Читать книгу Dr. Geltsamers erinnerte Memoiren - Teil 1 - Nikolaus Klammer - Страница 5

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DER BEGINN


Man darf der Wirklichkeit nicht gestatten, sich zwischen die Fiktion zu drängen. Ihr raues, ungeschminktes Gesicht führt geschwinde alles Geschriebene, jedes Gedicht und jeden Text ad absurdum, entlarvt und zerstört das fadendünne Netz der Einbildung. Zurück bleiben nur Unsicherheit und jene eine Frage, die sich die Fiktion wahrhaftig zu erwidern anschickte und von der mir nun die Wirklichkeit vorgaukelt, ich hätte nur Lügen und Beschwichtigungen zur Antwort bekommen. Nein, jede kleine Pause im Schreiben – das Zucken eines Lids, ein stockendes Atemholen zwischen zwei Wörtern oder ein zitterndes Abrutschen der ermüdeten Finger von der Tastatur – reißt eine Kluft, macht den Text sinnleer und wertlos. Es ist vergebliche Mühe ihn fortzusetzen; er wurde für den Papierkorb geschrieben. Allzu oft habe ich in gesundem, kräftigem Schritt und voller Hoffnung begonnen, habe ich die ersten Seiten meines Notizbuches mit zügiger, dem Gedankenstrom gerade noch eben hinterher hinkender, nur mir selbst lesbarer Schrift gefüllt. Nur allzu oft.

Aber dann scheiterte ich mittendrin durch einen plötzlichen, banalen Zugriff der Realität. Manchmal war es ein unbekämpfbares und unüberwindbares, ein primäres Bedürfnis des Körpers wie Hunger, Schlaf, Harndrang, Juckreiz - mal eine überraschende Störung von außen, ein Läuten an der Tür, ein Windstoß, eine banale Einmischung meiner Frau, das Weinen eines der Kinder. Noch häufiger allerdings erfasste mich ein amorphes, nicht näher erklärbares Zögern voller Furcht vor der Vielzahl der noch nicht beschriebenen Seiten, ein nur für Autoren verständlicher horror vacui, verbunden mit hoffnungsloser Einsamkeit und einer unbezähmbaren Sehnsucht nach Gesellschaft; mich überwältigte ein feiges Zurückschrecken vor der Übermacht der Fiktion - die Angst, mich in ihr für immer zu verlieren. Hat nicht Tschaikowsky irgendwo in seinem Briefwechsel mit Nadeshda von Meck davon geschrieben, man solle unter Menschen gehen, wenn man die Einsamkeit in sich selbst nicht mehr ertragen könne? Dann wäre man zwar selbst in der Menge eines Fußballstadions noch immer allein, aber nicht mehr allein einsam.

Und der schlimmste Gedanke erscheint wie immer zum Schluss: Plötzlich steht zwischen mir und dem Text die Angst, die Fiktion könnte mein Leben übernehmen, ich müsste mich unwiderruflich zwischen dem Schreiben und dem Leben entscheiden und würde zwischen diesen schmackhaften Heuhaufen wie Buridans Esel verhungern. Vielleicht hilft den meisten Schriftstellern deshalb nur die Flucht in den Rausch und in moralische Verantwortungslosigkeit.

Das waren die larmoyanten und gleichzeitig selbstzufriedenen Gedanken des Augsburger Autors Nikolaus Klammer, während er mit dem kleinen Hund seiner Frau Irene den täglichen Verdauungsspaziergang von Mensch und Tier durch das Gässchengewirr der Altstadt seines südbayerischen Heimatortes ging. Heute hatte er den Weg etwas ausgedehnt und um ein paar Umwege verlängert. Es war ihm angenehm, mit Cicero – so hieß der lebhafte, kurzhaarige Terrier - im für diese Jahreszeit außergewöhnlich milden, nach Sommer riechenden, Frühlingssonnenschein durch die engen und verwinkelten Gassen zu schlendern, den abenteuerlustigen Hund in den Anlagen am Dom schnüffeln zu lassen und ab und an mit ihm gemeinsam selbstzufrieden in einem Flecken Sonne zu verharren und lächelnd oder hechelnd in die Wärme zu blinzeln. Es herrschte ein unzeitgemäßes Wetter, das die Stadt allein einem mächtigen, vom Süden her wehenden Föhnwind verdankte, der warm von den nahen Alpengipfeln herab blies und verspielt hastige Wolkenfedern über den hellblauen Himmel trieb. Ins Wolkenkuckucksheim seiner für Nichtautoren recht absonderlichen und kaum nachvollziehbaren Gedanken versunken, war der Autor von seiner üblichen Route abgebogen und hatte sich vom begeisterten Cicero durch schmale Durchgänge, über kleine Brücken, gepflasterte Bürgersteige und enge, zu den Kanälen hin absteigende Gässchen in das verwirrende Labyrinth der Unterstadt ziehen lassen; Wege, die er nur mehr selten ging, seit er ein kleines Reihenhaus in einem Vorort besaß. Bald war er in ein Viertel gelangt, das er seit Ewigkeiten nicht mehr betreten hatte und das ihm fremd und unvertraut war, als ob es in einer anderen, ihm unbekannten Stadt läge. Hier hatte die in den letzten Jahren erfolgte Gentrifizierung vieles verändert und manches Liebgewonnene, das er von früher kannte, verschwinden lassen.

Jetzt verzögerte der Autor unwillkürlich seinen Schritt vor einem Schaufenster, das mumifizierte Bücherleichen in glänzenden, schreiend bunten Schutzumschlägen zu Stapeln aufgebahrt für eine nekro-bibliophile Käuferschicht anbot. Es war die leicht staubige Auslage eines Geschäfts, das wahrscheinlich Buchhandlung und Antiquariat in einem war. Obwohl alles vertraut und alteingesessen wirkte, als stünde der Laden schon immer an diesem Ort, musste er doch erst kürzlich neu eröffnet worden sein, denn der Autor hatte ihn noch nie bemerkt. Er musterte die Auslage. An exponierter Stelle und hoffnungslos überteuert stand ihm ein dicker, gebundener Band völlig ohne Stütze trotzig aufrecht gegenüber wie David vor Goliath. Nur war der letztere durch eine große Standpappe ersetzt, die zur Verblüffung des Autors sein eigenes, im schwarz-weißen Kontrast schmeichelhaft junges und ernstes Abbild zeigte. Er konnte sich nicht erinnern, wann diese Aufnahme von ihm gemacht worden war. Er vermutete, dass sie schon älter war, denn er erkannte nicht einmal das Hemd, das er auf dem Foto trug.

Darunter las er:

EIN SCHRIFTSTELLER

AUS UNSERER STADT


Nikolaus Klammer zog den Hund, der unbekümmert weiter wollte, an der Leine zu sich heran. Man machte also Werbung für ihn. Wie schön, das konnte ihm nur recht sein. Und welches seiner Bücher wurde denn da beworben? Vielleicht sein nagelneuer Traumroman, mit dem er erneut in die Top-Ten der Spiegel-Bestsellerliste vorzudringen hoffte? Oder doch eher sein berühmter Schlüsselroman über die bestechlichen Kulturbonzen seiner Stadt? Er konnte sich an keine Marketingaktion seines Verlages erinnern. Aber wie wundervoll machte sich sein in markante Kapitälchen gesetzter Name dort auf dem Buch, in hellem Neonblau auf mattschwarzem Grund: Er wirkte überaus elegant und kraftvoll, auf nicht näher differenzierbare Weise auch erotisch, schmeichelnd - verführerisch. Er las sein Pseudonym leise vom Bucheinschlag ab, versuchte nur für sich die fast schon lyrischen Silben auf den Lippen zu schmecken, die er sich vor vielen Jahren für seinen Autorennamen ausgesucht hatte und er genoss den musikalischen, ein wenig archaischen Klang.

Doch dann verharrte er - wie Lots Frau zur Salzsäule erstarrt: Unter seinem Namen auf dem einfarbig schwarzen Bucheinschlag, den noch ein farbenfrohes Gemälde zierte, entdeckte er endlich auch den Titel des Buchs. Tief im Unterleib bewegte sich nun ruckartig etwas, rutschte hinab und stieg kurz darauf gurgelnd und sauer die Speiseröhre empor. Er hätte sich jetzt gerne hingesetzt, zumindest irgendwo festgehalten, doch der halb aufgeplatzte, mit Graffiti und anderen undefinierbaren Flecken verschmutzte Rauputz der Mauer, die das Schaufenster gleichgültig einrahmte, erschien ihm nicht vertrauenswürdig genug, um seine zarten Schriftstellerhände gegen sie zu lehnen.

Seit wann kann sein, was nicht sein darf?, fragte sich der Autor und befreite sich aus der Lähmung, die ihn hatte erstarren lassen. Er schluckte sein plötzliches Sodbrennen und beugte sich nach vorn, näher heran zu dieser seltsamen Entdeckung, die ihm die Haare im Nacken sträubte. Seine Nase wurde durch das unnachgiebige Glas des Schaufensters gebremst. Ein Fettfleck blieb von der flüchtigen, kalten und ungewollten Berührung. Er richtete sich auf.

Was überrascht mich so? Das ist nur ein Buch in einer Auslage. Es trägt meinen Namen. Nun, ich bin Schriftsteller und schreibe Bücher; wenn ich sie vollende, was eher selten geschieht, veröffentlicht mein Verleger Welkenbaum sie auch. Und freilich verkaufe ich mich in meiner Heimatstadt am besten, hier bin ich beliebt und bekannt, meine Person geschätzt. Meine barocke, adjektivreiche und ausufernd elegante Prosa ist ein Steinchen im Mosaik, das die Kultur der Stadt bildet. Nichts Erstaunliches also, wenn eine Augsburger Buchhandlung eines meiner Werke in den Mittelpunkt ihrer Auslage rückt und mit einem Pappschild viel zu aufdringlich dafür Werbung macht, dachte der Autor, sprach sich selbst Beruhigung zu. Doch sein hämmernder Puls ließ sich nicht durch solche Gedanken beruhigen.

Ein bohrendes Unbehagen blieb allerdings in seiner Brust zurück und es wuchs, versendete kleine, prickelnde Schmerzen in den ganzen Körper. Der Autor schüttelte den Kopf und las zum zweiten Mal den Titel des Werkes, das vorgab, eines von ihm zu sein - einen im Übrigen absolut sinnlosen Titel, der ihm vollkommen fremd und unbekannt war und den er niemals für einen Roman gewählt hätte. Wie war das nur möglich? Hier stand doch tatsächlich ein Buch, das er nicht geschrieben hatte und das dennoch seinen Namen auf dem Cover trug. Der Titel lautete:

NIKOLAUS KLAMMER


DR. GELTSAMERS

ERINNERTE MEMOIREN


Auf dem Umschlag war zudem ein seltsames, recht naiv ausgeführtes und übertrieben buntes Gemälde zu sehen, auf dem ein römischer (?) Soldat in einer mittelalterlichen Szenerie mit seinem Schwert ein großes Ei bedrohte. Vielleicht wollte er es braten, denn im Hintergrund brannte in einem offenen Kamin ein qualmendes Feuer. Unter dem merkwürdigen Bild stand in Großbuchstaben kursiv und in Anführungszeichen geschrieben:

„EIN PHANTASTISCHER ROMAN“


Was für ein Unfug, dachte der Autor kopfschüttelnd, während er seine Lesebrille aus der Manteltasche fischte, sie umständlich auseinanderklappte und sie sich ganz weit vorne auf die Nase setzte, da hat mal wieder ein Setzer geschlafen: Entweder benütze ich Großschreibung oder Gänsefüßchen oder Kursive, alles gemeinsam ist ein dreifaches Oxymoron! Dilettanten! Sein Kopf rückte erneut gleich dem eines Raubvogels bei der Attacke nach vorne. Diesmal hielt er allerdings mit seiner scharfen Nase vom Glas der Schaufensterscheibe einen respektvollen Abstand.

Aber mehr konnte er nicht mehr entdecken. Auch sein bei allen seinen Kritikern und übrigens auch Freunden gefürchteter, sezierender und arrogant wirkender Blick durch die Brille offenbarte ihm nicht die Lösung dieses Rätsels. Den Namen seines Verlages oder irgendeines anderen Herausgebers suchte er auf dem Cover übrigens vergebens. Nur ganz unten war ein kleines, in Brauntönen gehaltenes Bildchen abgedruckt, das er auf die Entfernung nicht genau einschätzen konnte – es war jedoch auf keinen Fall das Symbol eines ihm bekannten Verlags. Der Autor sann nach: Nein, einen Roman mit solch einem ungewöhnlichen Titel hatte er nie geschrieben, nicht einmal angedacht. Da hatte er ein reines Gewissen. Kein Roman, der DR. GELTSAMERS ERINNERTE MEMOIREN hieß, würde je seine Werkstatt verlassen. Und überhaupt: Erinnerte Memoiren? Was sollte das denn für ein Unfug sein? Noch ein weiterer Weißer Schimmel?

Geltsamer, dachte er weiter. Dr. Geltsamer. Was ist das denn eigentlich für ein Name? Einen solchen Dr. hatte er nie erfunden, ganz sicher nicht - auch nicht für eine seiner längst vergessenen vielen Kurzgeschichten, mit denen er in einen Anfängen als Autor seinen Stil eingeübt hatte. Klammer war kein Freund von sprechenden, augenzwinkernden, in diesem Fall dem Leser mit einem Zaunpfahl zuwinkenden Namen. Geltsamer – Seltsamer. Das lag auf der Hand und wog viel zu schwer. Niemals hätte er eine Figur Stiller oder Loman, Keuner oder gar Binderseil genannt. Das war ihm zu billig. Und sein Verleger hätte ihn informiert, wenn er eines seiner alten Werke unter einem neuen Titel wieder aufgelegt hätte; wozu der Verlag übrigens die Einwilligung des Autors einholen musste – was er eben nicht getan hatte. Schließlich: Der Autor schrieb keine „phantastischen“ Romane; er war keiner dieser Genre-Unterhaltungsschriftsteller, die über das Liebesleben von in der Sonne glitzernden Vampiren, über Zauberlehrlinge, Weltraumschlachten, Zeitreisen und Elfenkrieger schrieben. Er war kein Selfpublisher und machte auch keine Fan-Fiction. Da stand er darüber, diesen kindischen Auswüchsen der Moderne fühlte er sich himmelhoch überlegen. Nikolaus Klammer schuf ernsthafte, anspruchsvolle Belletristik für ein erwachsenes und zeitkritisches Publikum, das seine Bücher wie einen guten Rotwein goutierte. Sein Werk war politisch, kühn und modern. Er legte seine Finger in die Wunden der Gesellschaft und bezog Stellung. Er hatte eine Meinung.

Der Autor atmete tief ein. Es konnte für dieses Buch im Schaufenster folglich nur zwei vernünftige Erklärungen geben – und beide missbehagten ihm zutiefst:

Zum einen hätte der Roman im Schaufenster ein Raubdruck eines seiner alten Bücher unter einem neuen Titel sein können. Das erschien ihm allerdings eher unwahrscheinlich, da er kein Autor war, bei dem durch einen unerlaubten und offensichtlich aufwändigen Nachdruck allzu viel Geld zu verdienen war. Man kannte und achtete ihn zwar in den Spalten der Feuilletons und den literarischen Zirkeln und sogar MRR – der Gott der Kritiker beschenke ihn im Paradies mit 72 schriftstellernden Jungfrauen – hatte ihn einmal kurz und freundlich besprochen. Aber seine Auflagen überschritten nie die für ihn magische Zahl dreißigtausend. Der Autor selbst konnte sich und seine Frau eher schlecht von seinen Tantiemen, den Artikeln, Glossen, Zeitschriften-Essays und den vielen Lesereisen ernähren, die ihn kreuz und quer durch die Republik in Orte führten, die nie ein vernünftiger Mensch zuvor betreten hatte. Er war nicht reich. Im Gegenteil, seit er seinen Brotberuf aufgegeben hatte und nur noch schrieb, musste er sehr genau auf seine Ausgaben achten. Zudem war er gezwungen, mindestens einmal im Jahr zu veröffentlichen, wenn er im Gespräch bleiben und seinen augenblicklichen, durchaus schlichten bürgerlichen Lebensstandard beibehalten wollte. Der eine oder andere Text von ihm kursierte zwar zum Missvergnügen seines Verlegers als Raubdatei für E-Books im Internet – aber ein gedrucktes, durchaus aufwändig hergestelltes Buch? Nein, das war Unfug; davon konnte sich niemand einen Gewinn erwarten.

Die zweite Möglichkeit hielt er für glaubhafter: Jemand hatte seinen guten Namen benutzt, um unter ihm seinen Erstling zu veröffentlichen. So etwas, konnte er sich erinnern, war in Augsburg schon einmal vorgekommen. Oder es gab noch einen weiteren Schriftsteller, der sich wie er zufällig sein Pseudonym bei einem nahezu unbekannten österreichischen Gemmenschneider aus dem 18. Jahrhundert entliehen hatte oder in Wirklichkeit tatsächlich in der Kombination mit ‘Klammer’ den Vornamen ‘Nikolaus’ trug - so unwahrscheinlich das auch sein mochte. Ob diese Scharade nun absichtlich oder in Unkenntnis geschehen war, änderte nichts an der Tatsache, dass der Autor gegen solch einen Etikettenschwindel augenblicklich und energisch einschreiten musste. Schließlich stand ja sein literarischer Ruf auf dem Spiel – und Geld. Hätte der Autor ein Smartphone besessen – er hatte keine Freunde, folglich benötigte er solch ein Spielzeug auch nicht -, dann hätte er auf der Stelle seinen Verleger Karl-Heinz Welkenbaum, seinen Anwalt, die Polizei, die Presse und den Bundesnachrichtendienst informiert. Er entschloss sich stattdessen, dieses ominöse Werk genauer in Augenschein zu nehmen, denn Klammer fragte sich auch, welcher Verlag hier gepfuscht hatte. Auf diese Urheberrechtsklage freute er sich schon heute. Das Buch dort im Schaufenster musste er auf der Stelle als Beweis an sich bringen!

Der Autor steckte seine Brille in die Jacke und betrat mit seinem Hund unverzüglich die Buchhandlung, setzte dabei eine scheppernde Türglocke in Gang, die ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Trotz der lautstarken, lange in den Ohren nachklingenden Ankündigung, dass ein Kunde den Laden betreten habe, blieb Klammer in dem Verkaufsraum erst einmal für sich allein. Kein Buchhändler eilte dienstbeflissen heran und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Er war auch die einzige Person im Laden - soweit er das in dem engen, unübersichtlichen Labyrinth, in das er geraten war, überblicken konnte. Alle Wände, übrigens auch die Schaufensterseite, waren bis unter die Decke von vollgepackten Bücherregalen verstellt, so dass von außen kein Licht hereindrang und allein eine magere Deckenbeleuchtung das Halbdunkel wie mit warmem Kerzenschein ausleuchtete. Zusätzlich stapelten sich überall Büchertürme und mit Remittenden gefüllte Umzugskartons. Die Gänge dazwischen waren so eng, dass es ein Klaustrophobiker keine fünf Sekunden in dem Laden ausgehalten hätte, ohne einen Panikanfall zu bekommen und schreiend das Weite zu suchen. Ab und an waren oben an den Regalen zusätzlich Spots angebracht, die die Bücherrücken darunter erhellten. Da sich die Decke in etwa fünf Metern Höhe befand, lief über dem Kopf des Autors zusätzlich noch eine Galerie um drei Seiten des Raumes. Auf sie konnte man nur über eine überaus enge und wacklig wirkende Wendeltreppe aus Gusseisen gelangen.

Dieser erste Eindruck war kein guter. Der Autor mochte es nicht, wenn ihn eine Unordnung in seiner Umgebung an den eigenen desolaten inneren Zustand gemahnte. Sein analer Charakter verlangte klare Strukturen, frische Luft, Helligkeit, ein aufgeräumtes, penibel sauberes Arbeitszimmer, gestärkte, gebügelte Hemden und eine nach dem Waschtag sortierte Socken- und Unterhosenschublade. Diese Buchhandlung jedoch war zwar augenscheinlich mehr als wohl sortiert, aber sie wirkte auf ihn sofort einschüchternd, sogar beängstigend. Irenes kleiner Hund, den er trotz dessen Widerstrebens hinter sich durch die Ladentür gezogen hatte – schließlich gab es kein Schild, das Hunde im Laden verbot - schien ähnlich zu empfinden. Der Terrier zog den Schwanz ein und duckte sich Schutz suchend zwischen den Beinen des Autors, der fassungslos und verwirrt den Kopf schüttelte.

„Ruhig, Cicero. Mach Platz“, versuchte er vergeblich, das Tier zu beruhigen, das als Antwort nur einmal jammernd und klagend jaulte und eine Pfote über den Kopf legte. Die Stimme des Autors klang so dumpf und abgestanden wie der Geruch nach Leder, Leim und saurem, altem Papier, der zwischen den Regalen hing, dass er sie selbst kaum erkannte. Wie konnte es nur sein, dass ihm dieser Bücherdschungel mitten im Schatzkämmerchen der Altstadt seiner Heimat bisher vollkommen unbekannt geblieben war? Nein, hier gefiel es ihm ganz und gar nicht. Wenn Klammer nicht sein Anliegen gehabt hätte – nämlich den Erwerb des Plagiates im Schaufenster – hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und sich oben in der Innenstadt in den großzügigen Geschäftsräumen von ‘Thalia’ oder ‘Hugendubel’ von der staubigen Besudelung erholt. Er mochte helle, große und übersichtliche Buchhandlungen ohne Atmosphäre, in denen die Bücher steril in Plastikfolie eingeschweißt von gleichgültigen und unwissenden Verkäufern als die Handelsware, die der Autor in ihnen sah, angeboten wurden. Ein Buch war ihm kein goldenes Kalb, um das er tanzen wollte, sondern ein Konsumartikel wie eine Tafel Schokolade oder ein auffälliger Lippenstift. Nicht der Umschlag und das Alter, allein der Inhalt war entscheidend. Der Autor wollte in einer Buchhandlung eine Auslage wie bei Lebensmittelläden vorfinden: Er sah es gern, wenn Literatur wie Obst verkauft wurde, klinisch sauber, die leicht verderblichen Exemplare und die Sonderangebote nach vorne geräumt. In diesem verwinkelten und düsteren Albtraum von Buchhandlung hingegen fühlte er sich durch die schiere Übermacht der Literatur bedrängt, sie flüsterte ihm von allen Seiten zu, drückte ihn mit ihrer Bedeutungsschwere nieder. Ihn schwindelte vor der Masse. Sie nagte an seinem Selbstwertgefühl.

Während der Autor sich noch vergebens bemühte, eine Ordnung in den Regalen zu erkennen, um auf diese Weise seinen eigenen Namen und jenes ominöse Buch, das er nicht geschrieben hatte, zu finden, zeigte die Türklingel endlich Wirkung. Der Autor hörte klackende, näher kommende Schritte in seinem Rücken. Der verschüchterte Hund zuckte zusammen und knurrte plötzlich leise. Klammer sah erstaunt auf das sich noch niedriger herab kauernde Tier zu seinen Füßen. Er hatte Cicero noch nie so aufgeregt und gleichzeitig so verängstigt erlebt. Welcher feine Sinn warnte den Terrier vor einer Gefahr, die der Autor nicht erkannte? Er drehte sich um und erwartete einen kleinen verstaubten, vielleicht auch etwas untersetzten Mann, der ihn über eine dünne Lesebrille hinweg mit flinken Augen begutachtete, mit verschränkten Händen vor ihm dienerte und sich vorsichtig lächelnd und leise flüsternd nach seinen Wünschen erkundigte. Wenn er diese Geschichte, die er gerade erlebte, erfunden hätte, hätte er genau so eine Gestalt in diese Buchhandlung hineingeschrieben.

Aber ich hätte ihn nicht Karl Konrad Koreander genannt, lachte er in sich hinein. Zu seiner Überraschung erkannte er jedoch, dass ihn seine Vorstellungskraft vollkommn betrogen hatte. Denn die Person, die langsam auf ihn zu schlenderte und auf hohen Pumps mit nageldünnen Absätzen elegant zwischen den Bücherstapeln hindurch tänzelte, roch frisch gewaschen nach Rosenparfüm und war eindeutig weiblich. Es war eine nicht ganz fassbare, im Halbdunkel auch nicht klar erkennbare Frau, deren Konturen kaum greifbar waren und die sich auf seltsame Weise mit dem Regalhintergrund zu verbinden schienen, als würde ihre Aura an den Rändern ausfransen. Erst auf den dritten, die Lieder zu einem schmalen Spalt zusammen gekniffenen Blick konnte der Autor sie als hübsch und jung einschätzen – viel zu hübsch und viel zu jung für die Inhalte und das geballte Wissen, für die gefährlichen Emotionen, die hinter den Buchrücken, mit denen sich die Verkäuferin so seltsam verschmolz, wie wilde Raubtiere auf ihre Opfer lauerten. Die Verkäuferin trat auf den Autor zu und fragte, breit an einem Kaugummi kauend und aufreizend gelangweilt, ob sie ihm denn behilflich sein könne. Sie sah dem Autor dabei nicht in die Augen, sondern fixierte den Hund, der versuchte, sich rückwärts von ihr zu entfernen und mit seinen Krallen über das Parkett kratzte. Der Autor zog Cicero an der Leine zu sich heran. Für den seltenen Fall, dass er in einer Buchhandlung gefragt wurde, ob er Hilfe benötige, hatte der Autor ein Sprüchlein vorbereitet, zu dem er nun erfreut ansetzte:

„Nein, danke. Das ist, als würden Sie einen Alkoholiker in einer Bar fragen, ob Sie ihm ein paar Getränke empfehlen können”, wollte er sagen. Aber er schloss seinen Mund wieder, denn in diesem Moment fiel sein Blick auf ein Messing-Schild, das schief an einem Nagel an einem der Regale hinter der Buchhändlerin hing. Staunend las er:


So verrückt es auch klang, er hätte schwören können, dass diese vielversprechende Nachricht vorher dort noch nicht angebracht war. Ihm schien, als wäre es gleichzeitig mit der hübschen Verkäuferin gleichsam aus dem Nichts aufgetaucht. Die wegen der Verzögerung nun wiederkäuend ihren Kaugummi von einer Backe in die andere schiebende und eine Blase zwischen ihren vollen, roten Lippen zum Platzen bringende Frau hob erwartungsvoll die Augenbrauen.

Klammer stach ein kleiner Teufel. Anstatt den wahren Grund zu nennen, der ihn in die Buchhandlung geführt hatte, entschied er sich, die Verkäuferin ein wenig zu ärgern. Nach einem langen, abschätzenden Blick auf die wohlgeformte Figur des überheblichen Mädchens, das ihm plötzlich ausnehmend gut gefiel und einen Mechanismus auslöste, für den er nie zu alt wurde, zeigte er auf das Schild in ihrem Rücken.

„Haben Sie zufällig eine Taschenbuchausgabe von Der Stein der Weisen des französischen Romanciers Honoré de Balzac?”, fragte er lauernd. Der Autor wusste selbstverständlich, dass als Taschenbuch momentan nur die berühmtesten Romane des großen Franzosen lieferbar waren und das von ihm genannte, sehr abseitige Werk höchstens in maßlos überteuerten, gebundenen Gesamtausgaben enthalten war.

„Wenn Sie so freundlich wären und einen Moment warten möchten”, antwortete die Frau prompt und runzelte dabei nicht einmal die Stirn. Sie wandte sich beflissen ab und stieg die Wendeltreppe hoch zur Galerie. Als sie die gefährlich knirschenden Stufen bestieg, hatte der Autor von unten einen guten Ausblick auf ihre attraktiven, in durchbrochene schwarze Seide gehüllten Beine. Es kostete ihn Mühe, sich von diesem höchst beeindruckenden Anblick loszureißen und er beschäftigte sich wieder damit, sich nach seinen eigenen Werken umzusehen. Der Autor glaubte, er hätte die Verkäuferin für eine Weile beschäftigt und sie suche nun immer nervöser in Online-Katalogen und im ZVAB nach dem verlangten Werk. Doch kaum hatte er sich einem Regal zugewandt, in dem die Bücher in heillosem Durcheinander und scheinbar nach ihren Pastellfarben – Insel!, dachte er begeistert - sortiert standen, da rief das Mädchen schon von oben zu ihm herab, in der einen Hand einen graubraunen und in der anderen einen gelben Band mit einem gezeichneten Titelbild hochhaltend:

„Möchten Sie lieber die Ost-Ausgabe des ehemaligen DDR-Verlags Kiepenheuer in Leipzig und Weimar oder das Exemplar der alten Goldmann-Gesamtausgabe aus den frühen siebziger Jahren? Beide kämen auf vier Euro, achtzig. Wir haben auch noch den etwas teureren blauen Reclamband aus den Zwanziger Jahren, auf dem die Goldmann-Ausgabe beruht, aber Sie wollten ja ein Taschenbuch.”

Der Autor stand starr, wie verzaubert. Nach diesen beiden Ausgaben, die das Mädchen gleichgültig in den Händen hielt, hatte er sämtliche Buchhandlungen und Antiquariate in den vielen Städten, in denen er wegen Lesungen gastierte, durchforstet. Er empfand ein fast sexuelles Verlangen nach ihnen und war in den Achtzigern extra mehrmals nach Ost-Berlin eingereist, aber hatte den damals noch gültigen Zwangsumtausch für andere Bücher ausgeben müssen, weil er den dämonischen Roman Der Stein der Weisen einfach nicht bekommen konnte. Es war nicht fassbar: Nachdem er schon alle Hoffnungen hatte fahren lassen – fand er hier, in seiner bedeutungslosen, provinziellen Heimatstadt Augsburg doch tatsächlich die einzigen beiden jemals im Taschenbuch erschienen Ausgaben dieses Romans, von denen die eine seit Jahrzehnten ausverkauft, die andere praktisch unerreichbar war! Dem Autor liefen das Wasser im Mund und das Blut im Unterleib zusammen und er fand die Verkäuferin nun noch um vieles hübscher. Fast hätte er ihr einen Heiratsantrag gemacht.

„Ich würde gerne die Goldmann-Ausgabe kaufen, sie ist besser kommentiert”, sagte er genießerisch und fühlte sich kurz mit der Welt und sogar mit dem Schwindler, der seinen Namen benutzte, versöhnt.

Das Mädchen kam mit dem gewünschten Buch herab und überreichte es dem Autor wie ein Geschenk. Er hätte sie für diese Geste am liebsten umarmt und geküsst. Ehrfurchtsvoll nahm er den gelben Band mit der filigranen Einbandzeichnung in die Hand, blätterte ihn auf und begann sofort und ergriffen die Einleitung von Ernst Sander zu lesen.

„Kann ich denn sonst noch etwas für sie tun?”, fragte die Buchhändlerin und legte kokett ihren Kopf zur Seite, zwinkerte ihm zu. Der Autor lächelte glücklich, als er nur zögerlich aufsah.

„Das können Sie in der Tat, meine Liebe. Ich interessiere mich noch für ein Buch, das in Ihrem Schaufenster steht …”

Der Autor las niemals Literatur. Er lebte zwar von und mit ihr, aber er konsumierte sie nicht. Sie war ihm wie ein ehemaliges Lieblingsgericht, das ihm jedoch immer ekelhafter und bitterer schmeckte, je älter er wurde. Außer der eilig überflogenen Tageszeitung als Frühstücksbeilage und ein paar durchblätterten Literaturzeitschriften, in denen er allabendlich vor dem Einschlafen nach Erwähnungen seines Namens forschte – diese hatte er nur abonniert, um informiert zu bleiben – las er ausschließlich seine eigenen Werke und diese auch nur, weil er sie für die Veröffentlichungen und Lesungen lektorieren musste. Er hasste diese Arbeit, die ihn vom wirklich wichtigen, nämlich vom Schreiben, abhielt. Am Liebsten hätte er seine Texte unbearbeitet und roh direkt aus der PDF-Datei heraus veröffentlicht. Ein ausgelassener Buchstabe, ein Rechtschreibfehler, ein Komma an der falschen Stelle oder ein doppeltes Wort machten einen Text nicht besser oder schlechter. Selig die längst vergangenen Zeiten, in denen es noch keinen Duden und keine Rechtschreibreform gab und sich auch kein Leser über die Druckfehler beschwerte.

An dieser Leseunlust hatte er nicht immer gelitten. Als Jugendlicher und auch noch als junger Erwachsener verschlang er praktisch jeden Text, der ihm unschuldig in die gierigen Finger geriet. Wie Nimrod, der gewaltige Jäger vor dem Herrn, erspürte und erlegte er damals leidenschaftlich sein Wild, das er aber nicht in Feld und Wald, sondern in Antiquariaten, Buchhandlungen und Bibliotheken, in Regalen und Bücherkisten fand, auf Flohmärkten und in den Papiertonnen der Wertstoffhöfe. Egal, ob es ein leicht verschimmelter, fetter Roman aus dem 18. Jahrhundert, ein Sachbuch über Nanobionik, ein Gedichtband von Durs Grünbein oder ein Perry-Rhodan-Heftchen war, gleichgültig, ob ein veralteter Baedeker für das Burgenland, ein giftgrüner Essayband über die Industrialisierung in Deutschland bis 1914, Heideggers Sein und Zeit, Konsalik, Rosamunde Pilcher oder Zettels Traum in seine Hände gerieten: Wir alle können jede Menge Arbeit erledigen; vorausgesetzt es ist nicht die, die wir gerade tun sollen. Darum las der junge Autor wirklich alles – außer den Texten, die er tatsächlich lesen musste. Verträge, Rechnungen, Mahnbriefe, Wirtschaftstexte, Schulbücher, Lektüren; alles, was zu ihm nah an seinem alltäglichen Leben war, ignorierte er vollkommen. Er fraß sich lange Tage und Nächte wie die Raupe Nimmersatt in enormem Tempo kreuz und quer durch seine ausufernde Lektüre, die – Fluch und Segen zugleich – niemals enden konnte und ihn wie in einem Rausch um die Welt führte. Er fühlte sich dem Jungen in der Fabel gleich, der hartnäckig versucht, das Meer mit einem Löffel auszuschöpfen. Allein der Versuch, die Literatur eines einzigen kleinen Landes zu lesen, schenkte ihm eine gute Vorstellung von der Unendlichkeit.

Durch seine Lesesucht vernachlässigte er Familie und Freundschaften, das ungeliebte BWL-Studium, den Schlaf – ihm genügten allerdings fünf Stunden pro Nacht – und leider auch die Körperpflege. Über Jahre existierte er als ein lebendes Paradigma für Descartes Dualismustheorie: Sein Körper bewegte sich somnambul und übelriechend in der Welt der Dinge, aber sein Geist schwebte fast unabhängig von den Banden des Alltäglichen im duftenden Äther der reinen Gedanken. Es war die glücklichste Zeit im Leben des Autors. Doch leider irrte sich Descartes: Körper und Geist sind nicht nur über die Zirbeldrüse lose aneinander gebundene Graphen im Koordinatensystem der Existenz, sondern bedingen einander wie das Huhn das Ei. Sie sind eine untrennbare, in beide Richtungen miteinander verbundene Einheit. Obwohl Klammer über seinen Lektüren die ehelichen Pflichten grausam vernachlässigte, wurde plötzlich seine Frau mit der gemeinsamen Tochter Isabella schwanger. Ja, er war damals schon verheiratet, wenn auch mehr aus Bequemlichkeit als aus Liebe – konnte er sich doch auf diese Weise vor dem drohenden Militärdienst drücken. Und selbstverständlich er scheiterte im Studium, das er nur auf Drängen seines Vaters begonnen hatte und mehr prokrastinierte als studierte. Die finanzielle Unterstützung seiner Eltern endete mit der Exmatrikulation. Der Autor hatte plötzlich kein Geld mehr, keines für Nahrung, keines für die Miete und – am Schlimmsten - keines für die geliebten Bücher. Das Leben griff sich den hoch über dem Teppich schwebenden Geist und band ihn mit Tonnengewichten an den irdischen Boden der Tatsachen: Er musste Verantwortung übernehmen, sich eine Arbeit suchen, die meisten seiner Bücher für ein Almosen auf Flohmärkten verramschen. Nur den großen alten, vierundzwanzigbändigen Brockhaus mit Goldschnitt, seinen geliebten Balzac – den er vielleicht etwas aufmerksamer hätte lesen sollen – und selbstverständlich auch Jean Paul behielt er wegen ihrer hübschen schweinsledernen Buchrücken. Das tat er ohne Bedauern, denn eigentlich war es ihm nie um die Bücher selbst, sondern immer nur um ihre Inhalte gegangen.

In dem Moment, an dem er in einer anthroposophischen Schule für einen Hungerlohn einen Job als angestellter Lehrer begann, endeten seine Lesereisen in ausgedachte Welten und die Abenteuer seiner Phantasie und er entwickelte praktisch über Nacht zur Freude seiner Frau eine fast neurotische Reinlichkeit. Er machte sich noch eilig mit Rudolf Steiners Werken vertraut und beschäftigte sich dann für die nächsten fünfzehn Jahre ausschließlich mit den seltsamen Verrichtungen, die man in der Reformpädagogik als ‘Unterricht’ bezeichnet. Nicht, dass ihn Waldorfkindergärten, die okkulten Lehren Blatvatskys, organische Architektur, Eurythmie, Parsismus oder Demeter-Landwirtschaft ernsthaft interessierten: Das meiste hielt er für weltanschaulichen Quark, der nur fest wirkte, weil er täglich aufs Neue breitgetreten wurde. Aber dies war der Brotberuf, der seiner kleinen Familie ein wenngleich karges, aber geradeso hinreichendes Einkommen bescherte.

In der wenigen freien Zeit, die ihm verblieb - spätabends oder im Morgengrauen, ihm genügten ja wenige Stunden Schlaf in der Nacht - schrieb er. Dies begann, als ihn die nächtlichen Unruhephasen von Isabella und dann die noch viel ausgeprägteren seines Zweitgeborenen Stephan wachhielten. Zuerst verfasste er Unausgegorenes, Geschreibsel, das wie das Verdauungsprodukt seiner enormen Lektüre wirkte. Es waren kurze Gedanken, ungelenke Kurzgeschichten, schwächliche Gedichte, oberflächliche Essays. Aber er lernte mit jedem Text, der für die Schublade entstand. Bald verfasste er Erzählungen und ganze Romane. Anfänglich schrieb er nicht viel, nur zwei, drei handschriftliche Seiten pro Nacht, aber dies regelmäßig und über viele Jahre hinweg. Sein unveröffentlichtes Werk wuchs an. Später, als die Kinder älter waren und er sich nur noch wenig auf die immer gleichen Unterrichte vorbereiten musste, die Schülerjahrgänge in schier endlosem Trott kamen und gingen, fand er mehr Zeit. Sein Ehrgeiz entwickelte sich und langsam kam ein beachtliches Œuvre zustande. Es füllte die Auszüge eines großen Aktenschrankes, dann eines zweiten. Mehr durch Zufall als aus eigenem Streben gelang es ihm, einen Verlag und interessierte Leser zu finden und sich so ordentlich zu verkaufen, dass er den wirren Herrn Steiner endlich hinter sich lassen konnte und den Versuch wagte, ausschließlich von seiner Literatur zu leben. Da waren die Kinder längst aus dem Haus und Irene verwöhnte inzwischen als Ersatz ihren kleinen Hund. Der Autor verdiente zwar nur unwesentlich mehr als der Reformpädagoge, aber er fühlte sich nicht mehr wie ein Scharlatan – zumindest meistens.

„Lesen, Leben oder Schreiben“, pflegte er zu sagen, „alle drei Dinge gehen nicht gleichzeitig; es sind Weltbereiche, die einander ausschließen. Sie haben keine Schnittmengen.“

Doch nun stand er, vom “Gassi-Gehen” mit Cicero eilig in sein gemütliches Eigenheim zurückgekehrt, mit seiner erstaunlichen Beute in seinem Wohnzimmer und musste sich beherrschen, nicht sofort die Plastikhülle von dem schwarzen Buch zu reißen, es aufzublättern und damit zu beginnen, jenen mysteriösen Text zu lesen, der laut seines Titels von ihm selbst stammen sollte. Doch wenn er schon heute das sich selbst auferlegte Lesezölibat brechen wollte, dann musste dies zelebriert und genossen sein. Vor Ungeduld seufzend legte er den noch jungfräulichen Band zur Seite, entließ erst einmal den Hund seiner Frau durch die Terrassentür in den Garten, ordnete sorgfältig den ebenfalls erworbenen, so überaus seltenen Balzac-Roman bei den Études philosophiques an der richtigen Stelle zwischen Gambara und Das verstoßene Kind in dem kleinen Regal über dem Fernseher ein und sah erst danach nach seiner Frau. Er fand sie nicht. Richtig: Donnerstags ging Irene zuerst zur ayurvedischen Tantra-Yoga und dann zu einer Freundin, von der sie erst spät am Abend und vom genossenen Prosecco reichlich angeheitert heimkehren würde. Der Autor war also in den nächsten Stunden mit sich allein gelassen und das war ihm nur recht.

Er goss sich eine Kanne Kräutertee auf – er war in einem Alter, in dem er an seinen Magen und den Schlaf in der Nacht denken musste - richtete einen bequemen Sessel nah beim Fenster günstig ins Licht und sah noch einmal nach dem Hund. Der Terrier lag bereits selbstzufrieden vor seiner Hütte im Gras und schlief. Die Nähe zu der hübschen, aber geheimnisvollen Verkäuferin hatte das Tier zwar fast rasend vor Angst gemacht, aber kaum hatte der Autor vorhin den seltsamen Buchladen mit seinen beiden Neuerwerbungen verlassen, hatte sich Cicero wieder beruhigt, als wäre seine Unruhe nur ein schlechter, sofort vergessener Traum gewesen. Wenn der Autor ehrlich mit sich war, musste er sich eingestehen, dass es ihm ganz ähnlich ergangen war.

In seinem Gedächtnis waren der Laden und die Gespräche mit der jungen Frau irgendwie verzerrt und wirkten im Nachhinein unwirklich, nicht greifbar, einem klebrigen Gespinst vergleichbar, das im Herbst zwischen den Büschen funkelt und vom Sonnenlicht mühelos vertrieben wird; er erinnerte sich an die Szene im Buchlanden, als hätte sie sich vor ewigen Zeiten abgespielt oder wäre nur in seiner lebhaften Phantasie geschehen. Erstaunlicherweise hatte er auch eine größere Gedächtnislücke: Dem Autor war der Moment entfallen, in dem er das Buch, das ihn scheinbar plagiierte, gekauft hatte. Was hatte er gesagt, wo hatte er hingesehen? Wie viel Geld hatte er ausgegeben? Auf dem Buch stand kein Preis, er hatte keinen Rechnungszettel in der Tasche. Und dann war da noch etwas ganz anderes gewesen, etwas Unheimliches, ein Schatten. Schritte, die ihn erschreckten, ein Ächzen. Blut? … Sperma? Ein Priester gar? Der Nebel, hinter dem sich seine Erinnerungen verbargen, war beinahe vollkommen. So etwas hatte er noch nie erlebt.

Egal, selbst wenn dieses Antiquariat dem Teufel selbst gehörte und das verführerische Mädchen dessen Großmutter war, die Knochen und keinen Kaugummi zwischen ihren Zähnen zermahlte: Er war wieder heil aus dem höllischen Laden herausgekommen und hatte dabei das Buch, das er jetzt lesen würde, wie eine Jagdtrophäe triumphierend in den Händen gehalten. Das allein zählte. Klammer spürte, wie er immer aufgeregter wurde. Nun würde er den Roman endlich aufschlagen und seinem Geheimnis auf die Spur kommen …

Länger konnte er den Akt des Lesens nicht mehr hinauszögern, auch wenn er das Öffnen des Buches, das Entfernen der Schutzfolie, in das es eingeschweißt war und das erste Aufschlagen und grobe Durchblättern, das die am Schnitt leicht zusammenklebenden Blätter leise knisternd öffnen würde, ein wenig wie eine gewalttätige Deflorierung empfand, vor der er zurück scheute.

Der Autor wollte so zärtlich wie ihm möglich sein. Wenn dies tatsächlich eines seiner Bücher war, dann hatte es seinen Respekt und seine ganze Aufmerksamkeit verdient. Deshalb nahm er den Band im Oktavformat sanft in die Hand und entfernte zuerst geduldig und sorgsam die dünne Plastikhülle, entsorgte sie in der gelben Kunststofftonne vor dem Haus. Dann erst setzte er sich mit dem noch immer nicht aufgeschlagenen Buch auf den vorbereiteten Sessel, legte es mit der Rückseite nach oben auf das kleine Beistelltischchen, während er nach seinem Haferl Ingwer-Tee griff und einen genießerischen Schluck von dem leicht scharfen, fast noch zu heißen Getränk nippte, dessen Würze auf seiner Zunge brannte. Das alles tat auch, weil er sich vor dem seltsamen Buch und seinem Inhalt fürchtete. Die Wut in seinem Bauch über die dreiste Raubkopie, die ihm die geheimnisvolle, aber ungemein attraktive Buchhändlerin ohne jeden Kommentar verkauft hatte – das nahm er zumindest an, denn er konnte sich ja kaum erinnern – war inzwischen verflogen und einem bohrenden, fast ängstlichen Gefühl tiefer im Unterleib gewichen, einem Unwohlsein, einer Unausgeglichenheit, die gerade knapp am Abgrund zu einem Schmerz balancierte.

Der Autor hätte unweigerlich und ohne zu Zögern noch an diesem Nachmittag seinen Arzt aufgesucht, wenn er nicht selbst in seiner Aufregung den Grund für die unangenehm pochende Unordnung in seinen Gedärmen diagnostiziert hätte. Er lag in der letzten Zeit immer häufiger in der Nacht wach in seinem Bett neben seiner tief und friedlich schlafenden Frau und lauschte aufmerksam in sich hinein, spürte nach einer Krankheit, einem Anzeichen, dass die Maschine seines inzwischen bald sechzigjährigen Körpers nicht mehr so klaglos und fehlerfrei funktionierte, wie sie das für immer hätte tun sollen. Stolperte sein Herz ein wenig, hatte er überraschende Schweißausbrüche, ziehende Gliederschmerzen, einen Druck auf der Lunge oder einfach nur eine verstopfte Nase und leichte Kopfschmerzen, dann behandelte er diese Symptome nicht selbst, sondern suchte so schnell wie möglich seinen Mediziner auf und ließ sich von ihm – der freilich nie etwas Gravierendes fand – mit allerlei Anwendungen, Salben, Placebos und harmlosen homöopathischen Globuli behandeln. Seine Frau schimpfte Klammer einen Hypochonder, aber er war einfach nur furchtsam. Und es gab nichts, das ihn mehr ängstigte als die Vorstellung, alt, krank und einsam zu werden. Nicht das Ziel, seinen persönlichen Tod, fürchtete er, sondern all die Leiden, die ihm sein langsam verfallender Körper auf dem steinigen, holprigen Weg dorthin antun würde.

Dazu kam nicht zuletzt aufgrund des düsteren Schicksals seiner Mutter Maria eine geradezu hysterische Angst vor der Demenz, die ihn gerade wieder umklammerte, weil er sich nicht mehr an die Geschehnisse in der Buchhandlung erinnern konnte. Wenn ihm manchmal beim Schreiben eine Redewendung nicht einfiel oder er bei einem Gespräch Wortfindungsprobleme hatte, er das Kreuzworträtsel und das Mittwochs-Sudoku in der SZ nicht lösen konnte, erschreckte ihn das zutiefst und er versank in Sorgen und Selbstmitleid. Regelmäßig ließ er sich deshalb austesten, jedoch immer ohne Befund. Aber Klammer wusste, wenn die anderen es erst einmal merkten, dann war es für ihn schon zu spät, dann hatte er die Reise in die neblige Düsternis bereits angetreten; eine einsame Reise ohne Rückkehr, ohne Hoffnung. Schlimmer noch als der körperliche Verfall war ihm daher der geistige: Er hatte ja lange Jahre nur wenig geschrieben, weil er viel in seinem Brotberuf arbeiten musste und das Schriftstellern danach wieder tappend und unsicher aufs Neue erlernen musste; das war ein Prozess, für den er seine besten Jahre verbraucht hatte. Er war erst jetzt - in seinen „besten Jahren” - als Schriftsteller zu einer gewissen Bekanntheit gelangt. Dabei wusste er, dass Euphemismen wie „die zweite Lebenshälfte” oder „Best Ager“ nur billige Synonyme für „… bald geht es zu Ende” waren.

Aber der Autor hatte doch noch so viele Geschichten zu erzählen! Unendlich viele Texte und Gestalten spuckten unaufgeschrieben in seinem Kopf herum, ein ganzer Kosmos wartete ungeduldig auf den Tag, an dem er sich an seinen alten Computer setzte, um ihm Form in der Wirklichkeit zu geben, ihm zwischen den schwarzen Zeilen eines Buchs Leben einzuhauchen. Klammer hatte Verantwortung für sie alle, für seiner Figuren - jede von ihnen liebte er wie seine Kinder, auch die, denen er noch keine Existenz außerhalb seiner eigenen Fantasie geschenkt hatte. Er war nur ein ganz, ganz kleiner Gott, dem die Möglichkeit, eine Welt mit seinen Worten zu schaffen, aus der Schreibhand floss. Er wollte seine Schöpfungen nicht enttäuschen und sterben, bevor er alles fertig erzählt hatte. Am Anfang stand doch noch immer das Wort …

Der Blick des Autors fiel auf die wenigen Sätze, die auf der Rückseite des Buches in weißen Lettern auf dem schlichten schwarzen Schutzumschlag standen:

Welch ein talentierter Autor!

Diese Erzählung ist ein Meisterstück, das durch seine literarische Qualität überrascht. Lesen Sie:

Sie werden es nicht bereuen.

Er schüttelte verärgert den Kopf. Mehr war dort nicht zu finden: Kein Foto von ihm, nichts über den Inhalt, nichts über den Autor, nicht einmal, wer diese lobenden Worte geschrieben hatte. Nun, Nikolaus Klammer wusste, wie solche Umschlagtexte entstanden: Fleißige Verlagspraktikanten schnippelten aus Rezensionen oder Kommentaren die reißerischsten Sätze heraus und brachten sie in einen neuen, niemals vom Autor intendierten Zusammenhang: „Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen!“ oder: „Der beste Roman, den ich seit langem gelesen habe – superspannend!“ Am Besten legte man solche Sätze je nach Inhalt des Buches Stephen King oder Paul Auster in den Mund. Auch wenn jene Pairs der Literatur – wie Balzac sie genannt hätte - sich in Wirklichkeit niemals in dieser Weise geäußert hatten oder das Werk überhaupt kannten, musste dem interessierten Leser in spe bereits auf dem Cover deutlich gemacht werden, dass er es mit einem Ehrfurcht gebietenden Höhepunkt der zeitgenössischen Literatur zu tun hatte und er eingeschüchtert auf der Stelle das hochgepriesene Werk erwerben müsse, um es daheim anzubeten und dann süchtig nach weiteren spirituellen Drogengaben von dem Autor zu gieren. Oft erfanden diese Cover-Texter auch einfach eine begeisterte Kritik und erwähnten dazu einen absonderlichen angloamerikanischen oder französischen Literaturpreis, den das Buch angeblich gewonnen habe. Es konnte gut sein, dass der Rezensent ursprünglich folgendes geschrieben hatte:

„Denken Sie an Thomas Mann, welch ein talentierter Autor war das. Nehmen wir zum Beispiel den ‘Tod in Venedig’. Diese Erzählung ist ein Meisterstück, das niemanden, der diesen genialen Schriftsteller kennt, durch seine literarische Qualität überrascht. Lesen Sie nicht das neue Werk von XX, das nur eine billige und schlecht geschriebene Kopie des Doktor Faustus ist. Lesen Sie das Original. Sie werden es nicht bereuen.”

Trotzdem. Der Autor fühlte sich geschmeichelt. Auch wenn dieser Band mit dem seltsamen Titel:

DR. GELTSAMERS

ERINNERTE MEMOIREN

„Ein phantastischer Roman“


nur eine freche Raubkopie oder eine bösartige Mystifikation war - sie war handwerklich außerordentlich gut gemacht. Endlich nahm er seinen Mut zusammen und schlug, nachdem er noch eine Weile verständnislos und mit gespitzten Lippen das merkwürdige Bild auf der Vorderseite betrachtet hatte, die erste Seite auf. Das Vorsatzpapier war geschmackvoll grün-gelb marmoriert, die Seiten aufwändig gebunden und nicht geklebt. Die Herstellung war also keine billige print-on-demand-Arbeit eines Online-Druckshops gewesen, sondern die einer ordentlichen Buchbinder-Werkstätte. Der Autor schüttelte den Kopf. Wenn nur sein eigener Verlag seine Texte mit so viel Liebe editieren würde, wie sie offensichtlich in diesen Raubdruck investiert worden war! Aber jetzt wurde es interessant: Auf der nächsten Seite standen unten in der Mitte die Impressums-Hinweise:


© Yvain Verlag, Keie a. T., 20**

Satz: Fotosatz Galahad GmbH, Coel

Druck & Bindung: Erec & Pelleas, Bors

Printed in Germany

ISBN Y-44-55536543-16-9


Das sah zwar alles ebenso hübsch wie offiziell aus, aber eben auch nur auf den ersten Blick. Die Firmen- und Städtenamen waren durchwegs von den geharnischten Rittern der Artus-Sage entliehen und echte ISBN-Nummern gliederten sich etwas anders als die abgedruckte. Wie bei einem Raubdruck aus dem 18. Jahrhundert versteckten sich die Urheber hinter auf den ersten Blick sinnvollen, aber völlig frei erfundenen Angaben. Der Autor würde keinen Erfolg haben, wenn er nach den Firmen googlete oder das Handelsregister durchsuchte. Aber den Urheber dieser Mystifikation dingfest zu machen, war ja nicht seine Aufgabe, sondern die der Polizei. Er würde noch heute Abend seinen Verlag und dessen Anwälte informieren.

Interessant war übrigens das kleine, in Brauntönen gehaltene Bild, das offenbar das auch vorne auf dem Buchumschlag abgedruckte Verlagslogo darstellte: Es zeigte in einer Art Holz- oder Linolschnitt eine stilisierte Figur oder ein Gefäß. So genau war das nicht zu erkennen. Darunter waren aber auf grauem Grund kaum lesbar zwei Wörter gedruckt. Der Autor sprang aus dem Sessel und lief mit dem Buch in der Hand zum Wohnzimmerschrank, aus dem er eine Lupe hervorkramte. Mit ihr trat er an das Gartenfenster, durch das heller Sonnenschein in den Raum fiel. Mit Hilfe des Vergrößerungsglases konnte er nun die Wörter lesen, die in Fraktur gesetzt unter dem Holzschnitt standen:


Obwohl er in grauer Vorzeit sein Latinum erworben hatte, war dem Autor das Wort Fibulus unbekannt, auch im aus dem Arbeitszimmer geholten Lateinlexikon fand er nur die aus dem Lateinunterricht sattsam bekannte Fibula, jene Schließe, die bei den Römern Kleider, Umhänge und Mäntel zusammenklammerte. Also war auch das eine Sackgasse – vielleicht aber auch ein seltsamer Hinweis auf seinen eigenen Namen.

Doch nun gab es wirklich keine Ausrede mehr: Jetzt musste die Geschichte doch endlich einmal gelesen werden. Nikolaus Klammer kehrte zurück zu seinem gemütlichen Lesesessel, nahm auf ihm Platz und noch einmal einen Schluck aus seiner Teetasse. Dann setzte er mit gewichtiger Miene seine Lesebrille auf die Nasenspitze, drückte das Kreuz durch und schlug die nächste Seite auf:

KAPITEL 1

DIE FRAU, DIE DER DSCHUNGEL VERSCHLUCKTE


stand dort als viel zu reißerische Überschrift, dann folgte eine verwaschene, ausgeblichene Fotografie, die wahrscheinlich einen Fluss in einem Dschungel zeigte – wohl jenen, von dem die im Titel erwähnte Frau verschluckt worden war. Der Text war in einer schönen, aber für den kurzsichtigen Autor trotz der Brille viel zu kleinen Schriftart gesetzt – Garamond, mutmaßte er, 11 pt – und er begann mit einer Einleitung eines vielleicht fiktiven Herausgebers. Das war ein uralter Trick, der Authentizität und Glaubwürdigkeit vorgaukeln sollte; eine Taschenspielerei, für die sich Klammer viel zu gut war. Diese Geschichte sollte von ihm sein? Wo war die Verbindung mit seinen eigenen Werken? Er hatte noch nie einen Roman im Urwald spielen lassen. In seinen Geschichten machte er grundsätzlich seine Heimatstadt zum Handlungsort, denn als Autor arbeitete er nach der goldenen Regel, dass man nur über Dinge schreiben sollte, von denen man auch etwas verstand. Von tropischen Weltgegenden hatte Klammer keine Ahnung; es wäre eine Anmaßung gewesen, über sie zu schreiben. Seine fernste Reise hatte ihn auf Wunsch seiner Frau vor einigen Jahren zum Baden nach Antalya geführt und dort hatte er sich bereits nach wenigen Tagen so fern und fremd der Heimat, so einsam und verlassen von seiner Kultur gefühlt, dass er Irene überredet hatte, den Badeurlaub frühzeitig abzubrechen und von jetzt an nur noch Ferien im nahen Allgäu oder als Höhepunkt der Exotik in Südtirol zu machen.

Klammer musste kurz an seine fünfundzwanzigjährige Tochter denken, die gerade ein Auslandssemester in Peru absolvierte, um an einem Projekt ihrer Uni gegen die zerstörerische Ausmaße annehmende Quecksilberbelastung des Amazonas und seiner Nebenflüsse mitzuarbeiten. Sie hatte sich bei ihren Eltern seit einiger Zeit nicht mehr gemeldet, was aber nicht weiter besorgniserregend, sondern Teil ihres eigenbrötlerischen und verschlossenen Charakters war, den sie von ihrem Vater geerbt hatte. Die Ökologiestudentin war eindeutig die Abenteurerin in der Familie. Klammer kam ein Verdacht: Hatte vielleicht gar Isabella dieses Buch geschrieben? Er wusste, dass sie wie der mütterliche Teil seiner Familie und er selbst schriftstellerische Talente besaß und traute ihr solch eine Scharade zu – auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, was sie damit bezweckte.

Aufgeregt begann der Autor zu lesen …

Dr. Geltsamers erinnerte Memoiren - Teil 1

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