Читать книгу Kurfürstenklinik Box 1 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 6
Оглавление»Das Leben ist so schön, so wunderschö-hön…«, sang Dr. Adrian Winter vergnügt und überaus falsch vor sich hin. Zum Glück konnte ihn niemand hören, denn er saß im Auto und fuhr gemächlich durch Berlin. Tatsächlich, er ließ sich Zeit, denn er hatte es nicht eilig. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann er das zum letzten Mal mit gutem Gewissen hatte sagen können.
Er war Chef der Notaufnahme in der Kurfürsten-Klinik. Sein Alltag wurde von Streß und ewiger Hetze bestimmt, was ihm normalerweise nicht allzuviel ausmachte. Er war fünfunddreißig Jahre alt und kein Mann, der ständig Ruhe brauchte. Aber die letzten Monate waren hart gewesen, und die Woche Urlaub, die jetzt vor ihm lag, war die erste richtige Pause seit langer Zeit.
Dr. Winter sang weiterhin laut und falsch und freute sich wie ein Kind auf diese Woche, in der er zwar nicht verreisen würde, die aber dennoch wie eine Verheißung vor ihm lag.
Er hatte sich so viel vorgenommen, daß seine Zwillingsschwester Esther in spöttisches Gelächter ausgebrochen war, als er ihr davon erzählt hatte. Sollte sie lachen, soviel sie wollte! Jetzt war er jedenfalls auf dem Weg ins Pergamon-Museum – ein Besuch, den er sich schon seit Jahren vorgenommen hatte. Eine Schande, daß er als gebürtiger Berliner so lange nicht mehr dort gewesen war!
Ein noch recht kleiner blonder Junge auf einem Fahrrad zischte rechts an ihm vorüber, und ärgerlich runzelte der Arzt die Stirn. Unverantwortlich, daß es immer noch Eltern gab, die ihre Kinder ohne Helm fahren ließen. Außerdem fuhr der Junge viel zu schnell. Adrian Winter gab ein bißchen mehr Gas und beschloß, ihn an der nächsten Ampel anzusprechen und blieb deshalb direkt hinter ihm. Der Junge war nach seiner Schätzung höchstens zehn Jahre alt.
Esther würde jetzt wieder spöttisch sagen: »Adrian kann es nicht lassen, andere Leute zu bekehren«, dachte er, aber er würde es trotzdem versuchen. Vielleicht war der Junge einsichtig. Und vielleicht konnte er durch ein kurzes Gespräch ein Unglück verhindern.
Wenn er selbst Kinder hätte, würde er jedenfalls dafür sorgen, daß sie sich anders verhielten, das stand fest. Aber er hatte keine Kinder. Er hatte ja noch nicht einmal eine Frau. In der Klinik sagten seine Kolleginnen und Kollegen, er sei mit seiner Arbeit verheiratet, und daran war wohl viel Wahres. Obwohl er sich seit einiger Zeit dabei ertappte, daß er sich ausmalte, wie es wäre, wenn…
Die Ampel vor ihnen wurde gelb, und der junge Arzt lächelte zufrieden. Nun mußte der kleine Raser mit seinem Fahrrad anhalten, und er konnte ihm ins Gewissen reden. »Gleich hab’ ich dich«, dachte er, aber das war ein Irrtum.
Zu seinem Entsetzen hielt der Junge nicht an, sondern fuhr weiter – und zwar noch schneller als zuvor. Er hatte die Ampel eindeutig bei Rot überfahren, und so achtete er eher auf die Autos, die bereits von rechts und links auf ihn zukamen und denen er entwischen mußte, als auf die Straße. Deshalb bemerkte er den Stock nicht, der mitten auf der Fahrbahn lag – ein toter Ast, von einem der umstehenden Bäume auf diese Kreuzung geweht.
Adrian Winter sah genau kommen, was passieren würde. Er riß den Mund auf wie zu einem Schrei, aber es kam kein Laut heraus. Er wollte aufspringen und hinter dem Jungen herlaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Ohnmächtig und stumm blieb er hinter dem Steuer sitzen.
Es war ohnehin bereits zu spät, niemand hätte das, was nun geschah, noch verhindern können. Als das Fahrrad mit dem Vorderreifen auf das Hindernis stieß, wurde die schnelle Fahrt jäh gestoppt. In hohem Bogen flog der Junge über den Lenker und landete mit einem dumpfen Aufprall auf der Fahrbahn. Er blieb regungslos liegen.
Ein von rechts heranfahrendes Auto kam in allerletzter Sekunde mit quietschenden Bremsen wenige Zentimeter vor seinem Kopf zum Stehen. Ein anderer Wagen, der von links ebenfalls direkt auf den Jungen zufuhr, konnte ausweichen, denn der Fahrer riß mit aller Gewalt das Steuer herum. Dann aber verlor er die Kontrolle über den Wagen, der nun mit voller Wucht gegen den Betonpfeiler einer Fußgängerbrücke prallte.
Im Nu war die gesamte Kreuzung blockiert.
Dr. Winter erwachte aus seiner Erstarrung, griff nach seinem Arztkoffer, den er immer im Wagen hatte, stieg aus und rannte los. Aber wohin zuerst?
Er entschied sich für den Jungen, der nur wenige Meter vor ihm auf der Straße lag. Beeil dich, beeil dich, hämmerte es in seinem Kopf, doch es kam ihm wirklich so vor, als bewege er sich im Schneckentempo.
Obwohl der Unfall gerade erst passiert war, hatten sich bereits Schaulustige eingefunden, die das Geschehen kommentierten. Sie wichen zur Seite, als der große Mann mit den dunkelblonden Haaren und den braunen Augen energisch sagte: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt. Bitte, gehen Sie doch zur Seite!«
Adrian Winter sagte das mit so viel Autorität in der Stimme und im Auftreten, daß sie tatsächlich zurückwichen. Er beugte sich zu dem Kind hinunter. Der blonde Junge war sehr blaß und wirkte noch kleiner als zuvor und außerordentlich zerbrechlich. Die dunklen Wimpern lagen wir Halbmonde auf den schmalen Wangen.
»Hallo, Kleiner!« sagte er leise und strich sacht über die Schläfe. Der Junge reagierte nicht.
»Sie hat ihn einfach überfahren«, hörte der Arzt jemanden sagen. »Und jetzt sitzt sie da und rührt sich nicht. Anstatt auszusteigen…«
Adrian zwang sich, nicht mehr zuzuhören. Schneller, schneller, sagte er sich. Du mußt dich beeilen. Er legte einen Finger an die Halsschlagader des Jungen. Der Puls war schwach. Schnell und gründlich tastete er den kleinen Körper ab, drehte ihn vorsichtig auf die Seite und wandte sich dann an eine ältere Frau, die neben ihm stand und einen vernünftigen Eindruck machte. Zumindest hatte sie sich an dem allgemeinen Getuschel bisher nicht beteiligt.
»Bleiben Sie bei ihm und sagen Sie mir, wenn sich an seinem Zustand etwas ändert. Ich muß nach den anderen sehen.«
Sie nickte wortlos und sah ängstlich auf den Jungen. Dann ging sie in die Knie und sprach leise auf ihn ein. Er rührte sich nicht.
Dr. Adrian Winter richtete sich auf und warf einen Blick in das Auto, das direkt vor dem Jungen zum Stehen gekommen war. Sofort wurden die Kommentare wieder lauter.
»Der arme kleine Kerl. Und sie macht sich nicht einmal die Mühe, auszusteigen…«
»Aber es war doch gar nicht ihre Schuld, der Junge ist doch bei Rot über die Ampel gefahren!«
»Was wissen Sie denn schon? Ich hab’s genau gesehen, wie die Frau losgerast ist, direkt auf den Jungen zu.«
»Sie ist ganz durcheinander, das sehen Sie doch!«
»Das wären Sie auch, wenn Sie einen kleinen Jungen überfahren hätten!«
Hör nicht hin, dachte er, während er die Wagentür öffnete. Hör einfach nicht hin.
Eine junge Frau saß am Steuer und rührte sich nicht. Ihre großen Augen waren nach vorn gerichtet, schienen aber nichts wahrzunehmen. Ihre Hände klammerten sich noch immer um das Lenkrad. Sie hatte einen Schock, er sah jedoch, daß sie sonst unverletzt war, und so rannte Adrian Winter weiter zu dem Auto, das gegen den Betonpfeiler geprallt war.
Im Laufen zog er sein Handy aus der Tasche und verständigte den Notruf. Gleich darauf wählte er eine zweite Nummer. Seit der Junge auf die Straße geschleudert worden war, waren noch keine drei Minuten vergangen.
»Moni?« sagte er knapp. »Ein Unfall, kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Ist mit dem Fahrrad böse gestürzt, ohne Helm. Gehirnerschütterung, Prellungen. Trifft in etwa zwanzig Minuten bei euch ein. Außerdem zwei weitere Personen, eine hat einen schweren Schock, über die Verletzungen der anderen kann ich noch nichts sagen.«
Er beendete das Gespräch, ohne eine Erwiderung abzuwarten. In dem Auto, das er nun erreichte, saß ein noch junger Mann und stöhnte laut vor Schmerzen. Gleichzeitig fluchte und schimpfte er wie ein Rohrspatz. Adrian kannte diese Reaktion, es war der Versuch des Mannes, mit den Schmerzen und dem Schock auf seine Weise fertig zu werden.
Auch hier drängten sich bereits die Schaulustigen und kommentierten das Geschehen. Er biß sich heftig auf die Lippen, um nicht wütend dazwischen zu fahren. Er würde sich nie an diese Form der »Anteilnahme« gewöhnen.
»Wieso sind denn die Sanitäter noch nicht da? Das dauert auch immer länger.«
»Ja, und in der Zwischenzeit kann der Mann hier verbluten, weil er den Jungen retten wollte. Ein Skandal ist das!«
Alle starrten in das Auto, keiner hatte bisher einen Versuch gemacht, dem Verletzten zu helfen. Adrian bahnte sich energisch seinen Weg – dieses Mal, ohne ein Wort zu sagen. Es schien ihm, als ließen ihn die Leute eher widerwillig durch. Niemand wollte seinen Platz, von dem aus er gut sehen konnte, freiwillig räumen. Am liebsten hätte er vor Wut laut gebrüllt.
Ein Blick genügte ihm, um festzustellen, daß das rechte Bein des Verletzten übel aussah: offenbar war es mehrfach gebrochen, und die Kniescheibe war bei dem Aufprall schwer verletzt worden. Das Vorderteil des Wagens war völlig eingedrückt, aber es gelang Adrian mit einiger Mühe, die Tür auf der Fahrerseite zu öffnen.
»Fassen Sie mich bloß nicht an!« schrie der Mann.
»Ich bin Arzt«, erwiderte Adrian ruhig. »Wenn ich Sie nicht anfasse, kann ich Ihnen auch nicht helfen.«
»Arzt?« Die Augen des Mannes blickten mißtrauisch. »Wo kommen Sie denn so schnell her?« Er stöhnte erneut vor Schmerzen und konnte nicht weitersprechen.
»Ich habe den Unfall zufällig mit angesehen«, antwortete Adrian ruhig und beugte sich über ihn. Unwillkürlich biß er sich auf die Lippen, der Mann mußte entsetzliche Schmerzen haben. Er konnte hier nicht allzuviel für ihn tun. Das Bein mußte operiert werden, und man konnte nur hoffen, daß er später wieder würde gehen können.
Adrian verstellte den Sitz, so daß der Mann fast lag und das verletzte Bein etwas mehr Platz hatte und nicht länger eingeklemmt war. Der Mann wehrte sich nicht mehr, als der Arzt ihn untersuchte, seine letzten Kräfte hatten ihn verlassen. Nach der Untersuchung gab Adrian ihm eine Spritze, um seine Schmerzen zu lindern. Die Kommentare der Umstehenden hörte er jetzt nicht mehr.
Er war gerade fertig, als der erste Rettungswagen eintraf. Dr. Winter winkte die Sanitäter zu sich und begrüßte sie mit einem Kopfnicken. Leise gab er ihnen die nötigen Informationen. »Die Kurfürsten-Klinik ist vorgewarnt«, sagte er. »Fahrt sofort los, den Mann hat’s am schlimmsten erwischt! Ich komme nach, sobald ich kann.«
Daraufhin ließ er sie allein und lief zurück zu dem Jungen, neben dem noch immer die Frau kniete, die er darum gebeten hatte, bei ihm zu bleiben. Nach wie vor standen viele Leute herum, gafften und regten sich über den Unfall auf, ohne auch nur das geringste zu tun. Einige Autofahrer, die es eilig hatten und weiterfahren wollten, hatten bereits angefangen zu streiten – das Übliche, dachte der engagierte junge Arzt resigniert. Aber in diesem Augenblick kam zum Glück die Polizei, sie würde die Kreuzung in kurzer Zeit geräumt haben.
»Er hat sich die ganze Zeit nicht bewegt«, sagte die Frau, die die Hand des Jungen hielt, leise. »Er wird doch nicht sterben?« Ihre Stimme klang ängstlich.
Beruhigend schüttelte Adrian den Kopf. »Nein, er hat eine Gehirnerschütterung, sicher wacht er bald auf. Ich würde sagen, er hat Glück im Unglück gehabt.«
Adrian richtete sich ein wenig auf und stellte fest, daß die Fahrerin des Autos, das gerade noch rechtzeitig zum Stehen gekommen war, noch immer regungslos hinter dem Steuer saß. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie war mindestens so blaß wie das Kind.
In diesem Augenblick bahnten sich die Sanitäter des zweiten Rettungswagens energisch ihren Weg durch die Menge, und Dr. Winter atmete erleichtert auf.
Sie begrüßten einander mit knappem Nicken, er gab auch ihnen die nötigen Informationen und sagte dann: »Gebt dem Jungen eine Infusion zur Stabilisierung des Kreislaufs und bringt ihn in die Kurfürsten-Klinik, die wissen bereits Bescheid. Er hat eine Gehirnerschütterung, einige Prellungen, aber soweit ich sehe, keine inneren Verletzungen. Aber wartet noch einen Augenblick, ihr müßt noch jemanden mitnehmen.« Er machte eine Kopfbewegung zu dem Auto hin, vor dem der Junge lag.
Die Sanitäter folgten seinem Blick und verstanden, was er meinte. »Okay, Dr. Winter«, sagte einer von ihnen, ein älterer Mann, den Adrian schon lange kannte. »Wir bringen nur schnell den Kleinen schon mal in den Wagen.«
Sie betteten den Jungen vorsichtig auf die Trage und schnallten ihn fest. Gleich darauf liefen sie im Eiltempo mit ihm zu dem wartenden Rettungswagen.
Adrian richtete sich auf und ging zur Fahrerseite des Autos, in dem die Frau noch immer regungslos saß. Die Schaulustigen zerstreuten sich allmählich, denn die Polizeibeamten hatten sich unverzüglich an die Arbeit gemacht und energisch durchgegriffen. Die Namen von Zeugen wurden aufgenommen, alle anderen gebeten, die Straße freizumachen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Verkehr wieder floß, als sei nichts geschehen.
Adrian öffnete die Tür des Wagens, aber die junge Frau hinter dem Steuer rührte sich noch immer nicht. Sie hatte lange blonde Haare, die ihr im Augenblick so weit ins Gesicht gefallen waren, daß er kaum ihr Profil sehen konnte. Er beugte sich hinunter und sagte mit sehr sanfter Stimme, um sie nicht zu erschrecken: »Hallo, ich bin Dr. Adrian Winter. Bitte steigen Sie jetzt aus dem Wagen.«
Sie schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie reagierte überhaupt nicht. Vorsichtig streckte er eine Hand aus und legte sie an ihre Schläfe. Sie zuckte ein wenig zusammen, sonst jedoch bewegte sie sich auch jetzt nicht. Ihre Haut fühlte sich kühl und feucht an, es war offensichtlich, daß sie einen Schock erlitten hatte. »Bitte, steigen Sie jetzt aus«, sagte er behutsam.
Jetzt endlich wandte sie den Kopf und sah ihn an. Sie hatte große, veilchenfarbene Augen, und unwillkürlich schluckte er. Es kam ihm so vor, als habe er noch nie so schöne Augen gesehen. Sie verliehen ihrem Gesicht einen eigenartigen Reiz, dem man sich nur schwer entziehen konnte.
»Was haben Sie gesagt?« Ihre Stimme war leise und kaum verständlich.
»Steigen Sie bitte aus«, wiederholte er ruhig. »Sie müssen in ein Krankenhaus und dort behandelt werden.«
Sie schüttelte langsam den Kopf und wandte sich von ihm ab, um erneut nach vorn zu starren. »Mir fehlt nichts«, erklärte sie mechanisch. »Mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin nicht verletzt.« Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Aber der Junge…« Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad jetzt so fest, daß ihre Knöchel von der Anstrengung weiß wurden.
»Ich habe einen Jungen angefahren«, sagte sie, noch immer mit dieser merkwürdig tonlosen Stimme. »Er hat sich nicht mehr gerührt. Ich… ich glaube, er ist tot.« Sie zitterte stärker und wandte sich wieder zu Adrian um. In ihren schönen Augen stand das blanke Entsetzen. »Ich habe ihn umgebracht.«
Er griff sanft, aber zugleich sehr bestimmt nach ihrem Arm und zwang sie, auszusteigen. »Nein, das haben Sie nicht!« widersprach er energisch. »Sie haben vorher bremsen können. Sie haben ihn nicht angefahren. Er ist verletzt, weil er vom Rad gestürzt ist, aber nicht, weil Sie ihn angefahren haben. Und er ist nicht tot, er lebt.«
»Was sagen Sie da?«
Langsam und sehr betont wiederholte er: »Der Junge lebt! Sie haben ihn nicht angefahren! Er ist böse von seinem Rad gestürzt und hat eine Gehirnerschütterung, aber er ist nicht tot. Haben Sie das verstanden?«
Sie nickte zögernd, obwohl sie ihm offenbar noch immer nicht ganz glaubte. Seine Erfahrung sagte ihm, daß er weitersprechen mußte.
»Der Junge ist in guten Händen, er wird ebenfalls ins Krankenhaus gebracht. Und jetzt kommen Sie bitte mit mir! Der Rettungswagen wartet, aber wir dürfen keine Zeit verlieren, denn der Junge muß dringend behandelt werden. Und Sie auch.«
Endlich gab sie ihren Widerstand auf und folgte ihm. Wie eine Schlafwandlerin ließ sie sich von ihm zum Rettungswagen führen, wo die Sanitäter ihr halfen, in den Wagen zu steigen.
»Sie hat einen schweren Schock«, sagte Adrian leise zu dem älteren Sanitäter, den er kannte. »Sie hat gedacht, der Junge sei tot, und sie habe ihn angefahren.«
»Wir kümmern uns um sie, Dr. Winter, keine Sorge«, erwiderte der Sanitäter und sah die junge Frau mitleidig an. Er übte seinen Beruf schon lange aus, und noch immer brachte er großes Mitgefühl für die Menschen auf, die er Tag für Tag in eins der Krankenhäuser von Berlin brachte, und deshalb schätzte Adrian Winter ihn besonders.
»Ich folge euch mit meinem Wagen.«
»Bis gleich, Doktor!«
*
»Ich denke, er hat Urlaub?« Die Internistin Dr. Julia Martensen schüttelte den Kopf. Sie war eine hübsche, sehr schlanke Brünette von Ende Vierzig, die aber deutlich jünger aussah. Soeben war sie von Schwester Monika über den Anruf ihres Kollegen Winter informiert worden. »Und da baut er gleich am ersten Tag einen Unfall?«
»Ich weiß nicht, ob er in den Unfall verwickelt ist oder ihn nur gesehen hat«, erwiderte Monika Ullmann und strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung einige widerspenstige Haare aus dem Gesicht. Sie hatte einen lustigen, fast schwarzen Lockenkopf, aber ihre Haare hatten die Neigung, sich selbständig zu machen und legten sich nur selten so, wie Moni es gern gehabt hätte. Sie beschloß deshalb etwa alle vier Wochen, sich endlich einen radikalen Kurzhaarschnitt machen zu lassen: »Fünf Millimeter Länge – damit der Ärger ein Ende hat.«
Bisher freilich war es bei diesen Ankündigungen geblieben, worüber ihre Kolleginnen und Kollegen froh waren, denn der Lockenkopf war, wie es der Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer einmal ausgedrückt hatte, »Schwester Monikas Markenzeichen.« Er war verliebt in sie, was natürlich alle wußten, aber bisher hatte sie ihn eiskalt abblitzen lassen. Ihre Interessen lagen im Augenblick woanders. Und Dr. Schäfer war, wenn man es genau nahm, schon in jede Frau der Kurfürsten-Klinik verliebt gewesen. Aber da er ein äußerst schüchterner Mann war, war er bisher noch nie dazu gekommen, auch nur einer einzigen Frau seine Liebe zu gestehen.
»Typisch Adrian Winter!« Julia Martensen war mit dem Thema noch nicht fertig. »Keinem anderen Arzt würde es passieren, daß er an seinem ersten Urlaubstag gleich Zeuge eines Unfalls oder sogar darin verwickelt wird. Was hat er denn überhaupt gesagt?«
»Nur, daß ein kleiner Junge bös gestürzt ist und eine Gehirnerschütterung und Prellungen davongetragen hat und daß noch zwei andere…« Schwester Monika wurde unterbrochen, denn in diesem Augenblick kamen die Sanitäter im Laufschritt herein. Auf ihrer Trage lag ein Mann mit einer schrecklich aussehenden Beinverletzung, der leise vor sich hin fluchte.
»Dies ist Paul Lüttringhaus«, erklärte einer der Männer. »Dreiunddreißig Jahre alt. Er hat einen Schock und eine schwere Beinverletzung. Mehrere Brüche im Unterschenkel, Kniescheibe verletzt. Aber er ist stabil und bei Bewußtsein. Dr. Winter hat ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben.«
»Es war die Rede von einem Jungen«, sagte Dr. Martensen, die sich bereits über den Patienten beugte, während Schwester Monika zum Telefon lief, um das Operationsteam zu informieren.
»Der Junge und die Frau kommen mit dem nächsten Wagen«, antwortete der Sanitäter. »Der Junge hat eine schwere Gehirnerschütterung, die Frau einen Schock – das ist alles, was ich weiß. Sie müßten aber auch bald hier sein. Es war jedenfalls großes Glück, daß Dr. Winter sofort zur Stelle war.«
Julia hatte bereits die Hose des Patienten aufgeschnitten und das Bein vorsichtig untersucht. Die Kniescheibe war unförmig angeschwollen, und sie konnte nur für ihn hoffen, daß sie nicht völlig zertrümmert war. Er mußte jedenfalls von einem Orthopäden oder einem hervorragenden Chirurgen operiert werden, wenn er die Chance haben wollte, in seinem Leben jemals wieder laufen zu können.
Schwester Monika kam angerannt. »Kein OP-Team«, berichtete sie. »Die operieren alle.«
Julia Martensen sah auf den jungen Mann, der leise stöhnend vor ihr lag und murmelte: »Ist denn kein Chirurg im Haus, der gerade Zeit hat?«
»Nein, niemand«, antwortete Schwester Monika. »Selbst das Bereitschaftsteam operiert – und alle Operationen dauern länger.«
Nachdenklich richteten sich die Augen der Ärztin auf Dr. Bernd Schäfer. Der junge Mann mit den gutmütigen braunen Augen, den braunen Locken und dem massigen Körper war Assistenzarzt der Chirurgie. Aber er wäre mit einer solchen Operation hoffnungslos überfordert, das wußte sie. Er würde in diesem Fall nicht helfen können.
Er mißverstand ihren Blick und hob entsetzt die Arme. »Nein, nein!« sagte er. »Ich operiere dir jeden Blinddarm und von mir aus auch jede Gallenblase, aber dieses Bein – das ist eine Nummer zu groß für mich, Julia. Ehrlich. Da gehe ich allein nicht dran. Das muß ein Orthopäde machen. Hast du dir das mal genau angesehen?«
Sie seufzte. »Du sollst ihn ja auch gar nicht operieren, Bernd!« sagte sie resigniert. Sie wollte gerade weitersprechen, doch in diesem Augenblick flogen erneut die Türen der Notaufnahme auf. Zwei Sanitäter brachten den Jungen, den Dr. Winter angekündigt hatte, ein dritter führte eine blonde, sehr blasse junge Frau herein.
Julia Martensen machte ein grimmiges Gesicht. »Du fährst jetzt mit Herrn Lüttringhaus nach oben, Bernd!« kommandierte sie. »Das Bein muß geröntgt werde, und danach werden wir sehen, wie es mit ihm weitergehen kann. Wir versuchen, jemanden für die Operation aufzutreiben, und du kannst dann assistieren.«
Der junge Assistenzarzt machte sich eilig mit seinem Patienten auf den Weg. Der Tag würde kommen, an dem er derjenige war, der eine solche Operation durchführen mußte, und er zitterte bereits bei dem Gedanken daran. Aber noch war es zum Glück nicht soweit.
Julia atmete auf und zwang sich zur Ruhe. Es würde sich schon jemand finden für die Operation von Herrn Lüttringhaus, aber sie konnte nicht alle Probleme auf einmal lösen. Eins nach dem anderen, befahl sie sich wie immer, wenn der Streß drohte, zu groß zu werden. Das Wichtigste war jetzt, nicht die Übersicht zu verlieren.
»Kümmere dich um die Frau, Moni!« sagte sie nach einem prüfenden Blick. »Sie hat einen schweren Schock.«
Schwester Monika nickte. Sie wußte, was in diesem Fall zu tun war. »Kommen Sie bitte!« sagte sie ruhig und freundlich zu Stefanie Wagner, die ihr folgte wie eine Marionette.
Julia Martensen wandte sich an die Sanitäter. »Welche Informationen haben Sie denn für uns?«
»Die Frau heißt Stefanie Wagner. Sie hätte den Jungen fast überfahren«, lautete die Antwort, »deshalb steht sie unter Schock. Dr. Winter hatte Mühe, sie zum Aussteigen aus ihrem Auto zu bewegen, sie war wie erstarrt. Es ist etwas besser, seit er ihr gesagt hat, daß der Junge lebt. Sie hat gedacht, daß sie ihn getötet hat. Der Junge hat eine Gehirnerschütterung, Prellungen, wahrscheinlich keine inneren Verletzungen. Er hat auf Anweisung von Dr. Winter eine kreislaufstabilisierende Infusion bekommen.«
»Und wie heißt er?«
Der Sanitäter schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir wissen es nicht. Er hatte nichts bei sich, und er war ganz allein. Wenn seine Eltern in der Nähe waren, dann haben sie von dem Unfall offenbar nichts bemerkt.«
»Mhm.« Julia machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich hoffe, sie melden sich bald, das wäre für das Kind nur gut.« Dann lächelte sie den Sanitätern zu und sagte: »Danke!« Die Männer verließen das Krankenhaus sofort wieder, der nächste Einsatz wartete bereits auf sie.
Der Junge wurde umgebettet, und die Ärztin machte sich umgehend an die Untersuchung. Wie war er so schmal und blaß! Seine Haare waren dunkelblond, das Gesicht feingezeichnet.
»Hallo, Kleiner!« sagte sie sanft, als sie die Untersuchung beendet hatte, doch er reagierte nicht. Seine Augen blieben geschlossen. Er hatte Glück im Unglück gehabt, soweit sie das bisher beurteilen konnte. Aber natürlich würden sie seinen Kopf röntgen müssen, um ganz sicher zu gehen, daß er nicht etwa einen Schädelbruch hatte.
»Tag, Julia!«
Sie zuckte erschrocken zusammen, als ihr Kollege Dr. Adrian Winter plötzlich vor ihr stand.
»Was machst du denn hier?« fragte sie ungläubig.
Er machte sich nicht die Mühe, die Frage zu beantworten. »Und?« fragte er ungeduldig. »Hast du noch etwas gefunden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber er muß zum Röntgen. Allerdings wäre es mir lieb, wenn er endlich aufwachen würde.«
Adrian nickte und fuhr sich mit beiden Händen durch die dunkelblonden Haare. »Ich habe schon auf der Straße versucht, ihm eine Reaktion zu entlocken, aber es ist mir nicht gelungen.« Sanft strich er dem blassen Jungen über die Wange. »Wach auf, Kleiner!« murmelte er. »Du wirst uns doch keinen Kummer machen, hörst du? Und mir schon gar nicht, dies ist nämlich mein erster Urlaubstag, mußt du wissen.«
Der Junge blinzelte ein wenig, dann machte er die Augen auf. »He!« sagte Adrian. »Da bist du ja! Jetzt kannst du uns auch endlich sagen, wie du heißt, damit wir dich ansprechen können.«
Der Junge sah ihn aus dunklen unergründlichen Augen an, antwortete aber nicht.
Nun versuchte Julia ihr Glück. »Heißt du Peter? Oder vielleicht Michael? Oder Benjamin? Du hast bestimmt einen sehr schönen Namen.«
Das Kind sagte noch immer nichts, sah nur mit großen Augen von einem zum andern.
»Ich fahre erst einmal mit ihm zum Röntgen, Julia«, entschied Adrian. »Das ist jetzt wichtiger.«
»Wieso du? Du hast doch Urlaub und solltest dich endlich all dem widmen, was du dir für die nächsten Tage vorgenommen hast.«
Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das hier ist wichtiger! Ich kann doch jetzt nicht einfach wieder gehen!«
Sie verzichtete auf den Hinweis, daß er das sehr wohl tun könnte – und als sie das gedacht hatte, fiel ihr siedendheiß Paul Lüttringhaus ein. »Nein, du kannst wirklich nicht einfach wieder gehen!« rief sie. »Mein Gott, Adrian, dich schickt der Himmel!«
Er machte ein mißtrauisches Gesicht. »Ach, auf einmal?« fragte er.
»Ja, wegen Herrn Lüttringhaus!« rief sie. »Er muß doch operiert werden.«
»Lüttringhaus?« fragte er verwirrt. Der Name sagte ihm nichts. Er hatte am Unfallort nicht nach dem Namen der Verletzten gefragt.
»Der Mann mit dem verletzten Bein!« sagte sie ungeduldig. »Du mußt ihn operieren!«
Er starrte sie an. »Wieso ich? Habt ihr etwa noch keinen Orthopäden benachrichtigt?«
»Alle Operationsteams arbeiten«, erklärte sie hastig. »Auch das Bereitschaftsteam. Niemand steht zur Verfügung. Bernd ist jetzt erst einmal mit dem Patienten zum Röntgen gefahren, damit wir wissen, was mit seiner Kniescheibe ist. Ich habe ihm versprochen, währenddessen nach jemandem zu suchen, der die Operation übernehmen kann.«
»Das muß eigentlich ein Orthopäde machen, das weißt du doch!« wiederholte Adrian hartnäckig.
»Es ist aber keiner da!« Ihre Stimme war lauter geworden, als sie eigentlich gewollt hatte. »Verstehst du mich endlich? Du mußt den Mann operieren. Ich weiß nicht, wer es sonst tun sollte!«
Den letzten Satz mußte sie schon hinter ihm herrufen. Er hatte sie endlich verstanden und war bereits in einen der Fahrstühle gesprungen, der sich im nächsten Augenblick in Bewegung setzte und nach oben fuhr.
*
Als Alexander Baumann in die Wohnung stürmte, schüttelte seine Mutter Lisa lächelnd den Kopf. Der Junge war so wild – er schlug wirklich ganz seinem Vater nach. Sie wartete auf den Schmerz, der sich immer meldete, wenn sie an Alexanders Vater dachte. Dieser war vor mehr als fünf Jahren an einer Lungenentzündung gestorben und hatte seine Frau und seinen kleinen Sohn zurückgelassen. Der Schmerz kam, aber er war milder als früher, und darüber war sie froh. Sie hatte sich in den ersten Jahren nach seinem Tod schrecklich gequält. Und wäre nicht ihr Sohn gewesen… Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Sie hatten es geschafft, Alexander und sie. Ihnen ging es gut, und sie war dankbar dafür. Alexander war ein Wildfang, aber er war ein lieber Junge, der immer spürte, wenn sie traurig war und der es bis jetzt noch jedesmal geschafft hatte, sie zu trösten, obwohl er erst acht Jahre alt war.
Sie war mit ihrem Mann glücklich gewesen, aber er würde nicht zurückkommen. Allmählich wurde es Zeit, sich damit abzufinden. Und das gelang ihr jetzt besser als noch im Jahr zuvor. Sie würde ihren Mann nicht vergessen, aber sie wollte weiterleben, das wußte sie jetzt. Und wenn es möglich war, dann wollte sie auch wieder Freude am Leben haben.
»Wo ist Pablo?« fragte sie, während Alexander seine Jacke in die nächste Ecke schleuderte.
»Ich dachte, er wäre schon hier«, antwortete ihr Sohn und sah sie mit großen Augen an. »Er ist plötzlich verschwunden, und da dachte ich, er wollte zurück ins Haus.«
»Habt ihr euch gestritten?« fragte Lisa beunruhigt. Sie war eine sehr zarte Frau – so schlank und zierlich, daß man auf die Idee kommen konnte, ein Windhauch würde reichen, um sie umzupusten. Aber in ihr steckte eine Menge Kraft, auch wenn man sie ihr nicht ansah. Sie hatte glatte aschblonde Haare, kluge braune Augen und ein hübsches Gesicht mit einer Stupsnase und einem etwas zu groß geratenen Mund, der neuerdings manchmal wieder lächeln konnte.
»Quatsch!« sagte Alexander als Antwort auf ihre Frage. »Wir haben Fußball gespielt mit ein paar anderen – Pablo ist ein klasse Torschütze, Mami!«
»Aber wo ist er jetzt?« fragte Lisa wieder und stand auf. »Er ist jedenfalls nicht hier, also muß er noch draußen sein.«
»Er kommt bestimmt gleich«, meinte Alexander sorglos. »Du mußt nicht ständig auf ihn aufpassen, er ist schließlich kein Baby mehr!« Mit blitzenden Augen stand er vor ihr, als er das sagte, ihr kleiner Sohn, der schon so groß war, daß sie immer nur staunen konnte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er auf sie herunterblicken konnte. Er hatte ihre aschblonden Haare geerbt und ihren zu großen Mund – aber die blauen Augen und die geradezu klassische Nase hatte er von seinem Vater.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß Pablo kein Baby ist, aber wir sind für ihn verantwortlich, Alex! Und ich will nicht, daß er allein draußen spielt. Er spricht kein Deutsch, und er kennt sich hier überhaupt nicht aus.«
Alexander kicherte. »Der kann schon ganz viele deutsche Wörter, Mami, mehr als ich spanische. Außerdem war José dabei, der kann spanisch.«
»Trotzdem«, sagte Lisa energisch, »ich gehe ihn suchen. Und du paßt das nächste Mal gefälligst auf, wo er hinläuft, verstanden?«
Ihr Sohn verzog das Gesicht, aber als er ihren strengen Blick sah, sagte er widerwillig: »Alles klar!« Aber er folgte seiner Mutter nicht, als sie die Wohnung verließ. Er fand, daß sie mit ihrer Sorge übertrieb. Schließlich war Pablo sogar schon neun, und wenn man so alt war, dann konnte man längst auf sich selbst aufpassen.
Lisa Baumann war unterdessen auf dem Weg zum Spielplatz. Diese Bengel, dachte sie, halb amüsiert, halb ärgerlich. Irgendwie schafften sie es doch immer wieder, die Erwachsenen auf Trab zu halten. Und der kleine quirlige Pablo war auf seine Art genauso wild und ungestüm wie ihr Alexander.
Die beiden hatten sich vom ersten Augenblick an gut verstanden – obwohl sie nicht die gleiche Sprache sprachen. Aber erstaunt hatte Lisa feststellen müssen, daß Sprachbarrieren bei Kindern offenbar kein großes Problem darstellten. Sie schafften es immer irgendwie, sich zu verständigen. Nach wenigen Tagen konnte jeder der Jungen bereits ganze Sätze in der ihm bis dahin fremden Sprache des anderen sagen, und jeden Tag kamen neue Wörter und Sätze hinzu.
Sie selbst dagegen hatte sich fast ein Jahr lang an der Volkshochschule abgequält, um Spanisch zu lernen, damit sie auf diesen Besuch gut vorbereitet war. Und nun? Sie mußte bei allem, was sie sagen wollte, lange nachdenken, und auch dann kamen ihr die Sätze nur stotternd über die Lippen. Alexander dagegen redete in einem fröhlichen Mischmasch aus Deutsch und Spanisch drauflos, ohne zu überlegen – und der kleine Pablo schien ihn ohne Probleme zu verstehen. Jedenfalls antwortete er in einem ebensolchen Mischmasch, und Alexander verstand jedes Wort.
Lisa Baumann war Sekretärin bei einer Kirchengemeinde, die vor einigen Jahren Verbindungen zu einer Gemeinde in Argentinien geknüpft hatte. Es hatte zunächst nur briefliche Kontakte gegeben, danach waren Pakete auf den Weg geschickt worden – und dann schließlich waren die ersten Gemeindemitglieder zu einem Besuch nach Argentinien aufgebrochen, und im Jahr darauf war der Gegenbesuch erfolgt. Daraus hatten sich herzliche persönliche Kontakte entwickelt, und die Idee war aufgekommen, jedes Jahr ein paar Kinder, die keine Eltern mehr hatten, dann zu einem mehrwöchigen Aufenthalt nach Deutschland einzuladen.
Lisa hatte sich in diesem Jahr zum ersten Mal an dieser Aktion beteiligt, und sie war froh, daß sie das getan hatte. Alexander litt manchmal darunter, daß er keine Geschwister hatte. Er hatte Pablo begeistert begrüßt, und seit der Junge hier war, waren die beiden unzertrennlich.
Als sie den Spielplatz erreicht hatte, konnte sie Pablo nirgends entdecken. Die anderen Jungen allerdings spielten noch immer Fußball.
»Wo ist Pablo?« rief sie ihnen zu.
Einige zuckten mit den Schultern, um ihr zu zeigen, daß sie es nicht wußten, aber José, der kleine Spanier, sagte: »Ich glaube, er ist mit Alexanders Rad weggefahren. Das wollte er immer schon mal machen, aber Alex hat ihn bisher nicht gelassen.«
Lisa hatte das Gefühl, daß ihr Herzschlag aussetzte. Sie hatte ihrem Sohn strikt verboten, Pablo mit dem Rad fahren zu lassen – das war in Berlin für einen Jungen, der nicht hier aufgewachsen war, viel zu gefährlich. Und genau das hatte sie auch Pablo gesagt. »Wo ist er?« fragte sie. »Wohin ist er gefahren?« Ihre Stimme klang ganz anders als sonst.«
»Keine Ahnung«, sagte José. »Aber er hat immer gesagt, er möchte mal zum Ku’damm.« Er zeigte zur Straße, die zwar nicht der Ku’damm war, aber wenn man ihr lange genug folgte, würde man dort landen.
Lisas Herzschlag setzte wieder ein und war nun auf einmal rasend schnell. Wenn Pablo nun wirklich auf die Straße gefahren war…
In diesem Augenblick kam ihr Sohn aus dem Haus – offenbar war er nun doch beunruhigt, wo Pablo so lange blieb. Lisa rannte zu ihm. »José hat gesagt, er hat ihn mit deinem Rad wegfahren sehen«, rief sie schon, bevor sie ihn erreicht hatte.
Alexander machte ein böses Gesicht. Er konnte es nicht leiden, wenn sich jemand an seinen Sachen vergriff, ohne ihn zu fragen – nicht einmal, wenn es sich bei diesem Jemand um Pablo handelte. Dann sah er das Gesicht seiner Mutter und begriff, daß sie Angst hatte.
»Ich seh’ mal nach, ob das Rad weg ist«, sagte er und rannte zurück.
Lisa folgte ihm. Vielleicht hatte sich José ja geirrt, sagte sie sich. Vielleicht hatte er einen anderen Jungen gesehen und ihn mit Pablo verwechselt. Wenn man ihn nur von hinten sah, konnte das leicht passieren.
Aber als sie an der Kellertreppe stand und Alexanders Gesicht sah, wußte sie, daß ihre Hoffnung sie getrogen hatte.
»Es ist weg«, sagte ihr Sohn und sah sie unsicher an. »Aber er ist bestimmt nicht weit gefahren – nur einmal um den Block.«
»José meint, er wollte zum Ku’damm«, entgegnete Lisa mit erstickter Stimme.
»Aber doch nicht allein!« widersprach Alexander voller Überzeugung.
»Ich weiß, daß er nochmal dahin wollte – wir sind ja erst einmal dagewesen. Aber er wollte mit uns dahin, Mami, ganz bestimmt, und nicht allein!«
»Geh nach oben«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich nehme mein Rad und fahre die umliegenden Straßen ab.«
»Ich will mit!«
»Erstens ist dein Rad nicht da, und zweitens möchte ich, daß jemand zu Hause ist, falls Pablo kommt. Verstehst du das?«
Er nickte, dagegen ließ sich nur schwer etwas einwenden. Mit hängendem Kopf schlich er die Treppen hinauf, während Lisa sich eilig auf den Weg machte.
Ich muß ihn finden, dachte sie. Er ist doch noch so klein, und er kann sich ja hier überhaupt nicht verständigen. Und außerdem bin ich für ihn verantwortlich. Wenn ihm nur nichts passiert ist!
*
Im Operationssaal herrschte angespannte Stille. Keine Spur von Scherzen oder lockerer Unterhaltung, wie es bei Routineoperationen üblich war. Aber dies war keine Routineoperation. Hier ging es um das schwerverletzte Bein eines jungen Mannes – und es ging darum, ob dieser junge Mann nach dem Eingriff noch eine Chance auf ein halbwegs normales Leben haben würde oder nicht.
Dr. Adrian Winter arbeitete seit Stunden voller Konzentration daran, gerissene Bänder zu nähen und die gebrochenen Knochen zu richten. Dr. Bernd Schäfer assistierte ihm. Adrian dachte nicht mehr daran, daß diese Operation eigentlich von einem Orthopäden hätte durchgeführt werden müssen. Er war ein hervorragender Chirurg, und im Grunde fand er solche ungewöhnlichen Aufgaben höchst interessant.
Zum Glück war die Kniescheibe nicht zertrümmert, aber der Patient würde sich trotzdem auf eine lange Genesungszeit einrichten müssen. »Bei dem Schienbein bin ich ganz optimistisch«, murmelte Adrian, »aber das Knie – also, ich weiß nicht. Ich möchte nicht gern, daß der Patient mit einem steifen Bein leben mußt.«
Bernd Schäfer schwieg. Paul Lüttringhaus würde nicht mit einem steifen Bein leben müssen, davon war er bereits überzeugt. Was Adrian in der vergangenen Stunde hier im OP gemacht hatte, grenzte für ihn an Zauberei. Niemals würde er ein so guter Chirurg werden wie sein nur unwesentlich älterer Kollege, das wußte er. Normalerweise litt er nicht darunter, daß er vermutlich in seinem Beruf nur guter Durchschnitt sein würde, aber jetzt wünschte er sich doch, über solche Fähigkeiten zu verfügen wie Adrian. Wie sicher er war – und wie vorsichtig zugleich! Selbst in schwierigen Situationen verlor er die Übersicht nicht, sondern blieb ruhig und gelassen. Bernd Schäfers Bewunderung für Adrian Winter war grenzenlos.
»Was meinst du?« fragte Adrian. »Werden uns die Kollegen von der Orthopädie die Köpfe abreißen, wenn sie das hier sehen?«
»Quatsch«, murmelte Bernd. »Die werden dich zu deiner großartigen Arbeit beglückwünschen.«
Adrian warf ihm einen scharfen Blick zu. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Bernd! Ohne dich wäre ich verloren gewesen bei dieser Operation. Und wenn noch mal zwei Jahre vergangen sind, dann machst du solche Sachen selbst.«
Bernd errötete vor Freude über die Anerkennung, die aus diesen Worten sprach – auch wenn er selbst fand, daß er sie nicht verdient hatte. Aber so war Adrian eben! Andere an seiner Stelle hätten sich etwas eingebildet auf ihre Fähigkeiten, Adrian Winter dagegen dachte zuerst daran, sich bei den Kollegen für die Unterstützung zu bedanken.
»Willst du den Rest übernehmen?« fragte Adrian.
Bernd nickte. »Gern. Weißt du überhaupt, wie froh ich bin, daß du aufgetaucht bist? Julia hat mich vorher so angesehen, als wolle sie sagen, daß ich den Mann operieren soll!« Bernd schauderte allein bei der Erinnerung daran.
Adrian nickte. »Ich bin einmal in einer ähnlichen Situation gewesen – das war, als ich noch gar keine OP-Erfahrung hatte. Die anderen haben so getan, als müßte ich nun endlich ins kalte Wasser springen. Als ich begriffen habe, daß sie mich nur aufziehen wollten, hat nicht viel gefehlt, und ich wäre in Tränen ausgebrochen vor Erleichterung!«
Mit freundlichem Lächeln verabschiedete sich Adrian von der Anästhesistin und der OP-Schwester und ging hinaus.
Draußen streckte er die müden und verspannten Glieder. Ein merkwürdiger erster Urlaubstag, dachte er. Nun, er würde noch einmal nach dem Kind und der jungen Frau mit den Veilchenaugen sehen – und dann konnte er sich überlegen, was er mit dem Rest dieses Tages anfangen wollte.
*
Dr. Julia Martensen war mit dem Jungen selbst beim Röntgen gewesen, und zum Glück hatte sich herausgestellt, daß er keinen Schädelbruch davongetragen hatte. Er hatte eine Gehirnerschütterung und, wie Adrian Winter schon am Unfallort festgestellt hatte, einige Prellungen und Hautabschürfungen – sonst aber war ihm wie durch ein Wunder nichts passiert.
Etwas aber berunruhigte Julia: Der Junge sprach nicht. Was immer sie auch bisher versucht hatte, er sagte kein einziges Wort. Seine dunklen Augen sahen sie aufmerksam an, aber sie hatte das Gefühl, daß er sie gar nicht hörte.
War es möglich, daß eine Verletzung übersehen worden war? Nein, beantwortete sie sich ihre Frage gleich selbst. Das war nicht möglich. Er war gründlich untersucht und geröntgt worden, und nirgends hatte sich ein Hinweis darauf ergeben, warum der Junge nicht sprach. Es mußte der Schock sein, der noch immer nachwirkte. Hoffentlich hat er ihn bald überwunden, dachte sie.
Schwester Monika kam aus einer der Behandlungskabinen und fragte: »Und? Spricht er jetzt?«
Julia schüttelte den Kopf. »Kein Wort, leider.«
»Laß ihn doch einfach ein bißchen schlafen, er sieht sehr müde und ziemlich mitgenommen aus. Danach redet er bestimmt ganz von selbst. Vielleicht hat er auch Angst. Wieso ist er überhaupt noch hier?«
»Auf der Kinderstation war kein Platz«, antwortete Julia. »Sie haben gefragt, ob wir ihn noch ein paar Stunden hierbehalten können.«
»Der arme kleine Kerl.«
»Wie geht’s Frau Wagner jetzt?« erkundigte sich Julia.
»Sie ist ruhiger geworden, aber du hast recht, wir sollten sie auf eine Station verlegen. Sie hat einen sehr schweren Schock.«
Julia nickte.
»Wenn sie geglaubt hat, den Jungen überfahren zu haben, dann ist das nur zu verständlich. Frag doch mal in der Inneren nach, ob die sie für einige Tage aufnehmen können. Spricht sie?«
»Kaum. Ich konnte sie noch nicht einmal fragen, ob ich jemanden benachrichtigen soll.«
Eine müde Männerstimme sagte in diesem Augenblick: »Hallo, ihr beiden.«
»Adrian!« rief Schwester Monika. »Du siehst völlig fertig aus!«
»Danke«, sagte er mit der gleichen müden Stimme. »Das bin ich auch.«
»Wie ist die Operation verlaufen?« fragte Julia besorgt.
»Soweit ganz gut, Bernd ist noch oben«, berichtete Adrian. »Aber ich hätte gern, daß sich ein Orthopäde das Bein ansieht – und zwar so bald wie möglich.«
»Heute nachmittag«, meinte Julia. »Ich kümmere mich darum, das verspreche ich dir. Und ich danke dir, daß du eingesprungen bist, Adrian. Jetzt darfst du mit etlicher Verspätung deinen wohlverdienten Urlaub antreten.«
Er nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Wie geht’s dem Jungen und der Frau?«
»Der Junge spricht nicht, das ist eigentlich das einzige, was uns ein bißchen Sorgen macht. Es haben sich auch noch keine Angehörigen bei uns gemeldet. Wir wissen also nicht, wie er heißt und wo er wohnt. Aber es geht ihm recht gut. Er hat keinen Schädelbruch, davor hatte ich ein bißchen Angst. Und auch sonst hat er viel Glück gehabt, daß nichts gebrochen ist.«
»Frau Wagner steht noch immer unter Schock«, berichtete Schwester Monika. »Ich habe das Gefühl, sie glaubt noch immer nicht, daß der Junge wirklich lebt. Ich kann sagen, was ich will, sie denkt, ich will sie beruhigen.«
»Ich würde gern kurz mal nach den beiden sehen«, meinte Adrian. »Was dagegen?«
Julia schüttelte den Kopf. »Sie sind beide noch hier«, antwortete sie und zeigte auf die entsprechenden Kabinen. »Aber danach machst du Urlaub, versprochen?«
Er nickte. »Muß ich ja wohl. Ihr wißt doch, daß ich mir sehr viel vorgenommen hatte für diese freien Tage.« Er drehte sich um und ging zu der Kabine, in der Stefanie Wagner lag.
Sie sahen ihm nach. Er ging ein bißchen gebeugt, die Anstrengung der letzten Stunden war seinem Körper anzusehen.
Schwester Monika zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt. »Ich glaube«, sagte sie, »heute war seinem Plan nach das Pergamon-Museum an der Reihe. Dafür hatte er mehrere Stunden vorgesehen.«
»Die wird er dann morgen irgendwie herausarbeiten müssen«, erwiderte Julia.
Sie wechselten einen kurzen Blick und fingen dann beide an zu lachen. Sie brachten dem jungen Arzt herzliche Zuneigung, gemischt mit Bewunderung für sein berufliches Engagement und sein außerordentliches Können entgegen. Aber diese Gefühle hinderten sie nicht daran, sich gelegentlich auf seine Kosten auch ein wenig zu amüsieren.
*
Stefanie Wagner fühlte sich schrecklich. Sie wußte mittlerweile, daß sie unter Schock stand, aber dieses Wissen half ihr nicht sehr. Ihr war kalt, doch zugleich fühlte sie sich fiebrig, und sie begann immer wieder unkontrolliert zu zittern. Das geschah vor allem dann, wenn die Bilder des durch die Luft fliegenden Jungen unvermittelt vor ihrem inneren Auge auftauchten. Er flog durch die Luft, und gleich darauf lag er regungslos auf der Straße – an einer Stelle, auf die sie mit großer Geschwindigkeit zuraste.
Und das war der Punkt, den sie einfach nicht verstand: Wieso raste der Wagen weiter, wo sie doch mit aller Kraft auf die Bremse trat? Es schien alles vergeblich zu sein, denn der Junge kam immer näher! Immer näher! So nahe, daß sie ihn schließlich erreichte…
Sie stöhnte, und plötzlich schob sich ein freundliches Männergesicht in ihr Gesichtsfeld. »Nicht«, sagte der Mann ruhig. »Versuchen Sie, nicht mehr daran zu denken. Es war nicht Ihre Schuld, und Sie haben den Jungen ja gar nicht überfahren.«
»Aber…«, sie versuchte zu sprechen, doch die Worte wollten nicht heraus. Ihr Mund war trocken, und sie konnte kaum schlucken.
Der freundliche Mann verschwand und kehrte gleich darauf mit einem Glas Wasser zurück. »Trinken Sie das«, sagte er. »Es wird Ihnen bald besser gehen.«
Sie richtete sich mit seiner Hilfe auf und trank, dann ließ sie sich erschöpft zurücksinken. »Danke«, sagte sie, »aber das glaube ich nicht.«
Er sagte nichts, sondern sah sie nur an. Sein Gesicht kam ihr jetzt, wo sie es genauer betrachtete, bekannt vor: dunkelblonde Haare, gerade Nase und kluge braune Augen, die sie aufmerksam ansahen. »Erinnern Sie sich an mich?« fragte der Mund, der zu diesem Gesicht gehörte.
»Vielleicht«, murmelte sie undeutlich.
Er setzte sich neben sie und fragte: »Und Sie wissen, was passiert ist?«
»Der Junge!« krächzte sie und schloß die Augen. Ihr Herz fing an, wie wild zu klopfen, und erneut saß sie im Auto und raste auf den reglosen kleinen Körper zu…
»Ich glaube, Sie wissen es nicht«, sagte der Mann an ihrem Bett leise. »Der Junge ist bei Rot über die Ampel gefahren und dann gestürzt, weil er nicht gesehen hat, daß ein Ast auf der Fahrbahn lag. Sie haben nichts falsch gemacht. Im Gegenteil. Es ist Ihnen sogar gelungen, das Auto rechtzeitig zum Halten zu bringen, was ein Wunder ist. Wahrscheinlich haben Sie ihm dadurch das Leben gerettet.«
Sie wandte vorsichtig den Kopf, um ihn anzusehen. »Woher wissen Sie das?« flüsterte sie.
»Er hat mich überholt, kurz vor der Ampel.« Seine Stimme war schön, ziemlich tief und weich. Es tat gut, ihm zuzuhören. Stefanie entspannte sich ein wenig. Sie versuchte, ruhig zu atmen und war froh, als er weitersprach. Es beruhigte sie, ihm zuzuhören.
»Ich habe mich noch darüber aufgeregt, daß er keinen Helm trug und wollte ihn deshalb eigentlich zur Rede stellen, aber er ist mir vor der Ampel einfach entwischt! Bei Rot weitergefahren, und dann hat er in der Eile den Stock nicht gesehen, der dort lag. Den Rest wissen Sie ja. Ich habe schon am Unfallort versucht, Ihnen zu sagen, daß der Junge lebt. Aber Sie wollten es wohl nicht glauben. Glauben Sie es mir jetzt?«
Sie nickte und schloß müde die Augen.
Adrian sprach weiter. »Er hat eine Gehirnerschütterung und ein paar Prellungen, sonst ist ihm nichts weiter passiert. Das ist das nächste Wunder. Vermutlich hat sein Schutzengel ganz besonders gut aufgepaßt.« Er schwieg und sagte dann mit einem Lächeln in der Stimme: »Allerdings muß er vorher geschlafen haben, sonst hätte er den Jungen bei Rot nicht weiterfahren lassen.«
Sie öffnete die Augen und versuchte, ebenfalls zu lächeln. Es gelang ihr nicht ganz, aber es war immerhin ein Anfang.
Adrian hätte fast nach ihrer Hand gegriffen, konnte sich aber im letzten Augenblick daran hindern. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau, selbst jetzt, wo sie blaß und elend aussah. Und sie hatte diese unglaublichen Augen, in denen man wahrscheinlich ertrinken würde, wenn man zu lange hineinblickte. Er ertappte sich dabei, daß er sich vorzustellen versuchte, was sie wohl für ein Mensch war. War sie temperamentvoll? Lustig? Eher ernst? War sie verheiratet und hatte Kinder?
Das geht dich gar nichts an, Adrian Winter, dachte er streng und sagte dann behutsam: »Ich bin übrigens Dr. Adrian Winter.« Er wartete vergeblich darauf, daß sie reagierte und fuhr schließlich fort: »Bitte sagen Sie mir, ob wir jemanden benachrichtigen sollen, daß Sie bei uns sind. Ihre Angehörigen machen sich sonst sicher Sorge.« Er gestand sich nicht einmal selbst ein, daß es ihm in diesem Augenblick in erster Linie nicht um ihre Angehörigen ging. Er wollte nur wissen, ob sie vielleicht…
Sie machte ein erschrockenes Gesicht. »Das habe ich völlig vergessen«, sagte sie leise und bat dann: »Bitte benachrichtigen Sie das King’s Palace. Dort arbeite ich. Die werden sich schon wundern, wo ich bleibe.«
»Und sonst?« Er wunderte sich selbst über seine Hartnäckigkeit. »Ihre Eltern? Ihren Mann?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur das Hotel bitte.«
Jetzt war er genauso klug wie zuvor. Vielleicht wollte sie ja ihre Eltern und ihren Mann nur nicht beunruhigen… Ärgerlich biß er sich auf die Lippen. Geschieht dir ganz recht, dachte er und sagte laut: »Ich sorge gleich dafür, daß das Hotel benachrichtigt wird.«
»Danke«, sagte sie.
Er verließ den Raum und ließ sie allein. Sie fühlte sich ruhiger als zuvor. Vielleicht konnte sie ein wenig schlafen und danach ins Hotel fahren. Ihr Chef, Andreas Wingensiefen, tobte sicherlich schon längst. Wenn sie nicht da war, dann brach immer ziemlich schnell das Chaos aus im King’s Palace.
Über diesem Gedanken schlief sie tatsächlich ein.
*
»Hallo, Kleiner«, sagte Adrian freundlich zu dem Jungen, dessen dunkle Augen sich sofort auf ihn richteten. Wie hübsch er war mit seinen blonden Haaren und den braunen Augen! Er war klein und ziemlich mager, das fiel Adrian erneut auf. Noch immer war sein Gesicht sehr blaß, aber das war nicht weiter verwunderlich, schließlich hatte er einen wirklich ganz schweren Unfall überstanden.
»Die anderen haben mir gesagt, daß du noch kein Wort gesprochen hast«, begann Adrian. »Willst du vielleicht mit mir reden? Wir könnten dann einmal ein Gespräch unter Männern führen.«
Die dunklen Augen sahen ihn an, aber der Junge gab durch nichts zu erkennen, daß er Adrians Worte gehört oder verstanden hatte. Und er öffnete nicht einmal den Mund, um ihm zu antworten. Von vornherein schien festzustehen, daß er nichts sagen würde.
Doch so schnell wollte der Arzt nicht aufgeben. »Du kannst dir doch sicher denken«, sagte er freundlich, »daß sich deine Eltern Sorgen um dich machen. Wie sollen wir sie benachrichtigen, wenn du uns nicht einmal deinen Namen sagst? Hm?«
Der Junge antwortete nicht, er sah ihn nur an. Allmählich verstand Adrian Julias Beunruhigung. Auch er begann sich zu überlegen, ob etwas übersehen worden war. Aber nein, das war nicht möglich. Der Junge hatte keine weiteren Verletzungen – er konnte mit Sicherheit sprechen, wenn er wollte. Nur: er wollte offenbar nicht, und Adrian Winter hätte zu gern gewußt, warum nicht.
Er griff nach der Hand des Jungen und drückte sie. Der Kleine erwiderte den Druck nicht. Völlig schlaff lag die kleine in der großen Hand. Der Blick des Arztes wurde nachdenklich. »Was ist nur mit dir los?« fragte er. »Du wirst doch nicht dein Gehör verloren haben? Aber nein, dann würdest du versuchen, mit mir zu sprechen. Aber du liegst einfach da und siehst mich an. Warum sagst du nicht wenigstens ›Hallo‹?«
Der Junge wandte den Kopf ab und schloß die Augen. Er sah traurig und ängstlich aus, und Adrian begann zu ahnen, daß er ein Geheimnis hatte. Aber wie sollte er dieses Geheimnis herausfinden, wenn der Junge nicht sprechen wollte?
Er tätschelte dem Kleinen voller Zuneigung die Wange. Dieser reagierte auch jetzt nicht, und auf Zehenspitzen schlich der Arzt hinaus. Vielleicht schlief der Junge ein – und wenn er aufwachte, hatte er auch die Sprache wiedergefunden.
*
Alexander lief seiner Mutter entgegen, als sie die Wohnungstür aufschloß. »Und?« rief er gespannt. »Hast du ihn gefunden?«
Wenn sie gehofft hatte, daß Pablo in der Zwischenzeit nach Hause gekommen war, so war ihre Hoffnung durch diese Frage ihres Sohnes zunichte gemacht worden.
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe überall nach ihm gesucht, aber nirgends eine Spur entdecken können. Es hat ihn anscheinend auch niemand gesehen.« Ihr Gesicht war bleich, und sie hatte Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich muß zur Polizei, Alex. Ich bin sicher, daß etwas passiert ist, sonst wäre Pablo längst wieder da.«
»Zur Polizei?« fragte Alexander mit großen Augen. »Aber er hat sich vielleicht nur verirrt, Mami, und wenn ihm jemand den richtigen Weg sagt, dann…«
Sie unterbrach ihn. »Und wie soll das gehen?« fragte sie. »Er versteht doch kein Deutsch. Nur weil ihr beide euch verständigen könnt, heißt das noch lange nicht, daß er jemand anders nach dem Weg fragen und dann auch noch die Antwort verstehen kann.«
Ihr Sohn ließ den Kopf hängen. »Ich wollte ihn nicht alleinlassen«, beteuerte er. »Ich hab’ nur mal ganz kurz ein bißchen Elfmeterschießen geübt – und plötzlich war er weg. Ich dachte doch, er ist hierher gegangen…«
»Schon gut«, sagte sie müde. »Das bringt uns jetzt nicht weiter, Alex. Wir müssen ihn finden – und zwar so schnell wie möglich. Ich darf gar nicht daran denken, was ihm hier alles passieren kann.«
Sie mußte sich sehr anstrengen, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr bereits in den Augenwinkeln saßen. Wenn sie nur den Jungen erst gesund wiederhatte! Obwohl er erst so kurz bei ihnen war, hatte sie ihn bereits ins Herz geschlossen. Der Gedanke, daß er jetzt völlig allein durch eine ihm fremde Stadt irrte, war ihr unerträglich. Und an die anderen Möglichkeiten durfte sie erst gar nicht denken. Wenn ihm nur nichts passiert war!
»Kann ich mitkommen zur Polizei?« fragte Alexander kleinlaut. Er fühlte sich schuldig und wollte nicht mehr allein in der Wohnung bleiben.
Seine Mutter nickte. »Ja, vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn du mitkommst. Ich rechne nicht mehr damit, daß Pablo plötzlich hier auftaucht, aber vorsichtshalber sage ich nebenan Bescheid, daß sie ihn nicht wieder laufenlassen, wenn er doch kommen sollte. Wir werden ja auch nicht lange weg sein.«
Gemeinsam verließen sie die Wohnung, beide blaß und stumm und voller Sorgen.
*
»Du bist ja immer noch hier, Adrian!« sagte Julia Martensen erstaunt. Es war etwa eine Stunde, nachdem er sich mit Stefanie Wagner unterhalten hatte. »Hast du vergessen, daß heute dein erster Urlaubstag ist?«
»Nein, nein«, versicherte er. »Ich gehe jetzt.«
Sie lächelte ein wenig spöttisch. Zwar war sie ihm dankbar, daß er die Operation an Paul Lüttringhaus übernommen hatte, aber das würde sie nicht daran hindern, ihn ein wenig auf den Arm zu nehmen. »Wenn du glaubst, daß ohne dich hier alles zusammenbricht: Ich versichere dir, es ist nicht so!« sagte sie.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er. »Im Grunde kommt ihr hier bestens ohne mich zurecht – nur in seltenen Ausnahmefällen seid ihr dann doch froh, daß es mich gibt.«
»Fürs Pergamon-Museum ist es allerdings zu spät!« schaltete sich nun auch Monika Ullmann mit freundlichem Spott ein. »Aber wenn du dich morgen ein bißchen beeilst, dann kannst du den heutigen Rückstand leicht wieder aufholen.«
»Blöde Ziegen!« sagte er gespielt beleidigt, aber seine Augen blitzten vor Vergnügen, und er sah längst nicht mehr so müde aus wie direkt nach der Operation. »Ihr seid doch bloß neidisch, weil ich jederzeit gehen könnte, ihr aber nicht.«
»Dann tu’s doch!« antworteten ihm die beiden Frauen wie aus einem Munde.
»Tu ich auch!« sagte er. »Wenn ich bloß sicher wäre, daß alles in Ordnung ist mit dem Jungen und mit Frau Wagner.«
»Aber es ist alles in Ordnung«, betonte Julia. »Der Junge hat eine Gehirnerschütterung und wird eine Weile hierbleiben müssen. Es ist nichts gebrochen, und es besteht auch kein Grund zur Sorge. Das weißt du genausogut wie ich.«
»Aber gesagt hat er bis jetzt noch kein einziges Wort, oder? Wie kannst du da sagen, daß alles in Ordnung ist?«
Julia ließ sich überhaupt nicht erschüttern. »Er wird schon noch reden, das laß du nur unsere Sorge sein. Und Frau Wagner schläft jetzt, sie ist viel ruhiger geworden, nachdem du ihr noch einmal versichert hast, daß der Junge lebt. Du kannst also wirklich mit gutem Gewissen Urlaub machen.«
Er gab so plötzlich nach, daß er sich selbst darüber wunderte. »Na schön«, sagte er. »Dann überlasse ich euch jetzt eurem Schicksal.«
»Tschüs, Adrian«, sagte Julia nachdrücklich. »Bis in einer Woche.«
»Nicht etwa bis morgen oder so!« fügte Schwester Monika hinzu. »Falls wieder irgend was passiert, meine ich!«
Er würdigte sie keiner Antwort mehr. Kichernd sahen sie ihm nach. Er war zwar der Chef, aber manchmal war er zu komisch, fanden sie. Zum Glück verstand er Spaß. Bei Gelegenheit würde er es ihnen sicher heimzahlen, daß sie sich heute auf seine Kosten amüsiert hatten.
*
»Seit wann vermissen Sie den Jungen, Frau Baumann?« fragte der Polizeibeamte ruhig. Die junge Frau, die seit ein paar Minuten mit ihrem Sohn vor ihm saß, war völlig durcheinander und hatte Tränen in den Augen. Er mußte sie erst einmal dazu bringen, ihm einigermaßen verständlich zu erklären, was passiert war.
Lisa Baumann fing an zu weinen, und seufzend wandte sich der Beamte an Alexander, der mit blassem Gesicht, aber gefaßt neben seiner Mutter saß. »Kannst du mir erzählen, was passiert ist?« fragte er.
Alexander warf seiner Mutter einen scheuen Blick zu und nickte dann. Er hatte zwar ein bißchen Angst, aber er mußte seiner Mutter helfen, soviel hatte er verstanden. »Pablo ist bei uns zu Besuch«, erklärte er. »Er ist aus Argentinien und spricht kein Deutsch. Nur mit mir und den anderen Jungs kann er reden – so eine Mischung, verstehen Sie? Spanisch und Deutsch gemischt und…« Er suchte nach dem richtigen Wort.
»Zeichensprache?« fragte der Polizist.
»Ja, genau«, antwortete Alexander erleichtert. »Aber das geht nur unter uns. Mit Fremden geht das nicht.«
»Wenn Pablo allein unterwegs ist, kann er sich also nicht verständigen?«
»Nee, kann er nicht. Wir haben erst alle zusammen Fußball gespielt, dann habe ich mit Peter Elfmeterschießen geübt. Als ich damit aufgehört hab’, war Pablo weg. Ich dachte, er ist nach Hause gegangen.« Alexander schwieg, mehr gab es eigentlich nicht zu erzählen, fand er. Dieser Ansicht war der Polizist jedoch offenbar nicht.
»Aber zu Hause war er nicht?« fragte er, um dem Jungen zu helfen. Allmählich verstand er, worum es ging. Die Frau war nicht zu beneiden. Ein Kind, für das sie die Verantwortung übernommen hatte, war verschwunden. Wieder seufzte er, diesmal aber aus Mitgefühl.
Alexander schüttelte den Kopf. »Einer von den anderen hat gesehen, daß er mit meinem Fahrrad weggefahren ist«, sagte er. »Und jetzt hat meine Mutter Angst, daß ihm etwas passiert ist. Weil er sich doch hier nicht auskennt. Und weil er kein Deutsch spricht und so…« Seine Stimme erstarb.
Der Beamte begann laut nachzudenken. »Für eine Vermißtenanzeige ist es zu früh«, meinte er. »Am besten wird es sein, wenn ich mich zunächst mal bei meinen Kollegen umhöre, ob sie etwas wissen. Danach müßten wir in den Krankenhäusern nachfragen, ob ein kleiner Junge auf einem Fahrrad verunglückt ist.«
Lisa Baumann bewegte die blassen Lippen. »Verunglückt?« fragte sie mit tonloser Stimme. Natürlich war ihr dieser Gedanke längst selbst gekommen, aber zu hören, wie jemand anders ihn aussprach, hatte etwas besonders Erschreckendes.
»Es ist ja nur eine Möglichkeit«, erwiderte der Beamte ruhig. »Ich fange mit der Umfrage bei meinen Kollegen an. Wollen Sie nicht wieder nach Hause gehen? Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, rufe ich Sie an, ich verspreche es Ihnen.«
»Nein, bitte, ich möchte hierbleiben!« Es klang wie ein Aufschrei. »Ich… ich hätte zu Hause keine Ruhe«, fügte sie leise hinzu. »Bitte, lassen Sie uns hierbleiben.«
»Aber wenn der Junge in der Zwischenzeit nach Hause kommt, dann sind Sie nicht da, Frau Baumann«, gab er zu bedenken.
Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht. Unglücklich stand sie auf. Der Beamte hatte natürlich recht. Und vielleicht war Pablo ja schon da, wenn sie jetzt zurückkehrten, und der ganze Alptraum war vergessen. Doch wenn sie ehrlich war, dann glaubte sie nicht mehr an ein solches Wunder. »Sie sagen uns wirklich sofort Bescheid?« fragte sie. »Sie vergessen uns nicht?«
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte er. »Sie können sich darauf verlassen.«
Schweigend schob sie ihren Sohn zur Tür, und sie verließen den Raum. Er sah ihnen durch das Fenster nach, wie sie mit gesenkten Köpfen nebeneinander herliefen. Dann griff er zum Telefon. Wenn er konnte, würde er ihnen helfen. Er hoffte sehr, daß es ihm gelang.
*
Adrian saß in seinem Auto und war auf dem Weg nach Hause. Jedenfalls dachte er das. Aber als er einige Minuten gefahren war, stellte er fest, daß er den völlig falschen Weg eingeschlagen hatte. Wo war er denn nur mit seinen Gedanken? Ärgerlich schimpfte er vor sich hin, als er plötzlich begriff, wohin er fuhr, denn die edle Fassade des King’s Palace tauchte vor ihm auf. Es war, wie er zumindest vom Hörensagen wußte, eines der teuersten Hotels der Stadt. Aber was wollte er hier? Warum war er hierher gefahren?
Er beschloß, sich diese Frage nicht zu beantworten, denn die Antwort wäre ihm peinlich gewesen: Er wollte wissen, wo Stefanie Wagner, die Frau mit den Veilchenaugen, arbeitete. Aber soweit war er noch nicht, daß er das zugeben konnte. Und warum sollte er sich in seinem Urlaub nicht einmal eines der Nobel-Hotels von Berlin ansehen? Als normaler Bürger dieser Stadt hatte man dazu sonst ja nicht allzuviel Gelegenheit. Das King’s Palace stand zwar nicht auf seiner Liste von Sehenswürdigkeiten, denen er in seiner Urlaubswoche einen Besuch abstatten wollte, aber es stand ihm schließlich frei, diese Liste zu ergänzen und abzuändern. Es war sein Urlaub!
Kurz entschlossen überließ er sein Auto einem der Bediensteten. Er würde sich einen vermutlich sündhaft teuren Kaffee im King’s Palace genehmigen. Und vielleicht fand er ja bei dieser Gelegenheit rein zufällig heraus, welcher Arbeit die schöne Stefanie Wagner in diesen heiligen Hallen nachging.
Der Gedanke gefiel ihm. Zwar hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, was er mit diesem Wissen anfangen sollte, aber das würde sich dann schon ergeben. Er nahm in der edlen Bar Platz, gab seine Bestellung auf und lehnte sich behaglich zurück. Sein erster Urlaubstag war anders verlaufen als geplant – aber… Nun ja, man mußte sehen, was sich daraus ergab.
Unauffällig sah er sich um. Die Ausstattung war unaufdringlich, aber teuer und elegant. Eine gelungene Mischung aus gediegen und modern, fand Adrian. Das gab es nicht allzu oft, wie er wußte. Gelegentlich fuhr er zu Kongressen, und bei dem Gedanken an die Hotelzimmer, in denen er dann jeweils untergebracht war, fuhr ihm ein leichter Schauder über den Rücken. Es waren in der Regel gute und auch teure Häuser, aber dennoch waren die Zimmer unpersönlich und oft genug sogar geschmacklos eingerichtet. Hier jedoch war jemand mit viel Liebe zum Detail am Werk gewesen.
Er überlegte gerade, wie er sich am besten nach Stefanie Wagner erkundigen sollte, als er durch erregte Stimmen am Nebentisch abgelenkt wurde. Unwillkürlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf die beiden dunkelhaarigen Männer, die heftig gestikulierend miteinander sprachen. Im ersten Augenblick hatte er angenommen, daß ein Streit ausgebrochen war, aber nun begriff er, daß die beiden Italiener waren und daß ihre Heftigkeit lediglich Ausdruck ihres südländischen Temperaments war. Er lächelte. Italien… Er war schon lange nicht mehr dort gewesen. Ein Urlaub am Meer, mildes Wetter und gutes italienisches Essen – das wäre vielleicht auch etwas gewesen für seinen Urlaub. Aber eine Woche war für ein solches Vorhaben eindeutig zu kurz.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« fragte der Kellner die beiden Italiener am Nebentisch, und einer von ihnen antwortete in fast akzentfreiem Deutsch: »Ja, bitte. Aber wir möchten vorher noch einen Blick in die…«
Adrian hörte nicht mehr zu. Auf einmal war ihm der verunglückte Junge wieder eingefallen, der nicht sprach. Sie hatten sich die ganze Zeit Gedanken über die möglichen medizinischen Ursachen gemacht, statt auf die nächstliegende Idee zu kommen: Vielleicht konnte der Kleine kein Deutsch! Er war so blond, daß sie alle automatisch davon ausgegangen waren, er müsse Deutscher sein. Wie dumm sie gewesen waren!
Adrian war auf einmal fast sicher, daß hier die Lösung des Problems zu suchen war. Er mußte sofort zurück in die Klinik, um festzustellen, ob er auf dem richtigen Weg war. Eilig trank er seinen Kaffee aus. Den Gedanken, daß er Julia genausogut anrufen und ihr seine Überlegungen mitteilen konnte, verwarf er sofort wieder. Nein, nein, er mußte selbst mit dem Jungen sprechen.
Fünf Minuten später war er bereits auf dem Weg zurück in die Kurfürsten-Klinik. Nun wußte er zwar noch immer nicht, in welcher Funktion Stefanie Wagner im King’s Palace arbeitete, aber das ließ sich ja auch später noch herausfinden. Sie würde sicher in den nächsten Tagen nicht kündigen.
Er pfiff vor sich hin – das klang ungefähr so falsch wie sein Gesang, doch er selbst hörte es nicht. Er gestand es sich nicht ein, aber er war froh, einen Vorwand gefunden zu haben, noch einmal in die Klinik zurückkehren zu können. Es stimmte schon. Er war mit seinem Beruf verheiratet. Und eigentlich, fand er, war das auch völlig in Ordnung. Es war eine ausgesprochen glückliche Ehe bisher.
Unwillkürlich mußte er lächeln. Julia Martensen und Monika Ullmann würden es sich natürlich nicht nehmen lassen, ihn aufzuziehen – aber wenn es ihm gelang, den Kleinen zum Sprechen zu bringen, würden sie schnell wieder damit aufhören.
*
Paul Lüttringhaus lag nach seiner Operation im Aufwachraum, und er war der lauteste Patient, der jemals dort gelegen hatte. Er schimpfte und wütete vor sich hin, seit er wieder bei Bewußtsein war. Und er hielt die Ärzte und Schwestern auf Trab, weil sie sich Sorgen um seinen Kreislauf machten.
»Dieser verdammte Bengel!« schimpfte er, als wieder einmal ein Arzt nach ihm sah. »Der soll mir bloß unter die Augen kommen und seine Eltern noch dazu, dann können sie aber allesamt was erleben. Fährt völlig allein, ohne Helm und dann auch noch bei Rot über die Ampel. Und ich ruiniere mir dabei meine Gesundheit…«
»Hören Sie auf zu schimpfen, Herr Lüttringhaus, das ist nicht gut für Sie. Sie brauchen Ruhe«, sagte der junge Arzt, der noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit Patienten hatte und sich deshalb ein wenig fürchtete vor diesem Mann mit den blitzenden Augen und der lauten Stimme. Niemand hatte ihn während des Studiums auf randalierende Frischoperierte vorbereitet. So etwas war nicht vorgesehen. Patienten, die gerade eine schwere Operation hinter sich gebracht hatten, lagen still und blaß im Bett und waren froh, daß sie alles überstanden hatten – so hatte er es gelernt. Und so hatte er es auch erwartet. Aber bei Paul Lütthaus war alles anders.
Nach der gutgemeinten Bemerkung des jungen Arztes ging der Patient nun mit ungestümer Energie auf diesen los. »Reden Sie doch nicht so ein dummes Zeug!« rief er empört. »Ich muß meine Wut herauslassen, sonst ersticke ich daran, das können Sie mir glauben. Wozu soll es denn gut sein, daß ich hier herumliege und alles in mich hineinfresse? Mein Bein schmerzt höllisch, ich bin wütend und verzweifelt. Was erwarten Sie denn eigentlich von mir?«
Als er keine Antwort bekam, fragte er mißtrauisch: »Oder wollen Sie etwa sagen, daß ich im Unrecht bin?«
Der junge Mediziner wünschte sich, daß ihm in dieser verzwickten Situation einer der erfahrenen Kollegen zur Seite gestanden hätte, aber es war niemand da, der ihm hätte helfen können. »Nein, natürlich nicht, Herr Lüttringhaus«, begann er verzweifelt von neuem. »Aber es ist trotzdem so…«
Paul Lüttringhaus ließ ihn nicht ausreden. »Sehen Sie! Ich bin im Recht, also kann ich mich auch aufregen. Das erleichtert mich.« Plötzlich unterbrach er sich und betrachtete den blassen jungen Mann, der an seinem Bett stand, aufmerksam. Mit völlig veränderter Stimme fragte er, auf einmal ganz ruhig: »Du liebe Zeit, Sie beziehen das doch nicht etwa auf sich?«
Der junge Mann wurde rot. »Nein, natürlich nicht, aber…«
»Aber es wäre Ihnen trotzdem lieb, wenn ich mich endlich beruhigen würde«, stellte Paul Lüttringhaus, noch immer ganz gelassen, fest.
»Ja«, gab der junge Arzt erleichtert zu. Er hatte es geschafft, der Patient tobte nicht mehr. Das war ein erster Erfolg, auf den er stolz sein konnte. Doch er mußte schon im nächsten Augenblick einsehen, daß er sich zu früh gefreut hatte.
»Versteh’ ich, aber den Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun!« Paul Lüttringhaus grinste den Arzt entschuldigend an und fing ohne weitere Vorwarnung wieder an zu toben. »Schaffen Sie mir gefälligst die Eltern von diesem Bengel hierher«, schrie er, »damit ich sie ungespitzt in den Boden rammen kann. Die haben mein Leben ruiniert, wissen Sie das überhaupt? Ich bin nämlich Sportlehrer. Haben Sie schon einmal einen Sportlehrer mit einem kaputten Bein gesehen?«
Der junge Mediziner floh. Diesem Patienten war er nicht gewachsen. Sicher, der Mann war unverschuldet in einen Unfall verwickelt und dabei schwer verletzt worden. Verständlich, daß er völlig außer sich war. Aber trotzdem. Es war nicht zum Aushalten mit Paul Lüttringhaus!
*
»Ich träume!« sagte Julia Martensen, als ihr Kollege Adrian Winter plötzlich erneut vor ihr stand.
Er beugte sich vor und kniff sie leicht in den Arm.
»Aua!« sagte sie. »Ich träume also nicht, und du bist wirklich schon wieder hier. Adrian, was ist denn jetzt schon wieder passiert?«
»Nichts«, antwortete er.
Sie sah ihn prüfend an. »Ich muß dich enttäuschen. Dieses Mal wird es dir nicht gelingen, den Retter in der Not zu spielen. Wir haben alles bestens im Griff – und operiert werden muß im Augenblick auch niemand.«
»Spricht der Junge mittlerweile?«
»Nein, tut er nicht. Aber er ist bei Bewußtsein und verfolgt das Geschehen um ihn herum aufmerksam. In zwei Stunden wird er auf die Kinderstation verlegt.«
»Also habt ihr doch nicht alles im Griff«, stellte Adrian fest.
Julia legte den Kopf schief und sah ihn mit einem fast mütterlichen Blick an. »Was ist los, Adrian? Warum schaffst du es nicht, dich wenigstens für kurze Zeit von deiner Arbeit zu lösen? Das ist nicht gesund, weißt du das? Jeder Mensch muß ab und zu abschalten.«
»Das weiß ich«, erwiderte er ernsthaft. »Aber was soll ich machen, wenn mir dieser Junge nicht aus dem Kopf geht?« Er verschwieg wohlweislich, daß ihm auch die Veilchenaugen von Stefanie Wagner nicht aus dem Kopf gingen, aber das gehörte, fand er, überhaupt nicht hierher.
»Ach, und weiter?« fragte Julia. »Er geht dir nicht aus dem Kopf, und deshalb hast du beschlossen, deinen Urlaub jetzt doch in der Klinik zu verbringen?«
»Nein, ich hatte eine Idee, weshalb er vielleicht nicht spricht – ich glaube, es ist gar nichts Medizinisches, Julia.«
»Er hat einen Schock«, sagte sie ruhig. »Sobald er sich beruhigt und keine Angst mehr hat, wird er sprechen, glaub’ mir das. Außerdem haben wir eine Notiz an alle Polizeidienststellen herausgegeben – es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis seine Familie hier aufkreuzt.«
»Ich glaube, er kann kein Deutsch«, sagte Adrian.
Sie sah so verblüfft aus, daß er lächeln mußte. »Er ist so blond und sieht so typisch deutsch aus, daß wir gar nicht auf die Idee gekommen sind, er könnte auch ein Ausländer sein, nicht? Ich finde, wir sollten zumindest mal probieren, in einer anderen Sprache mit ihm zu sprechen, findest du nicht?«
»Aber er ist mit dem Fahrrad gefahren – das heißt, er kennt sich hier aus und wohnt auch hier, glaubst du nicht? Und wenn er hier wohnt…«
»… dann heißt das noch lange nicht, daß er auch deutsch spricht«, stellte Adrian fest.
Sie mußte ihm recht geben. »Wirklich komisch, daß wir nicht sofort auf die Idee gekommen sind. Aber was glaubst du denn, was er ist? Türke bestimmt nicht, ich glaube, blonde Türken gibt’s nicht. Italiener auch eher nicht.«
»Franzose vielleicht, Engländer – ach, ich weiß es auch nicht. Es kommt auf einen Versuch an. Vielleicht irre ich mich ja auch.«
»Vielleicht«, sagte Julia. »Aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.«
»Kommst du mit?«
»Worauf du dich verlassen kannst. Ich bin schließlich im Dienst – im Gegensatz zu dir, mein Freund.«
*
Pablo versuchte nachzudenken, aber das fiel ihm schwer, weil sein Kopf ihm so weh tat. Außerdem hatte er Angst. Wenn nur Lisa und Alexander hiergewesen wären, dann hätte er sich nicht so schrecklich allein fühlen müssen. Aber sie wußten wohl gar nicht, wo er war. Er wußte es ja selbst nicht. Es mußte ein Krankenhaus sein, jedenfalls glaubte er das.
Aber es gab hier niemanden, mit dem er hätte reden können. Es kam zwar dauernd jemand und sagte etwas, aber er verstand nichts. Oder besser: fast nichts. Manche Wörter kamen ihm bekannt vor, er hatte sie auch schon von Alexander gehört. Aber Alexander hatte er immer verstanden, und hier verstand er niemanden.
Er wußte nicht genau, was passiert war, und das machte ihm noch zusätzlich Angst. Er hatte sich Alexanders Fahrrad ausgeborgt, daran erinnerte er sich genau. Das war nicht ganz in Ordnung gewesen, denn Lisa wollte nicht, daß er mit dem Fahrrad fuhr, das wußte Pablo. Sie hatte immer Angst um ihn. Wie also hätte er ihr erklären sollen, daß es sein sehnlichster Wunsch war, ein einziges Mal nur auf diesem Fahrrad zu fahren. Genauso schnell durch die Straßen zu flitzen wie die anderen Jungs und Mädchen es taten.
Nein, sie hätte es sicher nicht verstanden. Und er wollte Alexander, seinen neuen Freund, nicht in Schwierigkeiten bringen, deshalb hatte er das Fahrrad heimlich genommen. Er war ganz schnell weggefahren, bevor ihn jemand zurückrufen konnte.
Auf der Straße war er zunächst erschrocken gewesen über die vielen Autos, die manchmal haarscharf neben ihm hergefahren waren, aber dann hatte er sich auf einmal unbesiegbar gefühlt. Das war wunderbar gewesen. Ganz wunderbar – bis zu dem Zeitpunkt, als er ein rotes Licht überfahren hatte. Er wußte natürlich, daß man das nicht durfte, aber er war so schnell gewesen, daß er sicher damit gerechnet hatte, noch schnell über die große Kreuzung flitzen zu können.
Mehr wußte er nicht. Danach mußte etwas passiert sein, denn als er wieder zu sich gekommen war, hatte er am Boden gelegen, und jemand hatte sich mit besorgtem Gesicht über ihn gebeugt und etwas gesagt. Ein Mann mit braunen Augen war das gewesen.
Die Tür öffnete sich, und der Mann, an den Pablo gerade eben gedacht hatte, kam zur Tür herein. Ob das ein Wunder war? Der Mann lächelte freundlich, und auch die Frau, die bei ihm war, lächelte. Pablo hoffte, daß das ein gutes Zeichen war. Vielleicht wußten sie nun endlich, wer er war und hörten auf, in ihrer Sprache auf ihn einzureden.
Ob er sie auf Spanisch ansprechen sollte? Vielleicht konnten sie ihn ja verstehen. Er hätte es zu gern getan, aber etwas hielt ihn zurück. Wenn sie wußten, wer er war, würden sie Lisa holen. Und so sehr er sich danach sehnte, sie zu sehen, so sehr fürchtete er sich auch vor diesem Zusammentreffen. Dann würde sie erfahren, was er getan hatte. Sie würde sehr traurig sein, vielleicht auch wütend. Und dann würde sie ihn nach Argentinien zurückschicken, obwohl er eigentlich mehrere Wochen hierbleiben sollte. Aber bestimmt wollte sie ihn nicht behalten, wenn sie erfuhr, daß er heimlich Alexanders Rad genommen hatte – trotz ihres Verbots.
»Und?« fragte Julia Martensen. »Mit welcher Sprache willst du anfangen?«
»Mit Englisch«, antwortete Adrian und setzte sein Vorhaben in die Tat um.
Die großen dunklen Augen des Jungen lagen auf seinem Gesicht, aber es gab kein Anzeichen, daß er verstand, was der Arzt sagte. Französisch war die nächste Sprache, die Adrian ausprobierte. Er sprach es nicht besonders gut, aber er brachte immerhin einige Sätze zustande. Das Gesicht des Jungen blieb unbewegt.
»Wahrscheinlich ist er Russe«, murmelte Adrian. »Das hat mir gerade noch gefehlt, obwohl ich mal ein paar Jahre Russisch gelernt habe.«
Julia sagte plötzlich auf spanisch: »Wo kommst du her, Kleiner?«
»Aus Argentinien«, lautete die prompte Antwort.
Die beiden Ärzte starrten den Jungen an, der über seine Antwort mindestens so überrascht war wie sie. Hatte er sich nicht vorgenommen, kein Wort zu sagen, damit Lisa ihn nicht vorzeitig zurückschicken konnte? Und wenn sie ihn nicht fand, dann konnte sie das schließlich nicht tun.
»Aus Argentinien«, wiederholte Adrian lächelnd. Zum Glück konnte er ein paar Brocken Spanisch – viel war es allerdings nicht. Aber das war nicht schlimm, er würde sich schon zu helfen wissen. In einem bunten Kauderwelsch aus Deutsch und Spanisch sprach er weiter, ohne sich im geringsten um die Grammatik zu kümmern. »Und du sprichst kein einziges Wort Deutsch?«
»Doch!« sagte Pablo. »Fußball kenne ich – und Butterbrot. Und Mountainbike…«
»Das ist aber englisch«, sagte Adrian lachend. »Egal, ich bin froh, daß wir nun wenigstens wissen, wo du herkommst. Jetzt können wir uns auch endlich vorstellen. Ich heiße Adrian und bin Arzt. Dies ist meine Kollegin Julia. Wir arbeiten beide in diesem Krankenhaus, es heißt Kurfürsten-Klinik. Und wie heißt du?«
Der Blick des Jungen wurde vorsichtig, er preßte die Lippen aufeinander.
Julia kam näher und lächelte ihm aufmunternd zu. »Du mußt keine Angst haben. Aber es gibt doch bestimmt jemanden, der sich Sorgen um dich macht. Hast du darüber schon einmal nachgedacht?«
»Lisa«, sagte der Junge leise. »Und Alexander.«
Julia und Adrian wechselten einen Blick. Sie mußten sehr behutsam vorgehen, sonst würden sie aus dem Jungen bestimmt nichts mehr herausbringen.
»Meinst du, sie sind böse auf dich wegen des Unfalls?« fragte Adrian.
Die Augen des Jungen wurden groß. »Unfall?« fragte er.
Adrian nickte. »Weißt du nicht mehr, was passiert ist?«
»Nicht genau.«
Adrian schilderte ihm behutsam, was er gesehen hatte. Er erwähnte auch, daß der Junge ihn zuvor überholt und er sich daraufhin vorgenommen hatte, mit ihm zu sprechen, weil er keinen Helm getragen hatte. Atemlos folgte der Kleine seinem Bericht. Obwohl Adrian oft die spanischen Wörter nicht einfielen, schien ihn der Junge gut zu verstehen.
Aber als der Arzt schwieg, schwieg der Junge noch immer. Wieder preßte er die Lippen fest zusammen. Er wollte nichts sagen, nein, ganz bestimmt nicht.
»Lisa und Alexander machen sich bestimmt Sorgen um dich«, versuchte Julia es von neuem. Ihre Stimme klang ganz sanft. »Es wäre besser, wenn wir sie anrufen könnten. Und willst du uns nicht wenigstens deinen Namen sagen?«
»Pablo.« Die Antwort kam so leise wie ein Windhauch.
»Wenn Lisa und Alexander kämen, wärst du auch nicht mehr allein, Pablo«, meinte Adrian. »Sie würden bestimmt sofort kommen. Und was meinst du, wie froh sie wären, dich endlich wiederzusehen. Es ist nämlich schon ziemlich viel Zeit vergangen seit dem Unfall, weißt du das? Wahrscheinlich suchen sie dich die ganze Zeit und haben schreckliche Angst um dich.«
Pablo schluckte, als er sich vorzustellen versuchte, wie es Lisa und Alex jetzt gerade ging. Es stimmte, daß sie sich sicher große Sorgen um ihn machten. Aber wie sollte er erklären, warum er trotzdem nicht wollte, daß man sie benachrichtigte? Das Beste war vermutlich, die Wahrheit zu sagen. Die beiden Ärzte sahen so aus, als könne man ihnen vertrauen. Vielleicht verstanden sie ihn sogar und halfen ihm.
»Ich hab’ das Rad heimlich genommen«, sagte er leise. »Es gehört Alexander, und Lisa hat verboten, daß ich allein damit fahre. Aber ich hab’s trotzdem getan.«
Adrian mußte sich anstrengen, alles zu verstehen, was der Junge sagte. Er sah hilfesuchend zu Julia, die die Sprache gut beherrschte. Sie übersetzte schnell, und er fragte sie, was »schimpfen« auf spanisch hieß. Sie lächelte, als sie ihm antwortete, sie konnte sich denken, was er als nächstes sagen wollte.
»Dann wird sie mit dir schimpfen, aber mehr auch nicht«, meinte Adrian ruhig und sah dem Jungen dabei in die Augen. »Als ich so alt war wie du, habe ich meiner Mutter auch solche Streiche gespielt. Zuerst war sie böse auf mich, aber sie hat mir immer verziehen.«
»Lisa ist nicht meiner Mutter.«
Adrian beugte sich vor. »Bist du zu Besuch bei ihr?«
Pablo nickte. Und dann auf einmal brach alles aus ihm heraus: Wie sehr er sich auf diesen Besuch in Deutschland gefreut hatte und daß man ihm zu Hause in Argentinien gesagt hatte, er müsse seinem Land Ehre machen und sich hier gut benehmen. Und das hatte er ja auch getan die ganze Zeit, weil es ihm so gut gefiel hier und weil Lisa und Alexander so lieb zu ihm waren.
Noch nie in seinem Leben war er so glücklich gewesen, für ihn war Berlin das Paradies. Und nun hatte er alles falsch gemacht, und Lisa würde ihn bestimmt nach Hause schicken, wenn sie erfuhr, was er getan hatte. Und dann mußte er in seiner kleinen Stadt mit der Schande leben, daß er seine Gastmutter zutiefst enttäuscht hatte.
Dabei war alles so schön gewesen: Alexander war wie ein Bruder für ihn und Lisa wie eine Mutter. An seine Eltern konnte er sich nicht mehr erinnern, sie waren schon lange tot und er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als eine Familie – und nun, wo er eine gefunden hatte, wenigstens für ein paar glückliche Wochen, da hatte er alles wieder zerstört, weil er nicht gehorsam gewesen war…
Adrian verstand nicht alles, was der blasse Junge hervorsprudelte, aber er brauchte nur in Pablos Augen zu sehen, um zu wissen, welche Seelenqualen er litt. Man mußte nicht mehr mit ihm schimpfen, weil er ohne Helm gefahren war und eine rote Ampel mißachtet hatte – er war für seinen Leichtsinn mehr als genug bestraft worden. Unwillkürlich griff nach nach Pablos Hand und drückte sie.
Er sah zu Julia hinüber, die Tränen in den Augen hatte, so sehr ging ihr die Geschichte des Jungen zu Herzen. Sie schniefte ein wenig und versuchte zu lächeln. Mit rauher Stimme sagte sie: »Sie wird dich nicht vorzeitig nach Hause schicken, Pablo. Ganz bestimmt nicht.«
»Glaubst du?« Die Stimme des Jungen klang zweifelnd, aber ein kleiner Hoffnungsschimmer zeigte sich auf seinem Gesicht.
»Wir sind schließlich auch noch da«, sagte Adrian. »Glaubst du, wir würden das zulassen?«
Da lächelte Pablo, und auf einmal strahlten seine Augen. Der ganze Junge strahlte und wirkte völlig verändert. In seinem Blick lag soviel Dankbarkeit, daß Julia sich abwenden mußte, weil sie die Tränen nun nicht mehr zurückhalten konnte. Hoffentlich, dachte sie, ist diese Lisa wirklich ein lieber Mensch und kommt tatsächlich nicht auf die Idee, den Jungen vorzeitig zurück nach Argentinien zu schicken.
*
Lisa Baumann saß direkt neben dem Telefon und wartete darauf, daß es klingelte. Doch bis jetzt hatte es das noch nicht getan. Das untätige Herumsitzen war nervenzermürbend, aber sie hätte sich auf nichts sonst konzentrieren können, also rührte sie sich nicht aus der unmittelbaren Nähe des Telefons weg. Ab und zu sprang sie auf und sah aus dem Fenster, noch immer getrieben von der verrückten Hoffnung, Pablo könne doch noch auftauchen, und die ganze schreckliche Geschichte würde sich innerhalb von Sekunden in Wohlgefallen auflösen. Aber das passierte nicht, und je mehr Zeit verstrich, desto geringer wurde diese Hoffnung.
Alexanders Nervosität zeigte sich anders als Lisas. Er rannte wie aufgescheucht in der Wohnung herum und konnte keine Sekunde lang stillsitzen. Er lief von einem Fenster zum anderen und wieder zurück zur Tür. Und dann wieder zum Fenster.
»Hör auf damit, Alexander!« rief sie schließlich. »Es macht mich verrückt, wenn du herumrennst wie ein Tiger im Käfig.«
»Aber ich muß rennen!« erklärte er unglücklich. »Ich werde verrückt, wenn ich stillsitze wie du.«
Sie nickte und sagte nichts mehr, obwohl sie sich anstrengen mußte, nicht zu schreien. Er war ein Kind, wie konnte sie von ihm erwarten, daß er sich beherrschte? Pablos Verschwinden war für ihn mindestens so schrecklich wie für sie, das durfte sie nicht vergessen.
»Ruf die Polizei noch einmal an«, bat Alexander. »Die haben uns garantiert vergessen, weil sie doch immer so viel zu tun haben.«
Lisa dachte an die aufmerksamen Augen des Polizisten und das Mitgefühl, das sie darin gesehen hatte. Sie glaubte eigentlich nicht, daß er vergessen würde, sie anzurufen, wenn er etwas wußte. Trotzdem sagte sie: »Ja, das kann sein. Aber ich möchte noch ein bißchen warten. Die werden doch sonst verrückt, wenn jeder, der ein Problem hat, ständig da anruft. Eine Viertelstunde warten wir noch, Alex.«
»Warten ist gräßlich!« schimpfte ihr Sohn und rannte erneut durchs Zimmer, als könne er dadurch etwas bewirken. Was natürlich ein Irrtum war. Das einzige, was er schaffte, war, Lisa noch nervöser zu machen, als sie ohnehin schon war, aber das wußte er nicht. Er versuchte, sich auszumalen, daß er ganz allein Pablo fand. Dann wäre sofort alles wieder gut.
Aber dann fiel sein Blick auf seine Mutter, und er wußte, daß Träumen in diesem Fall nicht half. Pablo war weg. Und sie hatten keine Ahnung, wo er war.
*
Klaus Hofstedt, der Polizeibeamte, der für Lisa und Alexander Baumann nach Pablo suchte, machte seufzend einen Haken auf dem Blatt, das vor ihm auf dem Tisch lag. Die Hälfte aller Berliner Krankenhäuser hatte er bereits angerufen, aber nirgends war ein kleiner blonder Junge mit Namen Pablo eingeliefert worden. Und seine Kollegen in den anderen Stadtteilen hatten einen solchen Jungen ebenfalls nicht gefunden.
Noch eine Stunde, schätzte er, dann hatte er alle Anrufe erledigt. Wenn er den Jungen dann noch immer nicht gefunden hatte, wurde es schwierig. Er durfte gar nicht daran denken, was dem Kleinen alles zugestoßen sein konnte – die Polizei erlebte jeden Tag die schrecklichsten Geschichten. Nein, sagte er sich energisch, er wollte daran glauben, daß diese Sache ein gutes Ende fand. Schon wegen der zarten, so zerbrechlich wirkenden Frau Baumann. Die würde ja ihres Lebens nicht mehr froh werden, wenn der Junge nicht unversehrt zu ihr zurückkehrte.
Er griff zum Hörer, um das nächste Krankenhaus anzurufen, aber in diesem Augenblick klingelte es, und er schrak zusammen, so wenig hatte er damit gerechnet, selbst einen Anruf zu erhalten. Er zwang sich zu einem amtlichen Ton, als er sich meldete.
»Ich weiß gar nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin«, sagte eine sympathische Männerstimme zögernd.
Klaus Hofstedt unterdrückte einen Seufzer. Er wollte die Sache mit diesem Jungen weiterverfolgen und sich dabei nur ungern durch irgendwelche Nachbarschaftsstreitigkeiten, entflogene Papageien oder verdächtig aussehende Personen, vor denen sich jemand fürchtete, stören lassen.
»Worum handelt es sich denn?« fragte er sachlich und schaffte es sogar, jegliche Ungeduld aus seiner Stimme fernzuhalten.
»Mein Name ist Adrian Winter, ich bin Arzt an der Kurfürsten-Klinik«, fuhr der Mann fort. »Ich rufe bei Ihnen an, weil Sie das nächstgelegene Polizeirevier sind. Hier in der Nähe hat es einen Unfall gegeben – mit mehreren Verletzten. Sagen Sie, haben Sie zufällig davon gehört, daß ein kleiner Junge vermißt wird? Ein blonder kleiner Junge?«
»Ja, das haben wir in der Tat«, sagte Klaus Hofstedt, und er war mit einem Mal völlig konzentriert und hellwach. Müdigkeit und Resignation waren wie weggeblasen, als er sich nun daran machte, Dr. Winter von der Kurfürsten-Klinik eingehend zu befragen. Je länger das Gespräch dauerte, um so aufgeregter wurde er. Sein Dienst war oft anstrengend und frustrierend, Erfolgserlebnisse waren selten. Aber hier kündigte sich genau das glückliche Ende an, das er für Frau Baumann und ihren Sohn erhofft hatte. Schon nach wenigen Sätzen konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der kleine Junge, den sie aus Argentinien zu Besuch hatte, gefunden worden war.
Als das Gespräch beendet war, wählte er sofort Lisa Baumanns Nummer. Er freute sich, derjenige zu sein, der ihr die gute Nachricht überbringen konnte.
*
Stefanie Wagner war auf die Innere Station verlegt worden. Man hatte ihr gesagt, man wolle sie noch zwei Tage zur Beobachtung in der Klinik behalten – der Schock, den sie bei dem Unfall davongetragen hatte, war erheblich gewesen. Noch immer mußte sie krampfhaft ein Zittern unterdrücken, wenn sie das Bild des auf der Straße liegenden Jungen vor sich sah, auf den sie mit scheinbar unverminderter Geschwindigkeit zuraste.
Mittlerweile wußten sie im Hotel sicherlich Bescheid. Sie durfte gar nicht daran denken, was dort alles schiefgehen würde, wenn sie nicht da war. Sie hatte eine Tagung vorzubereiten, die am Wochenende stattfinden sollte – fünfzig Teilnehmer aus mehreren Nationen.
Ihr Chef, Andreas Wingensiefen, dem sie direkt unterstellt war, hatte die Vorbereitung völlig ihr überlassen. Mit seinem üblichen spöttischen Lächeln hatte er gesagt: »Sie wollen doch mal die Leitung dieses Hotels übernehmen, schöne Kollegin. Dann zeigen Sie mal, was Sie können!«
Und sie hatte die Zähne zusammengebissen und sich in die Arbeit gestürzt. Natürlich wollte er sie testen, wollte sehen, wie belastbar sie war. Ihr Job als Assistentin des Direktors war auch ohne solche Zusatzaufgaben schon aufreibend genug. Sie wußte nur zu gut, daß die Angestellten des Hotels Wetten darauf abschlossen, wie lange sie es mit dem cholerischen Andreas Wingensiefen aushielt. Der hatte bisher noch alle geschafft…
Mich nicht! dachte sie und sah aus dem Fenster. Auch wenn dieser Unfall eine Katastrophe war für das, was sie noch an Arbeit zu erledigen hatte. Ihre Kollegen würden seelenruhig alles liegenlassen in diesen zwei Tagen, und danach konnte sie sehen, wie sie fertig wurde. Vielleicht sollte sie doch noch einmal mit den Ärzten hier reden. Sie mußte arbeiten, sie hatte keine Zeit, hier herumzuliegen.
Aber tief in ihrem Innern wußte sie, daß das nicht stimmte. Sie hätte gehen können – auf eigene Verantwortung. Niemand hätte versucht, sie daran zu hindern. Aber die Wahrheit, die sie selbst verblüffte, war, daß sie es genoß, hier in dieser Klinik im Bett zu liegen, sich versorgen zu lassen und gar nichts zu tun.
Die Tür zu ihrem Zimmer öffnete sich vorsichtig. Aber noch bevor sie den Kopf wenden konnte, um zu sehen, welche Schwester diesmal kam, um sich zu vergewissern, daß mit ihr alles in Ordnung war, sagte eine wohlbekannte Stimme: »Mein Gott, Steffi, du kannst einem aber auch einen Schrecken einjagen!«
Oliver Mahnert, ihr Exfreund! Sie seufzte unhörbar, dann wandte sie ihm den Kopf zu und fragte: »Woher weißt du denn, daß ich hier bin?«
»Ich habe in deinem Büro angerufen, weil ich dich zum Essen einladen wollte heute abend. Aber statt mit dir wurde ich mit deinem Chef verbunden. Ich soll dich grüßen von ihm.«
»Ist ihm bestimmt schwergefallen«, murmelte Stefanie. »Für den zählen nur Menschen, die arbeitsfähig sind.«
Das war ungerecht, und sie wußte es. Wingensiefen und sie arbeiteten gut zusammen, seit sie sich an seine Wutausbrüche gewöhnt hatte. Sie konnte auch wütend werden, und das hatte sie ihn schon gelegentlich spüren lassen. Zuerst war er völlig verblüfft darüber gewesen, daß er nicht der einzige war, der schreien konnte. Dann hatte er offenbar darüber nachgedacht und war seitdem, zumindest ihr gegenüber, ein bißchen vorsichtiger.
»Was ist denn nun passiert?« fragte Oliver Mahnert besorgt. »Wird hier auch alles für dich getan?«
Sie hätte ihn schütteln können. Vor fünf Jahren hatte sie geglaubt, in ihn verliebt zu sein, und gerade seine fürsorgliche Art hatte sie für ihn eingenommen. Aber schon nach kurzer Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, in seiner Gegenwart zu ersticken und sich von ihm getrennt. Sie war kein Püppchen, auf das ständig jemand achtgeben mußte! Sie konnte recht gut für sich selbst sorgen.
Oliver hatte das einfach nicht einsehen wollen. Und deshalb tat er so, als sei diese Trennung nur vorübergehend – sie würde, glaubte er, nur solange dauern, bis Steffi endlich seinen wahren Wert erkannt und begriffen hatte, daß sie ihn in Wirklichkeit ebenso liebte wie er sie. Und so hatte er beschlossen, auf sie zu warten, denn für ihn stand außer Frage, daß sie die Frau seines Lebens war.
Stefanie hatte ihm schon mehr als hundertmal erklärt, daß er sich irrte, aber er glaubte ihr nicht. Mit überlegenem Lächeln hörte er sich ihre Erklärungen jedesmal an – und dann war alles wie zuvor. Er lud sie zum Essen ein, er schickte ihr Blumen, er rief sie an, er schrieb ihr von jeder seiner Reisen reizende Karten. Er lud sie ins Konzert und in die Oper ein, und wenn sie Kummer hatte, dann war er der erste, der kam, um sie zu trösten. Wenn sie es zuließ. Meistens lehnte sie seine Einladungen ab und bedankte sich nicht einmal für die Blumen, die er ihr schickte. Und ihren Kummer teilte sie auch lieber mit anderen Menschen. Aber manchmal hatte eben auch sie ihre schwachen Momente.
Kurz gesagt: Oliver Mahnert machte sie wahnsinnig. Sie mochte ihn wirklich gern, etwas anderes ging auch gar nicht bei einem solchen Musterexemplar von Mann. Er sah gut aus mit seinen braunen Haaren und den ebenfalls braunen Augen im klaren, energischen Gesicht. Besonders groß war er nicht und auch eher kräftig als schlank, aber er kleidete sich ausgesprochen elegant und geschmackvoll. Er war Teilhaber einer gutgehenden Rechtsanwaltskanzlei und besaß eine wunderschöne Wohnung. Und immer wieder betonte er, daß sie auch für eine vierköpfige Familie groß genug war. Schließlich hatte er sie im Hinblick auf diese Familie, die er zu gründen gedachte, gekauft.
Aber Stefanie liebte ihn nun einmal nicht, daran war nicht zu rütteln. Und sie wußte mittlerweile wirklich nicht mehr, was sie noch tun sollte, um ihn davon zu überzeugen. Was immer sie in dieser Hinsicht sagte, es schien ihn überhaupt nicht zu erreichen.
»Hier wird sehr gut für mich gesorgt«, sagte sie als Antwort auf seine Frage. »Ständig kommt jemand und sieht nach mir.«
»Seit ich hier bin, war noch niemand da«, meinte er und sah auf seine Uhr. Wahrscheinlich, dachte sie ein wenig boshaft, wußte er genau, wie viele Minuten er bereits bei ihr war.
»Oliver«, sagte sie bittend, »fang nicht schon wieder an, mich zu bevormunden. Es geht mir nicht besonders gut, und ich habe keine Kraft mehr, mit dir zu streiten. Es ist lieb, daß du gekommen bist…«
»Aber am liebsten wäre es dir, wenn ich bald wieder gehe«, stellte er fest. Er wirkte nicht beleidigt, und das rechnete sie ihm hoch an.
»Ja«, gab sie zu. »Am liebsten liege ich ganz allein hier und lasse mich ein wenig hängen.«
»Aber dir ist nichts passiert?« fragte er besorgt. »Ich meine, du hast keine Verletzungen oder so etwas?«
»Nur einen Schock. Aber der reicht mir völlig.«
»Natürlich, entschuldige bitte die dumme Frage«, sagte er hastig. Dann fügte er schüchtern hinzu: »Laß mich noch ein paar Minuten hier sitzenbleiben, ja? Ich verspreche dir, kein Wort zu sagen. Aber vielleicht hilft es dir doch, wenn du weißt, daß ich in deiner Nähe bin.«
Sie schloß die Augen. Wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre, wäre sie mit Sicherheit auf ihn losgegangen. Er konnte es einfach nicht lassen, sie zu umsorgen wie eine Mutter ihr Kleinkind. Aber für dieses eine Mal würde sie es ihm durchgehen lassen. Für dieses eine Mal.
Wenn Stefanie Wagner gewußt hätte, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf die nächsten Monate ihres Lebens haben würde, hätte sie ihre Kräfte vielleicht doch zusammengenommen und ihn gebeten, ihr Zimmer umgehend zu verlassen…
*
Dr. Adrian Winter war mit Pablo alleingeblieben. Er hatte ja Zeit genug und konnte es sich leisten, noch eine Weile am Bett des Jungen sitzenzubleiben. Julia dagegen hatte zurück in die Notaufnahme gemußt. »Aber erzähl mir hinterher genau, was für einen Eindruck du von seiner Gastfamilie hast«, hatte sie ihm zugeflüstert.
Natürlich würde er das tun. Er war ja selbst gespannt auf Lisa und Alexander – mittlerweile wußte er, daß die Baumann mit Nachnamen hießen. Der nette Polizist hatte versprochen, sie sofort zu benachrichtigen. Sie mußten eigentlich jeden Augenblick eintreffen.
Er hatte diesen Gedanken noch nicht einmal zu Ende gedacht, als es zaghaft klopfte, und gleich darauf kam eine sehr blasse, zart aussehende Frau mit aschblonden Haaren zur Tür herein, gefolgt von einem Jungen, der ungefähr so alt wie Pablo sein mochte. Auch er war blaß, aber als er Pablo erkannte, blitzten seine blauen Augen, und er stürzte auf das Bett zu. Den Arzt schien er gar nicht wahrzunehmen.
Im Nu waren die beiden Jungen in ein Gespräch verwickelt, von dem der verblüffte Adrian Winter fast nichts verstand. Es mußte sich um eine Art Geheimsprache handeln, in der deutsche und spanische Wörter, Zeichen- und Körpersprache sowie Grimassen eine Rolle spielten.
Der junge Arzt gab es schnell auf, etwas verstehen zu wollen. Aber nun beugte sich auch Alexanders Mutter über Pablo, und die Art, wie sie ihm sanft über das Gesicht strich und seinen Namen sagte, während ihr die Tränen in den Augen standen, sagte mehr als tausend Worte über die Gefühle, die sie ihrem kleinen Gast aus Argentinien entgegenbrachte.
Dann richtete sie sich auf und überließ die beiden Jungen ihrem aufgeregten Gespräch. Sie hatte zwar unendlich viele Fragen zu dem, was eigentlich geschehen war, aber sie konnte warten.
»Frau Baumann?« fragte Adrian.
Sie zuckte zusammen. Es war offensichtlich, daß sie, genau wie ihr Sohn, den Arzt bisher gar nicht wahrgenommen hatte.
»Ich bin Dr. Winter, ich habe den Unfall zufällig mit angesehen und veranlaßt, daß Pablo und die anderen Beteiligten in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert wurden.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie leise. »Sie müssen mich für sehr unhöflich halten, daß ich Sie noch nicht einmal begrüßt habe. Aber Sie können sich nicht vorstellen, was für ein grauenhafter Tag hinter uns liegt. Wir haben uns die schrecklichsten Dinge ausgemalt, die Pablo hätten passiert sein können.«
»Ich denke doch, daß ich mir das vorstellen kann«, meinte Adrian nachdenklich. »Es tut mir auch sehr leid, daß es so lange gedauert hat, bis Sie benachrichtigt wurden. Aber der kleine Kerl wollte zuerst überhaupt nicht mit der Sprache herausrücken – seinen Namen nicht sagen und auch nicht Ihren.«
»Er spricht ja auch kaum Deutsch«, sagte sie leise.
»Oh, wir haben alle möglichen Sprachen durchprobiert«, gestand Adrian lächelnd. »Es war kein Sprachproblem, sondern er hatte Angst, daß Sie ihn früher nach Hause schicken, weil er Ihnen nicht gehorcht hat und heimlich Alexanders Fahrrad genommen hat.«
Ihre Augen wurden groß. »Das hat er gesagt?« flüsterte sie. »Daß er Angst hat, ich schicke ihn gleich nach Hause?«
Adrian nickte. Und dann erzählte er ihr alles, was er von Pablos überstürzter Rede verstanden hatte.
Wieder füllten sich Lisa Baumanns Augen mit Tränen. »Das arme Kerlchen«, sagte sie. »Wie kommt er nur auf eine so dumme Idee? Ich wollte schon mit ihm schimpfen, daß er heimlich ausgerissen ist, ohne uns Bescheid zu sagen – aber deshalb schicke ich ihn doch nicht vorzeitig zurück. Wir sind so froh, ihn hier zu haben, Herr Doktor! Es tut Alexander gut, einen Bruder zu haben. Die beiden haben sich vom ersten Augenblick an großartig verstanden.«
»Das sieht man«, erwiderte Adrian lächelnd.
Sie folgte seinem Blick und lächelte ebenfalls. Tatsächlich, die beiden Jungen tuschelten noch immer aufgeregt miteinander. Als sie merkten, daß die Erwachsenen sie ansahen, unterbrachen sie ihr Gespräch, und Alexander sagte: »Pablo hat Angst, daß wir ihn jetzt zurückschicken, Mami, aber ich hab’ ihm gesagt, daß das Quatsch ist. Das stimmt doch, oder? Daß es Quatsch ist, meine ich.«
Lisa nickte. Reden konnte sie nicht, sie traute ihrer Stimme nicht.
Triumphierend wandte sich Alexander an Pablo. »Siehst du!« rief er. »Alles Quatsch! Natürlich bleibst du hier!«
Es dauerte noch eine Weile, bis Pablo davon überzeugt war, daß sein Aufenthalt in Deutschland nicht vorzeitig beendet sein würde. Und dann sagte er: »Quatsch!« Aus seinem Mund klang das Wort so komisch, daß die anderen in amüsiertes Gelächter ausbrachen.
Adrian verabschiedete sich an dieser Stelle. Nein, um diese drei, so glaubte er, mußte man sich keine Sorgen mehr machen. Eilig machte er sich auf den Weg zurück in die Notaufnahme, um sich von seinen Kolleginnen und Kollegen dort zu verabschieden. Es gab für ihn nur wirklich keinen Grund mehr, noch länger in der Klinik zu bleiben.
Der Tag war ohnehin bald vorbei, wenn er jetzt nach Hause fuhr, dann konnte er sich einbilden, einen ganz normalen Arbeitstag hinter sich gebracht zu haben – wenn man mal von dem kurzen Ausflug ins King’s Palace absah.
Diese Erinnerung brachte ihn auf eine Idee. Er konnte natürlich noch einmal kurz nach Stefanie Wagner sehen und sich davon überzeugen, daß sie sich von ihrem Schreck wirklich gut erholte. Sie lag jetzt auf der Inneren, wie er erfahren hatte. Dort kam er auf seinem Weg zurück in die Notaufnahme ohnehin vorbei – jedenfalls beinahe.
Leise und falsch vor sich hin pfeifend machte er sich auf den Weg. Gedanken über seine Motive für den geplanten Besuch verdrängte er. Was lag näher, als daß ein Arzt nach einer Patientin sah, für deren Einlieferung er am Morgen selbst gesorgt hatte?
Die Tür zu Stefanie Wagners Zimmer stand offen, und er wollte soeben schwungvoll eintreten, als er bemerkte, daß sie nicht allein war. Ein braunhaariger, überaus elegant gekleideter Mann stand an ihrem Bett und beugte sich gerade über sie, um sie zu küssen. Er hörte ihn zärtlich flüstern: »Bis bald, Steffi. Ich denke Tag und Nacht an dich.«
Was die Patientin antwortete, hörte Adrian nicht mehr. Er hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und lief nun überaus eilig zur Notaufnahme. Da hätte er sich ja um ein Haar lächerlich gemacht! Natürlich hatte sie einen Freund oder Mann – auch wenn sie nicht gewollt hatte, daß man ihn benachrichtigte. Es war ja offenbar auch nicht nötig gewesen, denn er hatte trotzdem von dem Unfall erfahren.
Was hatte er sich denn nur eingebildet? Daß eine so schöne Frau mit diesen wunderbaren Veilchenaugen allein durch die Welt ging und nur auf ihn gewartet hatte?
Adrian Winter, sagte er sich, du bist ein Idiot. Ein hirnverbrannter Idiot, und es geschieht dir ganz recht, daß du jetzt kopflos durch die Gegend läufst.
Dieser Gedanke beruhigte ihn seltsamerweise ein wenig – und als er die Notaufnahme betrat, hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle.
*
»Ganz bestimmt?« fragte Pablo. »Ich darf ganz bestimmt hierbleiben?«
»Ganz bestimmt!« versicherte Lisa. »Wie bist du denn überhaupt auf die Idee gekommen, daß ich dich zurückschicken könnte?«
Pablo holte tief Luft, und dann versuchte er, es ihr zu erklären. Er erzählte ungefähr noch einmal das, was er zuvor schon den beiden Ärzten erzählt hatte, und Lisa erging es nicht anders als Julia Martensen zuvor: Tränen traten ihr in die Augen, als sie endlich begriff, was es für diesen Jungen bedeutete, ein paar Wochen bei Alexander und ihr zu verbringen, und welche Angst er ausgestanden hatte bei dem Gedanken, durch seine eigene Schuld alles verspielt zu haben.
»Natürlich war es nicht richtig, was du getan hast«, sagte sie ernst, und Pablo nickte schuldbewußt. »Aber das weißt du ja selbst am besten, nicht?«
Wieder nickte der Junge.
»Willst du mir denn versprechen, so etwas nicht noch einmal zu tun?« fragte Lisa, und Pablo nickte zum dritten Mal.
»Ich will dir doch den Spaß am Fahrradfahren nicht verderben, Pablo«, erklärte sie. »Aber ich weiß, wie gefährlich das ist, und deshalb habe ich das Verbot ausgesprochen.«
»Ich weiß«, sagte Pablo kläglich. »Das habe ich jetzt verstanden, wirklich. Es war ganz schrecklich auf der Straße mit den vielen Autos. Die waren viel schneller, als ich gedacht habe, und sie sind immer ganz nahe an mir vorbeigekommen.«
Sie wollte ihn nicht von neuem aufregen und lächelte ihn beruhigend an. »Gut, dann wäre das ja geklärt. Und jetzt lasse ich euch allein, ich möchte noch einmal mit Dr. Winter sprechen.«
Sie hatte das Zimmer noch nicht verlassen, als Pablo und Alexander bereits wieder in eines ihrer unverständlichen Gespräche vertieft waren.
*
»Ich habe Schmerzen, verdammt noch mal!« brüllte Paul Lüttringhaus, und die junge Lernschwester erstarrte vor Angst, als er sie jetzt auch noch wütend mit seinen dunklen Augen anfunkelte. »Was stehen Sie so dumm in der Gegend herum?« rief er gereizt. »Rufen Sie diesen Klempner, der mich zusammengeflickt hat, damit ich mit ihm reden kann!«
Die junge Frau nickte mit blassem Gesicht, dann machte sie Anstalten, aus dem Zimmer zu fliehen. Dazu kam sie jedoch nicht, denn in diesem Augenblick betrat Schwester Inge, eine sehr robuste Person von fast sechzig Jahren, das Zimmer. Mißbilligend sah sie den Patienten an.
»Können Sie nicht endlich aufhören mit Ihrem Geschrei, Herr Lüttringhaus?« fragte sie ungehalten. »Man hört Sie ja über den ganzen Flur, und Sie stören unsere anderen Patienten.« Schwester Inge hatte eine überraschend schöne, weiche Stimme, die einen merkwürdigen Gegensatz zu ihren harschen Worten bildete. Aber Paul Lüttringhaus hatte im Augenblick für solche Feinheiten keinen Sinn.
»Ach, wirklich?« fragte er wütend. »Und wen kümmert das? Glauben Sie etwa, mich? Mich hat heute morgen so ein acht- bis zehnjähriges Würstchen zum Krüppel gefahren, und Sie erwarten, daß ich hier sanft wie ein Lamm liege und mein Schicksal ergeben annehme?« Er streckte seine Hand aus und zeigte mit dem Zeigefinger so heftig auf sie, daß sie unwillkürlich zurückwich, als könne er sie aufspießen. »Da haben Sie sich aber schwer getäuscht, Schwester! Sehr schwer! Ich tobe hier so lange herum, bis sich ein Arzt findet, der mir versichert, daß er mich so wieder hinkriegt, wie ich vorher war. Aber bisher habe ich von allen Seiten nur Ausflüchte gehört.«
»Weil es noch viel zu früh ist, um etwas Endgültiges zu sagen«, stellte Schwester Inge fest. »Und wenn Sie Ihren Kopf mal zum Denken benutzen würden, anstatt damit immer nur neue Schimpfkanonaden zu produzieren, dann müßte Ihnen das eigentlich einleuchten.« O ja, sie konnte schon austeilen, die Schwester Inge, wenn sie fand, daß es nötig war.
Der Patient jedenfalls war für einen kurzen Moment sprachlos, aber dann hatte er sich wieder gefaßt. »Ich bin kein Arzt«, sagte er unwirsch, »und deshalb muß ich nicht wissen, wann man eine endgültige Aussage machen kann. Außerdem will ich die Eltern von diesem Früchtchen sprechen, das den Unfall verursacht hat. Und denen können Sie gleich sagen, daß sie sich auf etwas gefaßt machen sollen! Deren Versicherung wird zahlen, bis ich alt und grau bin, sagen Sie ihnen das!«
»Sagen Sie ihnen das selbst!« fauchte Schwester Inge kurz angebunden. Dann nahm sie die noch blasser und nervöser wirkende Lernschwester am Arm und zog sie aus dem Zimmer. »Kommen Sie«, sagte sie, »hier können wir im Augenblick doch nichts tun! Wenn Herr Lüttringhaus weitertoben will, kann er das alleine tun.«
Die Tür fiel hinter den beiden ins Schloß, und Paul Lüttringhaus starrte ihnen verblüfft hinterher. Er verstand die Welt nicht mehr. War denn nicht er das Opfer und verdiente Mitleid? Statt dessen wurde er behandelt, als habe er etwas verbrochen. »Verkehrte Welt«, murmelte er vor sich hin. Und dann schrie er erneut nach der Schwester. Sie sollten bloß nicht glauben, daß sie ihn hier so einfach mundtot machen konnten! Er war ganz bestimmt keiner, der sich alles gefallen ließ.
Er gestand sich nicht ein, daß ihm das Schreien gegen die Verzweiflung half, die ihn zu überwältigen drohte. Denn es war leider eine Tatsache. Ein Sportlehrer, der nicht mehr richtig laufen konnte, war keiner. Und bisher war noch völlig ungewiß, welche dauerhaften Schäden er von diesem Unfall davongetragen hatte.
*
»Herr Dr. Winter!«
Adrian sah sich um und entdeckte zu seinem Erstaunen Lisa Baumann, die im Eiltempe auf ihn zulief.
»Ach, wie gut, daß ich Sie noch erwische!« rief sie völlig außer Atem, als sie ihn erreicht hatte.
»Da haben Sie wirklich Glück«, sagte er, »ich bin endlich auf dem Weg nach Hause.« Er lächelte und setzte hinzu: »Dies ist nämlich eigentlich mein erster Urlaubstag.«
»Oh, das wußte ich nicht«, sagte sie verlegen. »Und jetzt komme ich auch noch und halte Sie schon wieder auf. Es ist nur so…« Sie unterbrach sich und fragte dann: »Wann könnte ich denn mit Ihnen noch einmal über den Unfall reden? Sie waren schließlich dabei, und vorhin ging alles so schnell. Ich habe auch nicht alles mitbekommen, was Sie mir erzählt haben, weil ich so froh war, Pablo zu sehen.«
»Kommen Sie«, sagte Adrian freundlich, »aus diesem Urlaubstag wird sowieso nichts Rechtes mehr. Wir beide trinken einen Kaffee zusammen, und Sie fragen mich aus. Was halten Sie davon?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, nehme ich das Angebot gerne an«, erwiderte sie schüchtern.
Einige Minuten später saßen sie in dem kleinen Café der Klinik, und Lisa stellte die Frage, die ihr am meisten auf der Seele brannte: »Ist jemand anderes bei dem Unfall verletzt worden?«
»Ja, leider«, antwortete Adrian und berichtete ihr von Paul Lüttringhaus, seinem übel zugerichteten Bein und von dem Schock, den Stefanie Wagner erlitten hatte. »Sie müssen sich vorstellen, daß die beiden in letzter Sekunde verhindern konnten, den Jungen einfach zu überfahren. Frau Wagner konnte bremsen, aber Herr Lüttringhaus mußte ausweichen – und dabei ist er erheblich verletzt worden.«
»Wie schrecklich!« sagte Lisa. Sie war wieder ganz blaß geworden. »Und das ist alles meine Schuld. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen.«
»Frau Baumann«, erwiderte Adrian, »Jungen in dem Alter kann man nicht rund um die Uhr beaufsichtigen. Mit Selbstvorwürfen machen Sie die Sache nicht ungeschehen, und Sie helfen auch niemandem damit. Aber wenn ein wenig Zeit vergangen ist, dann müssen Sie Pablo unbedingt fragen, wieso er einfach weitergefahren ist, als die Ampel Rot zeigte. Das darf er in Zukunft nie wieder machen.«
Sie nickte, aber in Gedanken war sie nicht bei der Sache, das sah er.
»Und Sie müssen natürlich mit Frau Wagner und Herrn Lüttringhaus reden. Da wird es sicherlich auch versicherungstechnische Fragen zu lösen geben.«
Sie sah ihn so erschrocken an, daß er sich wünschte, diesen Satz nicht gesagt zu haben. Diese Probleme würden noch früh genug auf sie zukommen – warum mußte er sie schon jetzt darauf aufmerksam machen?
»Könnte ich nicht gleich mit den beiden sprechen?« fragte sie nun zu seiner Überraschung. Immerhin hielt sie offenbar nichts davon, Unangenehmes auf die lange Bank zu schieben. Das imponierte ihm.
»Mit Frau Wagner können Sie sicher sprechen«, antwortete er. »Bei Herrn Lüttringhaus würde ich Ihnen raten, noch ein wenig zu warten.« Er sah ihr fragendes Gesicht und suchte nach den richtigen Worten. »Er hat, um es vorsichtig zu sagen, ein ziemlich explosives Temperament, und es ist sicher ratsam, ihm noch ein bißchen Zeit zu lassen, damit er sich beruhigen kann.«
Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem!« sagte sie unerwartet energisch. »Ich muß das hinter mich bringen. Wo finde ich Herrn Lüttringhaus?«
Er wollte ihr gerade antworten, als eine junge Lernschwester auf ihn zueilte. »Herr Dr. Winter, ob Sie wohl noch einmal zu Herrn Lüttringhaus kommen könnten? Er läßt sich einfach nicht beruhigen und will unbedingt mit dem Arzt reden, der ihn operiert hat.«
»In fünf Minuten bin ich da«, sagte Adrian, und die Lernschwester lief erleichtert davon. »Sehen Sie«, meinte er zu Lisa Baumann, »nun können Sie mich zu Herrn Lüttringhaus begleiten. Wenn Sie nicht doch auf mich hören wollen und lieber noch ein Weilchen warten.«
»Nein, ich komme mit Ihnen«, sagte Lisa entschlossen.
»Aber nicht, daß Sie später sagen, ich hätte Sie nicht gewarnt«, meinte er.
*
Paul Lüttringhaus war schon auf dem Flur zu hören. Die Ankunft Dr. Winters wurde allgemein erleichtert zur Kenntnis genommen, erhoffte man sich von seinem Auftauchen doch eine Beruhigung des Patienten, der mittlerweile die Nerven aller Beteiligten heftig strapazierte. Dabei war er noch nicht einmal einen Tag da!
Adrian warf seiner Begleiterin einen forschenden Blick zu, aber sie zögerte auch jetzt nicht. Nur ihre Lippen preßte sie fest zusammen, doch das war das einzige Zeichen von Nervosität, das er an ihr entdecken konnte.
Als sie das Zimmer des Patienten betraten, hielt dieser kurz inne, um zu sehen, wer diesmal zu ihm kam.
»Was ist los, Herr Lüttringhaus?« fragte Adrian.
»Wer sind Sie denn?« fragte der Patient mürrisch. Adrian trug keinen weißen Kittel mehr, da er bereits auf dem Weg nach Hause gewesen war. Und offenbar erkannte Paul Lüttringhaus ihn nicht.
»Ich bin Dr. Winter«, antwortete Adrian ruhig. »Ich habe Sie am Unfallort untersucht und später auch operiert. Ich bin nach der Operation noch einmal bei Ihnen gewesen, als Sie noch im Aufwachraum lagen, aber da waren Sie noch sehr schläfrig. Deshalb erinnern Sie sich sicher nicht mehr daran. Man hat mir gesagt, Sie wollten mit mir sprechen?«
»Ja, aber allein«, antwortete der Patient mit finsterer Miene. Dann machte er eine Kopfbewegung in Lisas Richtung und fragte bewußt unhöflich: »Wer ist sie überhaupt?«
Adrian hätte ihn am liebsten zurechtgewiesen für seine grobe Art, obwohl er wußte, daß Paul Lüttringhaus den Unfallschock noch nicht überwunden hatte und sich deshalb so verhielt. Doch bevor er etwas sagen konnte, hatte Lisa Baumann bereits geantwortet.
»Der Junge, der den Unfall verursacht hat, Pablo heißt er übrigens«, begann sie, »ist mein…«
Sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden. »Sie sind also die Mutter von diesem Bengel!« fiel Paul Lüttringhaus ihr ins Wort. »Und wahrscheinlich sind Sie nicht besser als er! Fährt rücksichtslos bei Rot über die Ampel und verursacht einen schweren Verkehrsunfall! Er kann nur froh sein, daß er jetzt nicht hier ist, dem würde ich vielleicht was erzählen!«
»Aber…«, versuchte Lisa einzuwenden, doch weiter kam sie nicht.
»Wollen Sie ihn verteidigen?« rief Paul Lüttringhaus mit wütend funkelnden Augen. »Wollen Sie etwa verteidigen, was er getan hat? Rücksichtslose Kinder werden später rücksichtslose Erwachsene, das sollten Sie eigentlich wissen. Und wenn Sie ihm kein gutes Vorbild sind, dann können Sie auch nichts Besseres erwarten.«
»Herr Lüttringhaus«, sagte Adrian energisch, »nun halten Sie doch endlich mal die Luft an!«
Das tat der Patient umgehend, was Adrian höchst erstaunlich fand. Mit einem so schnellen Erfolg hatte er nicht gerechnet. Im nächsten Augenblick freilich entdeckte er, daß er sich geirrt hatte. Paul Lüttringhaus hatte sich keineswegs durch seine Worte einschüchtern lassen. Es war vielmehr so, daß Lisa Baumann ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer marschiert war. Und das hatte den temperamentvollen Patienten endlich zum Schweigen gebracht.
»Na, so was«, brummte er. »Wieso rennt sie denn einfach raus? Kann wohl die Wahrheit nicht vertragen!«
Adrian beschloß, daß er nun genug Rücksicht auf Verletzung und Schock des Patienten genommen hatte. »Was wissen Sie denn von der Wahrheit?« schnauzte er den völlig überraschten Mann an. »Pablo ist überhaupt nicht ihr Sohn! Er ist ein kleiner Argentinier, der bei ihr zu Gast ist. Er hat sich heute morgen heimlich das Fahrrad ihres Sohnes ›geliehen‹, und ist damit abgehauen. Sie hatte ihm übrigens strikt verboten, allein mit dem Fahrrad zu fahren und hat Todesängste ausgestanden, als sie festgestellt hatte, daß der Junge verschwunden ist. Eigentlich ist sie nur gekommen, um sich bei Ihnen in Pablos Namen zu entschuldigen. Obwohl sie natürlich weiß, daß dadurch nichts ungeschehen gemacht wird.« Nun war es Dr. Adrian Winter, der den anderen wütend anfunkelte, und unter seinem Blick wurde Paul Lüttringhaus sichtlich verlegen.
»Das wußte ich ja nicht«, begann er, aber Adrian schnitt ihm sofort das Wort ab.
»Das wußten Sie nicht, weil Sie sie gar nicht haben zu Wort kommen lassen, Herr Lüttringhaus! Sie haben sie abgekanzelt wie eine dumme Schülerin, ohne sich anzuhören, was sie Ihnen zu sagen hatte. Das war außerordentlich unhöflich von Ihnen. Und da wir schon einmal beim Kritisieren sind: Hören Sie endlich auf, die ganze Station zu terrorisieren! Jeder macht hier seine Arbeit, so gut er kann. Und es gibt keinen Grund, die Schwestern und Ärzte auf der Station zu behandeln, als wären sie schuldig an dem Unfall. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie haben einen schweren Schock erlitten und sind außerdem schwer verletzt worden. Ich verstehe, daß das für Sie ein harter Schlag ist – aber niemand von den Leuten, die sich hier um Sie kümmern, trägt daran irgendeine Schuld. Also besinnen Sie sich bitte auf Ihre besseren Seiten und benehmen Sie sich ab sofort wie ein normaler Mensch!«
Für den in der Regel sehr gelassenen Adrian Winter war das eine ungewöhnlich deutliche Ansprache. Einen Moment herrschte Stille im Zimmer, dann fuhr der Arzt mit völlig ruhiger Stimme fort: »So, was also wollten Sie mich fragen?«
Doch auf diese Frage bekam er keine Antwort. »Mannomann«, ließ sich Paul Lüttringhaus vernehmen. »Das war vielleicht ’ne Strafpredigt, Doktor. Besser hätte ich’s auch nicht gekonnt. Aber ich muß zugeben, daß Sie recht haben. Ein bißchen wenigstens.«
»Da bin ich aber froh«, bemerkte Adrian trocken. Insgeheim fand er Paul Lüttringhaus sympathisch, auch wenn er eindeutig übertrieben hatte mit seiner Schreierei. Aber, dachte er, wer weiß, wie ich reagieren würde, wenn ich Angst hätte, vielleicht nie wieder laufen zu können? Und er ist ja noch ziemlich jung, kaum dreißig. Außerdem sieht er gut aus mit seinen dunklen Haaren und den dunklen Augen. Bis heute morgen hat ihm wahrscheinlich die ganze Welt offengestanden. Und jetzt muß er sich fragen, wie es mit ihm weitergeht. Das ist schon hart.
»Und jetzt?« fragte Paul Lüttringhaus. »Wahrscheinlich wär’ ja eine Entschuldigung angebracht, obwohl ich immer noch stinkwütend auf den Jungen bin. Aber die Frau… Wie heißt sie überhaupt?«
»Frau Baumann.«
»Frau Baumann kann ja wohl wirklich nichts dafür.«
»Nein, das kann sie sicher nicht«, bestätigte Adrian. »Sie werden sich etwas einfallen lassen müssen, Herr Lüttringhaus. Freiwillig kommt Frau Baumann bestimmt nicht wieder, um mit Ihnen zu reden.«
»Da könnten Sie recht haben, Herr Doktor«, murmelte der Patient. Auf einmal hatte er überhaupt kein Bedürfnis mehr, über sein Bein zu sprechen und darüber, wie seine Chancen auf vollständige Genesung waren. Zwar versuchte er, mit dem Doktor darüber ein Gespräch zu führen, aber irgendwie kamen ihm immer zwei zutiefst erschrocken blickende braune Augen in einem sehr zarten Gesicht in den Sinn, die verhinderten, daß er sich richtig konzentrieren konnte.
*
Lisa war sehr blaß und in sich gekehrt, als sie Alexander abholte, der bei Pablo geblieben war. Das Gespräch mit Stefanie Wagner war zwar völlig ruhig und friedlich verlaufen, aber der Schock über die Vorwürfe, die Paul Lüttringhaus ihr gemacht hatte, saß tief.
Die beiden Jungen sahen sie unsicher an, weil sie sich ihren Stimmungwechsel nicht erklären konnten. Sie war doch zuvor so freundlich und liebevoll gewesen. Aber jetzt wirkte sie fast unnahbar. Besonders Pablo bekam es erneut mit der Angst zu tun. Hatte Lisa vielleicht ihre Meinung geändert und wollte ihn jetzt doch nach Hause schicken? Er sah Alexander hilflos an, aber diesmal konnte der ihm auch nicht helfen. Er verstand ja selbst nicht, was auf einmal mit seiner Mutter los war.
Wie hätte Lisa den Jungen auch erklären sollen, was sie bei Paul Lüttringhaus erlebt hatte? Der Mann hatte sie zutiefst getroffen mit seinen Worten, aber sie konnte ihn trotzdem gut verstehen. Zwar war er außerordentlich unhöflich gewesen, denn er hatte ja nicht einmal hören wollen, was sie zu sagen gehabt hätte. Aber war das angesichts seiner Situation nicht allzu verständlich?
Und nach dem, was sie über seine Verletzungen wußte, gab es Gründe genug für ihn, verzweifelt zu sein. Ein Sportlehrer, der nicht wußte, ob er jemals wieder würde laufen können! Es schauderte sie, als sie daran dachte. Und das alles, weil Pablo sich heimlich Alexanders Rad »ausgeliehen« hatte. Nur gut, daß der Junge nicht überschauen konnte, was er angerichtet hatte. Er war gestraft genug, auch ohne lebenslange Schuldgefühle.
Sie würde diesen Paul Lüttringhaus am nächsten Tag noch einmal aufsuchen, beschloß sie. Auch wenn sie nur wenig tun konnte, so empfand sie es doch als ihre Pflicht, ihm zu erklären, wie es zu dem Unglück gekommen war. Der Gedanke, daß er wegen des Unfalls einen tiefen Groll gegen Pablo hegte, war ihr unerträglich. Wenn er dem Jungen schon nicht verzeihen konnte, so wollte sie wenigstens versuchen, ihm dessen Handlungsweise verständlich zu machen. Als Lehrer mußte er doch eigentlich nachvollziehen können, was in Pablo vorgegangen war!
Als sie diesen Entschluß gefaßt hatte, entspannten sich ihre Züge, und nun nahm sie auch wahr, wie ängstlich die beiden Jungen sie beobachteten. »Guckt nicht so«, sagte sie betont munter. »Ich hatte eben ein ziemlich gräßliches Erlebnis, deshalb habe ich so ein Gesicht gemacht. Es hat überhaupt nichts mit euch zu tun.«
Die Erleichterung der Jungen war so groß, daß sie fast körperlich zu spüren war, und eine Welle von Liebe und Zärtlichkeit für beide erfaßte sie. Pablo hatte eine Dummheit gemacht, aber sie würde nicht zulassen, daß er dafür noch einmal bestraft wurde!
Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Als sie sich aufrichten wollte, schlang er beide Arme um sie und drückte sie ganz fest. »Ich hab’ dich lieb, Lisa«, sagte er. »So lieb wie meine Mama, die schon im Himmel ist.«
»Ich hab’ dich auch lieb, Pablo«, flüsterte sie. »Und Alexander auch. Wir sind sehr froh, daß du hier bist.«
»Genau!« sagte Alexander laut. Die Stimmung wurde ihm allmählich zu rührselig, und das war seine Art, das zum Ausdruck zu bringen.
»Bis morgen, Pablo«, sagte Lisa. »Schlaf schön. Und mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon – irgendwie.«
Auf einmal war Pablo sehr müde. Die Aufregung des Tages forderte ihren Tribut, und er schlief ein, noch bevor Lisa und Alexander das Zimmer verlassen hatten.
*
Nach diesem denkwürdigen ersten Urlaubstag lag Dr. Adrian Winter abends auf seinem breiten Sofa und dachte über die merkwürdigen Wege des Schicksals nach. So viel war an diesem Tag passiert! Mehr als manchmal in einer Woche oder sogar in einem ganzen Monat.
Stefanie Wagner fiel ihm wieder ein, und er fragte sich, ob er sie nicht am besten aus seinem Gedächtnis streichen sollte. Er wußte ja nun, daß sie gebunden war. Oder sollte er doch noch einmal bei ihr vorbeigehen und sich ganz unverbindlich nach ihrem Befinden erkundigen?
Aber er hatte keinen Grund, wirklich nicht den geringsten, am nächsten Tag schon wieder in die Klinik zu gehen. Plötzlich lächelte er. Es würde ihm schon ein Grund einfallen. Phantasie hatte er schon als Kind reichlich gehabt. Sollten die anderen sich ruhig über ihn lustig machen, weil er in seinem Urlaub ständig am Arbeitsplatz auftauchte – das konnte ihm gleichgültig sein. Er wollte nur noch einmal in die schönen Augen von Frau Wagner sehen…
Das Telefon riß ihn aus seinen Gedanken. »Na?« fragte die vertraute Stimme seiner Zwillingssschwester. »Wie war dein erster Urlaubstag? Ist es nicht wunderbar im Pergamon-Museum?«
»Ich war gar nicht da, Esther«, gestand er. Esther hatte Medizin studiert, wie er, aber sie war Kinderärztin geworden – für sie der Idealberuf schlechthin.
»Du warst nicht da?« rief sie nun. »Aber wieso denn nicht?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte er mit einem unterdrückten Seufzer.
»Erzähl sie mir trotzdem«, forderte sie.
Das tat er. Er bemühte sich, sich kurz zu fassen, aber bis er zum Ende gekommen war, verging doch fast eine Viertelstunde.
»Das gibt’s doch alles gar nicht«, meinte Esther schließlich. »Du hast aber auch wirklich ein seltenes Talent, in solche Situationen zu geraten, großer Bruder.«
Er lächelte über diese Anrede. Esther war fünf Minuten vor ihm auf die Welt gekommen, aber sie reichte ihm knapp bis zur Schulter und würde deshalb immer seine »kleine Schwester« bleiben.
»Sag mal, und was ist das für eine Frau?« erkundigte sich Esther.
»Die Gastmutter von dem kleinen Argentinier?« fragte Adrian. »Oh, sie ist eine sehr nette und…«
»Doch nicht die!« rief Esther ungeduldig. »Stell dich nicht dumm, du hast mich ganz genau verstanden. Die mit dem Schock, meine ich.«
»Was soll mit ihr sein?« fragte Adrian vorsichtig. Er war sich nicht bewußt, irgendwie angedeutet zu haben, daß ihm Stefanie Wagners Veilchenaugen nicht aus dem Kopf gingen.
Esther schnaubte leise. Männer waren manchmal wie Kinder. Als ob sie nicht sofort den veränderten Klang seiner Stimme bemerkt hätte, als von ihr die Rede gewesen war. »Wie sieht sie aus?« fragte sie sachlich.
»Sie hat wunderschöne veilchenfarbene Augen«, antwortete Adrian prompt. »Sie ist überhaupt sehr schön, Esther.« Er begriff plötzlich, daß er dabei war, sich zu verraten und zwang sich zu einem neutralen Ton. »Aber das steht ja hier nicht zur Debatte«, fuhr er fort. »Sie hatte einen schweren Schock, aber es geht ihr schon wieder besser, und sie wird morgen oder übermorgen entlassen.«
Esther fragte nicht weiter, sie hatte genug gehört. Die junge Frau hatte offenbar großen Eindruck auf ihn gemacht, aber er wollte nicht darüber sprechen. Wahrscheinlich war sie gebunden, und die Sache war ohnehin aussichtslos. Schade, Adrian war schon so lange allein!
Sie machte sich oft Sorgen um ihn, weil er so völlig in seinem Beruf aufging, daß für nichts anderes mehr Platz war. Aber sie war eindeutig die falsche Person, um ihm deshalb Vorhaltungen zu machen, schließlich ging es ihr ähnlich. Sie hatte eine kurze Ehe hinter sich, an die sie nicht gern zurückdachte. Und seitdem lebte sie allein, nur gebunden an ihren Beruf, den sie über alles liebte. Wir sind uns eben sehr ähnlich, dachte sie.
»Dann gehst du also morgen ins Museum«, stellte sie zum Abschluß des Gesprächs fest.
»Ganz bestimmt«, antwortete er und fragte sich erstaunt, warum er sich dabei wie ein Lügner fühlte. Schließlich konnte er ja auch ins Museum gehen!
*
Am nächsten Tag war Pauls Laune auf dem Tiefpunkt angelangt, aber niemand merkte etwas davon, denn er behielt es für sich. Auf der Station traute man dem Frieden nicht so recht, aber nach einer Weile glaubte selbst die mißtrauische Schwester Inge, daß der Patient Lüttringhaus an seinem ersten Tag wohl noch unter Schockeinwirkung gestanden haben mußte und sich nur deshalb wie ein Wilder aufgeführt hatte.
Paul hatte ein langes Gespräch mit einem Orthopäden geführt, und das Ergebnis war so, wie er es erwartet hatte: alles war möglich. Er konnte wieder völlig gesund werden, das Bein konnte aber auch einen bleibenden Schaden behalten. Das hing von vielen Faktoren ab – unter anderem von der Mitarbeit des Patienten. Nun, daran sollte es nicht scheitern. Er hatte beschlossen, sich durch die unsichere Zukunft nicht deprimieren zu lassen. Seiner Wut hatte er bereits gestern Ausdruck verliehen – mehr als genug, wenn er ehrlich war –, nun war es an der Zeit, wieder vernünftig zu werden.
Er hatte eine schwere Verletzung, und mit dieser mußte er sich auseinandersetzen. Da half es nichts, wütend auf den Jungen zu sein, der den Unfall verursacht hatte… Auf einmal sah er wieder die verschreckten braunen Augen von Frau Baumann vor sich, die vergeblich versuchte, ihm etwas zu sagen. Er schämte sich seines Verhaltens ihr gegenüber sehr. Dabei hatte sie ihm sofort gefallen, auch wenn er das gut verborgen hatte.
Es klopfte, und er zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Besuch erwartete er nicht, aber sonst klopfte hier eigentlich niemand an. »Herein!« rief er.
Als Lisa Baumann zögernd das Zimmer betrat, verschlug es ihm im ersten Augenblick die Sprache. Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Als er sich wieder gefaßt hatte, rief er: »Sie?«
Sie nickte. »Wenn Sie noch einmal so anfangen wie gestern, gehe ich gleich wieder«, kündigte sie an. Ihre braunen Augen waren nun wirklich sehr ernst auf ihn gerichtet.
»Nein, keine Sorge«, sagte er schnell. »Ich kann es nur nicht glauben, daß Sie sich noch einmal hierher gewagt haben, wo ich doch gestern so ausgerastet bin.«
»Sie haben sich unmöglich benommen«, stellte sie fest, »aber ich kann Sie verstehen. Ich weiß nicht, was ich an Ihrer Stelle getan hätte.«
Sie überraschte ihn. Und sie sah zwar sehr zart aus, aber er erkannte nun, daß sie auch stark war. Das mußte sie sein, sonst wäre sie nicht noch einmal zu ihm gekommen.
»Setzen Sie sich doch«, bat er. »Und sagen Sie mir alles, was Sie mir gestern schon sagen wollten. Da habe ich Sie ja nicht zu Wort kommen lassen.«
Sie setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett und betrachtete ihn aufmerksam. Dabei legte sie den Kopf ein wenig schief. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das eine schwierige Aufgabe zu lösen hat, und er fand sie unglaublich anziehend. Paul Lüttringhaus, sagte er streng zu sich selbst, du hast ein kaputtes Bein und im Augenblick wirklich andere Sorgen. Du wirst dich doch nicht etwa in Frau Baumann…
»Sie machen aber ein komisches Gesicht!« stellte Lisa fest. »Woran haben Sie denn gerade gedacht?«
»Das muß leider mein Geheimnis bleiben«, murmelte Paul verlegen. »Nun erzählen Sie mir mal von dem kleinen Bengel, auf den ich übrigens immer noch stinkwütend bin.«
Das tat Lisa. Sie berichtete so voller Zuneigung und Zärtlichkeit von Pablo und seinen Versuchen, sich die ihm völlig fremde deutsche Welt anzueignen, daß Paul Lüttringhaus davon ganz seltsam berührt war. Wie schön mußte es sein, dachte er, wenn sie in diesem zärtlichen Ton auch einmal von mir spräche. Er erschrak über diesen Gedanken und fragte sich, was eigentlich mit ihm los war.
Sie sah ihn fragend an, und er wurde verlegen. »Was ist los?« murmelte er. Hoffentlich konnte sie keine Gedanken lesen.
»Das wollte ich Sie eigentlich fragen«, antwortete Lisa. »Haben Sie mir denn überhaupt zugehört?«
»Ich habe jedes Wort gehört«, versicherte er. »Und ich möchte Ihren Pablo gern kennenlernen.« Er bemerkte ihren Blick und fügte hastig hinzu: »Ich werde ihm schon nicht den Kopf abreißen, keine Angst! Ein bißchen schimpfen, das schon. Aber ich glaube, daß ich jetzt besser verstehen kann, was passiert ist. Nur sollte er so etwas trotzdem nie wieder tun.« Plötzlich erhellte ein breites Lächeln sein Gesicht. »Zufällig mache ich auch Verkehrsunterricht. Mir scheint, Pablo wäre der ideale Kandidat für ein paar Unterrichtsstunden – was halten Sie davon?«
Ihr Gesicht wurde traurig, und einen Augenblick lang fürchtete er, etwas Falschen gesagt zu haben.
»Bis Sie wieder gesund sind und Unterricht geben können«, sagte sie leise, »ist Pablo längst wieder in Argentinien. Ich darf gar nicht daran denken.«
»Sie mögen ihn sehr gern, nicht wahr?« fragte er.
Sie nickte. »Wie gern, das habe ich wohl jetzt erst richtig begriffen. Ich habe solche Angst um ihn gehabt gestern, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Sie dachte nach und fügte hinzu: »Natürlich hatte ich auch meinetwegen Angst – ich will mich nicht besser machen als ich bin. Sie wissen schon: verletzte Aufsichtspflicht und so etwas. Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, daß ich die Jungen überhaupt allein auf den Spielplatz gelassen habe. Aber sie sind acht und neun Jahre alt, da haben Kinder längst einen starken Drang, sich unabhängig von den Eltern zu bewegen.«
»Kann er denn nicht ein bißchen länger hierbleiben?« fragte Paul und vergaß völlig, daß die Rede von »dem Bengel« war, über den er sich gestern noch ungeheuer aufgeregt hatte.
»Er muß ja wieder in die Schule«, antwortete sie. »Ich weiß noch nicht einmal, wie lange er hier in der Klinik bleiben muß. Er hat eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung. Da bleibt von seinen Ferien sowieso nicht mehr allzuviel übrig.«
»Dann laden Sie ihn einfach noch einmal ein«, schlug Paul vor.
Sie sah ihn erstaunt an. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, meinte sie nachdenklich. »Aber das könnte ich vielleicht machen.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als sie fortfuhr: »Sie sind ein merkwürdiger Mensch, Herr Lüttringhaus. Gestern haben Sie auf Pablo geschimpft wie ein Rohrspatz, und heute machen Sie sich solche Gedanken seinetwegen.«
Er wurde verlegen. »Vergessen Sie gestern«, bat er. »Meinen Sie, das wäre möglich?«
»Mal sehen«, sagte sie ernsthaft, aber ihre braunen Augen lächelten ihn an.
Auf einmal war Paul Lüttringhaus der glücklichste Mensch der Welt. Er hatte ein kaputtes Bein und wußte nicht, was die Zukunft bringen würde – aber er war glücklich. Und er wunderte sich noch nicht einmal darüber, denn er wußte genau, daß dieses Gefühl mit zwei sanften braunen Augen zusammenhing, die ihn anlächelten.
*
»Das soll doch jetzt aber wirklich ein Witz sein, hoffe ich?« fragte Dr. Julia Martensen und sah ihren Kollegen Adrian Winter streng an. »Du hast Urlaub! Schon vergessen?«
»Keinesfalls«, antwortete Adrian würdevoll. »Ich sehe nur mal nach meinen Patienten, und dann bin ich auch schon wieder weg.«
»Nach deinen Patienten?« fragte Julia spitz. »Du hast im Augenblick keine Patienten, Adrian Winter, weil du nämlich gar nicht hier bist.«
»Du weißt genau, was ich meine, Julia«, sagte Adrian charmant, gab ihr einen Kuß auf die Wange und verließ die Notaufnahme. Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Er war ein besessener Arzt, das wußte sie, aber in diesem Fall mußte vielleicht doch noch etwas anderes als reines medizinisches Engagement hinter seinem Interesse an den Patienten stecken. Aber was?
Adrian war unterdessen vor dem Zimmer angelangt, in dem Stefanie Wagner lag. Er klopfte an und trat im gleichen Augenblick ein. »Guten Tag«, sagte er freundlich. »Ich wollte doch noch einmal nach Ihnen sehen.«
Sie hatte ganz still dagelegen und aus dem Fenster gesehen. Nun wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Das ist aber nett«, erwiderte sie.
Er schluckte. Sie war wirklich eine schöne Frau mit ihren blonden Locken und diesen unglaublichen Augen. Was für ein Glück, daß er sie allein angetroffen hatte. Dies würde ja vermutlich das letzte Mal sein, daß er sie sah. Oder er kam morgen noch einmal wieder – Julia mußte das ja nicht unbedingt mitkriegen. Sonst machte sie nur wieder eine spitze Bemerkung.
»Geht’s Ihnen besser?« fragte er und hörte selbst, daß seine Stimme ein wenig heiser klang.
»Ja, viel besser. Vor allem, seit ich weiß, daß der Junge mit einer Gehirnerschütterung davongekommen ist. Ich habe ja gedacht…« Sie brach ab und fuhr dann fort: »Ich versuche, nicht mehr daran zu denken.«
»Ja, das ist wahrscheinlich auch besser. Wann werden Sie denn entlassen?«
»Morgen, denke ich.«
»Morgen schon!«
Sie sah ihn erstaunt an. Das hatte fast ein wenig bestürzt geklungen. Offenbar hatte er das auch bemerkt, denn nun wirkte er verlegen.
Schnell sprach sie weiter, um die Situation zu überspielen. »Wissen Sie, daß ich mich hier in der Klinik erstaunlich wohl fühle? Zuerst wollte ich ja gar nicht hierbleiben, und dann habe ich festgestellt, wie gut mir diese Ruhe tut. Ich muß nichts machen, kann soviel schlafen, wie ich will, und keiner hetzt mich. Außerdem sind alle furchtbar nett zu mir.«
»Ist Ihr Leben denn sonst so anstrengend?«
Sie nickte. »Ich bin Assistentin des Direktors im King’s Palace. Er ist ein toller Mann, aber außerordentlich anstrengend. Bisher hat es noch niemand lange bei ihm ausgehalten.«
»Aber Sie haben sich natürlich vorgenommen, daß Sie ihn kleinkriegen, oder?« fragte Adrian.
Sie lachte. »Genau. Woher wissen Sie das?«
»Intuition«, sagte er und lachte ebenfalls. »Ich bin sicher, daß Sie es schaffen. Sie schaffen wahrscheinlich alles, was Sie sich vornehmen.«
»So einen Eindruck haben Sie von mir? Wie schmeichelhaft!«
Stefanie wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, mit diesem jungen Arzt zu reden. Er machte einen ruhigen und souveränen Eindruck – so wie Oliver. Aber ganz anders als dieser war er dabei charmant und ein wenig jungenhaft. Und kein bißchen beschützend oder bevormundend. Obwohl er als Arzt vielleicht sogar ein Recht dazu hatte, einer Patientin gegenüber. Sie fand ihn äußerst anziehend, gestand sie sich ein. Und seine braunen Augen hatten einen Ausdruck, der sie verwirrte, weil sie ihn nicht zu deuten wußte.
Wieder klopfte es, und diesmal betrat Oliver Mahnert schwungvoll das Zimmer und marschierte ohne zu zögern auf das Bett zu. »Hallo, Schatz«, sagte er und beugte sich liebevoll über Stefanie.
Sie wich ein wenig zurück, aber das hinderte ihn nicht daran, ihr dennoch einen Kuß auf die Wange zu drücken.
»Oliver, das ist Dr. Winter«, stellte sie mit gepreßt klingender Stimme vor. »Herr Doktor, das ist Herr Mahnert.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand. Zwar war Adrian aufgefallen, daß sie nicht gesagt hatte: »Das ist mein Freund« oder »Das ist mein Verlobter« oder was sie sonst hätte sagen können – aber dieser Herr Mahnert hatte ganz unverkennbar »Hallo, Schatz« gesagt, und das war eindeutig.
»Ich gehe dann mal«, sagte er und sah ein letztes Mal in Stefanies Veilchenaugen. Er hatte den Eindruck, als versuche sie ihm stumm etwas zu sagen, aber vermutlich bildete er sich das nur ein. Er verließ das Zimmer und gleich darauf auch die Klinik.
Warum hatte er auch unbedingt an seinem zweiten Urlaubstag hierherkommen müssen? Jetzt wußte er es jedenfalls ganz sicher, daß es in Stefanie Wagners Leben einen Mann gab, der das Recht hatte, sie »Schatz« zu nennen. Er selbst hätte sich jedenfalls einen originelleren Kosenamen für sie einfallen lassen, dachte er grimmig.
Es war bedauerlich, daß Dr. Adrian Winter nicht hören konnte, was Stefanie Wagner in genau diesem Augenblick zu Oliver Mahnert sagte. Es hätte seine Laune sofort entscheidend gehoben. Sie sagte nämlich: »Wenn du noch ein einziges Mal Schatz zu mir sagst, Oliver, dann sehen wir uns nie wieder! Ich bin nicht dein Schatz, begreif das endlich!«
Aber, wie schon gesagt, das hörte Adrian Winter leider nicht. Und deshalb hatte er den ganzen Tag schlechte Laune.
Danach wurde Dr. Winter während seines Urlaubs nicht mehr in der Klinik gesehen. Als er nach einer Woche an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, war Stefanie Wagner längst entlassen, dem kleinen Pablo ging es bedeutend besser, und die Orthopäden waren mit der Heilung des Beins von Paul Lüttringhaus außerordentlich zufrieden. Die Chancen wurden von Tag zu Tag besser, daß er wieder ohne jegliche Beschwerden würde laufen können.
Adrian ging von Zeit zu Zeit bei ihm vorbei, und einmal sah er, wie Lisa Baumann das Zimmer gerade verließ. Das wunderte ihn, aber er dachte sich weiter nichts dabei. Die beiden hatten wegen des Unfalls ja eine ganze Menge zu klären. Auch Pablo besuchte er regelmäßig, und der Junge lernte in dieser Zeit viele deutsche Wörter. Als er schließlich entlassen wurde, war Adrian fast ein wenig traurig.
»Na?« fragte Julia Martensen, als sie sein Gesicht sah. »Weltschmerz oder Liebeskummer?«
»Wahrscheinlich beides«, erwiderte er und wunderte sich selbst am meisten über diese Antwort.
*
Pablo stand ein schwerer Gang bevor. Lisa hatte ihm erklärt, daß er unbedingt mit ihr zu dem Mann gehen müsse, der bei dem Unfall so schwer am Bein verletzt worden war. Pablo fand auch, daß er sich entschuldigen sollte, aber er fürchtete sich sehr vor diesem Zusammentreffen. Ein kleiner Trost war immerhin, daß nicht nur Lisa ihn begleiten würde, sondern daß auch Alexander mitkommen wollte.
Pablo wußte nicht, daß Lisas Herz bis zum Hals schlug, als sie sich auf den Weg machten. Sie hatte in den letzten Wochen noch mehrfach einen Vorwand gefunden, um Paul Lüttringhaus zu besuchen, aber noch immer gab sie nicht einmal vor sich selbst zu, wie gut er ihr gefiel. Sie redete sich ein, daß es nur ihr schlechtes Gewissen war, daß sie zu diesen Besuchen veranlaßt hatte.
»So!« sagte sie und holte ganz tief Luft. »Da sind wir.«
Schüchtern betraten die Kinder hinter ihr das Zimmer. Pablo riskierte einen Blick auf den Mann, der dort im Bett lag und ihnen aufmerksam entgegensah. Es war seine Schuld, daß der Mann hier lag, das wußte Pablo – und er würde nie wieder bei einer roten Ampel einfach weiterfahren, das hatte er nicht nur Lisa, sondern auch sich selbst versprochen. Aber würde der Mann ihm glauben?
»Guten Tag, Herr Lüttringhaus«, grüßte Lisa und gab ihm die Hand, die er einige Sekunden zu lange festhielt, während er sie strahlend anlächelte. »Dies sind Pablo und Alexander. Sie können sich sicher denken, warum wir heute zu Ihnen kommen.«
Der Mann richtete seine schwarzen Augen auf Pablo, und dieser hätte am liebsten zu Boden gestarrt, aber das hätte feige ausgesehen, also blickte er dem Mann tapfer in die Augen. Und dabei entdeckte er zu seiner größten Überraschung, daß der Mann freundlich aussah. Und nun begrüßte er ihn auch noch in seiner Heimatsprache!
»Du bist also Pablo«, sagte Paul Lüttringhaus auf spanisch und dankte im Geiste seiner Mutter, die ihn ermuntert hatte, diese Sprache zu lernen.
»Ja«, antwortete Pablo, und seine Stimme war so leise, daß sie kaum zu verstehen war.
»Du mußt keine Angst haben, Pablo«, fuhr Paul mit sanfter Stimme fort. »Ich war sehr wütend auf dich am Anfang, das kannst du dir ja bestimmt vorstellen.«
Pablo nickte schüchtern, und dann sagte er: »Ich mach’s bestimmt nie wieder, ehrlich nicht. Ich versprech’s. Ich wollte doch bloß einmal ausprobieren, wie das ist, wenn man auf der Straße fährt.«
Er streckte Paul die Hand hin und sagte: »Entschuldigung!« Und das wiederholte er gleich noch einmal auf deutsch. Er hatte dieses schwierige Wort extra mit Alexander geübt.
Paul lachte, aber er war auch gerührt. »Entschuldigung angenommen«, sagte er.
Pablo war zutiefst erleichtert und strahlte.
»Und du bist also Alexander«, stellte Paul fest. »Ihr seid wohl dicke Freunde, Pablo und du, was?«
Der Junge nickte. »O ja!« Doch dann machte er ein trauriges Gesicht. »Aber Pablo muß bald wieder zurück. Seine Ferien sind nächste Woche zu Ende«, sagte er.
»Aber wir laden ihn wieder ein«, warf Lisa schnell dazwischen. Bloß keine Tränen jetzt!
»Können wir ein bißchen rumlaufen hier?« fragte Alexander. »Dann könnt ihr euch noch ein bißchen unterhalten.«
Lisa nickte, und weg waren sie.
»Nette Jungs sind das«, sagte Paul leise. »Sehr nette Jungs, beide.«
»Ja«, sagte sie, »und ich darf gar nicht daran denken, daß Pablos Zeit hier bald vorbei ist.«
Sie sah so verloren aus in diesem Augenblick, daß Paul nur den Wunsch hatte, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Und so überlegte er nicht lange, sondern zog sie zu sich heran. Und im nächsten Augenblick küßte er sie. Er war selbst überrascht und fragte sich, woher er den Mut genommen hatte, das zu tun. Noch überraschter aber war er darüber, daß sie keine Anstalten machte, sich zu wehren.
»Lisa!« sagte er leise. »Davon träume ich schon, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«
»Beim ersten Mal hast du das aber gut verborgen«, sagte sie und lachte.
»Stimmt«, gab er reumütig zu. »Wirst du mir jemals verzeihen, wie ich mich da verhalten habe?«
Sie rückte ein wenig von ihm ab, um ihm besser in die Augen sehen zu können. »Vielleicht, wenn du dir große Mühe gibst!«
»Willst du mich heiraten?«
Nun wurden ihre Augen groß. »Bist du verrückt geworden, Paul? Wir kennen uns doch kaum. Außerdem habe ich einen Sohn…«
»Vielleicht zwei«, meinte er. »Hast du mir nicht erzählt, daß Pablos Eltern beide tot sind?«
Sie hielt den Atem an. »Sag mal, Paul Lüttringhaus, das klingt so, als hättest du dir das alles schon genauestens überlegt.«
»Hab’ ich auch«, antwortete er lachend. »Ich war bloß nicht sicher, ob du ja sagen würdest.«
»Ach, und jetzt bist du sicher?«
»Um ehrlich zu sein: ja, jetzt bin ich sicher.«
Statt einer Antwort beugte sie sich zu ihm und küßte ihn. Dieser Kuß dauerte sehr viel länger als der erste. Es dauerte so lange, daß ihn auch Alexander und Pablo noch sehen konnten, als sie zurückkamen. »Mann!« sagte Alexander laut, so überrascht war er.
Als Lisa und Paul erschrocken auseinanderfuhren, setzte er aber großzügig hinzu:
»Macht ruhig weiter. Wir wollten euch nicht stören. Nicht, Pablo?«
Pablo fing an zu kichern, und da kicherte Alexander auch. Sie schlossen die Tür wieder und rannten wie übermütige junge Hunde über den Stationsflur.
Im Zimmer fragte Lisa: »Und du meinst wirklich, wir sollten ihn adoptieren?«
Paul nickte. »Ja, das meine ich wirklich.« Dann küßte er sie wieder.
*
Dr. Adrian Winter ließ sich in einem der bequemen Sessel in der Bar des King’s Palace nieder und sah sich unauffällig um. Natürlich war nirgends eine Spur von Stefanie Wagner zu sehen. Er war enttäuscht, dabei hatte er es eigentlich nicht anders erwartet. Die Assistentin des Direktors kam wahrscheinlich nur in Ausnahmefällen hierher. Aber in einem versteckten Winkel seines Herzens hatte er eben doch gehofft, sie möge vielleicht unverhofft auftauchen. Seufzend nahm er einen Schluck des wirklich ausgezeichneten Kaffees.
»Herr Dr. Winter!«
Er fuhr so hastig in die Höhe, daß ein großer Teil des Kaffees auf sein blütenweißes Hemd überschwappte.
»O je!« rief Stefanie. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber als ich Sie auf einmal hier sitzen sah, da dachte ich, ich sage Ihnen wenigstens schnell guten Tag.«
»Frau Wagner!« sagte er und kam sich wie ein Volltrottel vor. Hier stand er nun mit kaffeebeflecktem Hemd vor der Frau, die ihm in den letzten Wochen nicht aus dem Kopf gegangen war, und brachte mit Mühe ihren Namen heraus.
Sie schien seine Unsicherheit nicht zu bemerken. »Kommen Sie mit mir in mein Büro«, sagte sie lächelnd. »Wir werden Ihr Hemd schon irgendwie retten. Oder haben Sie einen dringenden Termin?«
»Ich?« fragte er und riß sich dann energisch zusammen. Er würde doch wohl noch einen kompletten Satz herausbringen! »Nein, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als Ihnen in Ihr Büro zu folgen«, sagte er ernsthaft.
»Na dann«, meinte sie und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, »folgen Sie mir bitte.«
Das tat er nur zu gern. Das Leben erschien ihm auf einmal so herrlich wie nie zuvor.