ist der Eingang nach Bridon gut geschützt.“

Sakket deutete in den nun hell ausgeleuchteten Tunnel, der nach zehn Schritten von einer kreisrunden, im Licht silbern funkelnden Tür versperrt wurde, die offenbar aus dem gleichen Metall wie die Brücke gegossen war:

„Auf jeden Fall sieht das Ganze nicht allzu gefährlich aus, würde ich sagen. Hier war auch schon seit langer, langer Zeit niemand mehr.“ Neugierig ging sie leicht gebückt an dem noch immer erstarrten Erson vorbei hinein in den Tunnel, in dem der vom Eingang herein gewehte Staub und Schmutz knöchelhoch lagen. Sie trat vorsichtig auf, um möglichst wenig Dreck aufzuwirbeln. Die Temperatur war in dem geschützten Gang etwas höher als draußen, aber ein unangenehm scharfer und modriger Geruch tränkte hier die Luft. Sakket berührte vorsichtig eine der niederen Deckenlampen, von denen ebenfalls Staub und feuchter Unrat wie Spinnweben in dicken Fäden herabhingen, aber bei der leichten Berührung sofort zu Boden rieselten.

„Das ist ein seltsames Licht“, stellte sie fest und klopfte sich ein wenig Dreck von der Schulter. „Es wird nicht warm. Dabei habe ich beim Magister Hegenbard gelernt, dass jeder Strom sich immer seine eigene Hitze und seinen Magnetismus schafft.“

Erson musste bei der Erinnerung an ihren alten, an eine geschäftige Spitzmaus erinnernden Lehrer schmunzeln. Er war die einzige Person im Waisenhaus gewesen, die freundlich mit den Zöglingen umging und niemals jemandem ein Leid tat. Er beugte sich etwas vor und ahmte perfekt den nuschelnden Tonfall des alten Magisters nach, der ab und an durch ein Pfeifen durch die Nase unterbrochen wurde.

„Es gibt Dinge auf dieser Welt, mein liebes Kind, – Pfiff – die sich nicht einmal die Meister von Italmar erträumen können – Pfiff.“ Sakket lachte auf und musste husten.

„Dann schauen wir mal, ob wer zuhause ist. Irgend jemand muss ja das Licht für uns eingeschaltet haben.“

Sie stapfte durch den Unrat vor die Tür. Erson fasste sich an den Kopf. Natürlich. Daran hatte er nicht gedacht. Dass Bridon vielleicht noch bewohnt sein könnte, war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. War das möglich? Lebten hier noch die Nachfahren von König Máeriqas Untertanen, seit Jahrtausenden im Berg eingeschlossen, in ihrer eigenen, andernorts längst vergangenen Welt? Baruch Rosenthal erzählte schließlich in dem heiligen Buch des Ordens der Leidenden Gene ausführlich davon, wie sich die letzten der Überlebenden in den Schutz von künstlichen Höhlen zurückzogen, als ihre Welt in den Tagen des pfeifenden Todes unterging. Er bezeichnete diese Höhlen mit dem seltsamen Wort Bunker. Konnte dies vielleicht der Eingang zu solch einem Bunker sein?

„Hast du so etwas schon mal gesehen?“, fragte Sakket. Erson trat neben sie und berührte die Tür, tastete sie aufmerksam ab. Sie fühlte sich unter seinen Fingerspitzen kühl an und zitterte überraschenderweise leicht, als wäre mit den Lichtern hier irgendein feiner Mechanismus in Gang gesetzt worden, ähnlich der Unruhe in Ersons Uhr. Die metallene Tür war ohne erkennbare Fugen in den Tunnel eingepasst und er fand keine Rinnen oder Angeln, an denen sie befestigt war. Das Ganze hätte auch einfach eine glatte Wand sein können, wenn nicht in ihrem Zentrum ein rechteckiges Kästchen montiert gewesen wäre, an dessen Seiten vorhin noch die zwei kleinen roten Lichter gebrannt hatten, die sie von der Brücke aus gesehen hatten. Das linke der beiden leuchtete nun in einem kaum wahrnehmbaren Dunkelgrün, das rechte war grau und vollkommen erloschen. Das Kästchen selbst war in der Waagerechten zweigeteilt: Oben hatte man wie ein erblindetes Fenster eine zwei Handteller große schwarze Glasscheibe angebracht, durch die man allerdings nicht hindurchsehen konnte. Darunter fanden sich einige fingernagelgroße, zu einem Schachbrettmuster angeordnete Plättchen, die nur wenig über die silberne Grundplatte herausragten. Sie sahen verblüffend den Spielsteinen des Wörter-Legespiels Squebel ähnlich, das sich in den Städten des Ostens großer Beliebtheit erfreute. Der Eindruck wurde noch dadurch vertieft, dass auf zehn der zwölf Plättchen zwar keine Buchstaben, aber die Zahlen von 0 bis 9 eingestanzt waren. Eine Ausnahme bildeten die beiden etwas größeren, rechts von dem Zehnerblock angebrachten Täfelchen: Auf der oberen war der Buchstabe „C“ zu lesen, auf dem anderen stand „Press“.

„Ist das die Tastatur einer Art Kalkulier-Maschine oder einer Kasse, wie sie die Kaufleute benutzen? Und was bedeutet das – Press?“, fragte Sakket. Sie war wie immer sofort interessiert, wenn Zahlen ins Spiel kamen. Aufmerksam beugte sie sich über das Feld mit den Täfelchen, die wohl die Eingabetasten dieses Rechenwerkes darstellten. Ihr Gesicht wurde undeutlich von der Scheibe darüber gespiegelt. „Was für eine Sprache ist denn das? Wieder altwendisch?“

„Nein. Vielleicht ist das einfach nur eine Kurzform von pressen, also drücken?“, mutmaßte Erson abgelenkt und sah zurück zum Tunneleingang, durch den weiterhin der blaue Himmel zu sehen war und vor dem noch immer die beiden Felleisen und die Umhänge lagen. Er hatte von dort ein schepperndes Geräusch gehört, als würde Metall auf Metall schlagen. Vielleicht war es nur der Wind. Aber er hatte plötzlich ein schlechtes Gefühl.

„Also gut, dann versuche ich das mal ...“, sagte das Mädchen. Erson riss entsetzt die Hände hoch.

„Halt!“, rief er, aber es war schon zu spät. Sakket berührte die Press-Taste und drückte sie nach unten. Zu Ersons Erleichterung tauchte kein „silberner Tod“ auf oder wurde eine andere Falle ausgelöst, sondern etwas viel Erstaunlicheres geschah. Die mattschwarze Glasscheibe verfärbte sich hellbraun und es erschien eine deutlich lesbare Schrift auf ihr:

„Willkommen, Bürger in dieser Einrichtung der 2MC. Bitte den Code eingeben. Zur Erinnerung: Die Summe aller Zahlen von 1 bis 100. Sie haben dazu 90 Sekunden Zeit. Bei einer Fehleingabe bleibt der Durchgang aus Sicherheitsgründen für weitere 48 Stunden geschlossen.“

Die Zahl 90 erschien auf dem Bildschirm, wurde gedankenschnell von der 89 ersetzt. Dann 88, 87 ...

Die Zahlen von eins bis hundert? Ernsthaft? Ersons Hände zitterten unentschlossen über der Tastatur. Jetzt, in diesem entscheidenden Moment, konnte er keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Sein Gehirn blockierte; auf eine Rechenaufgabe war er nun wirklich nicht gefasst gewesen. Die Altvorderen hatten offenbar einen seltsamen Humor besessen.

Er begann zu zählen: 'Eins, drei, sechs, zehn, vierzehn, nein, fünfzehn ...' Wo war er? Was war das für eine seltsame Art, einen Eingang zu schützen? Wie sollte er diese Summe in neunzig Sekunden bilden können? Das war doch unmöglich. Und es waren auch keine neunzig Sekunden mehr, es waren nur noch:

83, 82 ...

„Mir scheint, das ist etwas für mich.“ Sakket schob ihren Freund entschlossen zur Seite und musterte nachdenklich die Tastatur und die Schrift auf der matten Spiegelfläche. Ihr war anzumerken, wie ihre Gedanken rasten, während sie sich in dieses sie faszinierende mathematische Problem versenkte.

„Aber das kann ohne eine Kalkulier-Maschine in dieser kurzen Zeit niemand ausrechnen“, störte Erson ihre Überlegungen, „wahrscheinlich nicht einmal mit einer!“

Sakket sah kurz und unwillig auf.

„Da ist ein Trick dabei. Und jetzt holst du einfach unser Gepäck. Wer weiß, wie lang die Tür aufbleibt, wenn ich die richtigen Zahlen eingegeben habe“, erläuterte sie geduldig und erstaunlich siegesgewiss. Dann konzentrierte sie sich wieder. Erson sah, wie sie rechnend ihre Lippen bewegte. „Einhunderteins“, sagte sie leise. Dann wiederholte sie die Zahl zögernd: „Einhunderteins.“ Erson wollte seine Freundin schon fragen, was die Rechenaufgabe denn mit dieser Zahl zu tun habe, aber er sah ein, dass es besser war, sie nicht weiter zu stören und ihr zu gehorchen.

71, 70, 69 ...

Sakket hatte Recht. Das war nicht seine Welt. Das Mädchen lebte mit Zahlen. Wenn es überhaupt jemand schaffte, einen Algorithmus zu finden, mit dessen Hilfe sie in einer guten Minute einhundert Zahlen zusammenzählen konnte, dann war es Sakket. Erson lief die zehn Schritte den Stollen zurück. Draußen hatte sich offenbar nichts weiter verändert. Noch immer thronten die Berggipfel über einem bewegten Wolkenmeer und streckten ihre kahlen Felsenfinger nach der langsam dem Horizont entgegen sinkenden Sonne aus. Das war ein Bild des Friedens und der ewigen Ruhe. Nur der pfeifende, eisige Wind störte etwas.

Direkt auf dem B'Ton vor dem Eingang lagen unberührt die gefütterten Mäntel und die beiden Felleisen, die Sakket dort liegengelassen hatte. Aus einem der Rucksäcke ragte noch immer der Bolzen des Himmelskriegers. Erson überlegte kurz, ob ihm noch die Zeit blieb, von der Mitte der Hängebrücke hinab der Welt auf den Kopf zu pinkeln, aber er verwarf den Gedanken. Jetzt unterdrückte er den Harnandrang schon so lange. Da würde er auch noch durchhalten, bis sie diese Rätsel-Tür im Felsen geöffnet hatten. Vielleicht gelang es Sakket auch nicht, in aller Eile die richtigen Zahlen zu berechnen. Nun, das war auch kein Problem. Dann würden sie eben noch zwei Tage hier oben ausharren müssen. Es gab schlechtere Stellen, ein Biwak für die Nacht aufzuschlagen, als in dem gut geschützten künstlichen Gang hinter ihm. Erson machte sich nur ein wenig Sorgen wegen der schwindenden Vorräte. Er hoffte, dass ihnen bei einem Versagen seiner Freundin dann übermorgen keine andere Rätselaufgabe gestellt wurde.

Erson zuckte mit den Schultern und nahm das Gepäck in beide Hände. Dabei fiel sein Blick auf das hintere Ende der stabilen Brücke. Sie zitterte etwas, als würde regelmäßig ein Gewicht gegen sie geschlagen. Dort war entschieden etwas anders als eben noch; Erson hatte das bislang nicht bemerkt. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, was das war: Ein Pfeil steckte zwischen den Maschen des Bodengitters und daneben hatte sich eine massive, zu einer Kralle gebogene Metallstange im Geländer verhakt. Sie schien ihm aus einem Teil der zusammengestürzten Leiter gefertigt zu sein. Ein gespanntes Seil war mit der Stange fest verknotet und führte straff gespannt über die Kante in die Tiefe der Schlucht. Wie war das denn alles plötzlich hierher geraten?

Erson stieß einen Fluch aus. Es konnte einfach nicht wahr sein! Die zwei übrig gebliebenen Tudasgarda hatten doch tatsächlich einen Weg gefunden, den Felsen zu überwinden und mit einem gut gezielten Pfeil eine improvisierte Klettervorrichtung nach oben geschossen! Das war das Geräusch gewesen, das er vorhin hörte und nicht hatte einordnen können.

Während er noch fassungslos starrte, tauchten bereits der kahle Kopf und dann der nackte Oberkörper eines Kriegers auf. Der Kling'Arta schwang sich mit einer lässigen, fließenden Bewegung auf die Brücke. Niemand folgte ihm nach, offenbar hielt sein Waffenbruder unten auf dem Absatz das Seil fest. Aber er würde wahrscheinlich bald folgen.

Der am ganzen Körper tätowierte Mann orientierte sich kurz. Er wirkte ein wenig eingeschüchtert, doch das gab sich sofort, als er auf der anderen Seite der Hängebrücke Erson erblickte, der mit den beiden Rucksäcken in den Händen wie die Statue eines Gepäckträgers wirkte. Er lächelte spöttisch und befreite sein Beil vom Gürtel, das er spielerisch über seinem Kopf kreisen ließ. Das blankpolierte und tödliche Messing glitzerte in der Abendsonne. Langsam und nach Halt am Geländer tastend kam er auf dem schwankenden Untergrund näher. Er genoss wahrscheinlich die Panik, die er bei seinem Gegenüber erzeugte.

„Erson? Kannst du dich bitte mal beeilen? Ich habe das Ergebnis. Aber uns bleiben nur noch zwanzig Sekunden!“, hörte der untersetzte Mann die Stimme von Sakket in seinem Rücken. Sie weckte ihn aus seiner Erstarrung. Ohne weiter zu zögern, rannte er mit dem schweren Gepäck zurück in den Gang, während Sakket ihre vier Zahlen eintippte, die sie errechnet hatte. Auf der Spiegelplatte waren die Worte

„5050

Danke, Bürger.

Die 2MC wünscht Ihnen weiterhin einen schönen Tag.

Denken Sie an die Dekontamination.“

zu lesen, dann leuchteten die zwei Lämpchen, die links und rechts an der Tür angebracht waren, strahlend grün auf. Hörbar und gequält knirschend rastete eine Mechanik ein, ein Zischen wie aus einem Dampfkessel ertönte und der Eingang teilte sich gemächlich in der Mitte. Ein Sog entstand, es wurde Luft von außen in einen weiteren Gang dahinter gesaugt.

Sakket trat zufrieden einen Schritt zurück und wischte sich die Hände ab, während sie sich fragte, was zum Teufel die 2MC und eine Dekontamination waren. Gleichzeitig war Erson bei ihr, stieß unsanft gegen sie und stolperte mit ihr gemeinsam durch den schmalen Spalt in den Gang hinein, dessen Lichter dabei knisternd zu Leben erwachten. Er war eine Kopie des ersten und auch an seinem Ende befand sich eine geschlossene Tür: Die beiden waren erneut in einer Sackgasse gelandet.

Sakket fiel durch den Schwung hart zu Boden und stöhnte vorwurfsvoll auf. Erson schleuderte die nutzlosen Rucksäcke zur Seite und sah zurück. Die Tür war noch immer dabei, sich zu öffnen. Quälend langsam schoben sich die Flügel in ihre Verankerungen in der Wand und rasteten dann mit einem metallischen Klicken ein.

Der Krieger der Tudasgarda hatte inzwischen die Brücke überquert und betrat nun vorsichtig den Gang. Einen abergläubischen Barbaren, der mit den Schauermärchen seines Schamanen aufgewachsen war und in dessen Vorstellungswelt grausame Daimonen, wütende Ungeheuer und silberne Tode den Gipfel des Gynashorts unsicher machten, musste es einige Überwindung kosten, den künstlichen Stollen mit seinen seltsamen Lichtern zu betreten. Aber für ihn gab es nur noch das eine Ziel: Endlich seine zähe Jagdbeute, die bereits den Tod von so vielen Tudasgarda verantwortete, ein für alle Mal zu erlegen.

Erson trat schützend vor die am Boden liegende Sakket, die jammernd an ihr Fußgelenk griff und ihm keine Hilfe sein konnte. Ihre Augen weiteten sich, als sie erkannte, wer ihnen da auf den Fersen war. Jetzt hätte Erson gerne die kleine Pistole von Idris gehabt. Ihm war klar: Diesmal würde er kämpfen müssen, auch wenn er sich gegen den muskulösen und brutalen Himmelskrieger keine Chance ausrechnete. Noch einmal würden sie dem Tod nicht davonlaufen können.

Der Krieger sah, dass ihm seine Beute nun nicht mehr entkommen konnte. Sein mit wirren geometrischen Mustern tätowiertes Gesicht verzerrte sich voller Vorfreude. Hektisch sah sich Erson um. Auf dieser Seite der Tür musste es doch eine Möglichkeit geben, sie wieder zu schließen. Sein Blick fiel nach rechts. An der Seite fand er in Brusthöhe einen handtellergroßen, roten Knopf, der auf einem gelben Kästchen saß.

„Schnell, das muss das Schloss sein!“, rief Sakket verzweifelt. Sie zog ihr Jagdmesser aus dem Gürtel, würde ihrem Freund aber bei einem Kampf keine Unterstützung sein können. Erson trat gedankenschnell einen Schritt zur Seite, schlug mit aller Kraft auf den Knopf. Er gab tatsächlich nach und rastete mit einem satten Klicken in seinem Kästchen ein. Gleichzeitig änderte sich das Licht, das von der Decke fiel. Es blinkte rot. Ein gleichmäßiger, auf- und abschwellender Heulton war zu hören. Der Krieger, der schon die halbe Strecke zurückgelegt hatte, blieb überrascht stehen, wich sogar einen zögernden Schritt zurück. Das nervtötende Geräusch und das rote Warnlicht machten ihm Angst. Tatsächlich: Die Tür begann sich wieder zu schließen. Von beiden Seiten rutschten ihre Flügel langsam zurück in den Gang. Der Himmelskrieger sah es und er überwand seine Furcht. Er hob sein Beil und rannte auf Erson zu, dessen einzige hilflose Reaktion es war, schützend seine Arme in die Höhe zu reißen. Er schrie vor Angst und kniff die Augen zusammen.

Doch der Tod kam nicht bis zu ihm.

Etwas brummte schnell an Ersons linkem Ohr vorbei. Es klang wie eine wütende Hornisse. Nur lauter. Dann folgten in schneller Abfolge ein stumpfes Klatschen, ein scharfes Zischen, überraschtes Aufstöhnen, der Fall eines schweren Körpers. Sakket, vor die Erson noch schützend getreten war, hörte abrupt auf zu weinen. Erst als sie schwieg, bemerkte Erson in der plötzlichen Ruhe, die nur noch durch das gleichmäßige Alarmsignal unterbrochen wurde, dass sie eigentlich schon die ganze Zeit geschrien hatte. Vorsichtig öffnete er ein Auge, dann das andere. Das rote Blinklicht warf scharfe Schatten auf die Szenerie, die expressiv wie in ein Holzschnitt wirkte. Erson konnte nun alles klar und überdeutlich erkennen, als hätte der Gott des Berges extra für ihn die Zeit angehalten:

Die halbkreisförmigen Türflügel schlossen sich weiterhin gemächlich. Kurz hinter ihnen lag der Himmelskrieger lang hingestreckt auf dem Rücken, als hätte ihn etwas Schweres zurück und zu Boden geworfen. Sein Beil hatte er dabei verloren, es war den kurzen Gang zurück geschlittert und lag nun nahe am Eingang des Tunnels. Der Tudasgarda schnappte wie ein Karpfen auf dem Trockenen hörbar nach Luft. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, seine Arme und Beine zuckten epileptisch in einem wahnwitzigen Veitstanz gefangen hin und her. Er bot in seiner Agonie einen grauenvollen Anblick. Erson sah trotzdem genauer hin. Mitten in der Brust des Kriegers steckte ein etwa armdicker und einen Fuß langer zylindrischer Gegenstand aus glänzendem, im Licht des Alarms wie mit Blut übergossenem Metall. Aus dem hinteren Ende des seltsamen Geräts stieg ein wenig weißer Rauch auf. Wenn sich der Schatzsucher nicht täuschte, dann zischte es auch leise wie die Pfeife eines Dampfkessels. Die Spitze des Pfeils jedenfalls lief in einer dünnen Nadel aus, die fast vollkommen in der Brust ihres Opfers steckte und es Erson damit unmöglich machte, herauszufinden, wie lang sie war. Das war offenbar eine kleine, kompakte Maschine, eine Art von selbst fliegendem Armbrustbolzen, der eben noch gefährlich nah an Erson vorbeigezischt war, den angreifenden Kling'Arta aber mit Wucht getroffen und zurückgeschleudert hatte. Erson hatte solch ein Gerät noch nie gesehen und konnte sich auch nicht erinnern, jemals etwas von einer ähnlichen Waffe gehört zu haben. Auch in Hennes pittoresken Beschreibungen der Stadt Bridon war solch ein Mordpfeil nie vorgekommen. Der wilde Mann lag eindeutig im Sterben und das konnte doch eigentlich nicht an der Verletzung liegen, die die dünne Nadel verursacht hatte. Es trat auch kein Blut aus der Wunde.

Der Krieger beendete schlagartig sein konvulsivisches Zittern. Er atmete noch einmal lang und keuchend aus. Seine Gesichtszüge entspannten sich dabei und seine leeren Augen starrten blicklos zur Decke. Erson kannte diesen letzten Atemzug; er hatte ihn schon ein paar Mal gehört. Der Tudasgarda war tot. Während Erson sich wunderte und vergebens in seiner Seele nach Mitleid kramte, schlossen sich endlich die Türflügel zwischen ihm und dem Toten; einer schob dabei wie beiläufig die Füße des Kriegers zur Seite, bevor er fest in sein Gegenstück einrastete. Gleichzeitig endete der Alarm. Die Deckenbeleuchtung strahlte wieder in ihrem normalen kalten Licht und der Warnton verstummte.

“War das der silberne Tod?”, fragte Sakket flüsternd in die entstandene Ruhe. Ihre Stimme zitterte.

“Ich weiß es nicht.” Erson drehte sich zu dem Mädchen herum, das noch immer mutlos zu seinen Füßen kauerte und sich den schmerzenden Knöchel hielt. Er streckte seine Rechte aus, um ihr auf die Beine zu helfen.

Seine Bewegung wurde von einem bösen und aggressiven Brummen begleitet. Er ließ seine Hand erschrocken in der Luft schweben. Weiter hinten im Gang war nun etwas zu erkennen. Von dort flogen - wie von Magie in der Luft gehalten! - gemächlich zwei weitere der gefährlichen Bolzen heran, obwohl wahrscheinlich keine Zauberei im Spiel war, an die Erson grundsätzlich nicht glaubte. Diese kleinen Flugkörper waren für ihn wie das Metall der Brücke oder das Türschloss mit seinem mathematischen Rätsel eher das Erzeugnis einer unendlich hochstehenden, uralten Techné, die die Welt draußen, außerhalb dieses Bergstollens, längst vergessen oder aus ihrer Erinnerung getilgt hatte. Erson fragte sich kurz, ob es genau diese Waffen und dieses Wissen waren, denen die Gemeinschaft der Leidenden Gene seit Menschengedenken fanatisch nachspürte, sie auf großen Scheiterhaufen verbrannte oder für immer tief in den Katakomben ihrer Mönchsfestung Italmar begrub. Obwohl nur Eingeweihte den Ort betreten durften, hielt sich das Gerücht, in jener heiligen Stadt seien die Straßen mit ketzerischen und hermetischen Büchern gepflastert und anschließend mit unzerstörbarem Vulkanglas übergossen worden, so dass jeder Mönch das verbotene Wissen der Vorgänger mit Füßen trat.

Die Bolzen kamen geradezu gemütlich und zögernd näher, als würden sie unsicher ausspähen, wo genau sich ihre Opfer befanden. Sie stießen bei jeder Richtungsänderung kleine, pfeifende Dampfwolken aus. Die spitzen, eine Handbreit langen Nadeln der fliegenden Pfeile schwankten dabei suchend hin und her und deuteten immer mal wieder auf einen der beiden. Erson war zu einer Bronzestatue seiner selbst erstarrt. Seine Gedanken rasten. Auch Sakket bewegte sich nicht.

„Rühre dich bloß nicht!”, zischte er trotzdem, denn er hatte einen Verdacht. Sofort rückte einer der fliegenden Pfeile seine tödliche Spitze herum, zielte direkt auf seinen Kopf. Er verharrte leicht zitternd einige Augenblicke schwerelos mitten im Gang; ein Moment, der auf Ersons Stirn kalten Schweiß erzeugte. Der Dicke hielt die Luft an und betete, dass ihn sein Herzschlag, den er laut in seiner Brust pochen fühlte, nicht verriet. Doch dann machte sich das metallene Mordinstrument gelassen weiter auf die Suche nach seinen Opfern und drehte seine tödliche Spitze zur Seite ab.

Damit bestätigten sich Ersons Vermutungen. Solange sich die beiden Schatzsucher nicht bewegten oder Geräusche machten, wurden sie von den seltsamen Flugmaschinen nicht ausgemacht, tappten diese wie im Dunklen umher. Das war auch der Grund gewesen, warum eben allein der angreifende Tudasgarda von einem der tödlichen Bolzen attackiert worden war. Sie erinnerten Erson fatal an die ekelhaften Klistierspritzen, mit denen der Pfuscher von Waisenhausarzt früher auf die rabiate Weise jede Art von Krankheit oder Fieber bei den Zöglingen behandelt hatte. Nur gut, dass Erson selbst nie krank gewesen war. Bei diesem grotesken Gedanken hätte er beinahe laut aufgelacht, denn wahrscheinlich lag er nicht einmal so sehr daneben: Die dünne Nadel hatte bei dem hünenhaften Kling'Arta sicher nicht diesen entsetzlichen Todeskrampf ausgelöst und ihn endlich umgebracht. Die Pfeile mussten beim Auftreffen ein tödliches Gift in den Körper spritzen. Wie Vipern bissen sie oder besser, wie Hornissen stachen sie zu.

Hornissenpfeile. Erson fand, dass das ein guter Name für diese tödlichen fliegenden Bolzen war, die ihn und Sakket bedrohten. Aber er hatte noch keine Ahnung, wie sie ihrem giftigen Stachel entkommen konnten. Allerdings würde er nicht ewig hier stehen und ausharren können, schon jetzt begann sein ausgestreckter Arm schwer zu werden. Er musste eine Entscheidung fällen, auch wenn sie ihm nicht gerade gefiel. Er sah zärtlich auf seine Freundin herab und wusste plötzlich, was er zu tun hatte. Sakket schien in seinen Gedanken zu lesen. Sie riss erschrocken die Augen auf:

„Nein!”, rief sie und legte zugleich ertappt ihre Hände vor den Mund. Obwohl sie genau diese Reaktion nicht beabsichtigt hatte, nahm sie auf diese Weise Erson die Entscheidung ab. Beide Hornissenpfeile schwenkten wie auf ein Kommando herum und deuteten drohend mit ihren Nadeln auf die Liegende. Sie zischten und setzten sich in Bewegung, nahmen Geschwindigkeit auf, flogen auf Sakket zu. Verzweifelt sprang Erson zur Seite gegen die steinerne Wand, fuchtelte dabei aufgeregt mit den Armen:

„Hier. Hier bin ich!”, brüllte er. Tatsächlich drehten sich die Pfeile wie auf einen Befehl ihres Meisters im Flug herum und steuerten geradewegs auf ihr neues Opfer zu. Erson ging leicht in die Hocke, sein Körper spannte sich. Nun kam es nur noch auf seine Geschicklichkeit an. Er fixierte die ihm nähere der beiden Hornissen, die plötzlich mit einer kleinen Dampfexplosion beschleunigte und direkt auf ihn zuraste. Einen Augenblick, bevor sie ihn berührte, stieß er sich von der Wand ab und ließ sich zur Seite fallen. Der Pfeil machte seine Bewegung nicht mit und flog knapp an ihm vorbei. Gleichzeitig griff Erson zu und packte die tödliche Hornisse fest an deren hinterem, zischendem und dampfendem Teil, der überraschenderweise nicht heiß, sondern kalt wie Schnee war. Erson wurde von der Kraft des Flugkörpers wieder in die Höhe gerissen, aber er zwang ihn durch sein Gewicht aus der geraden Bahn. Dabei nutzte er den Schwung aus. Mit einer halben Pirouette ließ er seine Faust mit dem widerspenstigen Pfeil eine Kurve beschreiben, rammte die tödliche Kanüle mit Wucht gegen den Fels. Sie zersplitterte an der harten Wand. Er schleuderte die Reste der fliegenden Waffe entschlossen auf den Boden, wo sie mit einem lauten Knall in ihre Einzelteile zerplatzte.

Da bohrte sich der zweite Hornissenpfeil knapp unterhalb des Schultergelenks in seinen Rücken. Wie ein glühendes Messer trieb die Waffe Schmerz in seinen Körper. Sofort breitete sich ein eisiger Druck in seinem Brustkorb aus. Er schnappte entsetzt nach Luft und bekam doch keine. Erson wollte bedauernd ein letztes Mal hinüber zu seinem Mädchen sehen, dem er nie gestanden hatte, wie sehr er es liebte. Aber da schwappte bereits eine zähe, teerartige Schwärze über seine Augen, seine Knie verwandelten sich in Brei. Er kippte wie ein Sack Kartoffeln zu Boden.

Das letzte, was er von der Welt mitbekam, war Sakkets verzweifelter und einsamer Schrei.

*

Bei seinem mühsamen Erwachen plagten Erson die Kopfschmerzen seines Lebens. Er hatte nach einer durchzechten Nacht mit Idris schon einige Male heftiges Schädelweh heim geschleppt und kannte das Gefühl. Aber dass eine ganze Armee von kleinen koboldhaften Hindersöhnen in seinem Gehirn eifrig Gänge grub und mit Spitzhacken von Innen kräftig gegen seine Schädeldecke schlugen, war eine neue Dimension. Er hörte Sakkets klagende Stimme, die in seinem Kopf wie eine schmerzhaft klingende Glocke dröhnte, auch wenn das wummernde Dröhnen in seinen Ohren verhinderte, dass er ihre Worte verstand. Ihre Hände tasteten hilflos an seinem Körper herum. Er hätte jetzt gerne die Augen aufgeschlagen und ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen. Aber es war ihm vollkommen unmöglich, seine fest zusammengebissenen Kiefer zu öffnen. Im Moment hatte er nicht den Eindruck, dass ihm dies in absehbarer Zeit gelingen könnte. So stöhnte Erson nur ein paar Laute, die beruhigend klingen und Sakket dazu bringen sollten, ihren Mund zu halten. Ruhe war das einzige, was er brauchte und wollte ...

„Erson, Erson, bitte! Du darfst mich nicht verlassen. Bitte, liebste Maraia, du Mutter der Tränen, mach, dass er lebt“, hörte er nun Sakkets Worte und erinnerte sich schlagartig.

Der Gynashort, Idris, die Flucht vor den Kling'Arta, 5050, Hornissenpfeile ...

Mit einem Ruck richtete er seinen Oberkörper auf und schnappte nach Luft. Das hätte er besser nicht tun sollen. Ob wohl er geglaubt hatte, es ginge nicht noch schlimmer, verdoppelten die übereifrigen Kobolde in seinem Kopf ihre Anstrengungen. Erson war, als würde ihm jetzt sofort - auf der Stelle! - der Schädel platzen. Er konnte sogar schon die Bruchstelle spüren, die von Schläfe zu Schläfe seine Stirn spaltete. Er kam sich wie ein Frühstücksei, das jemand mit einem Messer aufklopft, vor. Er stöhnte laut und fühlte sich plötzlich umarmt. Sakket schluchzte.

Da endlich schlug er die Augen auf. Glühenden Dolchen gleich drangen die Lichtstrahlen der kalten Lampen in seine Augäpfel und erzeugten farbig explodierende Sternschnuppen auf der Netzhaut. Er wäre wieder ohnmächtig zurückgesunken, wenn ihn nicht das Mädchen so fest umklammert gehalten hätte. Zum ersten Mal seit seinem Erwachen entspannte sich der junge Mann ein wenig, denn diese Umarmung tat ihm unbeschreiblich wohl. Er hatte das Gefühl, er sehne sich schon ein Leben lang nach ihr.

„Ach, Sakket. Liebes ...“, flüsterte er und erwiderte den Druck. Er hätte noch stundenlang so ausharren können, ihre Wärme und ihren Pulsschlag fühlen, ihr Kosewörter zuflüstern und sie streicheln. Doch Sakket hatte ihn nicht nur aus Erleichterung oder Rührung umarmt. Ihr Arm rutschte nach oben, packte dort den noch immer in seinem Rücken steckenden Hornissenpfeil und riss ihn mit einer raschen Bewegung aus der nadelfeinen Wunde. Erson spürte es kaum. Sofort befreite sich Sakket sanft aus der Umarmung, rückte etwas von ihm ab. Mit einem angeekelten Blick betrachtete sie das weiterhin kalten Dampf ausstoßende Mordinstrument in ihrer Faust und warf es achtlos zur Seite.

„Wie geht es dir?“ Ein wenig bedauernd, weil der Körperkontakt nur so kurz gewesen war, versuchte Erson, seinen pochenden Schädel zu ignorieren. Er sah prüfend an sich herab. Seine Beine und Hände zitterten zwar noch wie bei einem alten Säufer, aber er hatte die Kontrolle über sie zurückgewonnen. Allerdings hatte er sich eingenässt, während ihm das Gift des Hornissenpfeils die Kontrolle über seine Gliedmaßen geraubt hatte. Er ekelte sich ein wenig, aber damit hatte sich ein weiteres Problem erledigt. Er hob beruhigend den Arm.

„Es geht schon. Ich brauche nur etwas Zeit.“ Er brachte es sogar fertig, die vor ihm kniende Sakket anzulächeln. Es war nur ein kleines, etwas verrutschtes Lächeln, aber sie beantwortete es sofort. Sie übersah beflissen den dunklen Fleck auf seiner Hose. Tränen liefen ihr über die vom Staub der Höhle grauen Wangen und malten erneut rosa Wege auf ihrem Weg zum Kinn. Sie lachte, aber es klang nicht fröhlich. Erson sah es ihr an: Sakket war am Ende ihrer Kräfte und nur ihr Wille trennte sie noch vor einem endgültigen Zusammenbruch.

„Wie hast du das überleben können? Ich dachte, du wärst tot“, stammelte sie. Erson zuckte mit den Schultern und spürte kurz die Einstichstelle des Hornissenpfeils, der ihm eine eigentlich tödliche Dosis Gift in den Körper injiziert haben musste. Es hätte ihm wie dem Kling'Arta gehen sollen, der draußen vor der inzwischen verschlossenen Tür lag - sofortige Muskelkrämpfe, Atemnot, dann ein rascher Herzstillstand. Erson wusste, dass es solche schnell wirkende Gifte gab. Manche fanden sich in kleinen Früchten, die an den Wegesrändern wuchsen oder im Speichel von Tieren. Doch es war anders gekommen: Sein Körper hatte zwar ebenfalls heftig auf das Gift reagiert, aber Erson war im Gegensatz zu dem muskelbepackten Hünen mit dem Leben davon gekommen. Selbst die Kopfschmerzen ließen bereits nach.

„Vielleicht liegt es daran, dass bei mir Wunden schneller abheilen als bei anderen und mich Krankheiten nie berühren“, mutmaßte er und rappelte sich schwerfällig auf. „Vielleicht war auch in dem Pfeil, der mich getroffen hat, nicht mehr so viel von dem Gift übrig. Ich meine, schließlich muss das Ding ja schon seit Jahrtausenden diese Kammer bewachen.“

Der Dicke sah sich um. Außer den Rucksäcken und den über den Boden verstreuten Resten der zwei zerstörten Hornissen war der kurze Gang leer. Erson nahm sich vor, diese später genauer zu untersuchen, wenn er wieder bei Kräften war. Er hoffte, hinter das Geheimnis der Flugfähigkeit der Pfeile zu kommen. Hing das damit zusammen, dass sie sich wie ein Eiszapfen angefühlt hatten? Das alles schien ihm etwas mit einer Techné zu tun haben, die er noch nicht verstand. An Magie glaubte Erson ja nicht, das waren nur Taschenspielertricks. Hoffentlich gelang es ihm, aus den verstreuten, wie dünnes Glas zersplitterten Resten, Rückschlüsse über ihre Funktion zu ziehen. Er hatte sich schon immer für die Mechanik von Maschinen interessiert und war nach seiner Flucht aus dem Waisenhaus bei einem Uhrmacher und Goldschmied in Garda in die Lehre gegangen, bis dieser ihn verjagt hatte, weil er ihm auf die Schliche gekommen war. Erson hatte das Lehrgeld und das Unterkommen für sich und seinen beiden Freunde mit kleinen Diebstählen bezahlt - nicht zuletzt auch im Rücken des Uhrmachers direkt aus dessen Lager und Werkstatt. Trotzdem war dies im Rückblick die beste Zeit für den kleinen, dicken Mann gewesen; ganz nah an seiner Vorstellung von einem guten, richtigen Leben.

Weiter hinten stand inzwischen die zweite Tür einladend offen. Erson konnte nicht erkennen, was in der Kammer dahinter war. Da lauerte Dunkelheit und von dort waren auch die tödlichen Waffen hereingeflogen. Erson betete, dass es sich endlich um den Eingang in die Stadt handelte. Hoffentlich stießen sie nicht auf einen weiteren Schutzmechanismus, den sie diesmal vielleicht nicht überwinden könnten. Auf der anderen Seite gab es nur den einen Weg - vorwärts ins Unbekannte. Er drehte sich wieder zu Sakket.

„Wir sollten rasten und auch ein wenig schlafen“, schlug er vor. „Vielleicht bin ich voreilig, aber ich glaube, hier droht uns keine Gefahr mehr. Außerdem habe ich ordentlichen Hunger.“ Das Mädchen ging bereitwillig auf seinen Vorschlag ein. Sie stand auf und Erson sah, dass sie dabei wankte und sich an der Wand abstützen musste. Sie wirkte in dem künstlichen Licht bleich und zerbrechlich. Offenbar war sie am Ende ihrer Kräfte angelangt.

„Was ist mit dir?“, fragte er besorgt. „Wirst du krank?“

„Ach, es ist nichts weiter. Ich sagte doch schon, mir ist schon die ganze Zeit schwindlig. Und mir ist auch ein bisschen schlecht. Das wird alles wie mein Nasenbluten vorhin an der Höhe liegen, die ich nicht gewöhnt bin. Pass auf, nach ein paar Streifen lecker versalzenem Pökelfleisch und ein bisschen Schlaf geht es mir wieder gut. Auch wenn ich eigentlich überhaupt keinen Hunger habe.“ Sie stieß sich gespielt lässig von der Wand ab und fuhr sich mit den gespreizten Fingern beider Hände durch die Haare. „Siehst du, es wird schon besser.“

Erson antwortete nicht. Er starrte nur erschrocken auf ihre Hände, zwischen denen ein Büschel Haare hing, das sie sich eben mit ihrer Geste ausgekämmt hatte, ohne es zu merken. Sakket erkannte, dass etwas nicht stimmte und folgte seinem Blick. Verblüfft betrachtete sie die braune Haarsträhne zwischen ihren Fingern.

„Was geschieht mit mir?“, stotterte sie und ließ das Büschel wie angeekelt zu Boden fallen.

„Das sind die Strahlen“, sagte jemand leise in der Provinzsprache hinter ihnen; eine Stimme, die sie gerade durch ihre unbetonte Gelassenheit zu Tode erschreckte. „So beginnt es immer.“

Erson fuhr herum. Im Schatten der Tür tauchte eine hohe Gestalt auf. Sie kam staksend und humpelnd auf die beiden zu. Bei jedem Schritt erklang ein metallisches Klicken und Stampfen in den pneumatischen Gelenken der Erscheinung, aus denen wie bei den Hornissenpfeilen pfeifend ein wenig kalter Dampf entwich. Sie trat schwerfällig und humpelnd nach vorn und wurde vom Licht der Deckenlampen erfasst. Erson unterdrückte einen Angstschrei, denn es war zu seinem Erstaunen kein Mensch, der ihnen so ungelenk entgegentrat.

„Ein Golem!“, stellte da auch schon Sakket neben ihm verwundert fest. „Oh, Maraia, du Salz der Erde. Ich glaube, nun habe ich alle Wunder der Welt gesehen.“

Der eigentlich durchaus menschenähnliche Körper machte einen seltsam rohen und unfertigen Eindruck, als sei er aus nicht ganz passenden Ersatzteilen gefertigt. An dem tonnenförmigen Torso waren die üblichen vier, jedoch hier viel zu langen und viel schmalen, mit farbigen Kabeln untereinander verbundenen Gliedmaßen angenietet, zwei Beine und zwei Arme. Die Proportionen stimmten nicht. Der Golem wirkte wie ein erster, oberflächlicher Entwurf, den sein Schöpfer als missglückt zur Seite gelegt hatte, um anschließend Gelungeneres zu schaffen. Die äußere Gestalt war vollkommen aus einem quecksilberfarbenen Metall geformt. Es erschien Erson bei der unruhigen Beleuchtung zähflüssig und nicht ganz erstarrt. Bei jeder Bewegung tanzten bunte Lichtreflexe und Spiegelungen über die Oberfläche. Auf dem Kopf, der oben als konisch abgeflachter Zylinder ohne Hals direkt aus den Schultern wuchs, trug das unheimliche Maschinenwesen eine Art von krempenlosem Fischerhut. Er war fleckig und zerrissen und hatte schon bessere Tage oder Jahrhunderte gesehen. Diese groteske Kopfbedeckung war die einzige Form von Kleidungsstück, die die Gestalt trug. Der „Schädel“ selbst war wie der ganze Körper eine glatt polierte Fläche ohne Konturen und Sinnesorgane. Wo der Mund saß und wie der künstliche Mensch die Eindringlinge erkannte, konnte Erson nicht ausmachen.

Die beiden Schatzsucher wichen ängstlich zur fest verschlossenen Tür zurück, gegen die sie sich mit ihren Rücken pressten. Erson schielte zu dem roten Knopf an der Wand. Sollte er versuchen, die Tür erneut zu öffnen und mit Sakket über die Brücke zu fliehen? Aber dort draußen warteten nur eine Sackgasse und der letzte überlebende Krieger der Kling'Arta auf sie. Wenn von der Gestalt in der silbernen Rüstung eine Gefahr ausging, dann mussten die beiden sich ihr hier drinnen stellen.

Der Nicht-Mensch blieb knapp vor den beiden stehen und hob wie zum Gruß eines seiner dünnen und zerbrechlich wirkenden Ärmchen, das nicht in einer Hand, sondern in drei Klammerfingern auslief, die an ihrer Spitze orange glühten. In der anderen Klaue hielt es einen kleinen, kurzen Stab, dessen Funktion Erson auf den ersten flüchtigen Blick nicht einschätzen konnte. Er hoffte, dass es keine Waffe war.

'Das ist tatsächlich ein künstlicher Mensch', schoss ihm durch den Kopf, 'und hinter seiner glatten Hülle ist er wahrscheinlich aufgebaut wie ein Uhrwerk.' Er meinte sogar leise das Klicken der feinen Rädchen und Federn zu hören.

Er kannte solche Automaten als Jahrmarkt-Attraktionen. Sie wurden ab und an in Garda und in anderen Städten gegen Eintritt ausgestellt und lockten viel staunendes Volk an. Man nannte jene Kunstmenschen „Goleme“; nach dem Daimon, den der heilige Baruch Rosenthal aus Metallresten geschaffen haben soll, damit er Titania vor Inet retten konnte. So wurde es zumindest in dem Buch des Baruch beschrieben, das im Waisenhaus der Gemeinschaft neben den Lehrbüchern die einzige erlaubte Lektüre gewesen war. Erson hatte sich als Kind immer vorgestellt, einen solchen Golem an seiner Seite zu haben, der ihm aufs Wort gehorchte und ihm zur Seite stand, wenn ihm der Adept Seyferd Schmerzen zufügte. Er hatte als Erwachsener seine Uhrmacherlehre nicht zuletzt auch deshalb angetreten, weil er sich irgendwann einmal diesen Traum erfüllen wollte. Er bastelte zum Entzücken von Sakket immer mal wieder kleine Aufziehpuppen und anderes mechanisches Spielzeug, das sich ganz gut auf dem Schwimmenden Markt verkaufen ließ. Vom Erlös erwarb Erson dann neue feine Metallteile, Werkzeuge und Hefte über Mechanik und Kinetik. Er wollte unbedingt hinter das Geheimnis von Baruchs künstlichem Streiter kommen und dann selbst einen bauen.

Erst im letzten Herbst war er heimlich in den Wagen eines Schaustellers geschlichen und hatte dessen äußerst schlecht Schach spielenden Golem untersucht, während Idris inzwischen dessen Besitzer in der Lahmen Curie in ein alkoholreiches Gespräch verwickelte. Seine Kenntnisse und sein Uhrmacherwerkzeug hatten Erson geholfen, schnell hinter die Geheimnisse dieses künstlichen Menschen zu kommen: Der Golem war nichts weiter als ein geschickt konstruierter Schwindel. Die Hülle aus Messing besaß kein Eigenleben, aber sie bot in ihrem Körper Platz für den Gehilfen des Schaustellers, seinen kleinwüchsigen achtjährigen Sohn, der weiter hinten im Wagen ruhig schlief, ohne den Einbrecher zu bemerken. Dieser Sohn saß bei Vorstellungen im Bauch der Maschine und steuerte die Figur über Stricke und Hebel. Im Prinzip funktionierte der Schachspieler wie eine Schreibmaschine, sein die Spielfiguren bewegender Arm war nur eine Verlängerung des Armes des Kindes, das durch Spiegel auf den Tisch mit dem Spielbrett sehen konnte. Das erklärte auch, warum der Golem so schlecht Schach spielte: Er war nur eine komplizierte Hülle und besaß den Verstand des Kindes, das ihn bediente. Erson war überzeugt, dass er mit den entsprechenden Mitteln etwas Besseres als diesen Betrug zustande bringen würde. Sein von Federn, einer Dampfmaschine oder noch besser mit Strom angetriebener Maschinenmensch, von dem er über die Jahre eine Vielzahl von immer ausgereifteren Entwurfszeichnungen gemacht hatte, hätte funktioniert. Da war er ich absolut sicher. Kopfzerbrechen bereiteten ihm die Batterien, die Konstruktion der Sinnesorgane und des auf sie reagierenden „Verstandes“ des Maschinenmenschen. Aber auch diese Probleme würde er mit der Unterstützung von Sakkets mathematischem Genie sicherlich irgendwie lösen können. Sie murmelte lächelnd etwas von einer binären Codierung und machte eine abfällige Handbewegung, als er sie einmal auf seine Probleme ansprach. Es fehlten einzig Geld und eine gut sortierte Werkstatt. Das war der eigentliche Grund, aus dem Erson seine Freunde überredet hatte, sich mit ihm auf die Suche nach den Reichtümern der Goldenen Stadt Bridon zu begeben und den Gipfel des Gynashorts zu erklimmen. Und nun stand er fasziniert vor einem echten Golem, der um vieles weiterentwickelt war, als er es sich in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte.

Im Inneren dieser unfassbaren, quecksilbrigen Erscheinung steckte sicherlich kein Mensch und steuerte sie. Trotzdem besaß sie Intelligenz, denn sie stand nun vor den beiden sich ängstlich zusammenkauernden Schatzsuchern und knarzte. Dabei wedelte sie beruhigend mit dem dünnen Ärmchen.

„Sie müssen keine Angst haben. Ich werde Ihnen nichts tun, Bürger. Ich bin geschaffen, um zu helfen.“ Dabei setzte sich der Kopf wie der einer Eule kreisend in Bewegung. Er zeigte erst jetzt seine Vorderseite, ein Gesicht. Wenn man es so bezeichnen konnte; denn außer einer liegenden halbmondförmigen Öffnung, durch die der Golem sprach, und zwei darüber angebrachten, runden Linsen, die wie die Objektive der camera obscura eines Daguerreotypisten wirkten, gab es nichts, was an ein menschliches Antlitz erinnerte. Dennoch wirkte die Erscheinung gerade durch den wie ein Lächeln geformten Mund überraschend harmlos und naiv. „Treten Sie bitte ein. Sie müssen keinen weiteren Angriff befürchten. Sie sind in der Station Furtger willkommen, Bürger. Ich konnte leider nicht mehr verhindern, dass Sie von den Dekontaminationsdrohnen angegriffen wurden. Ich habe schon lange die Kontrolle über sie verloren. Eigentlich hätten sie Sie in Ruhe lassen sollen, nachdem Sie den richtigen Code eingegeben haben. Ich vermute, es war ein Kurzschluss im System des Wachcomputers. Ich bedauere den Tod Ihres Begleiters.“

Erson hatte nicht alles verstanden, was der künstliche Mensch sagte, aber er stellte offensichtlich keine Bedrohung dar. Er hatte tausend Fragen. Bevor er jedoch die erste stellen konnte, nämlich jene, weshalb der Golem sie als „Bürger“ bezeichnete, geschah etwas Merkwürdiges: Eines der „Augen“, die aus dem silbernen Eimerkopf ragten, drehte sich und richtete sich auf Erson, während das andere weiterhin unbestimmt in eine andere Richtung blickte. Ein scharfer hellgrüner Lichtstrahl aus der Linse traf Erson und wanderte langsam tastend über seinen Körper. Erson krümmte sich ein wenig, aber das Licht tat ihm nicht weh. Trotzdem hatte er das unbestimmte Gefühl, dass nicht nur sein Äußeres von dem grünen Strahl berührt wurde. Er fühlte sich von ihm regelrecht durchdrungen und meinte an den Stellen, an denen ihn das Licht traf, eine prickelnde Wärme unter der Haut zu spüren.

„Bleiben Sie bitte ruhig, Bürger“, fuhr der Golem fort. „ Bewegen Sie sich nicht. Es geschieht Ihnen nichts. Ich will nur überprüfen, wie sehr Sie verletzt sind. Ihre Werte sind ...“ Er verstummte plötzlich und das leise Rattern der Rädchen in seinem Inneren wurde lauter. „Ich verstehe nicht“, sagte er dann und der Lichtstrahl aus seinem Auge erlosch. „Die Daten sind verwirrend ...“ Der Kopf drehte sich ruckartig und zeigte den beiden Schatzsuchern erneut seine glatte Rückseite. „Ich leite Routine D ein ... Einen Moment ... Einen Moment Geduld ... erwarte Input ... Bürger.“ Der Golem machte einen Schritt rückwärts, blieb dann einfach stehen und rührte sich nicht mehr. Weiterhin war lautes Rattern und Klicken aus dem Inneren des Metallkörpers zu vernehmen. Sakkets und Ersons Blicke trafen sich.

„Was passiert denn jetzt?“, fragte das Mädchen. „Ist der Golem kaputt?“

Ihr Begleiter konnte nur mit den Schultern zucken. Er wartete einen Moment ab, dann trat er direkt zu dem erstarrten künstlichen Menschen und legte nach einem kurzen Zögern die Hand auf den Rücken des bewegungslosen Automaten – oder war das die Brust? Wie er vermutet hatte, fühlte sich die irisierende, quecksilberne Hülle kühl an, fast frostig. Auch wenn er keine Ahnung hatte, warum das so war, vermutete er, dass die Kälte etwas mit der Energie zu tun hatte, die den Golem versorgte. Erson konnte fühlen, wie die Oberfläche des Maschinenkörpers zitterte. Anscheinend war seine Metallhaut nur dünn. Erson wusste mit plötzlicher Scham, dass seine eigenen Vorstellungen von einem Kunstmenschen unendlich primitiver waren als das Exemplar vor ihm. Wie viel Wissen war der Menschheit in der dunklen Zeit zwischen dem die Welt verheerenden Selbstmord der Vorgänger und den blutigen Reichskriegen verloren gegangen? Wissen und Weisheit, von denen während der vergangenen Jahrhunderte in den Städten des Ostens gegen den Widerstand der mächtigen Gemeinschaft der Leidenden Gene mühsam ein paar kleine Bruchstücke wiedergewonnen worden waren. Die sogenannten Verne-Entdeckungen stellten jedoch nur einen winzigen Teil dessen dar, was es noch zu entdecken und zu erforschen galt.

Als hätte ihn die Berührung Ersons aus einem Schlaf geweckt, erzitterte der Golem.

„Bitte folgen Sie mir jetzt. Bürger. Sie müssen sich beeilen, denn Sie sind in akuter Gefahr. Diese Epsilon-Einheit wird Sie nun hinunter in die Station bringen. Dann leite ich weitere Maßnahmen ein. Lassen Sie ihr Gepäck ruhig hier liegen, es wird vom nächsten Träger abgeholt und zeitnah in den Wartesaal gebracht“, sagte er stockend und setzte sich zielstrebig Richtung Ausgang in Bewegung. Obwohl es weiterhin der gleiche knarrende Maschinenton war, mit dem der Golem sprach, hatte Erson trotzdem das Gefühl, eine andere Persönlichkeit habe den Automaten übernommen und diese würde nun mit ihnen reden. Vielleicht war das auch so. Vielleicht hatte der Golem seinen eigenen Willen abgetreten und wurde von jemandes Befehlen gesteuert - von einem übergeordneten Gehirn. Auch wenn sich Erson wirklich nicht vorstellen konnte, wie das funktionieren sollte. Er sah zu Sakket, die bereits gehorsam dem Golem folgte. Sie hatte Recht. Es gab keinen anderen Weg, als den hinterher; ins Unbekannte. Er ließ ebenfalls seinen Rucksack stehen und die beiden folgten eilig dem Maschinenmenschen, der sich nicht nach ihnen umsah oder auf sie wartete, aber nur recht langsam vorwärts stolperte.

Gemeinsam gingen die Schatzsucher hinter dem Golem durch die Tür am anderen Ende des Ganges. Sie schloss sich augenblicklich hinter ihnen. Auch hier schaltete sich ein Oberlicht ein. Es handelte sich nur um eine kleine, fensterlose Kammer, in der sie nahe zusammenrücken mussten, damit sie gemeinsam mit dem großen tonnenförmigen Golem hinein passten. Der enge Raum besaß offenbar nur den einen Eingang, durch den sie hereingekommen waren. Über der Tür leuchtete in einem kleinen Fenster rot die Zahl „25“. Alle Wände, die Decke und der Boden waren aus dem gleichen glatten Metall gefertigt. An zwei Seiten befand sich eine Griffleiste. Erson fühlte sich gefangen und beengt.

„Was ist das hier für eine Kammer?“, fragte er beunruhigt den Golem, der gelassen in einer Ecke stand und nicht auf ihn reagierte. Plötzlich bewegte sich der Raum, er erzitterte und begann mit einem Ruck nach unten zu fallen. Ersons Magen sackte für einen Moment schneller nach unten als sein restlicher Körper. Er hatte Mühe, aufrecht zu stehen und musste sich an der Seite festhalten. Sakket kippte gegen ihn und packte seinen Arm. Sie atmete mehrmals tief ein und aus und wurde grün im Gesicht.

„Was geschieht hier?“, fragte der Dicke atemlos. Sakket zeigte statt einer Antwort stumm auf die Leuchtziffer, die gerade noch die 25, nun die 24 und kurz darauf die 23 zeigte. Aber diesmal mussten die beiden wohl kein Rätsel lösen.

„Dies ist ein Aufzug“, erklärte endlich der Golem. „Er befördert Sie beide vom 2MC-Luftankerplatz Furtger-AP in die unteren Stockwerke der Station. Bürger. Sie müssen sich nicht ängstigen.“ Erson hatte Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, denn es schlossen sich seine Ohren, als hätte er den Kopf unter Wasser getaucht. Aufzüge kannte er. Es gab einen berühmten in der weißen Stadt Lux, die nicht sehr weit vom Gynashort entfernt direkt unter dem Hauptkamm des Rauen Gebirges lag. Dort beförderte eine von Ochsen angetriebene Mechanik mit großen Plattformen Handelsgüter, Bürger und sogar ganze Wagentrosse von der Unterstadt in die auf dem Felsen errichteten Adelsburgen und von dort wieder hinab. Auch in viele Bergwerksschächte gelangte man nur über handbetriebene Aufzüge. Aber er hatte noch nie von einem gehört, der von einem Berggipfel fünfundzwanzig Stockwerke in die Tiefe führte und offenbar mit Strom betrieben wurde. Vielleicht schwebte die metallene Kiste auch auf die Weise der Hornissenpfeile ohne einen Seilzug den Schacht hinab. Erstaunt gähnte er und machte seine Ohren wieder frei. Sakket schien es ähnlich zu gehen. Sie schluckte und hielt dabei ihren Kopf schief.

„Mir ist ganz schön schlecht“, sagte sie leise, „hoffentlich dauert die Fahrt nicht so lange. Wenn mehr Platz wäre, würde ich mich hinsetzen. Ich muss mich bald mal ein wenig ausruhen.“ Ihr mathematischer Verstand arbeitete. „Leider habe ich keine Bezugsgrößen, da mir der Abstand zwischen den Stockwerken unterschiedlich erscheint und ich nicht weiß, wie schnell wir uns nach unten bewegen und ob unsere Geschwindigkeit gleichmäßig ist. Ich frage mich, wie tief unter uns diese Station liegt. Was meinst du, kommen wir von dort aus nach Bridon?“

„Die Informationen sind unzureichend“, antwortete der Golem, als hätte die Frage ihm gegolten. „Bürger. Verhalten Sie sich ruhig. Wir sind gleich da.“

Erson löste seinen Blick von der Leuchtzahl, die gerade bei der „14“ angelangte. „Ich habe keine Ahnung. Das ist alles vollkommen anders, als es uns der alte Henne erzählt hat. Wir können nur abwarten. Mich würde übrigens interessieren, wie du das Rätsel an der Eingangstür so schnell lösen konntest. Niemand ist in der Lage, in der kurzen Zeit einhundert Zahlen zusammenzuzählen.“

Sakket lächelte flüchtig.

„Wenn man weiß, wie es geht, ist es nur eine einzige Multiplikation. Zähle ich die erste und die letzte Zahl zusammen, also „1“ und „100“, dann erhalte ich als Summe „101“. Mache ich das mit der „2“ und der „99“ kommt wieder „101“ heraus. Das geht so weiter. „3“ und „98“. „4“ und „97“. Immer ist das Ergebnis „101“. Das kann ich insgesamt fünfzigmal machen, bis „50“ plus „51“. Daraus ergibt sich: „50“ mal „101“ ist gleich „5050“. So einfach ist das. Auf entsprechende Weise kann man übrigens die Summe jeder Zahlenreihe ermitteln. Der Magister Hegenbard hat uns das erklärt, aber da hast du wahrscheinlich mal wieder geschlafen. Er nannte die Lösung für das Problem übrigens einen Gauß.“ Erson zuckte mit den Schultern. Gleichgültig, wie die Rechenmeister es nannten. Wichtig war, dass Sakket rechtzeitig auf das Ergebnis gekommen war.

Endlich bremste der Aufzug und wurde langsamer, hielt an. Die Leuchtanzeige blieb bei der „5“ stehen. Die Fahrt hatte bestimmt zehn Minuten gedauert und Erson vermutete, dass sie inzwischen beinahe am Grund des Gynashort angekommen waren. Die Tür öffnete sich wieder. Sofort setzte sich der Golem in Bewegung. Sakket und Erson folgten ihm aufgeregt. Welche Wunder würden sie hier erwarten?

Gemeinsam traten sie auf eine breite Balustrade hinaus, über der nur zögernd die Lichter angingen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie die gigantische Halle ein wenig ausleuchteten. Denn einige blieben auch dunkel, als wären sie defekt. Sakket und Erson blieben verblüfft stehen. Der Gynashort musste in der Tiefe vollkommen ausgehöhlt sein: Die von großen rostbraunen Eisenträgern und Querstreben gestützte Kuppel, an deren Rand sie auf einer Art Balkon standen, war in ihren Ausmaßen gewaltig und kaum überblickbar. Erson schätzte ihren Durchmesser auf annähernd einhundert Fuß, auch ihre Höhe betrug sicherlich sechzig Fuß. Die Halle hatte mehrere Stockwerke, die als breite Galerien wie kleiner werdende Ringe um einen Mittelpunkt liefen und über breite Treppen miteinander verbunden waren. Überall entdeckte er verschlossene Türen gleich jener, durch die sie die Halle betreten hatten. Waren dahinter weitere Aufzüge oder Räume, gar andere Hallen? Alles war leer und verlassen, wirkte dabei aber sauber wie das Untersuchungszimmer eines Arztes. Es roch zwar stumpf und abgestanden, aber nirgendwo lagen Staub oder Unrat; das Metall glänzte, die hellen Bodenfliesen spiegelten die Lichtquellen. Es war erstaunlich warm, fast unangenehm schwül in der Halle. Dieser Eindruck mochte allerdings auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Tudasgarda die beiden tagelang durch einen eisigen Schneesturm gejagt hatten und sie nun ausgekühlt und erschöpft waren.

Erson trat ehrfürchtig nach vorne an das Geländer, das ihm übrigens aus dem gleichen Material gefertigt schien wie die Hängebrücke oben am Gipfel, an dem „Luftankerplatz“. Hatte es zur Zeit der Vorgänger etwa „Luftschiffe“ gegeben, Montgolfieren, die von Berg zu Berg segelten? Was für eine fantastische Vorstellung! Er sah sich um. Das Stockwerk, in dem sie standen, war nicht das unterste. Es gab bis zum Grund mindestens noch drei oder vier Ebenen. Er konnte das nicht ganz auszumachen. Die Halle wurde ja nicht vollständig ausleuchtet, weil offensichtlich einige Lampen ausgefallen waren. Das Bodengeschoss selbst war jedoch gut sichtbar, da es zusätzlich von Laternenmasten beschienen wurde. Erson sah Gleise und Bahnsteige. Auf einem der verwirrend vielen, sich kreuzenden Schienenstränge stand auch ein Gefährt, das auf den ersten Blick wie ein gigantischer Hornissenpfeil wirkte, aber wahrscheinlich nur eine Art von Eisenbahn war; ein spitz zulaufender Triebwagen und mehrere Waggons. Erson hatte noch nie einen Zug gesehen, wusste allerdings aus Abbildungen, dass es zwischen den großen, modernen Städten östlich der Lamargue, am Rand der bewohnbaren Welt, seit kurzer Zeit Schienenverbindungen gab, auf denen dampfgetriebene Lokomotiven Güter und reiche Adlige transportierten. War diese Halle eine Bahnstation, die man in der Ostsprache Garedest nannte? Führte eines dieser Gleise, die am Hallenrand in Tunnelöffnungen tauchten, in die Goldene Stadt? Er schüttelte den Kopf. Sakket stellte sich neben ihn. Auch ihr fehlten die Worte. Sie legte ihm nur eine Hand auf die Schulter, als müsse sie sich überzeugen, dass zumindest ihr Gefährte aus Fleisch und Blut war.

Der Golem humpelte inzwischen unverdrossen ein Stück entfernt auf eine der Treppen zu. Ihre Stufen setzten sich bei seiner Annäherung erstaunlicherweise von selbst in Bewegung und rollten in einer gleichmäßigen Geschwindigkeit nach unten, während oben wie aus dem Nichts neue auftauchten. Erson und Sakket staunten, dann rannten sie ihrem Führer hinterher, der gelassen auf einer der Stufen zum nächsten Stockwerk fuhr. Es war nicht ganz einfach, auf die sich wie von Geisterhand bewegend Treppe aufzuspringen, aber es gelang ihnen ohne Sturz, auch wenn sie mit den Armen ruderten und sich aneinander festklammern mussten. Noch schwieriger stellte sich dann das Verlassen der Treppe heraus. Sie taumelten und stolperten auf festen Grund. Erson war erleichtert, als er sah, dass der Golem nicht noch weiter hinab auf dieser teuflischen Erfindung der Vorgänger fuhr, sondern eine breite Tür ansteuerte, die im Gegensatz zu den anderen aus Glas war und einen Blick in den dahinter liegenden Raum freigab. In ihm standen mannshohe metallene Kisten, auf deren Vorderseiten eine Vielzahl von bunten Lichtern blinkte. Der Golem hob die Hand mit dem Stab und hielt ihn gegen die Glastür, die sich gehorsam öffnete.

'Das ist ein Schlüssel', dachte Erson, 'das muss ich mir merken.' Ein Schwall Kälte drang aus dem Raum in die überhitzte Halle. Nun verharrte der Maschinenmensch und wartete auf die beiden Schatzsucher, die sich nur zögernd näherten.

„Treten Sie ein. Bürger. Hier kann ich von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen reden und weitere Untersuchungen vornehmen“, sagte der Golem und machte eine verblüffend menschliche, einladende Verneigung. Vorsichtig schoben sich die beiden an ihm vorbei in den Raum, in dem es so kalt war, als hätte jemand ein Fenster nach außen geöffnet. Freilich gab es keine Fenster, allerdings waren an den Metallkisten wieder einige jener hellbraunen Spiegel angebracht, über die sich Zahlenkolonnen bewegten, die sofort Sakkets Interesse weckten. Auf einer besonders großen Glasscheibe, die direkt über einem Tischchen scheinbar schwerelos in der Luft schwebte, erschien ein Bild. Es zeigte Sakket und Erson, wie sie eben den Raum betraten. Erson hob einen Arm. Sein verkleinertes Gegenbild auf der Scheibe tat augenblicklich das Gleiche. Erson hatte das Gefühl, ihm würde der Schädel platzen. Das lag allerdings nicht mehr an den Kopfschmerzen, die ihn weiterhin quälten, sondern an den vielen Eindrücken, die ihn überforderten. Er wusste nicht genau, wie er sich die verlorene Stadt des Máeriqas vorgestellt hatte, so fremdartig und unbegreiflich allerdings nicht.

„Siehst du das?“, fragte er seine Freundin und deutete auf die Scheibe.

„Das ist doch nur eine Art von Daguerreotypie“, vermutete sie abgelenkt und trat neugierig an den mattschwarzen Tisch heran. Sie tippte mit einem Finger auf seine Platte und er begann zu leben. Ein Unsichtbarer begann, auf der Oberfläche mit einem leuchtenden Stift zu malen und zu schreiben. Kleine Rahmen klappten auf, Quadrate und Kreise, Texte und Zahlen tauchten aus dem Nichts auf, Lichter leuchteten, eine Tastatur erschien. All das wirkte, als würde es eine Handbreit über dem Tisch schweben.

„Habe ich es mir doch gedacht“, stellte Sakket zufrieden fest und wandte sich an Erson. Obwohl sie von Minute zu Minute elender und erschöpfter aussah, funkelten die Augen in ihrem ausgezehrten Gesicht vor Begeisterung. Sie umfasste mit einer ausladenden Armbewegung den ganzen Raum. „Die Kisten hier, das sind Automaten. Das Ganze ist eine einzige große Rechenmaschine. Sie funktioniert wahrscheinlich nach dem Prinzip einer Kalkulier- und einer Schreibmaschine, wie sie in Sansavia hergestellt werden. Ich denke, von hier werden der Golem und vielleicht auch die ganze Halle überwacht und gesteuert. Wir hatten das ja schon oben an der Eingangskontrolle. Das alles ist ... unglaublich! Ich glaube, wir stehen vor dem Tisch, über den man mit diesem künstlichen Gehirn in Verbindung treten kann.“

„Das geht einfacher. Bürger. Ich bin ein sprachgesteuertes Modell. Sie können mit mir reden. Willkommen auf der Relais-Station Furtger“, sagte eine Stimme. Sie kam nicht mehr von dem Automatenmenschen, der weiterhin unbeweglich in der Tür stand, sondern unbestimmt aus dem Raum. Nun klang sie wesentlich wärmer und menschlicher als das Gekrächze des Golems, aber sie wirkte noch immer künstlich.

„Wie sollen wir dich nennen?“, fragte Sakket. Das unheimliche Spiegelbild auf der großen Scheibe verschwand und ein Gesicht erschien stattdessen. Es war ein glattes, faltenloses Antlitz, schön zwar, aber trotz der kurzen Haare geschlechts- und auch alterslos. Es wirkte wie die Idee eines menschlichen Gesichts, unecht und künstlich. Auch wenn die Augen interessiert auf die beiden herabsahen und der Mund leicht lächelte, wussten sie doch, dass dies ein Trugbild war und kein Bild eines echten Menschen.

„Ich werde ... ASKUFT genannt. AUS ... ASKUFT. Ja, ASKUFT, das Orakel. Ich bedauere, aber ich habe ein paar Funktionsstörungen. Sie betreffen nur periphere Systeme, Wartungsroutinen und einige der Gedächtnisspeicher – auch die Sprachausgabe. Ich werde Ihnen helfen. Das ist meine Aufgabe. Sie benötigen dringend einen Arzt. Bürger.“

„Bist du ein künstliches Gehirn, ASKUFT? Wie funktioniert dein ...“ Erson schob sich vor Sakket und unterbrach sie eilig. Sie schwankte erstaunt zur Seite. Hatte nicht der Schamane der Tudasgarda vor seinem Sturz in die Tryas-Schlucht diesen ASKUFT erwähnt? Er hatte ihn ein 'Orakel' genannt, was auch immer damit gemeint war. Man musste sich bestimmt vor ihm in Acht nehmen. Aber diese Frage brannte auf seiner Seele und wenn die Maschine wirklich weissagen konnte, dann wusste es vielleicht die Antwort.

„Sind wir hier in Bridon, Orakel?“

„Moment ...“ Das Gesicht auf der Scheibe verschwand. Ein verwirrendes Netz aus verschiedenfarbigen Linien wurde sichtbar. Auf den Linien lagen in unregelmäßigen Abständen kleine Quadrate, neben denen Wörter standen, mit denen Erson nichts anfangen konnte. Ein Quadrat entdeckte er jedoch unten auf der Abbildung, dessen Bezeichnung ihm bekannt vorkam: Es war mit „Nearoma“ betitelt. So hieß eine Metropole ganz tief im Süden, die ehemalige Hauptstadt von Turini Sud, dem Eroberer. Heute lag sie in einem der zahlreichen Tyrannenreiche jenseits des Südwalls. War das nur ein Zufall oder bildete ASKUFT eine Art von Landkarte ab? Erson versuchte, noch einen weiteren Namen zu finden, der ihm etwas sagte, aber er wurde von der Maschinenstimme unterbrochen.

„Die Informationen sind ungenügend. Eine Station 'Bridon' existiert nicht. Reisender. Wiederholen Sie die Anforderung bitte schriftlich. Meinen Sie vielleicht Brei'Ton? Oder Prida?“ Eines der Quadrate ganz in der linken oberen Ecke der Scheibe leuchtete auf, ein weiteres ziemlich weit rechts am Rand. War dies wirklich eine abstrakte Weltkarte, dann musste jenes Brei'Ton auf einer der unzähligen Inseln des Angel-Archipels vor der Kornsteinküste mitten im Großen Ozean liegen und die andere Stadt südöstlich von Écuyer im Niemandsland.

„Leider ist die Verbindung von Furtger zu diesen Stationen schon lange unterbrochen. Wir bitten die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen. Reisende. Soll ich Sie nicht lieber in das Krankenzimmer bringen lassen?“ Erson zögerte und sah zu Sakket, die ebenfalls die Karte auf der Scheibe musterte. Ihm fiel auf, dass sie sich schwer mit beiden Armen auf dem Tisch aufstützte.

„Mir ist gar nicht gut, Erson. Lass uns in das Krankenzimmer gehen“, flüsterte Sakket, doch ihr Freund kümmerte sich nicht weiter um sie. Ihn hatte das Schatzfieber gepackt.

„Wo befindet sich die Goldene Stadt?“, fragte er hartnäckig nach. „Der diamantene Palast, die Halle der Wunder?“

„Ihre Anfrage ist nicht präzise. Bürger. Die Informationen sind ungenügend.“ Die Abbildung verschwand und das künstliche Gesicht von ASKUFT war wieder zu sehen. Es schien auf die gequälte Sakket zu blicken und wirkte tatsächlich besorgt. „Bitte begeben Sie sich jetzt in das Krankenzimmer“, bestand er, „Sie müssen sofort behandelt werden.“

„Nein, verdammt noch mal! Ich will wissen, wo der Schatz von Máeriqas, dem Unglückseligen, ist ...“, begann Erson noch. Das Mädchen neben ihm würgte und sackte in sich zusammen. Sie krümmte sich und anschließend erbrach sie in einem Schwall die gelben Überreste ihrer letzten kargen Mahlzeit.

„Erson, ich ...“ Keuchend kippte Sakket nach vorn und nur ein schneller Griff von Erson verhinderte, dass sie schwer zu Boden stürzte. Während Erson seine Freundin hilflos in den Armen hielt, handelte ASKUFT gedankenschnell. In den Golem, der bislang regungslos in der Tür gestanden war, kam wieder Leben. Er trat nach vorne und nahm Erson vorsichtig das bewusstlose Mädchen ab. Erson überließ sie nur zögernd dem Automaten. Um sie sicher zu halten, musste jener seinen Stabschlüssel fallen lassen.

„Diese Epsilon-Einheit wird die kranke Bürgerin direkt in die Krankenabteilung bringen“, bestimmte das Orakel. „Auch für Sie wird es das Beste sein, ihr zu folgen. Bürger. Sie scheinen zwar resistenter gegen die Krankheit zu sein, aber Sie sollten sich ebenfalls ausruhen.“ Ein zweiter Golem, der exakt wie der erste aussah, aber nicht diesen seltsamen Hut trug, tauchte vor der Tür auf. Er trug die Felleisen, die die beiden vorhin im Gang liegengelassen hatten.

„Krankheit?“, stotterte Erson. Dabei war er jedoch geistesgegenwärtig genug, mit einer schnellen Bewegung den Schlüssel des Golems vom Boden aufzufischen und ihn in seine Hosentasche zu stecken. Weder ASKUFT noch der Maschinenmensch schienen etwas zu bemerken. „Was denn für eine Krankheit? Ist sie gefährlich?“

„Beruhigen Sie sich. Bürger. Die Umgebung der Station ist nicht sauber. Die erkrankte Bürgerin und Sie waren draußen kurz einer mittleren Dosis von 1,3 Sievert ausgesetzt. Aber ich bin nicht die Sanitätseinheit. Der TUDASQ ELEGK muss sich um Sie beide kümmern.“ Erson erstarrte, als hätte ihn der Schlag getroffen.

„Bürger“, setzte ASKUFT nach einer kleinen Pause hinzu.

*

„Du bist also TUDASQ ELEGK, der silberne Tod?“, fragte Erson kopfschüttelnd und musterte den kleinen, kugelförmigen Golem, der in der Luft vor der Liege schwebte, auf der der dicke Schatzsucher halbnackt saß und gut gelaunt seine schweren Beine schlenkerte.

Wie er inzwischen erfahren hatte, war die erstaunliche, vielarmige Maschine, die ihn nicht zuletzt auch wegen ihrer großen Glotzaugen an einen Meereskraken erinnerte, die einzige Gamma-Einheit von ASKUFT, dem eine ganze Armee der unterschiedlichsten Automaten gehorchte. Die Hülle der intelligenten Kugel glänzte in der Tat silbern, aber sie war nicht der personifizierte Tod, sondern eher das Gegenteil. Der TUDASQ-Golem war Arzt und Krankenpfleger in einem und er schien etwas von seiner Aufgabe zu verstehen. Eben hatte der künstliche Doktor Erson aufmerksam untersucht, in Mund und Ohren geleuchtet, mit diesem seltsamen grünen Lichtstrahl abgetastet und ihm Gewebe-, Blut- und Urinproben abgenommen, ohne ihm übrigens dabei wehzutun.

Zuletzt verabreichte ihm der TUDASQ durch eines seiner dünnen, gelenkigen Ärmchen, deren Finger in spitzen Kanülen endeten, eine Injektion. Erson wehrte sich zuerst, weil ihn der Arm mit der Spritze an die unangenehme Erfahrung mit den Hornissenpfeilen erinnerte. Aber der fliegende Doktor ignorierte jeden Protest. Eine Diskussion ließ er nicht zu. Obwohl man mit ihm wie mit ASKUFT sprechen konnte, musste sich Erson immer wieder vor Augen halten, dass er und Sakket die einzigen Menschen in diesem Umsteigebahnhof waren und von Maschinen betreut wurden, die den vor Jahrtausenden formulierten Befehlen ihrer Erbauer gehorchten. Auch wenn sie so perfekt konstruiert waren wie der TUDASQ: Sie waren nicht intelligent, sondern handelten nach vorgegebenen Mustern.

An eine Flucht war übrigens nicht zu denken, da vor der Tür zu dem Krankenzimmer zwei Goleme Wache hielten, die ihn überall hin begleiteten. Es waren Omega-Einheiten, die grob den Epsilons ähnelten. Ihnen war allerdings nur ein einziger Arm vorne am Bauch befestigt, an dessen Ende ein gefährlich aussehendes rotes Licht pulsierte. Erson nahm an, dass das eine Waffe war, mit der er nicht nähere Bekanntschaft schließen wollte.

Das Mittel, das ihm der TUDASQ verabreichte, hatte auf Erson eine leicht aufputschende, stimmungsaufhellende Wirkung, wie sie sich etwas abgeschwächt nach dem Genuss von 'Kav' einstellte, jenem würzig riechenden Aufguss aus gemahlenen Pflanzensamen, der von den Händlergilden aus der weit entfernten Stadt Karukora importiert und zu Fabelpreisen auf den Provinzmärkten verkauft wurde. Auch Ersons Kopfschmerzen waren nach einer Nacht Bettruhe und der aufmunternden Spritze wie weggeblasen. Er fühlte sich ausgeschlafen und abgesehen von dem Muskelkater in Rücken und Beinen wieder hergestellt. Er sprang unternehmungslustig von seinem Krankenbett auf die nackten Füße.

„Wie bist du denn zu diesem Spitznamen gekommen?“ Erson sah sich nach seiner Kleidung um. Er konnte sie nicht entdecken. Hoffentlich hatten sie nicht den gestohlenen Schlüssel in seiner Hosentasche gefunden.

„Die Informationen sind ungenügend“, erwiderte der kugelrunde Golem mit einer Standardantwort jener künstlichen Wesen, die diesen von den Vorgängern erbauten Bahnhof als einzige bewohnten. In ihm gingen sie wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden ihren ewig gleichen, monotonen Verrichtungen nach und hielten den Betrieb in der Station Furtger unbekümmert am Laufen. Es schien sie dabei nicht zu interessieren, dass es schon lange kein funktionierendes unterirdisches Gleisnetz mehr gab, das Furtger mit Bahnhöfen auf der ganzen Welt verband. Die Maschinen, allen voran ASKUFT, das Orakel, erledigten ihre Arbeiten, als hätte erst gestern der letzte Fahrgast die Station verlassen. Wahrscheinlich hatten sie gar keine andere Wahl, als weiterhin den jahrtausendealten Befehlen ihrer Erbauer zu gehorchen, obwohl von diesen nicht einmal mehr die Gräber existierten. Das würden sie so lange machen, bis auch der letzte Golem aufgrund von Abnutzung und Verschleiß seine Funktion einstellen oder die geheimnisvolle Stromquelle versiegen würde, die hier unten alle Gerätschaften mit Energie versorgte. Als Erson sich nach ihr erkundigt hatte, hatte die Antwort „Die Informationen sind ungenügend“ gelautet. ASKUFT ließ sich nicht in alle seiner Karten schauen.

Trotzdem verweigerte wohl ab und an ein Golem erschöpft den Dienst, wurde jedoch schnell von Einheiten, die ein wenig an große Kellerasseln erinnerten, repariert. Erson hatte dies selbst am Vortag bei einem kleinen Rundgang durch die Station gesehen. Der Epsilon, der sie zuerst entdeckte, hatte ihn herumgeführt, während sich der TUDASQ um Sakket kümmerte. Oder ihn bewacht, der Unterschied war nicht genau zu erkennen. Diese 'Delta-Einheiten' genannten Mechaniker-Insekten nutzten sich bestimmt mit den Jahrhunderten selbst ab und deshalb gab es immer mehr Funktionsausfälle und Fehler in dem perfekt durchorganisierten System, das von ASKUFT als zentralem Gehirn gesteuert wurde. Dennoch war es ganz erstaunlich, wie gut noch alles funktionierte. Es musste sogar eine Küche geben, denn Erson hatte am Abend von dem Golem mit dem seltsamen Hut noch einen Teller mit einem warmen Eintopf bekommen, der ihm nach der mageren Zweibrot- und Pökelfleischkost der letzten Tage wundervoll geschmeckt hatte.

Auch der TUDASQ erledigte seine Arbeit fehlerlos und professionell, obwohl er nicht allzu redselig war.

„Weißt du, wo meine Kleidung ist?“ Erson fühlte sich ein wenig unwohl in dem an der Rückseite offenen Nachthemd, das ihm nur knapp bis zum Knie reichte. Er sah sich vergeblich in dem Krankenzimmer um.

„Eure Kleidung wird gereinigt und steht Ihnen in ... Moment ... 73 Minuten wieder zur Verfügung. Das weitere Gepäck wurde in die Wartehalle gebracht. Diese können Sie bis zu Ihrer Abfahrt nutzen.“

Damit meinte der TUDASQ einen großen Raum mit vielen Stuhlreihen, der sich auf der untersten Ebene der Station direkt an den Gleisen befand.

„Welche Abfahrt? Wohin fahre ich denn?“

Der Arzt zögerte. „Die Informationen sind unzureichend“, stellte er dann fest.

Erson nickte und streckte sich. Dann blickte er hinüber zu der Liege, auf der Sakket ruhig schlief. Von der Untersuchung und dem Gespräch zwischen Erson und der schwebenden Maschine schien sie nichts mitbekommen zu haben. Sie war nackt, aber eine dünne Decke ruhte auf ihrem entspannt ausgestreckten Körper. Eine durchsichtige Maske aus einem ungewöhnlichen, biegsamen Material lag eng auf ihrem Gesicht. Zwei Schläuche vom gleichen künstlichen Stoff verbanden den rechten Arm der Frau mit einem Maschinenkasten, der brummend arbeitete. Durch diese Verbindung wurde Blut hin- und hergepumpt. Auf einer Ablage neben dem Bett stand Sakkets schwarze Maraia-Statue. Erson hatte die schwere Holzskulptur mit der Hilfe der Epsilon-Einheit von dem Bolzen befreit und sie ihr ans Krankenlager gebracht. Vielleicht konnte die Trauernde Mutter ihr ja noch einmal helfen. Zumindest würde sich Sakket über den Anblick freuen, wenn sie erwachte.

„Wie geht es meiner Begleiterin heute Morgen?“, fragte Erson den künstlichen Arzt.

„Der Zustand der Bürgerin ist unverändert. Aber sie ist stabil und wird innerhalb der nächsten Stunde erwachen. Die Dialyse und die Anreicherung ihres Blutes mit Leukozyten funktionieren weiterhin zufriedenstellend. Bald wird sich eine Phase der allgemeinen Besserung einstellen.“ Erson verstand nicht alles. TUDASQ hatte ihm aber bereits gestern mit einfacheren Worten erklärt, dass Sakkets Blut durch die giftige Luft, die außerhalb der Station Furtger am Gipfel des Gynashort herrschte, verunreinigt war und auf diese Weise gesäubert werden musste.

„Dann wird Sakket wieder gesund.“

„Nein. Diese Rekonvaleszenz ist nur eine vorübergehende. Die Bürgerin wird innerhalb der nächsten dreißig Tage sterben“, stellte der Maschinenarzt nüchtern fest. Ein Schlag vor den Kopf hätte die gleiche Wirkung auf den jungen Mann gehabt. Vor Erson tat sich plötzlich ein Abgrund auf. Er schwankte zurück gegen seine Liege und ihm wurde schwarz vor Augen.

„Das ist nicht wahr!“, rief er schmerzerfüllt aus und sank auf sein Bett. Der Raum drehte sich um ihn und er musste sich mit beiden Händen auf der Matratze abstützen.

„Du lügst. Ich bin doch auch wieder gesund geworden.“ Das durfte einfach nicht stimmen! Der Doktor musste sich täuschen. Das war bestimmt eine Fehlfunktion des Golems. Wirre Fluchtgedanken gingen ihm durch den Kopf. Nicht auch noch Sakket! Der Verlust von Idris war bereits fast zu schmerzhaft, um ihn zu bewältigen. Wenn nun auch noch dem Mädchen, das er so liebte, etwas zustieß, würde er nicht weiterleben können. Schließlich war es ja sein Traum gewesen, den verbotenen Berg zu besteigen und dessen verborgene Schätze zu finden. Er hatte die beiden anderen mit seiner Begeisterung angesteckt und in seiner Überheblichkeit gedacht, dass ihnen drei gemeinsam nie etwas passieren könnte. Erson konnte die Schuld kaum tragen, die er verantwortete. Sie lastete plötzlich wie ein Tonnengewicht auf seinen Schultern und drückte ihn nieder. Er keuchte.

„Du lügst mich an! Du bist der Vater der Lüge!“, wiederholte er mit schwacher Stimme. Der Tonfall des TUDASQ blieb ungerührt. Aber er sprach langsamer mit ihm, wie mit einem begriffsstutzigen Kind:

„Ich wurde nicht für Falschaussagen programmiert. Ich kann verschweigen, aber nicht lügen. Es ist die Wahrheit. Bürgerin Sakket ist so schwer erkrankt, dass meine ärztliche Kunst sie nicht retten kann. Die Schädigungen sind für mich irreparabel. Sie sind jedoch ein Sonderfall, Bürger Erson. Ihre DNA ist mutiert. Ich meine: Die Bausteine Ihres Körpers sind anders als die von anderen Menschen. Sie haben eine absolut einzigartige, bemerkenswert einfache Struktur, die mir so noch nie begegnet ist. Zwar vergiftet die Strahlung Ihren Organismus ebenfalls, aber Sie sind wesentlich resistenter und Ihre Zellen erneuern sich in einem beträchtlichen Tempo. Solch einen Fall kenne ich nicht einmal aus der Fachliteratur. Trotzdem würden Sie ebenfalls sterben, wenn Sie sich der giftigen Atmosphäre des Berges noch einen Tag länger ausgesetzt hätten. Hier auf der Relaisstation sind wir gut abgeschirmt und Sie haben sich über Nacht erholt. Trotzdem möchte ich Ihnen zu einer leichten veganen Diät raten. Sie haben Übergewicht, Bürger Erson.“ Der Arzt machte eine kleine Pause, als warte er auf die Zustimmung des kleinen, dicken Mannes.

„Für die Bürgerin Sakket kam mein Einschreiten zu spät. Wenn ich eine Rückenmark-Transplantation durchführen könnte, hätte sie vielleicht noch eine Chance. Aber Sie sind kein Spender, Bürger. Ich habe das ausgetestet. Außerdem ist diese kleine Krankenstation für solch eine Operation nicht ausgerüstet. Meine Möglichkeiten sind zudem beschränkt, weil die Nano-Einheiten nicht mehr arbeiten.“

Der TUDASQ war so beredt wie noch nie, aber Erson hörte ihm kaum zu. Er kniff verzweifelt die Augen zusammen und hätte sich am liebsten die Hände vor die Ohren gehalten, damit er nicht hören musste, was der Arzt erklärte. Das Zimmer drehte sich weiter um ihn, kreiste dabei immer schneller. 'Erst Idris, jetzt Sakket', dachte er, 'das kann ..., das darf nicht sein!' Wieder einmal verweigerte er sich der Vernunft, versuchte, den Lauf der Dinge mit seinem Willen zu ändern. Irgendetwas hatte der Arzt gesagt, das ihm aufgefallen war. Irgendwo in seinen Worten war der rettende Strohhalm gewesen, nach dem er greifen konnte. Erson musste ihn nur finden!

„Es muss eine Möglichkeit geben, Sakket zu retten!“ Er verschränkte die Arme und wirkte nun endgültig wie ein verstocktes, beleidigtes Kind. Gleichzeitig raste sein Verstand.

„Ich schlage vor, ich beende das Leiden der Bürgerin beizeiten. Bevor die Schmerzen überhand nehmen“, fuhr der künstliche Arzt fort. „Nach Paragraph 104, Absatz 2 des Ersten Allgemeinen Ethikgesetzes der Notstandsverordnung benötige ich zu diesem Schritt die Zustimmung eines Angehörigen, falls ein solcher erreichbar ist.“ Erson horchte auf und flüchtete sich in den Zorn.

„Jetzt weiß ich, warum man dich den silbernen Tod nennt! Du sollst in Inets Eis-Kessel schmoren, du Stück Schrott! Wie oft hast du schon einem Menschen, der sich in diesen Bahnhof verirrte, deinen Notstands-Gnadentod verabreicht?“

TUDASQ zierte sich: „Die Informationen sind ungenügend. Mein Gedächtnisspeicher reicht nicht aus. Aber Sie sind der Erste, der die Krankheit überleben wird. Die Strahlung lässt nach, sie hat ihre Halbwertszeit inzwischen überschritten.“

„Seit wie vielen Jahren tötest du?“, hakte Erson entsetzt nach. „Wie lange ist der Gynashort schon vergiftet?“

„Augenblick ... Die ersten Strahlenkranken habe ich nach der Welle vor ... 5858 Jahren behandelt, Bürger. Ich konnte sie nicht retten.“ Erson war so verblüfft, dass ihm keine Antwort einfiel. Was, bei den Göttern des Berges, war diese Welle? Spielte der TUDASQ etwa auf die legendäre Große Welle nach dem Himmelssturz des bleichen Máni an? War diese Katastrophe doch kein Märchen, das die Baruchsjünger verbreiteten, um kleine Kinder einzuschüchtern?

„Verflucht bis ins vierzehnte mal vierzehnte Glied ...“, sagte Sakket und zitierte den Schamanen der Kling'Arta. Sie hatte bereits vor einer Weile ihre Augen aufgeschlagen und war dem Gespräch schweigend gefolgt. Jetzt nahm sie die Maske ab, die sie bisher mit frischer Luft versorgt hatte. Das Mädchen fing Ersons fragenden Blick und richtete sich auf ihrem Lager auf, betrachtete dabei eher neugierig als besorgt den „Shunt“ in ihrer Armbeuge.

„Vierzehn mal vierzehn mal dreißig. Das macht 5880 Jahre; das sind 196 Generationen. So lange soll der Fluch währen, mit dem der Luftgott Ariel die Menschheit für ihren Hochmut strafte, bevor er sie vom Himmel herab endgültig vernichten wird“, erläuterte sie. „Wir haben diese Geschichte im Waisenhaus auswendig gelernt, weißt du nicht mehr?“

Erson hob die Hände.

„Dann ist die Welt der Vorgänger also vor fast sechstausend Jahren untergegangen. Das soll mir Recht sein; es ist nur eine weitere Zahl. Auf jeden Fall spielt sich unsere kleine Metallkugel hier seit damals als Herr über Leben und Tod auf.“ Erson zögerte. Er erschrak.

„Wie lange bist du schon wach?“, erkundigte er sich.

„Lange genug. Der TUDASQ kann mich nicht heilen.“ Sie nickte und lächelte ihm aufmunternd zu. Es schien, als wäre sie mehr um Erson als um sich selbst besorgt. Ihr Blick war traurig und liebevoll, fast mütterlich. Erson kletterte eilig von seinem Lager und ging zu ihr, barg ihre kühle, kleine Hand in den seinen.

„Ich werde bald sterben“, sagte Sakket.

Etwas Schmerzhaftes saß in Ersons Hals, ein Druck, der ihn beim Sprechen behinderte. Er musste sich räuspern:

„Das wirst du nicht. Nein, ganz sicher nicht - noch lange nicht. Du wirst gesund, das weiß ich. Wir beide haben noch so viel vor. Ich werde keinesfalls meine Zustimmung geben, dich wie einen alten Hund einschläfern zu lassen. Wir werden einen Weg finden, dich zu heilen. Hast du verstanden, du Blechkiste? Lass meine Sakket in Ruhe!“ Der TUDASQ hatte sich inzwischen ebenfalls zu Sakkets Bett bewegt. Er fummelte mit dem Großteil seiner Arme an einer der Maschinen herum, die sie überwachten.

„Nach Paragraph 104, Absatz 1 der Notstandsverordnung kann die Patientin selbst über ihr Los entscheiden, wenn sie bei klarem Verstand ist und ausführlich beraten wurde“, erklärte er dabei ungerührt. „Sie müssen nichts überstürzen, Bürgerin Sakket. Ich werde Ihnen alles genau erklären. Sie werden sich erst nach der etwa zehntägigen Erholungs-Phase entscheiden müssen. Das ist jetzt nicht wichtig. Haben Sie ein wenig Hunger? Ich werde Ihnen eine leichte Kost zusammenstellen lassen.“

Sakket nickte, aber Erson bezweifelte, dass ihr die Konsequenzen wirklich bewusst waren. Bestimmt hatte ihr der künstliche Arzt ein paar beruhigende Drogen verabreicht. Er sah es in ihren kleinen, glänzenden Pupillen: Seine Freundin war nicht ganz bei sich.

„Gibt es denn keinen anderen Ort, an dem man Sakket helfen könnte?“, fragte er, denn ihm war endlich wieder eingefallen, dass der Golem vorhin von seinen Beschränkungen gesprochen hatte. „Wir könnten sie doch wegbringen – in ein richtiges Krankenhaus. Schließlich steht noch ein Zug unten auf den Gleisen.“

Die Arztkugel mit den vielen Armen schwieg, aber die mattgraue Scheibe, die neben der Tür hing, erwachte sofort zum Leben. Erson hatte vom TUDASQ erfahren, dass man sie „Bildschirm“ nannte. Es war tatsächlich eine Weiterentwicklung der Daguerreotypie, deren Ungefährlichkeit der Orden der Leidenden Gene erst kürzlich bestätigt und damit für die allgemeine Nutzung freigegeben hatte. Auf dem Bildschirm war das Gesicht von ASKUFT zu sehen. Selbstverständlich hatte er das Gespräch belauscht, schließlich war er ja direkt mit allen seinen Golemen verbunden.

„Bürger. Wir haben schon lange keinen direkten Kontakt mehr zu den anderen Bahnhöfen“, sagte das Orakel. Soweit das bei einer Maschine überhaupt möglich war, machte ihre Stimme auf Erson einen nachdenklichen Eindruck. „Die Stations-Computer von Pars-Universität und Nearoma-Südbahnhof haben sich noch am längsten gemeldet. Aber vor 3126 Jahren ist der letzte von ihnen verstummt. Furtger ist trotz einer gewissen statistischen Unsicherheit die letzte Station mit uneingeschränkter Funktion.“

„Aber du weißt das nicht sicher? Die Bahnhöfe von Pars oder Nearoma könnten noch existieren?“, hakte Erson nach. Dreitausend Jahre? Die Verbindung musste während der Reichskriege abgebrochen sein, als nach der Drei-Völker-Schlacht von Hossberg der gesamte Westen hinter dem Weltendspalt endgültig zur Tabu-Zone erklärt wurde. Die Jenseitigen Lande nannte man sie. Nur Geister konnten sie erreichen ...

„Es könnte sie noch geben. Das ist möglich, ja, wahrscheinlich. Jedoch sind die Informationen ...“

„Die Informationen sind ungenügend. Ich weiß, ich weiß. Aber könnte es nicht doch sein?“ Erson bettelte fast.

„Zumindest sind die Funkverbindungen nach Pars-Universität nicht unterbrochen, da meine Pings weiterhin automatisch vom Netzwerk erwidert werden. Bürger. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sind in diesem Bahnhof nur die höheren Funktionen des Zentralcomputers ausgefallen und die Subroutinen arbeiten weiterhin. Es gibt Notfallprotokolle, die beim Breakdown des Hauptrechners aktiviert werden. Ich könnte versuchen, sie zu übernehmen und die Fahrt von hier zu steuern. Wenn Ihr das wünscht. Die Schienenverbindung könnte ebenfalls noch unbeschädigt sein. Mir wird keine Unterbrechung oder Fehlfunktion übermittelt. Aber aus Sicherheitsgründen muss ich einen Transport ablehnen. Bürger.“ Erson ignorierte die letzte Aussage des Orakels und wandte sich an den Arzt, von dem er sich Beistand erhoffte.

„Was meinst du, TUDASQ?“ Erson war schon aufgefallen, dass der künstliche Arzt relativ unabhängig von ASKUFT arbeitete und auch eine eigene Meinung äußern konnte. Der TUDASQ rollte seine großen Augen und hob die Spritzenarme, was vielleicht sein Äquivalent zu einem Schulterzucken war.

„Ein Krankentransport wäre sinnvoll. Ich müsste die Patientin dazu in einer Transportkammer in Kryostase versetzen. Deren Hülle würde sie notfalls vor der Radioaktivität während der Fahrt und vor Ort schützen. Es sind noch einige Notfalltransportkammern gelagert, die die Deltas reparieren könnten. Die zentrale ASKUFT kann die Patientin mit dem Zug, der nach der Welle im Bahnhof verblieben ist, nach Pars-Universität zurückschicken. Ich müsste die Bürgerin begleiten. In Pars ist das größte medizinische Zentrum des Westens. Wenn der Zug nirgendwo hält und auf keine Hindernisse stößt, kann er die Universitätsklinik in knapp drei Stunden erreichen. Es ist wahrscheinlich, dass die dortigen Lambda-Einheiten so wie ich noch arbeiten und ihr helfen können. Wenn die Stadt nach 5858 Jahren überhaupt noch existiert“, erläuterte er.

„Wo liegt dieses Pars? Ist es weit weg?“, hakte Erson nach. Gab es Pars, die angebliche Heimatstadt von Proff Samuel Baruch Siebenthal, dem Gründer der alten Religion, wirklich? Da war sie plötzlich wieder, die Lücke, durch die er entkommen konnte, die Gelegenheit, mit der er dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte.

„Pars ist die kleinere der westlichen Megapolen. Sie liegt von Furtger-Station 1573 Kilometer entfernt. Vor der Großen Welle wohnten in Pars über 3 Milliarden Bürger. Die exakten Zahlen liegen nicht vor“, erläuterte der TUDASQ, als würde er einen Lexikoneintrag vorlesen. Wahrscheinlich machte er das auch.

„Aber das sind ja fast eintausend Meilen bis nach Pars! Und dafür braucht der Zug nur drei Stunden?“, rief Erson aus. Er wartete vergeblich auf einen präzisierenden Einwand von Sakket. Dann schnappte er plötzlich nach Luft, weil ihm die Dimension der zweiten Zahl des Doktors bewusst wurde: „Moment mal! Hossberg ist die größte Stadt des Wendlands. Sie hat vielleicht hunderttausend Einwohner, eher weniger. Die fünf Oststädte sind größer, aber ... drei Milliarden Menschen! Was ist das für eine ungeheuerliche Zahl! Hast du da nicht etwas verwechselt, TUDASQ? So viele Seelen gibt es doch auf der ganzen Welt nicht.“

„Heute mag das zutreffend sein. Aber die Welt war damals viel größer, als du es dir vorstellen kannst, Bürger. Manche Länder bestanden nur aus einer einzigen Stadt, deren Gebäude nicht nur ihren gesamten Boden bedeckten, sondern sich viele tausend Meter in die Höhe erhoben. In Marelona vor der Westküste lebten vor 6000 Jahren 4 Milliarden Bürger, in Sanjork und Bonasifé zusammen 7,5 und über 10 Milliarden in der Ost-Megapole Haitapin. Insgesamt gab es vor der Großen Welle mindestens 40 Milliarden Menschen auf der Erde und den Kolonien“, führte der Arzt aus. Erson hörte längst nicht mehr zu. TUDASQ mochte zwar ein fundiertes Wissen über die Vorzeit besitzen, aber es sprengte die Vorstellungskraft des kleinen dicken Mannes, der übrigens noch nie etwas von diesen gewaltigen Orten gehört hatte und sich auch nicht vorstellen konnte, wo die erwähnten Kolonien liegen konnten. Das klang alles nach Geschichten und Lügenmärchen für lange Herbstabende, wenn man sich bei einem dampfenden Grog um den flackernden Kamin versammelt und gemeinsam in andere Welten und andere Zeiten träumt. Für ihn gab es im Moment Wichtigeres.

„Ich habe jedenfalls noch nie von solch einer gigantischen Stadt gehört. Das muss ganz schön eng gewesen sein. Gleichgültig. Sie liegt im Westen, sagtest du? Dann ist in den Jenseitigen Landen auf der anderen Seite des Spalts nach so vielen Jahren etwas heil geblieben? Diese Klinik könnte noch existieren?“, erkundigte er sich und warf einen Seitenblick auf Sakket, der immer wieder die Augen zufielen und der es offenbar immer schwerer fiel, dem Gespräch um ihre Zukunft zu folgen. Der Doktor antwortete ihm nicht. Jedoch blinkten einige rote Lichter in einem hektischen Takt auf seiner Hülle. Konnte es sein, dass der TUDASQ von der Vorstellung, nach Pars aufzubrechen, aufgeregt war? Auf jeden Fall schwiegen nun die beiden künstlichen Wesen, aber sie schienen sich trotzdem auf irgendeine Weise auszutauschen. Erson hätte zu gern gewusst, wie dieses stumme Zwiegespräch zwischen ASKUFT und TUDASQ funktionierte. Schließlich lagen ja zwei Stockwerke zwischen der Krankenstation und der Rechnerzentrale. Aber es war besser, die beiden jetzt nicht zu stören. Er kümmerte sich wieder um die Kranke, die sehr abwesend wirkte und den Druck von Ersons Händen kaum erwiderte.

„Vielleicht ist ja Pars die goldene Stadt des Königs Máeriqas. Das wäre möglich. In Jahrtausenden können sich Überlieferungen schon einmal ändern. Was meinst du?“, fragte er das Mädchen, das ihn nur verwirrt betrachtete und dann wieder langsam seine Augen schloss. Erson glaubte selbst nicht mehr an das mythische Bridon, aber er wollte Sakket abzulenken.

„Wie es auch sein mag. Das ist auf jeden Fall viel besser als alles Gold, das wir uns erträumt haben! Stell dir nur vor, wir zwei werden die ersten sein, die die Wunder des Westens sehen werden!“ Er zögerte. „Sakket?“

„Die Bürgerin kann Ihnen nicht antworten“, mischte sich TUDASQ ein. Offenbar war sein Gedankenaustausch mit dem Orakel beendet. „Ich habe sie betäubt. Sie wird einige Stunden schlafen. Dann ist sie wahrscheinlich in der Lage, aufzustehen und Sie können erneut mit ihr sprechen. Ich werde in der Zwischenzeit die Kältekammer für die Bürgerin vorbereiten.“

„Eine Kältekammer, was ist das?“

„Das ist ein medizinisches Gerät, in dem die Patientin während der Fahrt geschützt und sicher ruhen wird. Sie wird vorübergehend in einen Eisschlaf von –196° C versetzt. Auf diese Weise kann auch ihre Krankheit nicht weiter fortschreiten.“

„Du frierst sie wie ein Stück Fleisch in Eis ein?“, fragte Erson fassungslos. „Wie kann Sakket das überleben?“

„Seien Sie unbesorgt, Bürger. Die Kryostase ist eine bewährte Technik, die bei schweren Verletzungen und Erkrankungen regelmäßig angewendet wird, um die Patienten zu schützen, bis man sie in einem Krankenhaus heilen kann. In der Universitätsklinik von Pars arbeiten die führenden Kryotechnik-Chirurgen-Einheiten.“

„Und du willst sie in so einem ... Kältesarg dorthin fahren?“ Erson schauderte bei dem Gedanken. Das war monströs. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Die Fähigkeiten des TUDASQ wirkten auf ihn wie eine schwarze Magie und nicht wie Medizin. Aber wahrscheinlich durfte er das alles nicht aus dem unwissenden Blickwinkel des Provinzlers betrachten. Schließlich waren die Vorgänger seiner Zeit in allen Belangen endlos weit voraus gewesen. Auf der anderen Seite hatte sie ihr ganzes Wissen nicht vor der Selbstvernichtung durch die große Welle geschützt, als ihnen Máni auf den Kopf fiel. Er wollte weitere Zweifel anmelden, aber ASKUFT kam ihm zuvor.

„Ich stimme zu. Bürger. Morgen früh fährt der Zug nach Pars-Universität“, sagte er vom Bildschirm herab. Tatsächlich: Sein künstliches Gesicht lächelte. „Abfahrt ist nach Fahrplan um 07:45 Uhr. Die voraussichtliche Ankunftszeit ist 10:30 Uhr. Bürger. Das ist ... äußerst befriedigend. Seien Sie pünktlich.“

*

Erson streifte beschäftigungslos durch die unteren Stockwerke der Bahnstation. Er wartete auf Sakkets Erwachen.

Der TUDASQ hatte ihn aus dem Krankenzimmer hinauskomplimentiert, in dem der junge Mann dem geschäftigen Umherfliegen und Werken des künstlichen Arztes überall im Wege gestanden war. Er würde Erson informieren, wenn Sakket wieder ansprechbar war, dann konnte er noch einmal mit ihr reden, bevor der TUDASQ ihren Kälteschlaf einleitete. Eine der bewaffneten Omega-Wacheinheiten geleitete den Dicken hinab zum Wartesaal neben den Gleisen. Dort fand Erson auf einer der Stuhlreihen die Rucksäcke und seine frisch gewaschene Kleidung vor. Er zog sich in einer der wirklich seltsamen sanitären Kabinen um, zu denen Türen am unteren Ende des Saales führten. Vor allem erstaunten Erson dort die Waschbecken und die sauberen, weiß gefliesten Toiletten. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Er kannte nur schiefe, kleine Klohäuschen, die direkt über den Kanälen von Garda schwankten, oder offene Gemeinschaftslatrinen, roh gezimmerte Balkenkonstruktionen über stinkenden Unratgruben. Er wusste zwar, dass es in reichen Häusern sogar eine Wasserspülung und eigens angefertigte weiche Papiertücher für die Hygiene gab, aber gegen die technischen Wunderwerke des Furtger-Bahnhofs waren dies nur die schmuddeligen Abtritte von Barbaren. Der Abstand seiner eigenen Kultur zu jener der Vorgänger wurde Erson nirgendwo in der Station mehr bewusst als in eben diesen Toiletten, die nach sechstausend Jahren noch zuverlässig ihren Dienst versahen und ihn während seiner Verrichtungen sanft massierten, säuberten und mit wohlriechenden Ölen salbten.

Nachdem er das Krankenhemd abgestreift hatte und wieder seine eigene Kleidung trug, war ihm wesentlich wohler. Den entwendeten Schlüssel, den Erson in ASKUFTs Maschinenraum eingesteckt hatte, nachdem Sakket dort ohnmächtig zusammengesunken war, fand Erson unangetastet in seiner Hosentasche. Die Deltas hatten ihn offenbar nicht bemerkt und mitgewaschen. Hoffentlich funktionierte er noch, denn Erson hatte vor, mit seiner Hilfe einige der Türen zu öffnen, die ihm bislang verschlossen geblieben waren. Während seine Freundin schlief, wollte er sich näher mit den Geheimnissen der Station auseinandersetzen. Vielleicht waren ja hier doch noch irgendwelche Reichtümer versteckt. Zudem hatte er das Gefühl, dass ihm ASKUFT und der TUDASQ nicht die ganze Wahrheit gesagt hatten. Für seinen Geschmack waren sie viel zu schnell auf seinen Vorschlag eingegangen, Sakket nach Pars zu bringen. Im Nachhinein erschien es ihm, als hätten sie ihm die Worte in den Mund gelegt. Er war auch an den mysteriösen Kältekammern interessiert, von denen der Arzt gesprochen hatte. Da gab es etwas in seinen Worten, das Ersons Aufmerksamkeit und Vorsicht geweckt hatte, auch wenn er im Moment nicht mehr wusste, was ihm aufgefallen war.

Deshalb spazierte er nun betont unauffällig in der Nähe einer mit einem medizinischen Symbol und einer stilisierten Schneeflocke beschilderten Tür herum, hinter der er die Kältekammern vermutete. Dabei hoffte er auf einen unbeobachteten Moment, der sich ihm jedoch nicht bot. Einer der mechanischen Polizisten war immer in seiner Nähe. Er war offenbar genau zu dem Zweck abgestellt, ihn zu kontrollieren und zu überwachen. So ganz schien ihm ASKUFT nicht über den Weg zu trauen; eine Einschätzung, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.

Schließlich kam Erson ein Zufall zur Hilfe. Eine der Lampen, die den Türbereich erhellten, begann auf einmal stark zu flackern und erlöschte dann funkensprühend und mit einem lauten Knall. Das löste eine Kettenreaktion aus, denn nun verweigerte eine ganze Reihe von Lichtern den Dienst: Wie Feuerwerksraketen zerplatzte eine nach der andern. Der Bahnsteig lag plötzlich im Schatten des Zuges. Sofort krabbelten von hinten einige eifrige Deltas heran, um nach dem Rechten zu sehen. Der verwirrte Omega-Wächter war ihnen dabei auf dem schmalen Bahnsteig im Weg. Er sah sich mit einem Mal von den kleinen Golemen umzingelt, die sich zwischen seinen dünnen Beinen hindurchzwängten. Er versuchte, ihnen auszuweichen und machte damit alles nur noch schlimmer. Er stolperte im Schatten über einen Delta, der ein erstaunlich natürlich klingendes, aufgeregtes Fiepen und Zischen ausstieß. Der Omega verlor fast das Gleichgewicht und zog sich hastig einen Schritt zurück. Dadurch trat er auf die nächste der Reparaturmaschinen, die ebenfalls zornige Geräusche wie ein aufgestöberter Igel machte.

Was danach geschah, konnte Erson nicht mehr sehen. Er nutzte flink das Chaos in der Mitte des dunklen Bahnsteigs aus und legte den dabei grün aufleuchtenden Stabschlüssel auf das Schloss neben der Tür, die er bislang vergebens belagert hatte. Sie glitt zu seiner Erleichterung prompt zur Seite und er konnte unbemerkt von dem Omega und den Reparatur-Golemen in den Raum dahinter springen. Wenn er Glück hatte, blieben ihm ein paar Minuten, bis die Wachmaschine sein Entwischen bemerkte und die Suche nach ihm einleitete. Er hegte keinen Zweifel daran, dass sie ihn viel zu schnell wieder aufstöbern würde.

Wie überall in der Station reagierten auch hier sofort die Deckenlampen auf sein Eintreten und gingen an. Die Tür schloss sich hinter Erson. Der Dicke stand in einem niedrigen, schlauchförmigen Raum, in dem nebeneinander an der Wand, die man wie eine der Nasszellen gefliest hatte, einige zylindrische Behälter aufgereiht waren. Ihre Form erinnerte ihn sofort und unangenehm an gläserne Särge. Sie waren über dicke Schläuche und unzählige Leitungen mit irgendwelchen seltsamen Maschinen verbunden, die ihm jedoch alle außer Betrieb schienen. Zwischen den Behältern standen schmale, körperlange Tische, deren Platten aus Metall waren und niederen Wannen glichen. Sie hatten sogar einen Abfluss. An ihnen waren Tabletts mit medizinischen Gerätschaften und Instrumenten angebracht. Die Behältnisse mussten die vom TUDASQ erwähnten Kryostase-Transportkammern sein. Auf den Tischen wurden wahrscheinlich die Patienten auf ihren eisigen Schlaf vorbereitet. Erson fror und er bekam eine Gänsehaut. Das lag nicht daran, dass es im Lager sehr kühl war, sondern an der Vorstellung, einer dieser Kältesärge würde bald Sakket aufnehmen, damit sie ihre Reise in die Jenseitigen Lande antreten konnte. Ersons Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, das Schicksal seiner Freundin in die Hände einer uralten metallenen Ärztekugel zu legen, verstärkten sich. Konnte er dessen Fachkunde wirklich vertrauen? Arbeitete das Ding auch noch nach sechstausend Jahren einwandfrei und wusste, was zu tun war?

Ein dünnes, stoßweises Zischen wie das Atmen eines Lungenkranken drang an Ersons Ohr und weckte ihn aus seinen düsteren Überlegungen. Es kam so regelmäßig und leise, dass er es bislang überhört hatte. Das Geräusch entsprang der hinteren Ecke des Raumes. Erson schlängelte sich zwischen den Tischen und den Glasbehältnissen hindurch. Er hatte sich vorhin getäuscht: Nicht alle Maschinen waren ausgeschaltet, die letzte bei der Wand arbeitete fleißig. Er trat interessiert näher heran an den mannshohen Kasten, dessen Front mit durchsichtigen und farbig blinkenden Drähten, Knöpfen und Reglern übersät war. Auf den Bildschirmen leuchteten Zahlen und gezackte grüne Linien bewegten sich langsam von links nach rechts. Sein neugieriger Blick fiel auf die durchsichtige, mit ein wenig Raureif überzogene Kryostase-Kammer, die mit der Maschine verbunden war - und sein Herzschlag setzte einmal aus. Dieser Glassarg war nicht leer wie die anderen. Darin schwebte regungslos in einer öligen Flüssigkeit eine junge Frau. Ihr nackter, bleicher Körper war mit einer dünnen Schicht aus glitzernden Eiskristallen überzogen!

Nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte, beugte sich Erson über die eiskalte Glasscheibe, an der sofort sein Atem beschlug. Mit dem Ärmel wischte er sie etwas frei und betrachtete aufmerksam das schöne Gesicht der Unbekannten, das von schulterlangen, blonden Haaren eingerahmt war. Er konnte nicht erkennen, ob sie wirklich nur in einem todesähnlichen Schlaf in der Eiseskälte ihres Glassargs ruhte oder ein seit Jahrtausenden tiefgefrorenes, am Verwesen gehindertes Stück Fleisch war. Die tiefe Ruhe und die makellose Ebenmäßigkeit ihrer Züge erschütterten ihn. Das war mit Abstand die schönste Frau, die er je gesehen hatte.

Eine alte Sage fiel ihm ein, die der Magister Hegenbard gerne den Waisenhauszöglingen erzählte, wenn diese sich vor dem Einschlafen fürchteten. Sie handelte von der holden Faiaba mit dem goldenen Haar. Sie war die Tochter des Königs Máeriqas, die nach der Legende seit dem Anbeginn der Zeit in einem gläsernen Grab mitten im ewigen Eis schlief. Sie würde erst erwachen, wenn das Reich ihres Vaters wieder zu alter Macht und Stärke zurückgekehrt war. Erson hatte in seinem harten Bett im Waisenhaus oft von dem schlafenden blonden Mädchen geträumt, das ein hinterhältiger Mordanschlag von Máni, dem Mond, so schwer verletzt hatte, dass man keinen Rat wusste und die Halbtote in einen eisigen Sarg gelegt hatte, in dem sie wie Titania von einer besseren Zeit träumen konnte.

Offenbar war auch in dieser alten Sage ein Körnchen Wahrheit. Obwohl die Schöne in der Kryostase-Kammer sicher weder die Herrscherin der Geister noch die Prinzessin Faiaba war, war sich Erson sicher, dass er in das Antlitz einer Vorgängerin, sah. Kein Körper einer Heutigen konnte so makellos und zart sein, ohne Narben, Flecken und andere Verunstaltungen. War sie wie Sakket schwerkrank gewesen? Ihrem blendend schönen Körper und den entspannten, mit Eis überzuckerten Zügen war nichts anzumerken. Sie musste schon seit Ewigkeiten hier liegen und da stellte sich dem misstrauischen Erson freilich die Frage, warum der TUDASQ die Frau nicht schon längst nach Pars transportiert hatte, um sie dort behandeln zu lassen. Warum hatten ihm ASKUFT und der künstliche Arzt nicht von der schlafenden Schönen erzählt? Was verheimlichten sie?

„Bürger. Dieser Ort ist für Sie verboten. Sie sind des unbefugten Betretens und der Plünderung in einem schweren Fall überführt.“ Ertappt fuhr Erson herum. Er hatte den Golem nicht kommen hören.

In der Mitte des Raums stand der zu seiner Beobachtung abgestellte Omega und deutete mit seinem Waffenarm drohend auf ihn. Er hatte den Ausreißer schneller wiedergefunden, als dieser gehofft hatte. Erson stotterte ein paar Worte. Aber der Wachgolem war nicht zu Diskussionen aufgelegt.

Die Spitze seiner Waffe leuchtete plötzlich rot auf. Gedankenschnell warf sich Erson zur Seite und der nadelfeine Lichtstrahl traf ihn nicht mitten in die Brust, sondern streifte nur seinen linken Ärmel. Er brannte sich wie ein glühendes Messer durch den Stoff von Ersons Jacke und ritzte seine Haut. Der Dicke schrie auf und fiel gegen einen der Metalltische, riss ihn im Umfallen mit sich. Das rettete ihm für den Moment das Leben, denn die nächsten Lichtschüsse aus der Waffenhand des Omegas trafen nur wirkungslos die massive Tischplatte, hinter der sich Erson verstecken konnte. Sie zischten von der Platte abgestrahlt durch den Raum. Der Golem erkannte die Sinnlosigkeit eines weiteren Angriffs und stellte das Feuer ein. Seine Stimme schnarrte erneut aus einer Öffnung an seinem Eimerkopf.

„Bürger. Ihr Widerstand ist nicht zweckmäßig. Die Straftat ist schwerwiegend. Plünderungen ziehen die sofortige Exekution nach sich. Sie haben kein Recht auf eine Gerichtsverhandlung oder einen Anwalt. Aufgrund der von ASKUFT verliehenen Vollmachten wurden Sie eben von dieser Omega-Einheit zum Tode verurteilt und das Urteil muss unverzüglich vollstreckt werden. Der Versuch, sich der Exekution zu entziehen, ist eine weitere Straftat. Beachten Sie hierzu die Artikel 27 bis 36 der vom Rat beschlossenen Ersten Allgemeinen Strafgesetze der Notstandsverordnung und ergeben Sie sich.“

Trotz seiner aussichtslosen Lage musste Erson lauthals lachen. Unglaublich, in welch haarsträubende Situationen ihn sein Wissensdurst immer wieder brachte. Ihm fiel einer der mahnenden Sprüche ein, die die Wände des Waisenhauses geschmückt hatten:

"Die Neugierde ist des Murlons Tod."

„Den Teufel werde ich tun! Da musst du mich schon holen!“, rief er und suchte hektisch unter den medizinischen Instrumenten, die neben ihm am Boden lagen, nach einem, das er als Waffe gegen den Golem benutzen konnte. Sein Blick fiel auf einen kompakten Metallzylinder in der Größe einer Keule. Er erinnerte ihn flüchtig an einen Hornissenpfeil. Vielleicht war er ja genauso gefährlich. Zumindest würde er als Schlagwaffe taugen. Erson nahm die Röhre in die Hand, musste mit seiner zweiten nachfassen. Denn sie war überraschend schwer und wie die meisten Gerätschaften, die hier in seine Hände gelangt waren, erstaunlich kalt. Aus einem Ende des Zylinders ragte ein roter Knopf. Erson hatte keine Ahnung, was das Gerät bewirken konnte, aber er würde nichts unversucht lassen, um sein Leben zu retten. Er würde hier nicht sterben, weil ein dummer Golem eine Fehlfunktion hatte und ihn als Plünderer hinrichten wollte.

Er hörte, wie der Omega auf seinen grotesk dünnen Beinen einen Schritt auf ihn zu machte. Wieder betätigte der Golem seine Waffe. Ein Strahlenschuss brannte knapp neben dem umgestürzten Tisch ein zischendes Loch in den Boden, dann zog ein durchgehender Flammenstrahl eine schlangenförmige Linie. Es rauchte und roch so ätzend, dass Erson die Augen tränten und er hilflos husten musste. Der Wächter verfolgte offenbar keine besondere Strategie, ihn einzufangen. Er vertraute auf die Kraft seines Körpers und seinen tödlichen Waffenarm. Sein Ziel war wohl, den vermeintlichen Straftäter einfach zu überrollen oder ihn durch ein ungezieltes Dauerfeuer aus seinem Versteck hinter dem Tisch zu locken.

„Bürger. Ihr Verhalten ist nicht kooperativ. Ich werde es der Obersten ASKUFT melden müssen!“, jammerte der Golem, dessen mechanisches Gehirn nicht in der Lage war, den Ungehorsam von Erson zu verstehen. Wieder klickten seine Gelenke. Er kam näher. Erson drehte sich auf den Rücken und zog die Beine an den Oberkörper. Die medizinische Röhre hielt er mit beiden Händen von sich weg gestreckt und zielte mit ihr knapp über seine Knie hinweg. Bei der Auseinandersetzung des Omegas mit den Reparaturmaschinen vorhin hatte er erkannt, wo der Schwachpunkt des Wachgolems lag.

'Ein Schritt noch', dachte er, 'komm mir noch einen Schritt näher, du Blechdose ...' Hoffentlich konnte er mit dem Zylinder etwas ausrichten.

„Bürger. Ergeben Sie sich.“

Der tonnenförmige Kopf des Omegas tauchte über der Tischkante auf. Gleichzeitig trat Erson mit aller Wucht nach vorne aus. Beide Füße trafen die Metallplatte vor ihm und er schleuderte den umgestürzten Tisch von sich weg – er rutschte direkt zwischen die dünnen Skelettbeine des Golems, der dadurch ins Straucheln kam. Er hatte gerade seine Waffe gehoben, knickte aber über dem plötzlichen Hindernis nach vorne. Der Schuss aus seinem Finger schlug nur eine Handbreit vor Erson ein. Bevor der Omega sich aufrichten und besser zielen konnte, betätigte der Dicke den roten Knopf an der Gerätschaft, mit der er auf den Golem zielte.

Erson konnte nicht sagen, was er sich von dem medizinischen Gerät erwartet hatte, aber die Wirkung war überwältigend. Anscheinend diente es bei der Kryostase dazu, etwas innerhalb von einem Augenaufschlag einzufrieren. Ein Schwall von blendend weißem, dabei unfassbar kaltem Rauch schoss wie die Wasserfontäne eines Feuerwehrschlauchs direkt vorne aus der Röhre heraus. Er gefror sofort an den Stellen, zu einer dicken Eisschicht. Der Maschinenmensch erstarrte mitten in seiner Bewegung. Erson erkannte seine Chance. Obwohl er das Gefühl hatte, ihm würden dabei die Hände abfrieren, bewegte er die Gletscherkälte spuckende Röhre auf und ab, überzog dabei seinen Widersacher von Kopf bis Fuß mit Eis. Nach etwa fünf Sekunden endete der Spuk und der Kältestrahl, der direkt aus Inets Hölle zu stammen schien, versiegte.

Erson schleuderte seine nutzlos gewordene Waffe, die an seinen Händen festgefroren war, zur Seite und richtete sich dann vorsichtig auf. Aber von dem Omega ging für den Moment keine Gefahr aus. Er stand als Skulptur seiner selbst auf einer spiegelnden, dampfenden Frostfläche und bewegte sich nicht. Seine Beine wirkten wie Äste, die in der Eisdecke eines winterlichen Sees gefangen wurden. Das Metall des Körpers war von glänzendem Raureif überzogen. Ein dünnes Fiepen erklang aus seinem Inneren und der Waffenfinger, mit dem der Omega weiterhin direkt auf Erson zielte, leuchtete an der Spitze rot und böse. Sonst schien kein Leben mehr in dem schockgefrorenen Golem zu stecken. Erson klemmte die erfrorenen, wunden Hände unter die Achseln und sah genauer hin. Dass die Waffe noch in Betrieb war, gefiel ihm nicht. Vorne an der Mündung des Fingers bildete sich jetzt auch ein tropfender Zapfen, dann brach der auf Dauerfeuer geschaltete tödliche Lichtstrahl plötzlich durch die Eisschicht und irrlichterte durch den Raum, brutzelte ein Loch in eine Maschine, die an der hinteren Wand stand. Erson war gerade noch rechtzeitig zur Seite gesprungen. Er trat sicherheitshalber eilig hinter den reglosen Golem, der stur weiterfeuerte. Täuschte er sich oder konnte er ein Knirschen hören? Nein, der Golem versuchte eindeutig, die Eisschicht zu durchbrechen. Der eisige Rauch aus dem Zylinder hatte ihn nicht beschädigt, sondern nur für den Moment festgefroren. Noch war er nicht besiegt und er versuchte, sich aus einem kalten Gefängnis zu befreien!

Ersons Gedanken rasten. Wenn er jetzt floh, dann würde die Omega-Einheit, die offenbar nicht direkt mit ASKUFT verbunden war, sofort Alarm schlagen. Nein, er musste den Golem vollständig außer Funktion setzen und das, solange dieser sich noch nicht wehren konnte. War es möglich, über den Rücken des tonnenförmigen Ungeheuers an dessen Innenleben zu gelangen und dort so lange Chaos auszurichten, bis die Maschine kaputt war? Erson konnte keine Öffnung erkennen. Dieser Weg stand ihm leider nicht offen, obwohl er vor Neugier brannte, wie diese Goleme von Innen aussahen.

Die Idee, die ihm endlich kam, war so einfach wie wirkungsvoll. Er trat einen halben Schritt zurück und sprang dann mit seiner Schulter voran gegen den Körper der Maschine. Mit einem lauten Scheppern kippte sie nach vorn über und fiel schwer zu Boden, begrub den weiterhin feuernden Waffenarm unter ihrem massiven Blechkörper. Es schepperte hohl und Eisbrocken rutschten über den Boden. Für einen Augenblick sah es so aus, als würde sich der massive Metallmensch aufrichten, dann knisterte etwas und es roch brenzlig. Der Omega sackte ruckartig in sich zusammen. Erson wich vorsichtig zurück, bis er an einen der leeren Kryostase-Särge stieß.

„Bürger. Es ...sst straf ... brrr. Auf die Zerrrrstörrrr ... eines Omegas … steht die Todesstrrrr ...“, war die Stimme des Wächters wieder zu hören. Plötzlich färbte sich der bisher silbrige Rücken des Golems tiefrot und warf Blasen wie kochendes Wasser. „Die Notstandsgesetzzz … ASKUFT …“ Das Rot verwandelte sich in ein in den Augen schmerzendes, gleißendes Orange, dann schmolz sich der Lichtstrahl der Waffe endgültig durch den Körper des Omegas, drang durch ihn hindurch und brannte ein Loch in die Decke. Der Wächter bäumte sich doch noch einmal kurz auf, anschließend zerplatzte seine Hülle wie eine überhitzte Konservendose im Feuer. Der Golem hatte sich mit seiner eigenen Waffe gerichtet. Endlich erlosch der tödliche Lichtstrahl. Erson wartete, bis sich sein jagender Herzschlag etwas beruhigt hatte, dann stieß er sich von der Kältekammer ab, an die er gelehnt den Todeskampf des Golems beobachtet hatte. Er trat neugierig an die qualmenden Überreste heran, aus deren Innerem Funken schlugen.

Erson hatte einiges zu erledigen und nur wenig Zeit dafür.

*

Erson trat vorsichtig spähend hinaus auf den Bahnsteig. Er erwartete weitere Omega-Einheiten, aber in der unmittelbaren Nähe der Kältekammer bewegte sich keine der Wach-Maschinen. Hatte wirklich niemand den Kampf bemerkt? War kein Alarm ausgelöst worden? Er sah sich um und konnte sein Glück kaum fassen.

Die Deltas hatten inzwischen ihre Arbeit auf dem Bahnsteig erledigt und die meisten Lichter brannten wieder. Eilig flüchtete Erson vom „Tatort“. Wenn er weiterhin Glück hatte, würde sein Intermezzo mit dem Wachgolem nicht so bald auffallen, selbst wenn eine der Maschinen den Flügel mit den Kryostase-Särgen betrat. Soweit es ihm möglich gewesen war, hatte er die Spuren des Kampfes verwischt und alles wieder in Ordnung gebracht. Bei dieser Gelegenheit war Erson im hinteren Bereich der Kryostase-Abteilung auf eine weitere Tür gestoßen, die er neugierig mit Hilfe seines entwendeten Generalschlüssels geöffnet hatte. Sie führte in einen Gang, über den man nach kurzer Zeit zu einem engen Treppenhaus gelangte, das noch tiefer hinab in das Herz des Berges führte. Erson hatte die Zeit gefehlt, die Treppe weiter zu untersuchen. Aber er nahm an, dass er auf einen der Notausgänge des Bahnhofs gestoßen war. Zumindest ließ ein grünes Schild am Eingang dies vermuten: Dort waren der Schemen eines rennenden Menschen und eine Tür abgebildet.

Auf jeden Fall eignete sich der Gang ideal als Versteck für die schweren Reste des durchgedrehten Omegas, die er mühsam dort verstaute. Dann hatte er den Tisch wieder aufgestellt und gründlich aufgeräumt. Nur die verräterischen Male, die die Waffe des Wächters in die Wände gebrannt hatte, hatte er nicht alle verdecken können. Am offensichtlichsten war das Loch in der Decke, deren unter dem Feuerstrahl wie Wachs geschmolzenes Material zu einem langen Stalagtiten erstarrt herabhing. Deshalb würde seine Tat nicht allzu lange verborgen bleiben; schließlich musste ASKUFT seine Wache irgendwann vermissen und Delta-Einheiten oder weitere Omegas nach ihr auf die Suche schicken. Erson hoffte, er würde bis dahin bereits mit Sakket unterwegs in die Jenseitigen Lande sein. Dort konnte ASKUFTs eiserne Armee sie nicht mehr erreichen.

Der Dicke holte das Gepäck aus dem Wartesaal und brachte es auf das Gleis, auf dem seit Jahrtausenden der Zug nach Pars wartete. Obwohl er in gutem Zustand schien, wimmelte es hier von Reparaturmaschinen, die offensichtlich alles taten, um ihn in Gang zu bringen und für die Fahrt ins Ungewisse vorzubereiten. Eine Weile sah er ihnen interessiert beim Arbeiten zu und bewunderte die zielstrebige Art, mit der jeder der kleinen Deltas seine Aufgabe erledigte, hämmerte, schweißte, schraubte, Kabelwerk sortierte und mit undefinierbaren Geräten Handgriffe ausführte, deren Sinn Erson nicht erkennen konnte. Sogar die Fensterscheiben der Waggons wurden eifrig geputzt. Der Dicke hatte das Gefühl, auf einen gewaltigen Ameisenhaufen zu blicken, in dem alles scheinbar ziellos durcheinander- und übereinander wuselte. Doch er konnte auch eine übergeordnete, regelnde Struktur erkennen, einen Sinn hinter all den verwirrenden Tätigkeiten. Es sah ihm so aus, als würden die Reparaturmaschinen demnächst mit ihren Arbeiten fertig werden.

Erson wandte sich deshalb von dem faszinierenden Anblick ab und suchte die Krankenstation im oberen Stockwerk auf, wo er Sakket wach und auf eigenen Beinen stehend vorfand. Sie trug zwar noch den Patientenkittel, aber sie machte einen erstaunlich wachen und munteren Eindruck auf ihn. Er trat durch die Tür und ihr hübsches Gesicht begann zu strahlen. Sie fiel ihm so stürmisch um den Hals, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Sie klammerte sich fest an seinen Oberkörper und presste ihre weiblichen Formen gegen seine Brust. Erson wurde es eng im Hals. Er seufzte und erwiderte vorsichtig den Druck. Dieser Augenblick hätte ewig währen können.

Der fliegende Arzt beschäftigte sich derweil im Hintergrund des Raums angelegentlich mit einer großen Kiste, in die er vorsichtig seine medizinischen Instrumente legte. Auch zwei der grauen, Eisdampf erzeugenden Metallzylinder, von denen einer eben Erson das Leben gerettet hatte, fanden ihren Platz im Gepäck des TUDASQ. Er beschäftigte sich so konzentriert mit dem Packen, als würde er den beiden Menschen absichtlich die Gelegenheit bieten, sich miteinander ungestört austauschen zu können. Vielleicht war diese Diskretion ein Teil seiner künstlichen Persönlichkeit.

Nach einer Weile löste sich Erson ein wenig von der geliebten Freundin. Er fand es besser, ihr vorerst den Zwischenfall mit dem Wachgolem zu verschweigen. Dafür war noch immer Zeit, wenn sie aus ASKUFTS Einflussbereich heraus waren.

„Ich denke, die Fahrt geht bald los“, stellte er deshalb fest. „Vertraue mir. Alles wird gut.“ Er versuchte mehr Überzeugung in seine Stimme zu legen, als ihm zur Verfügung stand. Sakket kannte ihn zu gut. Sie sah ihm zweifelnd in die Augen.

„Glaubst du? Es gibt so viele Dinge, die schief gehen könnten. Denk nur, wir wollen hinter das Ende der Welt reisen. Mit einem Jahrtausende alten Zug. Ich habe Angst. Und ich fürchte mich vor diesen Maschinen. Auch vor dem TUDASQ.“

„Da geht es mir nicht anders. Aber wir beide haben einen Vorteil: Wir haben uns. Gemeinsam meistern wir doch jede Schwierigkeit.“ Erson hob einen Finger unter ihr Kinn. „Kopf hoch. Wer auf den Gynashort steigt und die Kling'Arta besiegen kann, den werfen auch so eine kleine Krankheit oder die Jenseitigen Lande nicht aus der Spur.“

Erson glaubte selbst nicht an seine Worte. Er sah in Sakkets Augen, dass es ihr ebenso erging. Beide dachten sie an Idris, den sie auf dem Berg verloren hatten. Aber das Mädchen tat ihrem Freund den Gefallen und nickte gehorsam.

„Ich passe auf dich auf. Das habe ich immer gemacht“, ergänzte Erson leise und näherte sich ihrem Gesicht. Sie öffnete ihre Lippen einen kleinen Spalt und sah ihm in die Augen.

„Erson Juel Siebenhardt“, flüsterte sie liebevoll. „Ich nehme dich beim Wort.“

Dann küsste sie ihn einmal schüchtern und eilig auf den Mund, befreite sich aber sanft und schnell aus seiner Umarmung. Der Verliebte, der ihre Lippen noch auf den seinen brennen fühlte, wollte nicht wahrhaben, wie schnell dieser kurze Moment bereits wieder vergangen war. Er wollte nachfassen und sein Mädchen wieder an sich heranziehen, den Kuss leidenschaftlich erwidern und ihr mit ihm endlich seine Liebe gestehen. Aber Sakket trat geschickt einen Schritt zurück. Gleichzeitig öffnete sich hinter Erson die Tür der Krankenstation.

Er drehte schuldbewusst den Kopf, aber es war nur der hilfsbereite Epsilon-Golem, der sie gefunden hatte und geschäftig mit den Beinen klackend in den Raum trat. Erson erkannte ihn an der blauen, schäbigen Mütze, die er auf seinem Eimerkopf trug.

„Der Zug steht bereit. Die zwei Notfall-Kryostase-Kammern wurden eingebaut und arbeiten fehlerlos. Sie können nun aufbrechen, Bürger“, schnarrte er.

„Warum brauchen wir zwei Kältekammern?“, fragte Sakket überrascht den TUDASQ, der inzwischen mit dem Packen seiner Sachen fertig war und mit der Kiste zwischen zweien seiner vielen Arme angeschwebt kam.

„Wir werden noch eine weitere Patientin mit nach Pars nehmen. Sie befindet sich bereits lange im Kälteschlaf“, erklärte er. „Die Gelegenheit ist günstig.“

„Was fehlt ihr?“, mischte sich Erson ein. Da war es wieder, das ungute Gefühl, das ihn gepackt hatte, als er die eingefrorene Frau entdeckt hatte. Das Gefühl, von den Maschinen belogen zu werden. Der TUDASQ zögerte.

„Die Patientin ist ebenfalls sehr krank und benötigt dringend einen nephrologischen Eingriff, den ich hier nicht durchführen kann. Hätten wir die Patientin nicht vor langer Zeit vorsorglich in Kryostase versetzt, wäre sie schon seit Jahrtausenden tot“, führte er dann in seiner gelassenen Art aus. Erson war sich sicher: Der TUDASQ hatte ihm etwas verschwiegen. Das war nur die halbe Wahrheit.

„Was ist ein nef ... nefrologischer Eingriff?“, fragte er nach, bekam aber keine Antwort mehr.

„Wir müssen nun zum Bahnsteig. Der Zug fährt pünktlich in zehn Minuten“, drängte stattdessen die Epsilon-Einheit. Auch der Bildschirm von ASKUFT zeigte wieder dessen geschlechtsloses Antlitz.

„Der Zug steht zur Abfahrt bereit. Ihr Gepäck wurde bereits verstaut. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt und einen schönen Tag. Bürger.“

Erson zuckte mit den Schultern. Offenbar musste er seine Fragen zurückstellen. Nun, er würde ja noch während der langen Fahrt nach Pars Zeit haben, sie dem Arzt zu stellen. Er ließ deshalb Sakket und den TUDASQ an sich vorbei und bildete den Abschluss. Gerade als er das Zimmer verlassen wollte, fiel sein Blick auf den Tisch neben Sakkets ehemaligem Krankenlager. Dort stand noch ihre schwere, schwarze Maraia-Statue, die sie in der Hektik des Aufbruchs vergessen hatte. Er nahm sie an sich und steckte sie in die Tasche seiner Jacke.

Gemeinsam mit dem Epsilon und zwei Wachrobotern, die plötzlich in Ersons Rücken auftauchten, fuhren sie die rollende Treppe hinunter zum Bahnsteig, auf dem der inzwischen von den Deltas verlassene, pfeilförmige Zug auf sie wartete. Inzwischen kam Erson ganz gut mit dem wackligen Fortbewegungsmittel zurecht und hatte seine schlechte Meinung davon revidiert. Sakket, die instinktiv den richtigen Umgang mit dieser Art von Treppe beherrschte, wandte sich häufig zu ihm um. Er konnte ihre Angst und ihre Aufregung sehen. Und er spürte ihr Glück, dieses Abenteuer mit ihm erleben zu können. Deshalb lächelte er ihr immer wieder beschwichtigend zu, obwohl ihm ganz und gar nicht danach zumute war. Sein Instinkt schlug Alarm. Er schrie praktisch in seinem Inneren. Am liebsten hätte Erson sich einen Platz gesucht, an dem er sich verstecken und nachdenken konnte. Er fasste zur Sicherheit in seine Hosentasche und fühlte die beruhigenden Formen des kleinen Schlüssels, der ihm alle Türen öffnen konnte. Unauffällig spähte er auf der Treppe zurück. Die beiden Omegas hinter ihm hatten zwar ihre Waffenarme gesenkt, aber er fürchtete sich vor ihnen. Wie er inzwischen wusste, standen sie zwar etwas wacklig auf ihren dünnen Beinen, aber die Lichtstrahlen, die sie verschießen konnten, waren tödlich.

Wenn sie doch nur endlich in dem Zug wären – dann würde alles besser werden.

Endlich auf dem Bahnsteig angelangt, hielt der Epsilon neben dem ersten Waggon, dessen Türen weit geöffnet waren. Keiner der kleinen Deltas war mehr zu sehen. Die Wartungsarbeiten waren abgeschlossen und der pfeilförmige Zug zum Leben erwacht. Lichter brannten in den Waggons und vom Motor der Zugmaschine ertönte ein lautes elektrisches Surren. Kalter Dampf lag jetzt auf dem Gleis, über dem der Zug leicht vibrierend in der Luft stand. Erson sah genauer hin: Er schien tatsächlich keine Räder zu haben. Erson hätte seine rechte Hand für das Geheimnis dieser Techné gegeben, durch die der schwere Zug scheinbar mühelos eine Handbreit über dem Schienenstrang schwebte.

Der Golem ließ zuerst den TUDASQ und dann Sakket einsteigen. Als Erson ihnen folgen wollte, klappte einer seiner Arme wie eine Schranke nach oben und versperrte dem Dicken den Weg. Erson sah den Epsilon mit dem lächerlichen Hut erstaunt an.

„Was ist denn?“, fragte er gereizt. Er fühlte, wie die Falle zuschnappte, aber er konnte ihr nicht mehr entkommen.

„Ich brauche Ihre Fahrkarte, Bürger“, schnarrte er.

„Meine ... Was meinst du?“ Erson trat einen Schritt nach vorn und spürte in seinem Rücken, wie die Wachgoleme sofort aufschlossen. Sakket blieb hinter der Tür stehen und drehte sich nach ihrem Freund um. Ihre hilflosen Blicke trafen sich. Sie wussten, in diesem Moment waren sie den Maschinenwesen ausgeliefert. Der Oberkörper des Epsilons erzitterte, als würde ihn die Frage empören. Er deutete flüchtig auf den zerschlissenen Hut auf seinem Kopf.

„Ich bin Ihr Zugbegleiter, Bürger. Das sehen Sie doch. Ich trage eine Zugbegleitermütze. Nach den Beförderungsbestimmungen der Bahn muss vor Reiseantritt ein Ticket am Automaten der Auskunft gelöst werden. Ich darf Sie nur in den Zug lassen, wenn Sie einen gültigen Fahrschein besitzen. Würden Sie mir nun bitte Ihre Papiere übergeben, damit ich sie entwerten kann“, erklärte der Epsilon geduldig. In seiner knarzenden Maschinenstimme klang tatsächlich so etwas wie Zufriedenheit mit. Konnte er Freude darüber empfinden, nach Jahrtausenden endlich wieder seiner Bestimmung nachgehen zu können?

„Warum durfte ich denn eigentlich diesen Zug ohne Fahrkarte betreten?“, fragte Sakket in seinem Rücken. Der Epsilon drehte den Eimer, der ihm als Kopf diente.

„Nach den Bestimmungen der Allgemeinen Notstandsverordnung benötigen Patienten von Krankentransporten selbstverständlich keine Fahrkarte. Die Kosten werden vollständig mit der Kasse abgerechnet“, erklärte der Golem. Nun erklang deutlich Selbstzufriedenheit in seiner klirrenden Automatenstimme. „Dies gilt jedoch nicht für Angehörige der Patienten oder ihre Begleiter – ärztliches und pflegerisches Personal ausgenommen.“ Er wandte sich wieder zu Erson.

„Haben Sie ohne Fahrkarte den Bahnsteig betreten, Bürger?“

Ersons Gedanken rasten. Wo war die Lücke, durch die er schlüpfen konnte? Welche Argumente konnten den Epsilon überzeugen? Er hörte ein vertrautes pneumatisches Zischen in seinem Rücken. Er brauchte sich nicht durch einen Blick überzeugen. Die Wachgoleme hinter ihm hatten ihre Waffenarme gehoben und zielten wahrscheinlich direkt in seinen Rücken.

„Wenn Erson nicht fahren darf, werde ich ebenfalls ...“, begann Sakket. Neben ihr tauchte der TUDASQ auf.

„Es tut mir wirklich leid, Bürgerin. Aber das kann nicht zulassen. Ich werde jedes Mittel einsetzen, das Leben meiner Patientinnen zu retten“, unterbrach er sie.

Die verwirrende Vielzahl seiner Arme umklammerte sie flink und er zog sie nach innen. Der künstliche Arzt wirkte plötzlich wie eine Spinne, die ihr Opfer packt, um ihm die Lebenskraft auszusaugen. Sakket und Erson brüllten gemeinsam auf, das Mädchen angstvoll, Erson im Zorn. Der Schrei von Sakket endete abrupt. Sie sank in den Armen des TUDASQ zusammen. Offenbar hatte er sie wieder betäubt.

„Ich bedauere diese Maßnahme. Aber das Wohl meiner zwei Patientinnen geht vor“, stellte er noch fest. Dann schloss sich die Waggontür vor dem fassungslosen Erson. Der Epsilon drängte ihn zurück, zwischen die beiden Omegas, die ihn zwischen sich einklemmten und an den Armen packten. Hilflos musste Erson zusehen, wie der Zug sich noch etwas nach oben bewegte, dann nahm er geräuschlos und flott Fahrt auf. Kalter Dampf schwappte vom Gleis hoch auf den schmalen Bahnsteig. Noch während Erson verzweifelt versuchte, sich aus dem unnachgiebigen Griff der Wachen zu befreien, verschwand der Zug mit seiner wertvollen Fracht in den Tunneln. Kurz waren noch seine roten Rücklichter zu sehen, dann verschluckte auch sie die Dunkelheit.

Erson sackte in sich zusammen. Hätten ihn nicht die Omegas weiterhin gehalten, wäre er auf die Knie gesunken. War nun alles vorbei, war dies das endgültige Ende? Überrascht spürte er Feuchtigkeit auf seinen Wangen. Es waren Tränen. Zum ersten Mal in seinem Leben weinte Erson, er, der niemals weinte. Die Truhe in seiner Brust war mit einem Mal zerbrochen und all das Leid, das er in ihr für immer eingeschlossen und verborgen wähnte, überschwemmte ihn.

„Sakket“, schluchzte er ohne Hoffnung. „Liebes … Komm zurück zu mir.“ Jetzt hing er nur noch in den Armen der Goleme.

„Das ist eine schlimme Sache, Bürger“, fuhr der künstliche Schaffner fort, „ich habe mit ASKUFT gesprochen. Wir können Ihnen nicht helfen. Die Bestimmungen sind eindeutig. Das Betreten des Bahnsteiges ohne gültigen Fahrausweis ist nach Artikel 642 c der Ersten Allgemeinen Strafgesetze der Notstandsverordnung eine Straftat und wird mit einer Freiheitsstrafe von nicht unter zehn Jahren geahndet“, erklärte der Epsilon ungerührt. „Die Kriegszeiten erfordern ein mitleidloses Vorgehen.“

„Kriegszeiten? Euer Krieg ist seit beinahe sechstausend Jahren vorbei!“ Erson richtete sich etwas auf, belastete seine Füße. Unbeirrt fuhr der Epsilon fort:

„Gibt es keine Möglichkeit, den Verurteilten in eine Bürgerliche Strafanstalt, in ein Gefangenen- oder Arbeitslager der 2MC auf dem Mond zu überführen, ist nach Artikel 2 der Notstandsverordnung eine sofortige Exekution des Delinquenten vorgesehen. Aufgrund der von ASKUFT verliehenen Vollmachten wurden Sie eben von dieser Epsilon-Einheit zum Tode verurteilt und ...“

Erson spannte die Muskeln seiner Beine. Er hatte nicht zugehört, aber das plötzliche rote Aufleuchten an den Spitzen der Waffenarme der Omegas sprach eine deutliche Sprache. Nein, noch war er nicht am Ende. Er würde Sakket retten. Selbst wenn er ihr bis ans Ende der Welt folgte. Er sprang in die Höhe und ließ gleichzeitig seinen schweren Körper nach vorne fallen. Es gelang ihm tatsächlich, sich dadurch aus den Klauen der Omegas zu befreien, die plötzlich nur noch die Stofffetzen seiner Ärmel in ihren spitzen Fingern hielten und für einen Moment der Verwirrung nicht reagierten. Er rempelte gegen den künstlichen Schaffner, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und stürzte mit ihm gemeinsam vom Bahnsteig hinunter auf die Schienen. Dort war es so eisig kalt, als würden sie in einen Schneehaufen fallen. Erson landete glimpflich auf dem dröhnenden Fasskörper des Epsilons und umklammerte ihn verzweifelt. Er riss ihn sofort mit sich herum, benutzte den hilflos zappelnden Golem als Schutzschild, während er sich hinter ihm hochrappelte.

„… das Urteil muss unverzüglich vollstreckt werden. Der Versuch, sich der Exekution zu entziehen, ist eine weitere ...“

Ersons Aktion kam keinen Augenblick zu spät. Durch seine flinke Reaktion trafen die tödlichen Lichtstrahlen der Omega-Einheiten nicht ihn, sondern den Epsilon, brannten Löcher in seinen erstaunlich leichten, quecksilbernen Leib. Er rauchte aus seinen „Wunden“ und es stank aufdringlich nach verschmortem Gummi. Gleichzeitig schrie der Golem wie ein menschliches Wesen auf und seine Augen begannen grün zu blinken.

„… Überrangbefehl Eins, Code Sieben …“, kreischte der Epsilon.

Die Killermaschinen stoppten sofort den Beschuss und senkten ihre Arme. Offenbar stand der Schaffner in der Befehlskette über ihnen. Doch Erson hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Ihm blieben nur wenige Augenblicke, das wusste er. Rückwärts stolperte er über die Gleise. Dabei hielt er immer den zeternden Schaffner schützend vor sich, bis er am Bahnsteig auf der anderen Seite des Schienenstrangs ankam. Er sah über seine Schulter. Dort hinten war sein Fluchtweg: Die Tür, die zu der Kryostase-Abteilung führte.

Er schleuderte den protestierenden Epsilon mit aller Kraft zur Seite. Der glitt auf den eisigen, breiten Schienen erstaunlich weit davon. Erson wuchtete sich nach oben auf den Bahnsteig, sprang auf und rannte sofort zur Tür. Verzweifelt kramte er nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Knapp neben seinem Kopf schlug ein Lichtblitz in eine zerberstende Fliese. Erson spähte zurück. Der Schuss stammte nicht von den beiden Omegas auf dem anderen Bahnsteig. Sie rührten sich nicht, der Befehl des Epsilons schien sie daran zu hindern. Allerdings näherte sich von der anderen Seite ein Trupp von fünf weiteren Wachgolemen, die über eine der beweglichen Treppen zu seinem Standort hinuntergerollt kamen. Zu ihren Füßen wimmelte es von den kleinen Reparaturdrohnen. Auch die Monitore in der Halle waren nun eingeschaltet und zeigten das Gesicht von ASKUFT, der stumm und anklagend in Ersons Richtung sah. Offenbar war ein allgemeiner Alarm ausgelöst worden. Der Dicke bückte sich und ein weiterer Schuss traf knapp über ihm die Wand.

Endlich gelang es ihm, den Stabschlüssel aus der Tasche zu fischen. Er hielt ihn an das Schloss neben der Tür mit dem Schneeflocken-Symbol. Das schaltete auf gehorsam Grün und öffnete ihm den Eingang. Erson warf sich ins Innere. Obwohl sich die Tür sofort wieder schloss, rappelte er sich unverzüglich auf, sprang zu einem der Tische neben den leeren Kryostase-Zylindern und brachte eine weitere der Eisstrahl-Röhren in seinen Besitz. Es war die einzige Waffe, die er im Kampf gegen die Wachgoleme einsetzen konnte. Dann rannte er in den nächsten Raum, in dem er vorhin die tiefgefrorene Vorgängerin gefunden hatte. Der Platz war leer, der gläserne Kryostase-Sarg nicht mehr an seinem Ort. Er befand sich mit Sakket und dem TUDASQ in dem Zug in die mystische Stadt mitten in den jenseitigen Landen.

Erson ging zum Ausgang, hinter dem er den zerstörten Omega verborgen hatte und öffnete auch ihn mit seinem Generalschlüssel. Während er über die traurigen Reste der von ihm zerstörten Mensch-Maschine in den kurzen Gang trat, hörte er in seinem Rücken, dass die Omegas inzwischen die Vordertür zum Kryostase-Bereich erreicht hatten und in den vorderen Raum rumpelten. Er drehte sich um und hob seine zylindrische Waffe. Hoffentlich funktionierte sein Plan.

Er wartete, bis sich die Nottür geschlossen hatte, dann betätigte er den Auslöser und streckte die Röhre nach vorn. Augenblicklich bildete sich eine meterdicke Eisschicht über dem Eingang. Das musste die Tür versperren und seine Verfolger eine Weile aufhalten. Erson warf den leeren Eis-Zylinder zur Seite.

„… Überrangbefehl Eins, Code Sieben …“, brüllte er laut, aber er wusste nicht, ob die Omegas von ihm Befehle annahmen. Er rannte den Gang hinunter. Hinter sich hörte er wütendes Klopfen und Rumpeln, aber er sah nicht mehr zurück. Er stürmte in das Treppenhaus, das sich vorsorglich für ihn erleuchtete und rannte um sein Leben, nahm mehrere Stufen auf einmal, war ständig in der Gefahr zu stürzen und stürzte dennoch nicht. Begleitet von Notlichtern, die sich unter ihm ein- und über ihm wieder ausschalteten, führte ihn sein Weg immer tiefer in den Berg, Treppenabsatz für Treppenabsatz, Stockwerk für Stockwerk, als würden ihn die Stufen zum Mittelpunkt der Erde führen ...

Wie oft war er in den letzten Tagen vor Verfolgern geflohen, die sein Leben bedrohten? Er wusste es nicht mehr. Wären ihm nicht weiterhin Tränen über das Gesicht gelaufen: Er hätte schallend gelacht. Er konnte sich kaum mehr an eine Zeit erinnern, an der er nicht den heißen Atem eines Feindes in seinem Nacken gespürt hatte. Dies aber, so nahm er sich vor, würde seine letzte Flucht sein. Nie wieder würde er vor jemandem davon laufen. Ab jetzt würde er den Spieß umdrehen. Nehmt euch in Acht!

Schließlich erreichte der Gejagte den letzten Absatz. Nach einer Kehre mündete das Treppenhaus in einen weiteren röhrenartiger Gang mit glatten, metallenen Wänden. Er schien endlos geradeaus zu laufen. Links von ihm waren ein weißer Pfeil und darüber „Not-Ausgang, 6525 m“ aufgemalt. Erson verschnaufte an die Wand gelehnt, lauschte. Aber er konnte nichts über sich hören. Die Goleme hatten anscheinend die Verfolgung aufgegeben. Jetzt lachte er tatsächlich kurz auf. Das Echo hallte hohl den Gang hinunter.

Erson nickte.

„Sakket!“, brüllte er. Der Name des Mädchens, das er verloren hatte, prallte von den Wänden ab und vervielfältigte sich, während der Laut sich entfernte und immer leiser wurde, schließlich verstummte. Seine Hände suchten in der Jackentasche und fanden die kleine schwarze Statue der Weinenden Mutter. Seine rauen Finger fuhren zärtlich über die grob geschnitzten Züge der Maraia und über die Stelle, in der der Bolzen des Himmelskriegers gesteckt hatte. Eine letzte Träne rann über sein Gesicht und tropfte vom Kinn.

„Sakket! Meine Liebe. Ich werde dich finden. Und wenn ich den Rest meines Lebens nach dir suchen muss. Das verspreche ich dir“, erzählte er der Statue. Er wartete, bis auch diese Worte im Gang verschwunden waren.

Dann steckte Erson das Holz sorgsam zurück in seine Tasche und ging schweigend seinen einsamen Weg zurück in die Welt.

Meister Siebenhardts Geheimnis

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