Читать книгу Nutzlose Menschen - Teil 1 - Nikolaus Klammer - Страница 6

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ERSTES KAPITEL

Die Beamten

»Ironie ist teuer. Sie kann sich nur erlauben, wer sie sich wirklich leisten kann«, erwiderte Klammer lächelnd. Er wischte mit einer strengen, konzentrierten Bewegung einen hellen Fussel vom Revers seines lindgrünen Jacketts. »Das ist, auf einen allzu kurzen und auch durchaus euphemistischen Nenner gebracht, die Essenz der Philosophie des Hippias und etwas, das der nüchterne Platon dem Sophisten endothym nicht verzeihen konnte. Auch dem Chaos kann sich im Übrigen nur der lustvoll hingeben, der es versteht, eine gewisse Ordnung zu genießen.«

Sapher zuckte hilflos mit den Schultern.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Dr. Aber wie so oft verstehe ich Sie nicht.« Er drehte mit einer unbewussten Geste der Kapitulation seine Handflächen nach oben und seufzte. »Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich jetzt zugeben: Ich verstehe Ihre Plaudereien eigentlich nie. Sie sind doch jetzt seit zwei Jahren mein Vorgesetzter an der Behörde und fast an jedem Arbeitstag reden wir miteinander, nicht wahr? Und trotzdem habe ich immer den Eindruck, Sie reden nicht mit mir, sondern an mir vorbei, mit ... ich weiß nicht, mit jemandem an einem anderen Tisch oder mit der Nachwelt. Ist das Ihre Absicht? Was sind denn das für Gedankengänge, die Sie immer wieder vor mir ausbreiten? Wen sollen sie beeindrucken? Mich verwirren Sie nur ...«, sagte Sapher unsicher. Nikolaus Klammer erweckte bei ihm nicht den Eindruck, als habe er ihm zugehört. Sein Vorgesetzter sah mit seinem eingefrorenen Lächeln zum Fenster hinaus, als er antwortete:

»Es gibt nichts Erstaunlicheres als mich selbst«, zitierte er zum wiederholten Male seinen Lieblingsschriftsteller, »Sie und ich sind wie die zwei im Altersverhältnis zueinander umgekehrten Beamten Poiret und Bixiou. Verzeihen Sie mir. Ich will Sie nicht verletzen, aber Sie sind ein eingeschränkter und - im positiven Wortsinn -, ein einfacher Bürger. Nehmen Sie es als Auszeichnung, wenn ich das nun sage, als eines der seltenen lobenden Worte aus meinem verbitterten Mund. Denn Ihre Rasse und Ihresgleichen, die doch den Staat erhalten, sind im Aussterben begriffen. Der Bourgeois stirbt in unserem bourgeoisen Land am Ennui und niemand verfasst seinen Nekrolog. Sie jedoch sind einer der letzten und das zeichnet Sie aus. Deshalb rede ich mit Ihnen auch nicht über Fußball, Autos oder Computer – von Dingen übrigens, von denen ich eh nichts verstehe.« Klammer wandte seinen Blick erst jetzt wieder zu Sapher, der ihm nun zwar aufmerksam, aber nicht minder fassungslos zuhörte. »Der letzte Mohikaner, der letzte Kaiser, der letzte Zivilist - der letzte Bürger! Ich denke, ich werde Ihnen zu Ehren einen Roman mit diesem Titel schreiben, ein homerisches Epos über die Suche nach einem Mann ohne Eigenschaften in einer verlorenen Zeit. Wissen Sie, Sapher, es ist ebenso leicht, sich ein Buch auszudenken, wie es schwer ist, eines zu schreiben. Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach - und jetzt weiß ich auch endlich den ersten Satz des Werks, er ist mir gerade eingefallen.« Klammer setzte sich gerade und begann ausgelassen und von der eigenen Eloquenz begeistert zu deklamieren:

»Hören Sie: „Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau des heraufdämmernden, jungfräulichen Morgens, der in dieser schmutzigen, erbarmungslosen Verhöhnung all der Gründe, aus denen Menschen Städte bauten, so schnell alterte und zahnlos wurde, vorverdaut von der sodomitischen Enge in den dampfigen Verkehrsmitteln, in einen Mantel stinkender Abgase gehüllt, schälte sich täppisch die gebeugte Silhouette des letzten Beamten ...“«

»Ich weiß nie, wann Sie sich über mich lustig machen. Wer ist dieser Bixiou, von dem Sie eben sprachen?«

»So unterbrechen Sie mich doch bitte nicht, denn solch ein Augenblick der Inspiration kommt unter Umständen nie wieder! Wenn ein kraftvoller Gedanke auf seinen traumhaften Schwingen einen Dichter entführt und ihn von den Umständen, die ihn hier einschließen, entfernt, indem er ihn durch die grenzenlosesten Regionen schleudert, wo die ungeheuersten Ansammlungen von Tatsachen zu Abstraktionen werden, wo die größten Werke der Natur nur Bilder scheinen -, wehe ihm, wenn irgendein Lärm an seine Sinne schlägt und die schweifende Seele in das Gefängnis von Fleisch und Bein zurückruft!«, ereiferte sich Klammer theatralisch. Wahrscheinlich zitierte er wieder einmal einen Autor des 1. Jahrhunderts, in dem er sich besonders wohl fühlte. Sein Gedächtnis war wirklich sensationell, denn alles, was er irgendwann gelesen oder aufgeschnappt hatte, konnte er lückenlos und fehlerfrei wiedergeben. Er wirkte jedoch für einen Moment tatsächlich verärgert.

»Sehen Sie, wenn der erste Satz stimmt, ist der Roman schon fast geschrieben, alles Weitere sind Fleiß und Zeit. Das sind zwei Dinge, die ich im Übrigen nicht besitze, denn Faulheit und Bewegungslosigkeit sind der normale Zustand aller Künstler.« Er legte die Hände vor seinem Mund wie zu einem Gebet zusammen. »Der erste Satz muss eine Mausefalle sein, er muss den Leser fassen und darf ihn für zweihundert atemlose Seiten nicht mehr von sich lassen. Was habe ich gesagt? Aus dem bewegungslosen, amorphen Grau eines beginnenden Morgens, der in unserer dreckigen Stadt so …, na, so schnell altert ... und ... und ... vorverdaut wird?« Klammer runzelte die Stirn und machte dann eine wegwerfende Handbewegung. »Egal, es ist weg, eine weitere Perle verschwendet. Wir haben den Augenblick verloren. Nun wird Ihr Epos immer unvollendet bleiben. Es ist Bruchwerk, niedergeschrieben auf einem von der Zeit zerfressenen Pergamentfetzen. Es ist ein Fragment, das aus dem Fragment des ersten Satzes besteht. Das ist nicht viel, aber dieses Fragment, das doch Großes hoffen lässt, schenke ich Ihnen. Dieses bewegungslose, amorphe Grau, ich eigne es Ihnen zu. Es ist ein Satz für Sapher.« Atempause. »Dabei fällt mir ein: Ihr Name, mein lieber Sapher, mein lieber Benjamin Sapher, das wollte ich Sie schon immer fragen, welcher willkürlichen und humorvollen Gottheit verdanken Sie ihn? Er ist herrlich, ein Füllhorn des Wohlklangs, wie die Sonatine von Ravel. Entschuldigen Sie bitte die schlechte Alliteration, Herr Sapher, aber eine Metapher der Sappho kann nicht besser klingen: „... geschüttelt hat Eros mich wie der Sturm, der vom Berge her sich wild auf die Eichen stürzt.“ Wissen Sie übrigens, dass es nur ganz wenige Poeten gibt, deren Name allein schon ein wohlklingendes Gedicht ist? Ernst Jandl, Detlev von Liliencron, Durs Grünbein. Schrecklich, nicht wahr? Man will kein Gedicht von Menschen lesen, die so heißen. Aber hören Sie dagegen: Hölderlin, Novalis, Walt Whitman, Sappho, Ovid und Erich Fried. Genießen Sie die Euphonie, das Versmaß, das Distichon. Benjamin Sapher, man muss Ihren Namen laut und mit französischer Akzentuierung aussprechen, um ihn völlig genießen zu können«, begeisterte sich der Dr., der mit jedem Atemzug, den er machte, auf ein neues Thema zu stoßen schien.

»Meine Familie kommt von Großvaters Seite aus dem Elsass«, warf Sapher geschmeichelt ein.

»Vous appelez un chat un chat! Ihr Name ist strahlende Poesie, aber für ein bürgerliches Trauerspiel wie das unsere ist er leider denkbar ungeeignet. Bei Schiller würden Sie eher von Kalb oder Wurm heißen - oder wie wäre es mit Schwerdgeburth? Das ist ein beredter, ein wunderbarer Name, nicht wahr? So hieß, wenn ich mich recht entsinne, im vorigen Jahrhundert ein Freund von Johann Gottfried Seume, ein Maler ... Haben Sie den „Spaziergang nach Syracus“ gelesen?«

»Wie würde denn Klammer klingen?«, fragte Sapher leichthin und lächelte selbstsicher. In diesem Augenblick glaubte er, er könne seinem Vorgesetzten zum ersten Mal in diesem Gespräch Paroli bieten. Dessen Stimme wurde jedoch im Folgenden einen Hauch schärfer und kälter. Es war nur ein ephemerer Strich auf der Maßeinheit seiner Modulationsmöglichkeiten, doch als er fortfuhr, genügte jener Hauch, Saphers Selbstzufriedenheit über seine Schlagfertigkeit wie einen Krümel hinwegzuwischen und ihr Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis wieder herzustellen:

»Sieh an, Sie zeigen Witz! Ihr Umgang mit mir erbringt erste Früchte. Also erscheint er doch nicht umsonst. Nun ja, vielleicht Klammer, warum auch nicht? Aber es lässt sich viel dagegen sagen. Der Name ist zu bedeutungsschwanger, mit Inhalt und Symbolik überfrachtet. Nikolaus Klammer, das klingt wie Willi Loman, Wilhelm Meister, Peter Kien, Stiller, Herr Keuner oder Darth Vader; da schwingt viel zu viel mit. Man darf einen Leser niemals für dumm halten, ihn nie unterschätzen. Deuten Sie nur an, wenn überhaupt. Sie dürfen mit dem Namen Ihrer Hauptfigur nicht gleich den ganzen Roman verraten. Nehmen Sie etwas opakeres, verschlüsselteres. Oder - noch besser -, Sie schlagen ein Telefonbuch auf, dort finden Sie so viele Namen und Geschichten ...«

Sapher, der das merkwürdige Gespräch gerne beenden wollte, sah kurz auf seine Uhr. »Ich unterbreche Sie nur ungern, Herr Dr., aber die Arbeit ruft.«

»Es ist schon zehn?«, fragte Klammer, der nie eine Uhr trug.

»Bereits ein paar Minuten danach.«

Klammer schüttelte den Kopf: »Meine liebe Sappho, Sie werden mir unpünktlich. Aber bleiben Sie doch, heute ist Freitag und ich gebe Ihnen Dispens! Nein, wirklich. Kreative Menschen wie wir brauchen die Muße, ihre Gedanken zu entwickeln. Die Freiheit der Fantasie hat Marasmus zur Folge. Außerdem ist es hier unter dem Ventilator angenehm kühl. Ist es paradox, wenn es mich bei dem Gedanken an unsere überhitzten Zimmerfluchten fröstelt?« Klammer lachte, nahm Sapher an der Schulter und drückte ihn zurück in den Stuhl, aus dem er sich, über den Tisch gebeugt, bereits halb erhoben hatte. Ergeben gehorchte er dem sanften Druck seines Vorgesetzten. »Ihr Publikumsverkehr muss eben einen Moment warten. Viele werden es jetzt in der Urlaubszeit und bei diesem Wetter eh nicht sein. Ich will Ihnen etwas verraten. Es ist ein offenes Geheimnis und mich wundert, dass Sie es noch nicht kennen: Die Leute, mit denen wir es hier im Amt zu tun haben und die sich jeden Tag in unseren Gängen drängen, die wollen warten. Die kommen nur deswegen hierher. Helfen können wir ihnen nicht, das wissen wir beide nur zu gut. Die Leute ahnen das ebenfalls. Aber indem wir sie warten lassen, schenken wir ihnen eine kurze Hoffnung, einen versteckten Zugang zu Pandoras Büchse. Die halbe Stunde, vielleicht sogar Stunde, die sie ungeduldig vor unseren Türen verharren müssen, in stummer Eifersucht in die Gesichter derer starrend, die näher bei der Tür sitzen oder einen Zettel mit einer niedrigeren Nummer in den Fingern haben, diese Stunde ist weit wichtiger als das kurze, ergebnislose Gespräch mit uns, unser resignierendes Kopfschütteln, unsere Vertröstungen, Formulare und neuen Termine, sogar unser Geld. Warum haben diese Leute so selten etwas zum Lesen dabei oder sonst eine Beschäftigung? Warum stricken sie nicht einen Pullover? Haben Sie sich das schon einmal gefragt? Die Antwort ist: Weil sie sich das Warten nicht durch einen Zeitvertreib verkürzen wollen. Denn in jenen endlosen Momenten des Geduldens hegen sie die geheime, ihnen selbst nicht ganz bewusste Hoffnung, es würde diesmal anders werden. Heute, bilden sie sich ein, sind sie nicht schon wieder umsonst gekommen, sondern sie werden vielleicht wirklich etwas erreichen können. Das ist wie beim Lotto spielen. Solange die Ziehung der Zahlen noch nicht war, bin ich Millionär. Und gleichzeitig spüren die Leute: Es gibt noch etwas anderes, als wie Estragon auf den Fluren von Behörden vergeblich auf das Erscheinen von Godot zu harren. Es wird ein Gefühl geweckt, eine Begierde nach der Familie und nach Betätigung. Wir schenken den Menschen etwas Nachdenken, ein Stück Leben, das sie in der modernen Welt verloren haben. Vielleicht ist das unsere eigentliche Aufgabe als Beamte.«

»Sie sind wieder zynisch, Herr Dr.«

Klammer kniff wie verärgert die Augen zusammen und überraschte Sapher mit einem plötzlich ernsten, abschätzenden Blick. Dann lächelte er und sein Gegenüber folgte seinem Beispiel unsicher. »Ich sagte schon, man muss sich Ironie leisten können. Ich hätte auch sagen können, dass ich bei meinem mickrigen Gehalt niemals ironisch, zynisch oder gar sarkastisch bin. Im Ernst, lassen Sie deshalb die Leute ruhigen Gewissens warten, wir unterhalten uns heute so gut.«

Sie unterhalten sich heute so gut, Herr Dr. Klammer, dachte Sapher. Zum ersten Mal während seines Gesprächs mit seinem Vorgesetzten sprach er einen Gedanken nicht aus. »Wer ist Bixiou?«, fragte er stattdessen erneut, ohne eine Antwort zu erwarten. Er bekam sie auch nicht. Klammer stand auf.

»Ich hole uns noch einen Kaffee. Eine kleine Viertelstunde haben wir sicherlich noch Zeit«, sagte er dabei. Sapher sah nachdenklich hinter ihm her. Nikolaus Klammer, Dr. der Jurisprudenz und ein verdienter Beamter im höheren nichttechnischen Dienst, der in einem schwer abschätzbaren Alter zwischen fünfundvierzig und fünfundfünfzig stand, hatte eine mittelgroße, unauffällige und schlanke Gestalt. Er kleidete sich aber modisch und teuer, fiel daher überall auf und erregte wegen seiner Eleganz allgemein Bewunderung. In seinen etwas spärlich gewordenen, sorgfältig frisierten und dunklen Haaren zeigte sich keine einzige graue Strähne. Sapher hatte schon Vermutungen darüber angestellt, ob Klammer sie wohl färbte. Obgleich er Saphers direkter Vorgesetzter war und sich oft mit ihm unterhielt, war es Sapher während der Zeit, die sie nun in der gleichen Abteilung Tür an Tür saßen, nicht gelungen, einen Einblick in Klammers Charakter, der etwas von der überraschenden Wechselhaftigkeit des Aprilwetters hatte, zu werfen. Nie konnte sich Sapher sicher sein, ob Klammer im Ernst mit ihm sprach, oder sich insgeheim über ihn lustig machte. Obwohl er selbst alles andere als ungebildet war, verstand er viele von dessen intellektuellen, oft hermetischen Spitzen nicht, deren Bedeutung er manchmal am Abend in einem Lexikon nachschlug. Dabei hob sich, von ihm selbst kaum bemerkt, sein Gemeinwissen. Er hatte bei seinen Nachforschungen überrascht festgestellt, dass der belesene Klammer über ein exaktes, geradezu photographisches Gedächtnis verfügte, das ihn in die Lage versetzte, lange Buchpassagen, Gedichte, aber auch Gesetzestexte auswendig und fehlerfrei aufzusagen. Sapher hatte, bevor er dem Dr. begegnete, weder geglaubt, dass es Menschen geben könnte, die zu solchen Erinnerungsleistungen fähig waren, noch hatte er jemanden außer Klammer kennengelernt, der auf eine so seltsame, flatterhafte und leichtfertige, dabei durchaus anziehende Weise über nahezu jedes Thema zu räsonieren verstand. Sapher nahm an, der unverheiratete Dr. hatte Erfolg bei Frauen. Das war allerdings nur eine seiner Vermutungen, da er praktisch nichts über das Privatleben Klammers wusste; er konnte ebenso gut auch wie ein Mönch leben oder schwul sein. Was den ungewöhnlichen Beamten umgekehrt gerade an Sapher interessierte, blieb diesem ein unlösbares Rätsel. Zwar ahnte er, dass Klammer irgendetwas mit seiner Person verband oder gar plante, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sein Vorgesetzter mit diesen häufigen Diskussionen knapp über Saphers intellektuellem Horizont abzielte.

Anderen Beamten gegenüber zeigte sich Klammer zwar freundlich, aber reserviert. In seinen Gesprächen mit ihnen ging er nur selten über die Belange der Behörde hinaus. In den alltäglichen Geschäften des Amtes war der Dr. ein mustergültiger, erfahrener und fleißiger Beamter, der seinen Posten als Oberamtsrat vorzüglich ausfüllte und dessen Wissen der Vorschriften und Rechtsbestimmungen sprichwörtlich war. Von Sapher abgesehen hielt er genau jenen Abstand zu seinen direkten Untergeordneten, der den nötigen Respekt vor der Person und der Fachautorität des Vorgesetzten erweckt. Dennoch war er im Amt eine halb mythologische Gestalt und stand in dem geflüsterten Ruch der Verschrobenheit. In seiner Vergangenheit musste es auch einmal einen Eklat gegeben haben, über den hinter vorgehaltener Hand ungenaue, aber phantastische Mutmaßungen die Runde machten. Der tatsächliche Vorfall, falls es denn je einen gegeben hatte, war ein gut gehütetes Geheimnis, das, so eines der Hauptgerüchte, der Grund war, aus dem Klammer trotz seines Alters und seinen Fähigkeiten nicht befördert wurde und zum Direktor aufstieg.

»Du arbeitest beim Klammer?«, hieß es häufig und Sapher wurde mit einer bedeutsamen, dabei mitleidigen Miene bedacht. »Oje!«

In diesem mitfühlenden Laut schwang meist neben der Erheiterung eine Prise Schadenfreude mit. Wäre Klammer nicht sein direkter Vorgesetzter gewesen, hätte Sapher ihn sicherlich gemieden. Seit geraumer Zeit versuchte er auch, sich hinter Klammers Rücken innerhalb der Behörde zu verändern. Das würde ihm jedoch kaum vor der nächsten Regelbeförderung gelingen und die stand erst in zwei Jahren ins Haus. Sapher selbst war zweiunddreißig Jahre alt, etwas untersetzt, unscheinbar und hell-, fast rotblond. Da er saloppe Alltagsbekleidung bevorzugte, hatte er Mühe, sich der strengen Kleiderordnung des Amtes, die Anzugjacke und Krawatte vorschrieb, unterzuordnen. Seine Frau Gitta kannte er seit seiner Schulzeit und er hatte sie gleich nach seiner Vereidigung geheiratet. Die Ehe war kinderlos. Wenn er gezwungen war, seinen Lebenslauf zu schreiben, wurde der nie länger als eine halbe DIN-A4-Seite: Er hatte ihn auch geradlinig aus dem Gymnasium über die gehobene Laufbahn zu diesem Posten geführt, wo er sich nun täglich mit diesem seltsamen Vorgesetzten und dessen unergründlichen Launen auseinandersetzen musste. Es war ungerecht, wie Klammer dem fleißigen Sapher seinen von Unbilden oder emotionalen Stürmen freien Lebensweg als spießbürgerlich vorzuwerfen. Er erregte im Gegenteil bei einigen seiner Bekannten Neid wegen der bruchlosen Karriere und der scheinbar geglückten Ehe. Sapher, den nicht einmal die Pubertät arg gebeutelt hatte, vermisste keineswegs die Unordnung eines weniger gesicherten Lebens. Er war mit der ruhigen Beziehung zu Gitta und seinem Beruf, der ihn ausfüllte, zufrieden. Jede Veränderung hätte ihn verstört.

Nikolaus Klammer war der einzige seiner Arbeitskollegen, mit dem er sich über Informelles austauschte. Zu den anderen, auch denen, mit denen er täglich zu tun hatte und die ihm von Alter und Einstellung näher waren, war das Verhältnis von seiner Seite zurückhaltend, fast abweisend. Das lag in erster Linie an Saphers Unsicherheit und an seiner Furcht, sich Mitmenschen freundschaftlich zu öffnen. Er stand nicht zuletzt deshalb und wegen seines auffallenden Kontaktes zu Klammer in dem Ruf, eine Radfahrermentalität zu besitzen, arrogant zu Gleichgestellten zu sein und sich bei seinen Vorgesetzten Liebkind zu machen. Dass er Klammers Nähe nun wirklich nicht suchte, sondern dieser sich im Gegenteil immer wieder aufdrängte, änderte an der allgemeinen Beurteilung nichts.

Teller klapperten. Die Kantine hatte sich zwischenzeitlich fast geleert. Die Angestellten hinter der Theke räumten Geschirr in die Spülmaschinen und bereiteten sich auf den Andrang zum Mittagessen vor. Klammer kam zurück und stellte drei Tassen Kaffee auf den Tisch. Sapher erwartete zuerst eine neue Exzentrizität. Aber dann sah er, wie der Dr. einer Person zuwinkte, die sich in seinem Rücken befand. Er wandte sich halb herum und sah mit plötzlich einsetzendem Herzklopfen eine junge Frau näherkommen, die er vom Sehen kannte, die aber in einem anderen Flügel des Gebäudes arbeitete. Bislang hatte er noch kein Wort mit ihr gewechselt, da beider Abteilungen nur selten Austausch hatten. Nun würde er vielleicht etwas über das gut abgeschirmte private Leben seines Vorgesetzten erfahren können. Er spitzte, ohne es übrigens zu bemerkten, die Lippen. Die heranschwebende Frau war ungewöhnlich attraktiv und jenen Tic 'overdressed', der alle Blicke, auch neiderfüllte weibliche, auf die Qualitäten ihrer Körperlichkeit zog, die sie, sich deren Vorzüge durchaus bewusst, durch Art und Kleidung unterstrich. Obwohl Sapher sich glücklich verheiratet fühlte und seiner Frau nicht nur aus Mangel an Gelegenheit, sondern auch aus Überzeugung treu war, wurde er doch jedesmal unruhig, wenn diese Schönheit in seine Nähe geriet. Er bestaunte sie mit großen Augen. Sie umgab sich mit einer erotischen Aura, mit der er nicht zurecht kam. Er rutschte unruhig mit dem Stuhl zur Seite. Sie setzte sich neben ihn an den kleinen Tisch und und bedachte ihn mit einem abgelenkten Kopfnicken, ohne dabei Klammer aus den Augen zu lassen.

»Sie habe ich gesucht, Herr Dr. Ich brauche Ihre Hilfe. Man hat mir in Ihrem Büro gesagt, dass ich Sie hier finden könnte. Bei mir sitzt im Moment ein Herr aus Griechenland, der behauptet, er sei vor etwa zwölf Monaten bereits einmal bei Ihnen registriert worden. Nun, im Computer haben wir ihn nicht, wenn sein Name nicht falsch geschrieben wurde. Könnten Sie deshalb in Ihren Akten nachsehen?«, fragte sie Klammer geschäftig,und beugte sich halb zu ihm über die Tischplatte hinweg.

Sapher sah die Beamtin von der Seite an und bewunderte den Profilschnitt ihres Gesichts, die Makellosigkeit ihrer Haut, die kein Pickel verunreinigte, und das perfekte Make-up, das sie morgens wahrscheinlich ebenso lang beschäftigte wie der Sitz ihrer schwarzen, glatten Haare, die sie halblang trug. Sie hatte ein eng geschnittenes, grau kariertes und sommerlich leichtes Kostüm an, dessen kurzer Rock im Sitzen viel von ihren bemerkenswert langen, haarlos glatten Beinen freigab, die in solch bedrohlicher, augenfälliger Nähe nicht gerade zu Saphers Seelenruhe beitrugen. An jedem Finger ihrer linken Hand steckten Ringe, sogar am Daumen. Sapher, den bereits der eine Ehering beim Tippen behinderte, fragte sich, wie sie auf diese Weise beladen arbeiten konnte. Der unauffällige Geruch ihres Parfüms, der ein wenig an Rasierwasser erinnerte, hing über dem Tisch. Sapher war viel zu sehr Ehemann und sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst, als dass er diese Schönheit mit dem Aussehen seiner Frau in Vergleich gebracht oder gar an den Versuch eines Flirts gedacht hätte. Sie war ihm ein lebendig gewordenes Model aus einer Modezeitschrift, viel zu perfekt und unnahbar, um in seiner Welt Realität zu nehmen. Klammer schob ihr über den kleinen Tisch einen der Kaffees entgegen. Sapher dachte in diesem Moment, die beiden seien trotz des Altersunterschieds ein schönes Paar. Die Frau ignorierte das angebotene Getränk und holte aus ihrer kleinen Umhängetasche einen Zettel.

»Ich habe hier seine Personalien. Sein Name ist Konstantin Papadopoulos Kata ... tasakinthoki ... kiakis«, entzifferte sie und stolperte zweimal über den vielsilbigen Nachnamen, »was für ein Name! Können Sie, wenn Sie Ihre Kaffeepause beendet haben, nachsehen, ob Sie eine Akte über ihn haben? Es wäre wichtig.« War da ein Vorwurf über ihren augenblicklichen Aufenthaltsort in ihrer Stimme? Sapher glaubte es fast.

»Konstantin Papadopoulos Katasakinthokiakis, selbstverständlich.« Der Name kam Klammer verblüffend glatt von den Lippen. Er nahm der Beamtin den Zettel ab und reichte ihn Sapher. »Sie werden sich doch darum kümmern? Darf ich Ihnen übrigens meinen Herrn Kollegen, Monsieur Benjamin Sapher, vorstellen? Ich glaube, Sie hatten noch nicht das Vergnügen.« Er sprach den Namen wieder französisch aus.

Sapher warf einen scheuen Blick auf die Frau neben ihm. Er wollte Klammer berichtigen, sagte dann aber nur:

»Angenehm.« Wenn er ehrlich war, klang sein Name frankophon in der Tat besser; es schwangen ein 'laissez faire' und Weltgewandtheit mit.

»Und das ist unsere Frau Rothschädl.« Sie runzelte die Stirn, sah kurz zu Sapher, nickte erneut, registrierte wahrscheinlich zum ersten Mal bewusst seine Existenz. Ihr waren herrlich grüne, goldgesprenkelte Augen zu eigen, deren durchdringender Blick Sapher ein plötzliches weiches, wie durchsackendes Gefühl im Unterleib bescherte. Er knitterte unschlüssig den Zettel mit dem Namen des Griechen in seiner Hand.

»Sie trinken doch mit uns einen Kaffee?«, bestand Klammer.

»Aber Herr Katasakinthokiakis wartet auf mich in meinem Büro ...« Jetzt kam auch sie mit dem fremdländischen Namen zurecht. Klammer streckte flink den Arm nach vorn und berührte sanft ihren Handrücken.

»Sie bleiben«, sagte er mit Nachdruck und die Beamtin blieb tatsächlich, offenbar war sie von seinem bestimmenden Tonfall überrascht. »Lassen Sie Ihren Herrn Katasakinthokiakis ruhig warten. Ihr Anblick ist in der Tat ein wenig Geduld wert. Odysseus hatte zwanzig Jahre Geduld, bis er endlich seine schöne Penelope in die Arme nehmen konnte und schließlich steckt in jedem Griechen etwas von diesem listenreichen Heroen. Wir führen hier ein interessantes Gespräch, das Sie mit Ihrer Anwesenheit bereichern würden. Bitte, Ihr Kaffee.«

Er schob die Tasse mit zwei Fingern der rechten Hand näher an die Beamtin heran. Sie führte den Kaffee tatsächlich sofort zum Mund, nippte. Dabei sah sie Klammer ins Gesicht, wirkte für einen Augenblick wie hypnotisiert.

»Nicht wahr, Frau Rothschädl, ich habe Sie erst kürzlich im Brandwirt auf der Lesung von Stefan Kappnath gesehen«, fuhr Klammer fort. »Wann war das, am Dienstag vor einer Woche?«

»Sie waren auch dort? Ich habe Sie nicht bemerkt, Herr Dr.« Klammer öffnete die Arme.

»Ich bin etwas zu spät gekommen und saß dann freilich ganz hinten. Ich bin auch nicht ganz bis zum Schluss geblieben, sondern schon vor der abschließenden Diskussion gegangen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich mich gelangweilt habe. Dieser Kappnath ist entschieden nicht mein Fall. Ich halte ihn für überbewertet. Er ist mir zu geschwätzig und, ja, wenn ich so sagen darf, pubertär, er kommt nicht auf den Punkt. Seine Erzählungen sind wie 'Petting', er fummelt nur herum und penetriert nicht den Kern der Sache.«

Ein Hauch Rouge wanderte über die Wangen der Frau. Sie richtete sich beteiligt in ihrem Stuhl auf. Sapher bewunderte stumm Klammers Kunst, die Rothschädl in das Gespräch zu binden. Sieh an, dachte er, es gibt also in diesem Amt noch eine zweite Person, bei der der Dr.'seine professionelle Zurückhaltung ablegt. Aber warum tut er das ausgerechnet bei uns beiden? Was verbindet uns für ihn?

»Ein Bekannter von mir, auf dessen Meinung ich viel halte«, führte Klammer aus, »hat den Fehler begangen, mir die Lesung ans Herz zu legen. Er wusste nur Gutes über die neuen Erzählungen von Kappnath zu sagen. Aus eigenem Antrieb wäre ich nicht hingegangen. Wie fanden Sie es denn?«

»Es hat mir gefallen«, sagte die Frau kurz und erregte durch diese knapp gefasste Erwiderung Saphers Bewunderung. Offensichtlich war sie gefestigt genug, sich nicht von Klammers Meinung einschüchtern zu lassen.

»Das ist erstaunlich! Ich habe den Eindruck gewonnen, diese Art von Literatur sei nicht für Frauen geschrieben. Das ist jetzt alles andere als Chauvinismus, aber Kappnaths Texte haben ähnlich denen von Bodo Kirchhoff oder von Henry Miller immer ein wenig Prahlerei, etwas von einem schmuddeligen Männerwitz, den sich die Herren der Schöpfung schenkelklopfend einander zuflüstern.«

»Ich denke, Sie haben die 'Infanta' nicht gelesen, sonst hätten Sie diese Meinung geändert. Ich weiß, dass Kirchhoff lange Zeit die klassische Symbolfigur des frauenfeindlichen Autors für alle 'Emma'-hörigen Feministinnen war, aber er hat sich gemausert. Es gibt nur wenige Bücher zeitgenössischer Autoren, die mich so berührt haben wie dieses.«

»Die Kritiker waren nahezu ungeteilt Ihrer Meinung. Da ist es sehr einfach, zu loben ...«

»Wenn er seinen augenblicklichen Weg weiter beschreitet«, fuhr sie trotz des lächelnden Einwurfs von Klammer unbeirrt fort, »und danach sieht es aus, dann wird er einmal als einer der bedeutendsten deutschen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts in den Literaturgeschichten stehen. Was Kappnath betrifft, so ist er sicher kein begnadeter, aber doch wohl ein fleißiger und handwerklich geübter Romancier, dessen Themen vielleicht ein wenig zu zeitbezogen sind. Ihm deshalb aber pubertäre Nabelschau vorzuwerfen, ist an den Haaren herbeigezogen«, sagte die Rothschädl mit Nachdruck. Klammer wartete einen Moment, dann klatschte er langsam.

»Wenn wir eine engere Bekanntschaft hegen würden, würde ich Ihnen nun einen Kuss geben. So aber will ich mich damit begnügen, Ihnen und Ihren Meinungen meine uneingeschränkte Hochachtung zu zollen. Aber, Herr Sapher, wir haben über Ihrer Konkurrenz ganz Sie selbst vergessen; was halten Sie denn von Kirchhoff oder Kappnath, unserem Lokalmatador?«

Konkurrenz, dachte Sapher nebenzu, was will er denn damit schon wieder sagen?

Er hatte nicht allzu viel von den beiden Autoren gehört, geschweige denn sie je gelesen. Seinen letzten Roman hatte er während der Schulzeit in den Händen gehalten. Da er jedoch diese Frage erwartet hatte und sich vor den anderen wegen seiner Unwissenheit keine Blöße geben wollte, hatte er eine Antwort vorbereitet, die zumindest nicht völlig unwissend klang. Er kratzte sich am Hals.

»Im Großen und Ganzen will ich Frau Rothschädl recht geben, obwohl ich persönlich beider Bücher als etwas zäh einstufen will«, sagte er vorsichtig und hoffte, er könne es bei dieser Synthese der Meinungen belassen, ohne durch ein Nachfragen in Verlegenheit gebracht zu werden. Hätte Sapher gewusst, wie er es anstellen sollte, hätte er an dieser Stelle versucht, das Thema zu wechseln. Doch diese Sorge nahm ihm Klammer auf überraschende Weise ab. Obwohl er Saphers Ahnungslosigkeit durchschauen musste, nickte er erst:

»Solch ein apodiktisches Schlusswort habe ich von Ihnen erwartet. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Wobei ich Sie - bewahre! - selbstverständlich nicht mit diesem possierlichen Aasvogel in Vergleichung bringen will. Es gibt eine Art von Bewunderung, die mit kritischem Essig getränkt ist, und mit der ein hervorragender Mann sich gewissermaßen entschuldigt, einen anderen zu bewundern.« Er lachte kurz.

»Aber nun doch etwas anderes, mein lieber Sapher. Um auf Ihr Gesprächsthema von vorhin zurückzukommen, was sagen Sie denn zu dem Namen unserer hübschen Kollegin hier? Rothschädl - welch ein markanter, substantieller Klang! Der Name ist doch genau richtig für Ihren Roman. Ein ganz klein wenig mag er auch symbolisch für einen Staatsbediensteten sein, aber eben nur eine Idee, diese Nuance, die den Leser lächelnd zum Komplizen des Autors macht. Rothschädl, wissen Sie zufällig, wie dieser ur-'teutsche' Name entstanden ist? Er scheint doch mindestens bis in die Zeit der Bauernkriege zurück zu deuten?«, wandte er sich an die Frau. Die Beamtin, die sich bemühte, eilig ihre Tasse Kaffee zu leeren, um der Angelegenheit ein Ende zu bereiten, verschluckte sich fast an dem heißen Gebräu. Das war die erste Unstimmigkeit in ihrem bisher vollendet eleganten Auftreten.

»Da kann ich Ihnen nicht helfen, ich habe mich nie für Ahnenforschung interessiert«, sagte sie hustend und fast stimmlos, »ich selbst bin nicht allzu begeistert von diesem Namen.«

»Dann sollten Sie bald heiraten und auf einen dieser entsetzlichen Doppelnamen verzichten. Aber, ernsthaft, Sie tun sich und dem treuteutschen Geschlecht derer Rothschädl unrecht. Der Name ist von fast unerreichbarer Prägnanz. Niemand, der ihn einmal gehört hat, vergisst ihn wieder. Und dazu ist er vielleicht die Muse, die Herrn Sapher zu einer großen Erzählung anregt. Sie müssen wissen, dass mein Kollega hier in der spärlichen Freizeit, die ihm sein Dienst für den Staat gewährt, ein eminenter, aber leider nicht allzu erfolgreicher Dichter ist. Das ist seine eigentliche Berufung und er arbeitet seit Jahren an einem großen Roman, der sein Durchbruch werden soll. Er wird Der Letzte Bürger heißen und ein Schlüsselroman über die bourgeoise, verlogene und korrupte Gesellschaft unserer Stadt sein. Herr Sapher hat mir Exzerpte einiger Kapitel vorgelesen und ich muss sagen, sie sind brillant. So etwas wird heute eigentlich gar nicht mehr geschrieben. Es ist, als hätten sich die drei Großen, die die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts begründet haben, also Musil, Proust und Joyce, in seiner Seele in eine Art von Personalunion begeben, um den Roman zu schreiben, der das grausige 20. Jahrhundert endlich abschließt und das neue - ebenso grausige - beginnt. Sie wissen ja, ich verstehe etwas davon. Ich habe schon den einen oder anderen Autor entdeckt - nehmen Sie nur Georg Hauser. Viele Pfahlbürger werden sich vor dem Erscheinen des Buchs von Sapher fürchten, das ich, um einen etwas platten Ausdruck zu gebrauchen, mit einem Erdbeben vergleichen will«, behauptete Klammer in aller Seelenruhe.

Die Rothschädl sah zu Sapher, zu dem ihr Name wegen seiner Scham nun besser gepasst hätte und zum ersten Mal war so etwas wie Beteiligung in ihrem Blick. Und dieses Interesse war auch der Grund, aus dem Sapher, der noch nie eine erzählerische Zeile zu Papier gebracht hatte und sogar die Weihnachtspost seiner Frau überließ, über die überraschende und viel zu dick aufgetragene Lüge Klammers schwieg. Er starrte konsterniert zu dem überlegen lächelnden, älteren Mann. Was ging in dem seltsamen Geist vor, wenn er diese an den Haaren herbeigezogene Lüge über ihn verbreitete? Es war möglich, dass sie aus der Laune eines Augenblicks entstanden war, aus der Neugier, wie die anderen reagieren würden. Klammer glich manchmal einem Forscher, der mittels eines Katalysators Chemikalien untersucht. Sapher hatte schon mehrmals erlebt, wie der Dr. einen Gesprächspartner mittels eines ausgesucht provokanten Standpunktes aus dem Gleichgewicht brachte und ihn dazu reizte, mehr von seinen Meinungen zu offenbaren, als er es selbst wünschte. In diesem Fall wollte Sapher den plötzlichen Entschluss aber in Zweifel ziehen. So, wie er Klammer kennengelernt hatte, hatte dieser zwar eine leichte, oft leichtsinnige Art, sich zu unterhalten, wie ein Schmetterling von Thema zu Thema flatternd. Doch war es oft nur eine Tünche, hinter der sich die vielfach verquere, aber nicht minder folgerichtige Logik seiner Gedanken verbarg. Tatsächlich wusste er immer ganz genau, wohin er wollte. Alles, was er sagte, war zielgerichtet, auch wenn Sapher das meist erst nach Stunden oder Tagen, manchmal gar Wochen später zu Bewusstsein kam und dann erst zu erkennen glaubte, was sein Vorgesetzter wirklich bezweckt hatte. Wenn Sapher sein heutiges Gespräch mit ihm betrachtete, das Klammer am Morgen mit einem Aphorismus von Montaigne eröffnet, wie er dann abfällig die Tagespolitik und die Kommentare der FAZ gestriffen hatte, um über Lessings Lob der Faulheit und dem Preis der Ironie bei der Literatur zu landen, dann hatte all dies eine erstaunliche Folgerichtigkeit, die darin gipfelte, ihm den Schriftsteller unterzuschieben. Was aber Klammer weiter im Sinn hatte, das blieb ein Rätsel. So war es immer: Vom Nachher betrachtet waren ihm Klammers Intensionen klar, doch niemals war er seinem Vorgesetzten einen Schritt voraus. Im Moment fühlte sich Sapher wie ein Teenager, der sich wichtig zu machen wünscht.

So lächerlich das Ganze aber war, die Rothschädl hatte die Lüge nicht sofort durchschaut, sondern sah ihn mit einem freundlichen Augenaufschlag an und fragte:

»Sie schreiben?« Und, was Sapher noch fassungsloser machte, er war geschmeichelt und lächelte unsicher.

Eine peinliche Pause entstand, während Sapher vergebens einen Haltepunkt suchte. Erneut wanderte sein Blick zu Klammer, diesmal hilfesuchend. Der sah ihn herausfordernd an, zwinkerte andeutungsweise mit einem Auge. Nun, mach was draus, schien er sagen zu wollen, nutze diese Chance oder überführe mich der Lüge. Sapher räusperte sich, dann stotterte er ein paar Laute, deren Sinn er selbst nicht einzugrenzen wusste. Klammer lachte.

»Sehen Sie ihn sich an, Frau Rothschädl; er schämt sich. Ich denke, das macht Ihr Interesse an seinem Werk. Er hat als trotz seines Alters noch als jung geltender Autor Angst vor Publikum und Kritik. Vielleicht ist dies der Grund, aus dem er erfolglos ist und nicht wie Kirchhoff oder Kappnath in renommierten Verlagen veröffentlicht. Denn - und das können Sie mir glauben - so begabt wie diese beiden ist er und fleißig zudem, eine wirklich seltene Personalunion bei einem Schriftsteller.« Klammer nahm einen Schluck Kaffee, verzog ein wenig den Mund und wandte sich an Sapher:

»Sie müssen begreifen, dass Lärmen zum Handwerk gehört! Hauen Sie die Pauke, blasen Sie in die Trompete! Wenn Sie so altmodisch sind und denken, Schreiben sei alles, was ein Autor können muss, dann irren Sie fatal. Nein, das Schreiben ist doch für einen modernen Schriftsteller der vielleicht unwichtigste Teil seiner Arbeit. Sein PC und sein Textverarbeitungsprogramm nehmen ihm diese Routine praktisch ab, man hört das immer wieder. Marketing ist die neue Hauptaufgabe, um die Ware Buch an den Leser zu bringen. Kein Romancier schickt heute ein vollständig ausgearbeitetes Manuskript an einen Verlag; ein Kapitel, ein Abriss der Handlung, sie genügen völlig. Wenn, wie meist, das Ergebnis der Inspiration uninteressant und unverkäuflich ist, nun, Herr Autor, schreiben Sie eben ein Kapitel eines neuen Romanes. Schieben Sie Ihre alte Dateileiche, dieses nutzlose Fragment, in den Papierkorb oder, besser, warten Sie, bis Sie diesen Text in den Roman einarbeiten können, den zu schreiben Ihnen der Verlag, der sich herabgelassen hat, Sie zu veröffentlichen, erlaubt. Meiden Sie Kurzgeschichten oder Erzählungen, so etwas findet keine Öffentlichkeit. Und dann, während Ihr Computer Ihren Text für Sie schreibt, rühren Sie kräftig die Werbetrommel! Reden Sie mit allen und jedem, seien Sie immer freundlich und höflich und großzügig, wenn es um das Bezahlen geht. Sie haben zwar kein Geld zu verschenken - wer hat das schon - aber all die Kritiker wollen schließlich von ihren literarischen Anstrengungen leben. Deshalb wird sich auch immer wieder ein Hungerleider finden, der Sie lobt. Prostituieren Sie sich mit tausend Menschen, die nichts von Literatur verstehen und die alle wie Götz vom Hauptmann behandelt sein wollen, weil ihnen das so gefällt. Nach der ersten Überwindung des Ekels gewöhnen Sie sich schnell daran und es soll Sterne am nächtlichen Himmel der Literatur geben, die sogar Freude an dieser Liebedienerei gefunden haben und ihre Bücher mit expliziten Beschreibungen davon füllen. Heine sagt: 'Diese Sterne erscheinen uns aber vielleicht deshalb so schön und rein, weil wir weit von ihnen entfernt stehen und ihr Privatleben nicht kennen. Es gibt dort ebenfalls mache Sterne, welche lügen und betteln; Sterne, welche heucheln; Sterne, welche gezwungen sind, alle möglichen Schlechtigkeiten zu begehen; Sterne, welche einander küssen und verraten; Sterne, welche ihren Feinden und, was noch schmerzlicher ist, sogar ihren Freunden schmeicheln, ebenso gut wie wir hier unten. Jene Kometen, die man dort oben manchmal wie Mänaden des Himmels, mit aufgelöstem Strahlenhaar, umherschweifen sieht, das sind vielleicht liederliche Sterne, die am Ende sich reuig und devot in einen obskuren Winkel des Firmaments verkriechen und die Sonne hassen.' Der Künstler ist heute die Hure des Bourgeois, so wie er früher die des Adligen und des Pfaffen war. Natürlich, einem Schöngeist wie Ihnen wird diese Binsenweisheit nicht behagen, denn Sie glauben, das könne nicht alles sein, Literatur habe nichts mit Brötchen backen zu tun. Nicht wahr, Monsieur Sapher, Ihnen wird übel, wenn Sie an solche, wie Sie glauben, nebensächliche Dinge denken, denn Sie wollen ja Kunst machen und übersehen dabei, dass auch Ihre Texte nicht mehr als Dienstleistungen sind. Sie wollen zwei Bedürfnisse befriedigen, die einander nur allzu oft ausschließen: Da ist Ihres, Romane zu schreiben und das des Lesers, Romane zu konsumieren. Alles prima, aber ob ihm ausgerechnet Ihre Speise schmeckt, ist zweifelhaft, da Sie sie schwer verdaulich gemacht haben. Zudem ist der moderne Leser - in der Mehrzahl sind es Frauen - überfressen und vom Angebot der Konkurrenz so verwirrt, dass er sich im Zweifelsfalle lieber vor den Fernseher setzt. Sie schreiben - Achselzucken; so viele schreiben. Sie machen Literatur. Wer liest das? Versuchen Sie doch nur einmal, eine kleine lokale Anerkennung für ihre Texte zu erlangen, ein paar Leser zu finden, ein wenig Presse. Veröffentlichen Sie doch auf Ihre Kosten im Eigenverlag Ihre Prosa, organisieren Sie eine Lesung. Sie werden sehen, das Einzige, was sie bekommen werden, ist ein gallebitterer Geschmack im Mund. Sie werden feststellen, alle ihre Bemühungen werden an den Leuten abgleiten wie ein Regentropfen an einem imprägnierten Lodenmantel. Das ist der Weg, wie aus jemandem, der mit ehrlichem und aufrichtigem Sinn die Kultur der Stadt bereichern will, schnell ein menschenverachtender Zyniker wird. Also gut, sagen Sie sich, wenn ich keine Leser finde, vergesse ich sie also, ich werfe doch keine Perlen vor die Säue. Darum schreiben Sie für sich, als einen Akt der Selbstbefriedigung. Warum ist es dann trotz aller schlechter Erfahrungen weiterhin ihr Traum, zu veröffentlichen? Und wovon wollen Sie leben? Also arbeiten Sie wie Kafka in einem Versicherungsbüro und sind Ihr Lebtag unzufrieden, wenn Sie ein Buch von Kappnath oder Kirchhoff in die Hand nehmen, denn warum - zum Teufel - gelingt Ihnen nicht, was jene schafften? Und dann geht das ganze verfluchte Bitten und Betteln wieder von vorne los.«

Klammer hatte süffisant und freundlich herablassend begonnen, sich dann allerdings während seines Monologs in eine wenig verständliche Rage geredet, die ihn die letzten Sätze fast schreien ließ. Sapher und die Frau sahen sich während dieser Rede mehrmals betreten an. Als Klammer schwieg, schwer atmend mit den Händen gegen die Tischplatte gestützt, stand eine greifbare Wut zwischen den dreien. Sapher fragte sich, woher sie so plötzlich gekommen war, warum sein sonst so moderater Vorgesetzter sich wegen dieses von ihm selbst gewählten, gleichgültigen Themas hatte hinreißen lassen. Was hatte ihn so gereizt, dass er nun eilig aufsprang, sein Stuhl kippte und das Metall der Lehne auf die Kacheln des Kantinenbodens schepperte?

Klammer sah zurück, ohne Anstalten zu machen, den umgestürzten Sitz wieder aufzurichten. Als er zu Sapher sah, lächelte er.

»Nun, jetzt muss ich aber wirklich an meine Arbeit. Ich denke, wir werden beide heute Abend etwas länger bleiben müssen, um die verlorene Zeit hereinzuholen. Frau Rothschädl.« Er machte die Andeutung einer Verbeugung und ließ seine überraschten Gesprächspartner allein sitzen. Die Rothschädl sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Sie wartete, bis Klammer die Kantine verlassen hatte, dann sagte sie:

»Wie können Sie es mit diesem Menschen aushalten? Ich komme mit ihm einfach nicht zurecht. Ich muss mich jedesmal überwinden, wenn ich gezwungen bin, mit ihm zu reden. Er sagt so seltsame Dinge. Manchmal macht er mir eine Gänsehaut.« Sapher, der seinem Vorgesetzten gerade hatte folgen wollen, entschied sich, doch noch zu bleiben.

»Nehmen Sie seinen Ausbruch nicht ernst. Wenn Klammer wirklich zornig ist, wird er nicht laut, sondern leise«, wiegelte Sapher ab, obwohl er die Wut seines Vorgesetzten noch immer zu spüren glaubte. Sein Blick rutschte unwillkürlich zu dem durch die dünne, weiße Bluse schimmernden Ansatz der kleinen Brust der Frau. Im Ausschnitt schimmerten ein paar Schweißperlen; sie trug keinen Büstenhalter. Als er sich bei seinem starren Blick ertappte, zuckte der Beamte wie nach der Berührung eines Kuhdrahts zusammen und sah eilig zur Seite. Er hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige gegeben und erneut färbte sich sein Gesicht dunkel. Falls das Objekt seiner Begierden seine Verlegenheit bemerkte, ließ es sich nichts anmerken - zudem war die Rothschädl mit Sicherheit an anzügliche Blicke gewöhnt. Sie sah Sapher aufmerksam an, auf seine Fortführung der Unterhaltung wartend. Wie unter dem Zwang Klammers stehend sagte er:

»In zehn Minuten hat er sicher schon vergessen, dass er überhaupt wütend war. Ich habe schon einmal erlebt, wie er sich über einen Fleck auf seiner Krawatte so ereiferte, dass er sie endlich abgeschnitten hat - und das war nicht an Weiberfastnacht. Er holte Luft. Jetzt, dachte er, jetzt kommt's.

»Klammer ist mir in meiner Literatur eine stete Quelle der Inspiration«, fuhr er fort und wunderte sich, wie glatt ihm der letzte Satz über die Lippen gekommen war. Sie lachte. Es war ein schönes, warmes Lachen, ungekünstelt und natürlich. Sapher hätte sie jetzt gerne nach ihrem Vornamen gefragt.

»Wie war das mit diesem Griechen, wissen Sie sein Geburtsdatum und den Ort?«, wollte er stattdessen wissen. Eine kurze Pause entstand, während der sie ihn abschätzend beobachtete. Sapher hätte in diesem Moment mehr als nur einen Pfennig für ihre Gedanken geboten.

»Herr Katasakinthokiakis, selbstverständlich«, sagte sie, ließ den Kaffee in der Tasse kreisen und trank anschließend den Rest. Aus einem für ihren Gesprächspartner nicht ganz einsehbaren Grund hatte sie dabei Mühe, ernst zu bleiben.


Als Sapher ein wenig später in sein Zimmer kam, pfiff er leise vor sich hin. Er hatte die Rothschädl falsch eingeschätzt und diese Erkenntnis machte ihn heiter. Sie war trotz ihrer Attraktivität alles andere als unnahbar. Diese Einsicht, die nicht in sein Bild von der Welt passte, war ihm fast ein Kulturschock, allerdings ein durchaus erfreulicher. Er genoss den Gedanken, später nach der Akte jenes Griechen zu suchen, dessen komplizierten Namen er längst wieder vergessen hatte. Er war entschlossen, das verschollene Schriftstück - wenn er es denn fand - nicht mit der internen Post zu schicken, sondern persönlich bei der schönen Beamtin vorbeizubringen und sich bei dieser Gelegenheit noch einmal mit ihr über Klammer, der ja ein herrliches Gesprächsthema war, zu unterhalten. Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Drehstuhl fallen und bewegte ihn abgelenkt mit dem Fuß ein wenig hin und her. Dann atmete er einmal tief durch. Zuerst war der Publikumsverkehr zu erledigen. Wie er beim Hereingehen erfreut festgestellt hatte, wartete nur eine Handvoll Leute auf eine Unterredung mit ihm. Wenn es keine Verzögerungen gab, konnte er alle bis zum Mittag abfertigen und seine um zwanzig Minuten überzogene Kaffeepause fiel nicht weiter ins Gewicht. Da das Amt heute am Freitag wie an drei weiteren Nachmittagen in der Woche für den Bürger geschlossen war, hatte er dann noch immer genug Zeit, der Akte des Griechen nachzuforschen. Er klatschte einmal reibend in die Hände und drückte auf einen der beiden Knöpfe vor sich auf dem Tisch. Er bewirkte, dass ein rotes 'Bitte warten!'-Signal draußen über seiner Bürotür verlöschte und dafür ein grünes 'Eintreten' erschien. Sofort wurde geklopft. Eine ältere Frau kam zögernd in den Raum. Gleichzeitig öffnete sich die Verbindungstür zu Klammers Büro und Saphers Vorgesetzter sah herein. Er wandte sich an die Besucherin:

»Würden Sie bitte so freundlich sein und noch einen kurzen Moment draußen warten? Wir sind gleich soweit. Danke.«

Die überrumpelte Frau murmelte eine verschreckte Entschuldigung und ging rückwärts wie ein Lakai hinaus. Sapher erwartete fast, sie würde sich bei ihrem Abgang verbeugen. Klammer lächelte ihr freundlich nickend zu, bis sie die Tür geschlossen hatte. Dann kam er an Saphers Tisch, setzte sich, ein paar Akten zur Seite schiebend, halb auf ihn und drückte mit dem Mittelfinger auf den zweiten Knopf, damit das Signal draußen wieder auf 'Bitte warten!' sprang.

»Ich liebe dieses Spielzeug«, bemerkte er aufgeräumt. Tatsächlich war sein Zorn verschwunden. »Ich fühle mich dann immer als eine Art von Deus ex machina. Als ich aufstieg und eine Sekretärin bekam, die meine Termine vergibt, war, was ich neben der Aussicht am meisten an meinem alten Posten vermisste, dieser kleine Kasten mit seinen Schaltern. Vielleicht sollte ich mir einen aufstellen lassen, nur so, ein Placebo als Dekoration und Beschäftigung für die Finger.« Er sah zum Fenster, das einen Blick auf einen Park freigab.

»Heute wird es wieder sehr heiß. Wenn nur die Klimaanlage besser funktionieren würde.« Smalltalk? Das entsprach doch überhaupt nicht Klammers Art.

»Was kann ich denn für Sie tun, Herr Dr.?«, fragte Sapher förmlich. Er fühlte sich belästigt und hätte seinen Vorgesetzten jetzt gerne gefragt, ob er es selbst war, der erfolglos Romane schrieb, aber dazu fehlte ihm der Mut. Klammer beulte mit der Zunge seine Backe aus, schien nach Worten zu suchen. Dann beugte er sich vertraulich nach vorn:

»Sie sehen mit sich selbst zufrieden aus, Herr Sapher. Hat also mein kleiner Auftritt gerade eben den gewünschten Erfolg gebracht? Haben Sie gemeinsam den Kopf schütteln können über Ihren leicht verrückten Dr. Klammer? Das ist Ihre erste Gemeinsamkeit. Nun«, er warf einen Blick auf die Uhrzeit, die in der unteren Ecke von Saphers Computerterminal zu sehen war, »sehr intensiv haben Sie die Gelegenheit zum Flirt aber nicht genutzt. Ich bin zwar nicht enttäuscht, weil ich mir nicht mehr Courage von Ihnen erwartet habe, aber ich finde es doch ein wenig - wie soll ich es sagen - bedauerlich?« Klammer nahm nebenzu das Bild von Saphers Frau Gitta vom Schreibtisch und sah kurz darauf. In Sapher stieg eine plötzliche hitzige Scham auf und er fühlte sich wie bei einem Seitensprung ertappt.

»Ihre Wut war nur gespielt?«, fragte er entsetzt. »Warum, in aller Welt haben Sie so ein Theater aufgeführt?«

Sein Vorgesetzter stellte den Rahmen wieder zurück, rückte ihn aufmerksam gerade und schlug sich auf die Schenkel, wieder einmal eine Frage Saphers ignorierend.

»Schönheit! Denn der Schöne, soweit man zu sehen vermag, ist schön. Doch der Gute wird gleichfalls sofort auch ein Schöner sein. Das ist erneut eine Verszeile der Sappho; auf Platons Eros vorausweisend, aber sehr idealisierend. Heute ist wohl eher das Gegenteil wahr. Frau Rothschädl ist eine ungewöhnlich schöne, dabei intelligent wirkende Frau, nicht wahr? Ist Ihnen aufgefallen, dass sie keine Ohrringe trägt, nicht einmal Löcher für welche hat? Sie ist die einzige Frau, die ich kenne, die auf diesen Schmuck verzichtet. Ich frage mich, ob eine Allergie oder eine Abneigung der Grund ist. Unsere Aphrodite Rothschädl verliert zwar etwas durch ihre zeitgenössische Frisur, aber sie kommt dem hellenischen Ideal des Wahren, Schönen und des Guten so nah, dass es einen humanistisch gebildeten Mann schaudern macht. Ihr Profil ist göttlich; sie besitzt diese seltene, samtene Haut aus Carraramarmor, dazu eine kecke eurasische Hebung der Wangenknochen, eine gerade Nase, warmes Gold in den Augen und darüber den perfekten Thalesrund der Brauen! Vor sechzig Jahren haben sich viele Frauen die Brauen rasiert, um sie mit dem Schwung, den ihr die Natur mit spielerischer Hand verliehen hat, nachzuzeichnen. Und dann der Körper dieser sylphidenhaften Märchengestalt, er ist ein Palladium des Eros, so knabenhaft und jugendlich schlank, dass er auch das Herz eines Homophilen erfreuen könnte. Dabei ist sie gleichzeitig in Hüfte und Gang eine vollkommene, eine reife Frau. Diese feste, kleine Brust, die eine Hand umfassen kann, geformt wie ein Champagnerkelch, man würde es kaum wagen, diese Knospe im Liebesspiel zu berühren, sie mit den Lippen zum Erblühen zu bringen. Wussten Sie, das sie manchmal einem Maler als Modell dient? Bei einer solchen Frau kann man den Glauben an Gottes Schöpferkraft wiedergewinnen!«, schwärmte Klammer, sich wieder einmal selbstverliebt in seine eigene Wortgewandtheit steigernd. Sapher lauschte dieser euphorischen Eloge ungeduldig und peinlich berührt. In diesem Moment schien ihm sein Vorgesetzter wie ein Faun, ein perverser, alter Mann mit schmutzigen Gedanken.

»Diesmal kommen Sie mir nicht wieder davon!«, sagte Sapher und spürte, wie er noch wütender wurde. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. »Ich will jetzt wirklich wissen, warum Sie vorhin dieses Schmierentheater für uns aufgeführt haben. Was haben Sie sich dabei gedacht? Ich frage mich, was ...«

»Haben Sie der Rothschädl erzählt, ich hätte gelogen und Sie sind überhaupt kein Dichter?«, warf Klammer ruhig ein und Sapher verstummte verwirrt. »Das habe ich mir gedacht. Sie haben also das 'Schmierentheater' fortgesetzt. Ich habe Ihnen nur die Chance gegeben, eine faszinierende Frau kennenzulernen, was Ihnen ohne meine Hilfe niemals gelungen wäre. Reicht Ihnen das nicht?«

»Nein. Einmal will ich will den Grund von Ihnen wissen. Zudem bin ich glücklich verheiratet. Ich lege keinen Wert auf die Bekanntschaft von faszinierenden Frauen!«, beharrte Sapher, obwohl er wusste, wie sehr er log. Klammer spitzte die Lippen.

»Das ist kein Gesprächsthema für die Arbeitszeit. Was machen Sie heute Abend?«

»Ich weiß nicht ...«, erwiderte Sapher überrascht.

»Aber ich. Wir gehen zusammen essen. Ich hole Sie um halb Acht in Ihrer Wohnung ab. Ich kenne ein nettes Lokal in der Innenstadt, dort isst man ausgezeichnet und wir können über alles in Ruhe reden und Ihren unnötigen Zorn aus der Welt schaffen. Freilich haben Sie recht, wir sollten für klare Verhältnisse sorgen, denn ein Streit würde nur das Klima vergiften. Schließlich müssen wir tagtäglich miteinander auskommen. Aber jetzt sollten wir wieder an die Arbeit gehen, sonst wird es wirklich zu spät. Wir wollen ja nicht, dass sich jemand beklagt. Auch das hoffnungsvollste Warten kann einmal zu lang werden. Alles ist nur eine Zeitlang schön, pflegte mein Vater immer zu sagen; wie recht er doch hatte! Diesen Satz hatte er nämlich auch auf den Lippen, als er starb. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ihn der Stich einer Biene tötete? - eine Insektenallergie, sie verstehen schon. So ein kleiner, unscheinbarer Stachel kann einen gesunden, starken Menschen töten. Welch ein poetisches Ende für ein prosaisches Leben wie das seine! Die Biene hat es übrigens auch nicht überlebt.« Der überrumpelte Sapher wusste nicht, ob er lachen sollte, aber Klammer erwartete von ihm offenbar keine Reaktion. Der Dr. drückte mit einem halben Lächeln auf den Einlassknopf, dann sprang mit einer agilen Wendigkeit, die in seinem Alter überraschte und auf häufige sportliche Betätigung hinwies, vom Schreibtisch.

»Also, bis halb Acht. Sie wohnen doch noch immer draußen in der Provinz, hinter Diedorf, in ... wie hieß das Nest gleich ... Anhausen?« Sapher nickte ergeben und Klammer verließ pfeifend den Raum. Geschäftig kam die ältere Frau wieder herein und Sapher drehte sich in seinem Stuhl zu ihr.


Sapher gab seinen Benutzerschlüssel auf der Tastatur ein. Dann legte er die Papiere mit dem Schriftbild nach unten in die für sie vorgesehene Vertiefung an der Oberseite des Kopierers und drückte die grüne Taste nieder. Das Gerät gab ein rasselndes, wie atmendes Geräusch von sich und begann, die Vorlagen zu schlucken. Kurze, grelle Lichtblitze leuchten durch den Schlitz der Abdeckung auf. Der Beamte sah sich verstohlen um, war sich aber schon sicher, dass er bei seiner Tat nicht ertappt werden würde. Die ersten Kopien landeten im Auswurf. Er nahm eines der vervielfältigten, noch warmen Blätter in die Hand und sah darauf.

Dr. Werner Hesz, stand dort maschinengeschrieben, sprich: Hätsch mit kurzem ä; le roi de solei. Er ist der falsche Mann am falschen Ort, besitzt aber das richtige Parteibuch. Er ist das klassische Paradigma, wie man sich durch die Duz-Freundschaft mit für einen wichtigen Stadträten und durch das Delegieren sämtlicher Aufgaben seines Amtes auf einem Posten hält, für den man denkbar ungeeignet ist. Hesz hat es trotz seiner bemerkenswerten Dummheit geschafft, diese höchstbezahlte, kündigungssichere Stellung zu erreichen, womit einmal mehr bewiesen wäre, dass Intelligenz im Staatsdienst eher hinderlich ist. Die nur durch sein Missmanagement und seinen Nepotismus verursachten Ausgaben kosten die öffentliche Hand m. E. jährlich eine halbe Million Mark. Über das schmuddelige und abstoßende private Leben dieses alternden Hulot, dem jede Schandtat zuzutrauen ist, sei der gnädige Mantel des Schweigens gelegt. Vielleicht wäre etwas mit seinem drogensüchtigen Sohn Siegfried zu beginnen.

Sapher ballte eine Hand zur triumphierenden Faust und die fast unbezähmbare Lust, lauthals zu lachen, stieg in ihm hoch. Dr. Werner Hesz war der Direktor der Behörde. Endlich, dachte er, habe ich etwas gegen Klammer in der Hand. Das kann diesem aalglatten Menschen das Genick brechen. Von nun an wird er vorsichtiger sein müssen, wenn er mit mir seine Spiele macht. Welch ein glückliches Schicksal hatte ihm diese Papiere in die Hände gespielt? Sapher wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte sich erneut um.

An den Nachmittagen im Sommer wurde es im Amt trotz der überall herabgelassenen Jalousien fast unerträglich stickig. Die meisten Fenster von Saphers Abteilung zeigten fast genau nach Süden und waren wegen der hoffnungslos überlasteten Klimaanlage nicht zu öffnen. Von Stockwerk zu Stockwerk stieg die staubige Wärme, die anstelle einer Kühlung in die engen Räume geblasen wurde; und Sapher saß im zehnten, direkt unter den kupfernen Dachschrägen, die sich an wolkenlosen Sommertagen unter der direkten Sonneneinstrahlung wie eine Herdplatte erhitzten und nicht gerade zur Klimaverbesserung beitrugen.

Sapher, der sich längst mit der Saunahitze seines Arbeitsplatzes abgefunden hatte, versuchte so gut es ihm eben gelang, sich mit ihr zu arrangieren: Er trug unter seinem Jackett, das er mittags auszog und in den Schrank hängte, dünne, kurzarmige Hemden, dazu helle, leichte Stoffhosen, die dennoch nach einer Weile verschwitzt am Leder seines Stuhles haften blieben, und keine Socken in den Schuhen. Er hatte einen kleinen, batteriebetriebenen Ventilator vor sich auf dem Tisch stehen, der jedoch nur die warme Luft in Bewegung hielt, ohne allzu viel Erleichterung zu schaffen. Nachmittags um drei, wenn die angestaute, knochentrockene Hitze in dem Büro ihren Höhepunkt erreichte und Sapher deshalb regelmäßig stechende Kopf- und Halsschmerzen quälten, sein Arbeitseifer fast völlig zum Erliegen kam und er begann, immer häufiger auf die Uhr zu sehen, deren Zahlen sich nur langsam dem Feierabend näherten, dann stand er in seinem Schweiß, der scharf roch und einen breiten, feuchten und dunklen Streifen auf dem Rücken seines Hemds bildete.

In diesem Sommer war die Hitze noch weitaus schlimmer als in den Jahren zuvor: Ein konstantes Azorenhoch sorgte seit nun nahezu drei Wochen für rekordverdächtige Mittagstemperaturen von über dreißig Grad, die das Leben nur in einem Freibad oder einer Kühltruhe ertragbar machten. Der veraltete Personalcomputer auf Saphers Tisch war so überhitzt, dass man an der Netzseite der Systemeinheit, wo sich eine Lüftung vergebens bemühte, Spiegeleier hätte braten können und sich die Systemabstürze des ohnehin überlasteten Netzwerkes häuften. Das war besonders ärgerlich, wenn Sapher nachmittags noch Briefe oder Berichte zu schreiben hatte. Zwar hatte er sich angewöhnt, seine Arbeiten in kurzen Intervallen zu speichern, wurde aber trotzdem immer wieder von den Zusammenbrüchen überrascht. Diese Sisyphos-Vergeblichkeit seines Mühens hatte ihn schon in so heftige Wutausbrüche getrieben, dass die halbe Abteilung bei ihm zusammengelaufen war. Klammer schüttelte dann immer mitleidig den Kopf und versprach ihm für das nächste Halbjahr einen Pentium, der dann aber wegen der knappen Budgetdecke doch nicht angeschafft wurde. Der Dr.'selbst verweigerte sich übrigens der Computertechnik; er diktierte seiner Sekretärin oder schrieb auf einer elektrischen Schreibmaschine, die fast schon Museumswert hatte.

Sapher verfluchte täglich, dass er seinen Jahresurlaub schon zu Ostern verbraucht hatte. Die Arbeitstage im Amt waren eine Qual. Zwar teilte er dieses Leid mit allen, deren Zimmer nach Süden ausgerichtet waren, aber diese Erkenntnis half nur wenig, die Hundstage zu überstehen.

Heute war es jedoch ein wenig besser gewesen, da er die erste Stunde seines am Freitag nicht langen Nachmittags im angenehm kühlen Kellerarchiv der Behörde verbracht hatte, um nach der Akte des Herrn Katasakinthokiakis zu suchen. Wie er schon erwartet hatte, hatte er vergeblich geforscht. Er hatte nur die Unterlagen über einen gewissen Konstantin Papadopoulos Kavafis aus dem letzten Jahr finden können. Der hatte zwar am gleichen Tag wie der Grieche der Rothschädl Geburtstag, allerdings war er in einer anderen Stadt - nämlich in dem ägyptischen Alexandria - geboren. Sapher hatte damals den Fall bearbeitet, das sah er an seiner Unterschrift. Aber er konnte sich aber jenes Mannes nicht mehr entsinnen. Der war anhand seiner Akte auch nur ein einziges Mal in seinem Büro gewesen und hatte sich dann nie wieder gemeldet. Ein Brief, den ihm Sapher daraufhin geschickt hatte, war zurückgekommen. Die Adresse stimmte nicht, ein Mann mit diesem Namen schien laut Einwohnermeldeamt auch gar nicht zu existieren: Fall abgeschlossen. Dass jemand mit einem angenommenen Namen in der Behörde erschien, kam nicht allzu oft vor, war aber auch nicht ungewöhnlich. Es war deshalb seit einiger Zeit im Gespräch, Ratsuchenden nur mehr gegen die Vorlage ihres Ausweises Informationen zu gewähren.

Sapher hatte die Akte nicht mit nach oben genommen, weil er glaubte, dass die beiden ein und dieselbe Person waren, das war trotz des Zufalls des identischen Geburtstages eher unwahrscheinlich. Aber mit dem Schriftstück hatte er einen Grund, die Rothschädl aufzusuchen und ihr nicht nur einen abschlägigen Bescheid per Telefon geben zu müssen.

Als der Beamte dann in sein Zimmer zurückgekehrt war, war ihm, als würde er gegen eine Wand aus Hitze und Bürogerüchen rennen. Sofort schoss ihm Schweiß aus allen Poren. Er versperrte hinter sich die Tür, dann hob er den Arm und schnüffelte, den Kopf senkend, an seiner Achsel. An Tagen wie diesem schaffte es sein Deodorant nur bis Mittag und ein dunkler, feuchter Fleck bildete sich auch schon an seinem Hemd. Kritischer als sonst fühlte er sich unsauber. In seinem augenblicklichen Zustand konnte er unmöglich die Rothschädl aufsuchen, die ihm heute einfach nicht aus dem Kopf wollte. Aber er wusste einen Abweg. Für den Fall, dass er nachmittags zu einem Vorgesetzten oder Kollegen musste oder seine Frau ihn nach der Arbeit abholte, hatte er sich vorbereitet: Es war immer einen Deostift und ein frisches Hemd im Schrank. Klammer, der wie Immanuel Kant, dessen robuste Gesundheit er besaß, niemals schwitzte, ganz, als habe er keine Schweißdrüsen, hatte in seinem Büro hinter einer spanischen Wand ein kleines Waschbecken, das Sapher benutzen konnte. Der Dr. war heute den ganzen Nachmittag auf einer Besprechung und hatte seine Vorzimmerdame zum Stenographieren mitgenommen. Sapher hatte schon ab und an, wenn sich Klammer nicht in seinem Büro aufhielt, diese Waschgelegenheit benutzt, um sich zu erfrischen. Dort war hier weitaus angenehmer als in den Toiletten der Behörde, die auch vom Publikum besucht wurden.

Sapher nahm deshalb Hemd und Deo und trat durch die Verbindungstür in Klammers Reich. Hier war es ein wenig kühler, weil die Fenster nach Osten zeigten, allerdings an einem Hitzetag wie dem heutigen nur unwesentlich. Es herrschte die abgestandene, traumwandlerische Ruhe eines leeren, staubigen Zimmers im Sommer und obwohl es ein Büro wie jedes war, war es doch geprägt von Klammers Persönlichkeit, die so stark war, dass sie sogar auf Möbelstücke seines täglichen Umgangs abfärbte. Sapher spürte seine Nähe, obwohl der Dr. nicht da war. Der leere Ledersessel verriet die Formen von Klammers Körper, die Möbel atmeten einen nicht unangenehmen Sandelholzgeruch, der von ihrem jahrelangen Kontakt mit Klammers After-Shave zeugte und das Zimmer deshalb vom üblichen Aktendeckelmief der restlichen Räumlichkeiten der Behörde ausnahm. Als einziges Einrichtungsstück, das nicht vom Staat gestellt war, hing ein unattraktives, düsteres, aber wertvolles Ölgemälde des vor ein paar Jahren durch seinen spektakulären Mord an dem damaligen städtischen Kulturreferenten Pauli zur lokalen Berühmtheit gewordenen Malers Jochen Nix an der Wand. Aus einigen Bemerkungen Klammers schloss Sapher, dass er Nix vor dessen Tat persönlich gekannt hatte und dieses Bild ein Geschenk des geistesgestörten Künstlers war.

Sapher wusch sich rasch und zog sich um. Als er zufrieden mit seinem wiederhergestellten Erscheinungsbild und bereits am Hinausgehen war, ließ ihn eine kleine Veränderung der normalen Ordnung des Raumes, die ihm beim Eintreten entgangen war, stutzen. Der niedrige, fahrbare Rollschrank Klammers stand nahe beim Sessel und war halb geöffnet. Sapher hatte dieses Möbelstück bislang immer gut verschlossen gesehen und angenommen, dass sein Vorgesetzter in ihm Dinge bewahrte, die privater Natur waren. Es sah Klammer eigentlich nicht ähnlich, zu vergessen, diesen Schrank zu schließen. Er hatte Sapher gegenüber noch nie eine Gedankenlosigkeit offenbart, aber ausgerechnet heute war es schließlich doch geschehen.

Es waren in dem Spalt, den der Schrank offenstand, einige gebundene Bücher, Schnellordner und eine Flasche Cognac zu sehen. Sapher lauschte kurz. Alles war still, nur der Wasserhahn hinter der spanischen Wand tropfte. Klammers Rückkehr war nicht zu erwarten. Er hatte seine abgegriffene, graue Aktentasche mit sich genommen und erfahrungsgemäß würde er nach der Besprechung, die sich bis in die Abendstunden dehnen würde, sofort in den Feierabend gehen. Vielleicht, so hoffte Sapher wenigstens, wurde dadurch die ihm unangenehme Verabredung für den Abend unmöglich. Jemand anderes würde ebenfalls nicht in das Büro kommen, da die Tür zum Zimmer der Sekretärin, neben der Verbindung zu Sapher der einzige Weg hinein, gewohnheitsmäßig verschlossen wurde, wenn Klammer nicht da war. Falls die Vorzimmerdame überraschend zurückkehrte, würde Sapher sie hören und konnte rechtzeitig das Büro seines Vorgesetzten verlassen. Mit Kribbeln im Bauch trat der Beamte näher an den Schrank und besah sich den Inhalt genauer. Das Bewusstsein, etwas Unerlaubtes zu tun, kitzelte ihn wie ein Kind, das heimlich Bonbons nascht.

Klammer weiß so viel von mir, dachte er, und ich praktisch nichts von ihm. Hätte er heute früh nicht diese Komödie mit mir gespielt, hätte ich jetzt sicher kein Interesse. So aber zwingt er mich, meine Position zu ihm zu verbessern und mir ein paar Trümpfe zu besorgen, versuchte Sapher sich selbst von der Rechtmäßigkeit seiner Neugier zu überzeugen. Es gelang ihm nicht ganz. Er wusste sehr genau, dass ihm verboten war, von diesem Baum der Erkenntnis zu kosten, seine Eltern hatten für ein entsprechend engmaschiges Gewissensnetz gesorgt. Trotzdem begann er, den Inhalt des Schranks einer peinlich genauen Untersuchung zu unterwerfen. Schon als Kind war Saphers Neugier stärker gewesen als seine Gewissensbisse und er hatte sich brennend für das Innere der Schränke und Schubladen anderer Leute interessiert und die seiner Eltern waren ständigen heimlichen Durchstöberungen ausgesetzt. Sie hatten ihn auch mehrmals dabei erwischt, dass er ihr Schlafzimmer auf den Kopf stellte und dabei Dinge zu Tage förderte, die zwar seine Phantasie anregten, aber natürlich nichts für ihn waren. Obgleich Sapher heutzutage nur mehr selten etwas Bemerkenswertes entdeckte, war es doch die Regel, dass er, wenn er bei Freunden oder Bekannten war, nebenzu in deren Schränke spähte, wenn sie ihn allein ließen oder er die Toilette aufsuchte. Welche psychologischen Gründe hinter diesem Verhalten steckten, hätte er nicht zu sagen vermocht und er wollte sie auch nicht kennen.

Leider waren die Gegenstände, auf die er in dem offenliegenden Regal stieß, enttäuschend. Die Bücher waren juristische und volkswirtschaftliche Werke, wahrscheinlich der Stadtbibliothek entliehen. In den Heftern ruhten alte, verblichene Berichte aus Klammers Zeit als Sachbearbeiter, die er aus für Sapher unerfindlichen Gründen an diesem Ort aufbewahrte, statt sie dem Reißwolf oder dem Archiv anzuvertrauen. Auch die halbleere Schnapsflasche war nicht weiter bemerkenswert, sondern trotz des Alkoholverbots in der Behörde ein alltäglicher Anblick. Das Glas, das neben dem Cognac stand, war unbenutzt. Sapher kannte die Flasche, sie kam zum Vorschein, wenn jemand in der Abteilung Geburtstag hatte oder ein Jubiläum feierte. Er hätte sich den Dr. auch nur schwer als heimlichen Säufer vorstellen können.

Einen Moment zögerte Sapher, dann schob er den Schrank ganz auf. Er erschrak über den Anblick, der sich ihm bot, so heftig, dass ihm das Herz bis zum Hals schlug. Da lagen ein Ordner, der in Klammers Handschrift mit Beurteilungen betitelt war - und eine automatische Pistole! Nach dem ersten Schock über den unvermuteten Anblick einer Schusswaffe stellte Sapher allerdings fest, als er sie schließlich zitternd und übervorsichtig in die Hand nahm, dass es sich nur um eine täuschend echt nachgeahmte, grau-metallen glänzende Wasserpistole handelte, die aus dem Lauf tropfte. Weshalb der Dr.'solch ein Spielzeug im Schrank hatte, noch dazu mit Wasser gefüllt, war ihm ein weiteres in der langen Reihe der Rätsel, die Klammer umgaben. Sapher legte das Waffenimitat irritiert zur Seite und nahm den Ordner, blätterte ihn auf.

Dies war nun wirklich ein bemerkenswerter Fund! Klammer hatte hier kurze Aufzeichnungen über viele Beamte der Behörde gesammelt und es waren - soweit Sapher beim ersten oberflächlichen Überlesen erkennen konnte - bissige, teilweise boshafte, aber immer zutreffende Beurteilungen, die, wenn sie bei den Beschriebenen Bekanntheit erlangt hätten, einiges Aufsehen erregen und bedeutenden Ärger für Klammer darstellen würden. Natürlich suchte Sapher zuerst nach sich selbst, fand jedoch nur ein beinahe leeres Blatt, das als einzige Eintragung seinen einmal unterstrichenen Namen und dahinter ein Fragezeichen aufwies. Bereits die nächste Seite barg einen Absatz über die Rothschädl. Aufgeregt setzte sich Sapher in Klammers Besucherstuhl und las.

Eva Rothschädl, stand dort, dann ein Ausrufezeichen, seit knapp zwei Jahren im Amt, Mitte zwanzig, als 'Simone' geeignet. Sie ist immer auf dem Weg nach oben, denn sie ist fleißig, gut erzogen, wortgewandt und karrieresüchtig. Da sie aber noch jung und dazu eine Frau ist, bleiben ihr einige Türen verschlossen und sie müht sich häufig im Leerlauf um ihren Aufstieg. Auch ihre außerordentliche Attraktivität ist eher ein Hindernis. Sie ist leicht aufbrausend und reizbar, aber selten auf Dauer beleidigt. Sie spielt gern und ist unter Berücksichtigung aller Dinge, die ich von ihr weiß, als Muse begabt. Ihr Eifer ist in der Behörde fehlgeleitet. Ich habe sie deshalb Sontheimer vorgestellt und er hat Gefallen an ihr gefunden, denn er sammelt begeistert Frauen ihrer Art.

Sontheimer? Sapher überlegte. Sontheimer. Ihm war, als müsse ihm dieser Name etwas sagen. Ein Beamter vielleicht? Nein, er kam jetzt nicht darauf, in welchem Zusammenhang er den Namen schon einmal gehört hatte. Vielleicht fiel es ihm später wieder ein, wenn er Ruhe zum Nachdenken hatte. Er senkte den Blick wieder auf den maschinengeschriebenen Text. In diesem Moment ging in seinem Büro das Telefon. Er hörte das Klingeln deutlich durch die nur angelehnte Tür. Trotzdem erschrak er, als wäre er bei seinem verbotenen Blick in Klammers Unterlagen ertappt worden. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Natürlich hätte er gerne weitergelesen, der Text über Eva war noch ein paar Sätze länger, aber der Anruf war sicher wichtig. Also rannte er doch in sein Zimmer, stürzte ans Telefon und meldete sich atemlos. Seine Frau war am Apparat.

»Das hat ja gedauert«, sagte sie statt einer Begrüßung. Erleichtert ließ sich Sapher in seinen Drehstuhl fallen. Er hielt noch immer Klammers Ordner in der Hand. Schuldbewusst schob er ihn eilig in die Ablage unter seinem Schreibtisch. Er mahnte sich innerlich zur Ruhe.

»Ich war nicht im Zimmer. Worum geht’s?«, fragte er und zwang sich zu einem oberflächlichen, gutgelaunten Gesprächston. Er gelang ihm nur unzureichend und Gitta, die jede seiner Stimmungen genau kannte, fühlte es sofort.

»Was hast du, wieder einmal Ärger mit deinem Chef?«

»Ich? Nein. Alles ist ruhig hier. Jeder wartet auf das Wochenende. Nur die Hitze macht mich müde«, rechtfertigte er sich. Obwohl seiner Frau anzuhören war, dass sie seiner Ausflucht keinen Glauben schenkte, ging sie auf ihn ein.

»Ja, heute ist es wieder schlimm, es wird jeden Tag heißer. Hoffentlich kommt bald mal ein Gewitter. Aber ich rufe dich nur an, weil ich dich später abholen will. Ich bin mittags in der Stadt geblieben und telefoniere aus einem Café. Wann machst du heute Feierabend? Wenn es nicht zu spät wird, könnten wir noch fürs Wochenende zum Einkaufen fahren - wir brauchen Getränke und Brot.«

»Wahrscheinlich kann ich heute pünktlich Schluss machen. Klammer ist in einer Besprechung. Ich denke, ich bin kurz nach halb vier am Parkplatz.« Gitta arbeitete seit ein paar Monaten halbtags als Verkäuferin in einer kleinen Boutique in der Innenstadt und es kam häufig vor, dass die beiden gemeinsam nach Hause fuhren, da sie nur ein Auto besaßen, das in der Regel er benutzte, weil die Verkehrsverbindung nach Anhausen am Abend denkbar schlecht war.

»Prima, bis später dann. Ich liebe dich«, sagte Gitta und unterbrach das Gespräch abrupt, bevor Sapher etwas erwidern konnte.

»Ich dich auch ...« Er sah abgelenkt in den leeren Raum und legte den Hörer auf die Gabel. Anschließend nahm er den Ordner wieder in die Hand und stand auf, um ihn im ersten Impuls der Scham zurückzulegen. Dann aber holte er die etwa dreißig losen Blätter aus ihrer Aktenhülle, die er wieder unter seinen Tisch legte, rollte sie und verließ sein Büro. Er schlenderte um ein gleichgültiges Aussehen bemüht links den Gang hinab, wo in einer kleinen Nische ein viel benutztes Kopiergerät stand. Er musste warten, weil ein Kollege vor ihm einige Unterlagen duplizierte, war aber gelassen und selbstsicher genug, um mit ihm ein alltägliches Gespräch zu führen und über einen Scherz zu lachen.

Zehn Minuten später war alles geschafft: Klammers Original lag in dem Regal, in dem Sapher es gefunden hatte, die Wasserpistole oben drauf. Der Schrank war wieder in der alten Weise halb geschlossen und die Raubkopie bewahrte der Beamte in seiner Aktenmappe auf. Er sah auf die Uhr, es war kurz vor drei. Er roch erneut nach Schweiß. Dass er heute noch zu Eva ging, war ausgeschlossen; der Montagmorgen wäre auch viel günstiger. Eifrig begann er, sich den kurzen Rest der Arbeitszeit damit zu vertreiben, seine Post zu bearbeiten.

Nutzlose Menschen - Teil 1

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