Читать книгу Dr. Geltsamers erinnerte Memoiren - Teil 3 - Nikolaus Klammer - Страница 4

Оглавление

WAS VORHER GESCHAH


Karl-Heinz Welkenbaum schüttelte ermattet den Kopf. Durch die drei Fettwülste seines Doppelkinns wurde daraus ein sanftes Wiegen. Er spürte, wie ihm die Körpersäfte aus allen Poren drangen und als Sturzbach den Rücken hinunterrannen. Sicherlich bildeten sie schon eine breite, dunkle Linie auf seinem leichten, hellen Jackett. Er fragte sich zum wiederholten Mal, wie es diese Römer fertigbrachten, so ameisenemsig in ihrer staubtrockenen, rostig-braunen und hoffnungslos überfüllten Stadt zu leben, in der es schon jetzt, im Frühsommer, unerträglich heiß war. Da lobte er sich doch sein heimatliches Bayernland, wo von einem weiß-blauen Osterhimmel eine sanfte, gütige Sonne herab lachte, der Löwenzahn auf den saftigen Kuhweiden erblühte und man beim Sitzen im Biergarten noch einen Trachtenjanker benötigte.

Welkenbaum nahm den Strohhut vom Kopf, benutzte ihn als Fächer und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn, während er dem Portier des Hotels Raphael bedeutete, die gläserne Eingangstür offen zu halten. Er konnte bereits die herrliche Kühle spüren, die ihm aus dem klimatisierten Foyer der Nobelherberge entgegenwehte und dabei seine beige Leinenhose bauschte. Jetzt noch ein kühles Getränk - die an der Dachbar ausgeschenkte Maisplörre verdiente zwar kaum den Namen „Bier“, war aber, wenn eiskalt, durchaus trinkbar -, dann war er nach dem schier endlos langen, vormittäglichen Einkaufsbummel, der, wenn es einen gerechten Gott gab, sicherlich seiner Zeit im Fegefeuer angerechnet wurde, wieder mit sich und der Welt versöhnt. Gut, dass in der Vorsaison auch die Filialen der großen Läden ab 13:30 Uhr eine lange Mittagspause einlegten, weil Verena sonst bis in die Nacht hinein geshoppt hätte. Ihr dadurch gebremster Kaufrausch hatte bereits manische Züge angenommen. Der Münchener Verleger stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch und hätte es keine fünf Minuten länger in den stickigen und von Menschenmassen überschwemmten Gassen und Geschäften ausgehalten, ohne eine Mordtat zu begehen.

Er sah zu seiner neuen Freundin und frischgebackenen Lebensgefährtin zurück. Wo blieb sie denn? Sie verhandelte tatsächlich noch immer gestenreich mit dem Taxifahrer, der fast unter einem Berg von Taschen und Kartons verschwand, die er vom Rücksitz und dem Kofferraum seines weißen Fiat geholt hatte und nun quer über den breiten Bürgersteig vor dem Hotel dem Eingang entgegen jonglierte. Währenddessen stolzierte die seit ihrem gestrigen Friseurbesuch wasserstoffblonde Verena auf frisch erworbenen, schwindlig machend hohen Designerpumps neben ihm her und trug ein winziges Pratesi-Handtäschchen und eine kleine Papiertüte aus einer Parfümerie in den Händen, die sie im geschmeidigen Takt ihrer Bewegungen schlenkerte. Passanten drehten sich nach der jungen Frau im kurzen, roten Sommerkleid um und pfiffen ihr hinterher. Eine Vespa, auf der zwei typische römische Ragazzi hockten, fuhr langsam über den Platz vor dem Hotel. Beide machten mit ihren Smartphones Schnappschüsse von ihr.

Was für eine Frau!, dachte Welkenbaum voller Besitzerstolz. Er fühlte sich durch die Szene an einen alten Hollywood-Film erinnert und genoss für einen Moment das Banale und Klischeehafte der Situation:

Da war Verena Salva, seine im Verhältnis zu seinen eigenen Lebensjahren blutjunge und sehr attraktive Geliebte. Sie hatte das halbe Viertel leer gekauft. Ihre Anschaffungen trug ihr ein sichtlich überforderter, wie ein ermüdeter Atlas unter dem Gewicht der Pakete schwankender Chauffeur, den sie wie ihren persönlichen Diener behandelte, in die todschicke Fünf-Sterne-Unterkunft, in der das Paar in der Präsidentensuite hoch über den Dächern der Ewigen Stadt logierte. Und da war er selbst, der dicke, unansehnliche, aber reiche und geschmackssichere Verleger, der ihr Vater hätte sein können und mit ihr gerade einen zweiten – oder dritten – Frühling erlebte. Er hatte überall brav seine Platin-Kreditkarte gezückt und hielt ihr nun gemeinsam mit dem Portier die Türen auf, damit Verena die Beute ihres Raubzuges in Sicherheit bringen konnte. Fehlte nur noch, dass im Aufzug Tea for two gespielt wurde und nicht den eisernen Gesetzen einer Endlosschleife gehorchend zum dritten Mal an diesem Tag das Thema von „Der Pate“ -, das dem Verleger, wenn er es sich recht überlegte, allerdings auch ganz passend erschien, da er sich schmeichelte, durchaus Ähnlichkeiten mit dem aufgequollenen Marlon Brando der späten Jahre aufzuweisen: Beiger Leinenanzug, schütteres Haar, schleppende, nuschelnde Aussprache, wulstige Lippen, Überbiss und ein sarkastischer Blick.

Doch wie das mit Klischees so war, sie hielten der Wirklichkeit selten stand. Das war zwar alles so, aber doch auch ein wenig anders; viel weniger glamourös. In der bayerischen Heimat wurde gerade eine Kalt- und Schlechtwetterfront aus nordwestlicher Richtung erwartet, der Ausläufer eines atlantischen Sturmtiefs, das sich mit viel Regen und Frostgefahr bis in die tiefen Lagen näherte. Die Löwenzahnwiesen, von denen Welkenbaum träumte, waren längst überall, auch in der Nähe seiner Villa in Bad Griesbach, Opfer der Unkrautvernichtungsmittel geworden und bittergelb leuchtenden Raps-Monokulturen gewichen, deren aggressive Leuchtfarbe bei ihm Kopfschmerzen verursachte. Denn der Verleger besaß keine Platin-Kreditkarte – nicht einmal eine goldene -, und war nicht so reich, um seine Freundin mit italienischer Designermode auszustaffieren und sich einfach so ein verlängertes Osterwochenende in einer von Roms Nobelhotels leisten zu können. Er verdankte das durchschnittlich große Zimmer im 2. Stock, dessen Fenster in den Innenhof auf die Parkplätze zeigte, der freundlichen Einladung eines Freundes, seines Verleger-Kollegen und Bruders im Geiste Ugo Tozzini, der die edizione tempo moderno herausgab und mit dem er schon seit vielen Jahren eng kooperierte. Auch hatte Verena den Großteil ihres Einkaufs von ihrem eigenen Geld bezahlt, dessen munter sprudelnde Quelle Welkenbaum unbekannt war, denn sie arbeitete nicht. Dies war eines ihrer Geheimnisse, auf deren Wahrung sie sehr viel Wert legte. Verena war auch bei Weitem nicht so jung, wie sie aussah; doch ihr wirkliches Alter verriet sie nicht. Was nun endlich Marlon Brando anging: Diese Ähnlichkeit hatte nur einmal eine Topless-Tänzerin in der Augsburger Apollo-Bar entdeckt, in der er sich einmal mit Nikolaus Klammer getroffen hatte. Diese Übereinstimmung war der Frau aus Osteuropa aber erst aufgefallen, nachdem der Verleger ein paar Flaschen Champagner spendiert hatte, um seinen schreckensstarr und stocksteif am Tisch sitzenden Autor aufzumuntern, der sich so wohlfühlte wie ein Goldfisch in einem Piranha-Becken.

Aber wie er nun unnachahmlich seine Worte dehnte, als er den Concierge an der Rezeption in seinem holprigen Italienisch um die Zimmercard bat, das hatte doch etwas von Cosa Nostra und dem Paten, fand Welkenbaum.

„Posso … avere la chiave della … uh, 239, per favore?“, fragte er, während Verena zusammen mit dem keuchenden Taxifahrer neben ihn trat. Hoffentlich bekam der arme Mann keine Herzattacke.

„Ma come, Signore.“

Der Mann am Empfang, ein braungebrannter und ölig schwarzhaariger Macho aus dem Bilderbuch, achtete jedoch kaum auf den dicken Verleger. Sein Blick lag sehnsüchtig auf dem großzügigen Ausschnitt von Verenas Kleid und verweilte dort. Eine kleine Pause entstand. Welkenbaum kniff die Augen zusammen und entzifferte das Namensschild, das der Hotelangestellte auf seiner weinroten Weste trug.

„Andrea. Was habe ich dir denn bloß getan, dass du mich so respektlos behandelst?“, murmelte er stirnrunzelnd auf Deutsch und hob sich seine zu einer Klaue geformte Rechte an die Unterlippe. Er weckte den Mann aus seiner Starre.

„Scusami?“

Welkenbaum wiederholte seinen Wunsch auf Englisch, das er noch schlechter als Italienisch sprach. Aber diesmal wurde ihm gehorcht. Andrea sah endlich widerstrebend hoch und griff hinter sich in die Ablage.

„Che cosa hai detto? Camera 239?“ Er reichte die Karte über den Tisch.

„Welki!“, rief Verena und schnappte sich sofort die Schlüsselkarte aus der Hand ihres Freundes. „Ich muss sofort und auf der Stelle duschen. Regle du das mit dem Tassista, bitte.“

Der Verleger verbeugte sich, während der Taxifahrer erleichtert die Pakete zu Boden fallen ließ.

„Ist recht, mein Engel. Ich werde noch ein wenig an die Bar gehen und komme dann später nach.“

„Trinke nicht zu viel, Karl-Heinzelmann. Du weißt, du sollst an deinen Blutdruck denken. Und bleibe nicht allzu lange weg. Du hast hoffentlich nicht vergessen, dass wir uns heute Abend mit Roman Gaitania und seiner netten Gattin Mercedes treffen wollen und vorher möchte ich mir noch unbedingt den Vatikan ansehen.“

Verena winkte einem der Pagen, der die Rolle des Trägers übernahm und mit ihr in Richtung der Aufzüge ging. Welkenbaum bezahlte ohne Murren die unverschämt hohe Rechnung des Chauffeurs. Er wusste, dass alle Taxifahrer Roms Gauner waren und hatte keine Lust auf langwierige, aber erfolglose Verhandlungen. Er wollte ebenfalls zu den Aufzügen, als ihn der Concierge noch einmal aufhielt.

„One moment please, Mr Welkenbaum, i have something for you.”

Der Mann sprach nun englisch und war besser bei der Sache, nachdem Verena entschwebt war. Welkenbaum konnte zusehen, wie sich sein Gehirn einschaltete und er nicht mehr nur mit dem Rückenmark dachte. Etwa vor einer Stunde sei un tedesco dagewesen, der sich nach dem Verleger erkundigt hätte, berichtete er. Dieser Herr, der sich leider nicht vorgestellt habe, hätte sich als ein Freund von Welkenbaum ausgegeben und würde es am späten Nachmittag noch einmal versuchen. Inzwischen jedoch habe er aber etwas dagelassen, das unbedingt in die Hände des Verlegers gelangen müsse.

Der Concierge tauchte hinter das wuchtige barocke Holzmöbel der Rezeption, kramte ein wenig herum und schob Welkenbaum anschließend über die polierte Tischplatte ein schwarzes Buch entgegen. Auf dessen Titel war ein seltsames, unbeholfen zentralperspektivisch in warmen Herbsttönen ausgeführtes Gemälde zu sehen, das einen Mann in einer Rüstung zeigte, der gerade dabei war, ein Straußenei mit einem Schwert aufzuschlagen. Vielleicht hatte der Ritter es in dem Ofen, der links von ihm munter brannte, gekocht und wollte es nun verzehren. Hinter einer Mauer waren die Dächer einer mittelalterlichen Stadt zu sehen.

Welkenbaum nahm das gebundene, recht dicke Buch in die Hand und entzifferte am ausgestreckten Arm den Titel.

DR. GELTSAMERS ERINNERTE MEMOIREN

Das sagte ihm nichts, aber dafür der Name des Autors umso mehr. Nikolaus Klammer! Das war einer seiner Verlagsautoren; übrigens einer der wenigen, die ihm ein bisschen Geld einbrachten. Gerade eben hatte er an ihn denken müssen. Erstaunt ließ er sich vom Concierge den tedesco beschreiben, der das Buch gebracht hatte. Der Mann hinter der Rezeption hatte ein gutes Personengedächtnis; es handelte sich eindeutig um Klammer. Aus welchen Gründen auch immer: Der Schriftsteller hielt sich in Rom auf.

Er sah sich das Buch genauer an. Es war nicht beim Welkenbaum erschienen. Obwohl er mit vielen Verlagen zu tun hatte, erkannte er das orangefarbene Logo der Edition nicht. Der Verleger schüttelte verwirrt den Kopf.

Seltsam, dachte er. Vielleicht ist dieser DR. GELTSAMER ja ein Frühwerk aus der Zeit vor unserer Zusammenarbeit. Aber Klammer hat nie erwähnt, er hätte vorher anderswo veröffentlicht. Warum bringt er mir dieses Buch bis nach Rom hinterher? Was ist daran so besonders? Ist es gar ein Raubdruck?

Er drehte den schwarzen Band herum. Auf dem Karton der Rückseite stand ein Spruch von Dostojewski, sonst nichts. Zumindest wurde der große russische Autor als Urheber genannt. Das Zitat selbst war dem belesenen Verleger nicht bekannt.

„Die unverfälschte Wahrheit ist immer unwahrscheinlich … Um die Wahrheit wahrscheinlicher zu machen, muss man ihr unbedingt etwas Lüge beimischen“, entzifferte der Weitsichtige mühsam den etwas verwaschen abgedruckten Text. Er machte sich nicht die Mühe, in seinem Jackett nach einer seiner unzähligen Lesebrillen zu suchen.

Zwar Fadenbindung und stabiler Rücken, aber dennoch äußerst billig produziert!, dachte er. Bücher haben heutzutage einfach keine Qualität mehr. Sie werden - wenn überhaupt! -, schlecht lektoriert und so günstig wie möglich hergestellt. Sie sind ein Wegwerfartikel wie Toilettenpapier. Früher, ja, früher, da war man noch stolz auf seine Bibliothek und auf die ledernen Buchrücken. Aber heute? Lesen und in den Papiermüll damit. Wer hat heute denn noch ein Bücherregal? Was sind das nur für Zeiten … Vielleicht war das so ein neumodisches Selfpublishing-Ding, das Klammer in einer kleinen Auflage heimlich bei einer Internet-Druckerei hatte produzieren lassen und seinem Verleger bisher verschwiegen hatte. Na, den Zahn werde ich ihm aber ziehen. Wir haben schließlich Verträge miteinander. Wenn er das Buch tatsächlich an mir vorbei geschrieben und veröffentlicht hat, werden meine Anwälte ihn mit Klagen überziehen, die ihn zu meinem Leibeigenen machen werden. Welkenbaum lächelte in sich hinein. Leibeigener. Dieser Gedanke gefiel ihm. Die hätte die CSU schon längst wieder in Bayern einführen sollen. Ich könnte wetten, beim Ministerpräsidenten liegt bereits ein ausformulierter Gesetzesentwurf dazu.

Er bedankte sich abgelenkt bei dem Concierge und schob das Buch in die von seinen vielen Brillenetuis ausgeweitete Tasche seines Jacketts. Die ausgestreckte Rechte des Concierge, der auf ein Trinkgeld hoffte, ignorierte er. Auch wenn er sie nicht bezahlen musste, galt für ihn trotzdem: Wo die Übernachtung über zweihundert Euro kostete, dort gab es keine Almosen mehr. Er hatte es jetzt noch eiliger, zur Bar und zu seinem Bier zu kommen.

Im Aufzug, mit dem er hoch zum Dachgarten fuhr, erklang tatsächlich aus dem Lautsprecher The Godfather von Nino Rota in einer schmachtenden Klavierversion; denn ab und an, dachte er, ist die Wirklichkeit - man mag daran glauben oder nicht - noch viel klischeehafter und kitschiger als die Literatur.



An der Bar gab es tatsächlich Löwenbräu-Bier vom Fass!

Ein Glas trank er sofort, mit dem zweiten in der Hand stellte sich Welkenbaum erst einmal an die niedrige Mauer der Dachterrasse in den Schatten einer der Kübelpalmen, die zusammen mit lila blühender Bougainvillea und den quadratischen Sonnenschirmen aus hellem Leinen – beinahe in der Farbe seiner Kleidung -, für mediterranes Flair sorgten. Er genoss diesen Moment der Ruhe. Die Aussicht von dem Dach des vollständig mit Efeu eingewachsenen Hotels Raphael war sicherlich großartig. Allein nach Westen in Richtung Tiberschleife und die Engelsburg wurde der Blick ein wenig durch den hoch aufragenden Bau und den Glockenturm der benachbarten Santa-Maria-del-Pace-Kirche geschmälert, die nur durch die schmale Sackgasse Vicolo della Volpe vom Hotelkomplex getrennt war. In alle anderen Richtungen ging der Blick über die sieben Hügel der ewigen Stadt weit. Scheinbar zum Greifen nah ragte die Kuppel des Petersdoms in die etwas vom Smog verschleierte Luft und dort hinten stand das vom Verkehr umflutete Nationaldenkmal für Viktor Emanuel II., ein Bauwerk aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, das Welkenbaum immer an eine überdimensionierte Schreibmaschine erinnerte. Die Luft hier oben roch fast frühlingshaft und frischer als in den engen Straßenschluchten zu seinen Füßen. Der Gestank nach Zweitakter-Motoren und Feinstaub war hier nicht so aufdringlich, hier war ein Geruch nach in der Hitze schmorenden Zypressen mit Grundnote von Zitrone und altem Abfall dominant. Alles wirklich beeindruckend, ja.

Doch der gebürtige Münchener war inzwischen Mitte Sechzig und hatte in seinem Leben so viel gesehen, dass er gegen Schönheit und übrigens auch Hässlichkeit ordentlich abgehärtet war. Das war ihm alles gleich; seine Sinne waren in den Jahren abgeschliffen und stumpf geworden. Freilich bedauerte er diesen Zustand, der sich anfühlte, als würde er unter einer langsam erblindenden Käseglocke leben. Zudem war er im Alter nicht nur weit-, sondern auch kurzsichtig geworden. Deshalb verschwamm ihm der Horizont zu einem braunfleckigen impressionistischen Bild. Er hätte die passende Brille im Hotelzimmer gehabt, aber als er am Vormittag mit Verena auf Einkaufstour gegangen war, hatte er sie liegengelassen. Es gab eigentlich nur noch wenige Dinge, die ihn noch wirklich interessierten und aus der selbstgewählten Lethargie seiner zweiten Lebenshälfte reißen konnten. Das war zum einen der Sex mit seiner neuen Freundin, der jedes Mal neu und auf eine andere Weise herausfordernd und aufregend war, und zum anderen selbstredend die Lyrik, sie war ihm seit seiner frühen Jugend treue Begleiterin und Lebenselixier zugleich. Nur deshalb führte er auch weiterhin seinen vom Vater geerbten kleinen Verlag, dessen Alltags- und Prosageschäft er längst in die Hände seines Partners Jochen Engold gelegt hatte, der als strenger Lektor die Autoren pflegte und oft genug auch quälte.

Aber vielleicht sah Welkenbaum das alles auch zu düster. Denn da – Gerechtigkeit musste sein! - waren freilich noch das eiskalte Bier in seiner Hand, das ihm bei jedem Schluck von Neuem Freude machte, sein abends im Ohrensessel genossener, alter schottischer Single-Malt-Whiskey von der Isle of Skye, die Golfpartien mit Freunden, Industriellen und Prominenten. Sie waren alle stramme CSU’ler, die wie er selbst in gesetztem Alter aus dem lauten und hektischen München ins niederbayerische Bäderdreieck geflohen waren, wo sie zumindest wochenends recht günstig in Villen oder alten, renovierten Vierseit-Bauernhöfen residierten, in den warmen Thermalquellen und Kuranlagen die Vielzahl ihrer Wehwehchen behandelten und dem Herrgott den Tag stahlen. Außerdem passierte in den sanften Hügeln und Wäldern zwischen Bad Birnbach und Bad Füssing alles erst zwanzig Jahre später. So irreal es klang, dort wurde noch gefühlt mit der D-Mark bezahlt, es gab die DDR, Franz-Josef Strauß war Ministerpräsident und man musste darauf achten, den Mercedes nicht in singende Pilgergruppen zu lenken, die nach Altötting zogen, um dem einzig wahren, weil bayerischen, Papst zu huldigen. Am Wochenende nach Griesbach zu fahren war wie eine Zeitreise. Spätestens hinter Landshut war man endgültig im Jahr 1980 angekommen.

Welkenbaum nahm einen Schluck von seinem Bier und gestand sich ein, ein weiteres Mal in die Klischeefalle – diesmal in die bayerische - getappt zu sein. Aber er war eben ein frustrierter Alt-Achtundsechziger und ein Zyniker durch und durch. Je älter er wurde, um so ausgeprägter zeigte sich dieser unangenehme Charakterzug an ihm. Wenn er heute auf die Ewige Stadt blickte, die ihm von seinem Standort aus so großzügig wie eine alternde Prostituierte ihr Dekolleté, ihr Panorama darbot, sah er blutige Gladiatorenkämpfe, verderbte Renaissancepäpste, einen auf einem Scheiterhaufen brennenden Giordano Bruno, Mussolinis Schwarzhemden, Mafia-Korruption, Umweltsünden und einen Verkehrsinfarkt. Aber er sehnte sich nur kurz zurück in die Heimat, wo er manchmal mit dem Bauern vom Nachbardorf durch dessen endlose Maisfelder spazierte und mit ihm über Gott und die Welt diskutierte. Das hieß, eigentlich redete nur der alternde Städter, den es auf das Land verschlagen hatte; denn der Landwirt war ein schweigsamer, eigenbrötlerischer Mann. Vielleicht kam er aber auch nur nicht zu Wort.

Allerdings, um den etwas wirren Gedankengang zu einem versöhnlichen Ende zu führen: Mochten jetzt auch alle Franzosen der Welt über Welkenbaum herfallen, die italienische Küche - fiel ihm plötzlich mit einem leichten Magenknurren ein, weil durch eine mutwillige Böe von der Hotelküche unter ihm der würzige Geruch von gebratenem Fleisch und Fett zu ihm herauf wehte - war einfach und unleugbar die allerbeste auf der Welt. Auf jeden Fall war sie unvergleichbar besser als die niederbayerische, was – man denke nur an die grauenvolle „Heidlsuppe“ aus saurer Milch - auch kein großes Kunststück war. Er freute sich jetzt auf das Abendessen mit Roman Gaitania und seiner bezaubernden Gattin in einer kleinen Trattoria in der Nähe der Piazza Navona. Das Lokal hatte der ehemalige Geistliche, der eigentlich Gaetano Marini hieß und sich gut in der Stadt auskannte, ausgewählt. Der sympathische kleine Italiener hatte noch von einem Überraschungsgast gesprochen und der Verleger war gespannt, wer das war. Wenn jemand wusste, wo man in dieser unüberschaubaren und kosmopolitischen Millionenstadt authentische latinische Küche bekam, dann wohl ein sündiger Priester, der viele Jahre im Vatikanischen Archiv und für die Kurie gearbeitet und daneben direkt an der Quelle ein Sachbuch über Geheimgesellschaften und prekäres Wissen geschrieben hatte; ein profundes und mit über 1000 Seiten buchstäblich gewichtiges Werk, das Welkenbaum auf Deutsch und Tozzini gleichzeitig auf Italienisch herausgeben wollten. Nur deshalb war der Verleger mit Verena in Rom, wollte aber das Geschäftliche durchaus auch mit seinem Vergnügen verbinden. Und ein gutes Essen in einer römischen Trattoria gehörte eindeutig zum zweiten, denn ein gelungenes Gericht war eine weitere Sache, die den Bonvivant im Verleger aus der dumpfen Lethargie reißen konnte, in die scheinbar unentrinnbar gewickelt seine Lebenstage immer schneller kamen und gingen. So kam es ihm zumindest vor.

Doch endlich Punkt jetzt. Die Midlife-Krise habe ich doch eigentlich längst überwunden. Es gibt im Moment andere Dinge als die Verluste, die mein Altern mit sich bringt, und über die ich nachdenken muss. Geschäftliches. Und dieses merkwürdige Buch von Klammer.

Welkenbaum wandte sich von der süchtig machenden Aussicht und den Wohlgerüchen, die aus der Hotelküche emporstiegen, ab und suchte sich ein schattiges Plätzchen unter einem der Sonnenschirme. Die meisten der Tische waren nicht besetzt und deshalb fand er einen ruhigen und ungestörten Ort weit weg von der Bar. Hier konnte ihn auch die Hitze des frühen Nachmittags nicht erreichen. Der Sessel aus künstlichem Rohrgeflecht, auf dessen dicken Polstern er saß, war tief und bequem. Er bedauerte kurz, jetzt über den Dächern der Ewigen Stadt kein Mittagsschläfchen halten zu können. Aber er musste sich endlich mit DR. GELTSAMERS ERINNERTEN MEMOIREN, die Klammer für ihn an der Rezeption hinterlassen hatte, beschäftigen. Was trieb den fanatisch reisefaulen und sesshaften Schriftsteller eigentlich nach Rom? Der sollte doch eigentlich in seinem gutbürgerlichen Häuschen im Speckgürtel von Augsburg vor seinem PC hocken und endlich seinen nächsten Roman fertigstellen, der schon im Herbst auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert werden sollte! Den selbst Jochen Engold noch nicht einmal in Ausschnitten zu Gesicht bekommen hatte.

Welkenbaum klopfte sein Jackett ab und fand tatsächlich in einer Innentasche einer seiner unzähligen Lesebrillen, die er an allen Orten, an denen er sich befand, verteilte und oft auch liegen ließ. Er setzte sie zufrieden auf.

Entweder hat man wie die meisten nur eine einzige Brille und sucht sie dauernd, weil man sie mal wieder verlegt hat oder man macht es wie ich und hat auf jedem Tisch und in jeder Tasche eine parat liegen. Das mag zwar teurer sein, spart aber viel Lebenszeit.

Er studierte noch einmal das Cover des schwarzen Buchs, bevor er es aufschlug.

DR. GELTSAMERS ERINNERTE MEMOIREN, dachte er, was ist das denn für ein bescheuerter Titel. Engold hätte Klammer so etwas nie durchgehen lassen. In der Luft hätte er das zerrissen! Erinnert an Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. Ist das etwa eine Satire auf Böll? Gibt es irgendetwas Langweiligeres als eine Satire auf Böll? Da lese ich ja noch lieber die Gebrauchsanweisung für einen Thermo-Mixer. Gnade mir Gott, wenn ich jetzt eine Glosse von Klammer ertragen muss. Mein morgendlicher Stuhlgang ist humorvoller als dieser stocksteife Kerl!

Nikolaus Klammer – übrigens war das kein Pseudonym, sondern, soweit ihm bekannt, der echte Name des Schriftstellers - hatte viele gute Eigenschaften als Autor und fand auch bei einer großen Lesegemeinde Anklang, aber niemand konnte ihm vorwerfen, dass er sehr witzig oder gar satirisch war. Im Gegenteil, Klammer war ein recht kleinkarierter und im besten Sinne „bürgerlicher“ Schriftsteller, der von kleinkarierten und im besten Sinne bürgerlichen Leuten gelesen wurde. Auch wenn der versierte, aber hoffnungslos altmodische Geschichtenerzähler sich recht ordentlich verkaufte, denn schließlich gab es ja in Deutschland massenhaft kleinkarierte Bürger, würde man ihn in einigen Jahren vollkommen vergessen haben. Seine unpolitischen Romane waren auf Gesellschaftsdramen und -kritik eingeengt und alles andere als „phantastisch“, wie der Untertitel auf diesem Buch hier versprach. Klammer fehlte einfach der Horizont und auch ein wenig das Talent, um ein wirklich Großer zu werden.

Ungeduldig blätterte der Verleger das Buch auf und bewunderte auf der ersten Seite das geschmackvolle Exlibris, das Klammer dort eingestempelt hatte. Zwischen dem Einschlag und dem ersten Blatt waren auch ein nagelneuer Fahrschein der römischen Verkehrsbetriebe und merkwürdigerweise die Visitenkarte eines römischen Anwalts eingeklemmt gewesen, die ihm jetzt buchstäblich in den Schoß fiel. Praktisch, da hatte er gleich zwei Einmerker zur Hand.

Welkenbaum überflog nur kurz und mit der Stirn runzelnd das offensichtlich frei erfundene Impressum und sah sich dann die sepiabraune Fotografie, die auf das erste Kapitel einstimmte, an. Die Illustration zeigte eine winterliche Gebirgslandschaft, die er keiner bestimmten Weltgegend zuordnen konnte. Stirnrunzelnd begann er im ersten Kapitel des Buches zu lesen, das „Das Gulag des Dmitri Alexandrowitsch Krakow“ hieß und eine vollkommen andere Geschichte erzählte, als sie Welkenbaum erwartet hatte. Er las selten Prosa, aber wenn er es tat, dann war er vollkommen bei der Sache und konzentriert. Niemals überlas er eine Zeile oder ließ sich von seiner Umgebung ablenken. Seine Lippen bewegten sich beim Lesen kaum merklich, als würde er den Text für sich mitsprechen. Er war der ideale Leser, so wie ihn sich jeder Autor wünschte.

Schon nach den ersten Absätzen bezweifelte er, dass der „phantastische Roman“ wirklich von Klammer stammte. Ein anderer musste ihn geschrieben haben, das war ganz und gar nicht der Stil des Augsburger Autors. Der Text gab vor, Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte der 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zu sein und nach einem umständlichen Einstieg entwickelte die Erzählung rasch eine eigenartige Sogwirkung, der sich der Verleger nicht entziehen konnte. Sie führte ihn schnell weit weg von dem hitzigen römischen Frühsommertag direkt in die eisigen und unbarmherzigen Permafrost-Tundren Sibiriens. Welkenbaum betrat atemlos und fasziniert eine andere Welt.


Dr. Geltsamers erinnerte Memoiren - Teil 3

Подняться наверх