Читать книгу Notarzt Dr. Winter Staffel 2 – Arztroman - Nina Kayser-Darius - Страница 9
ОглавлениеDer großgewachsene Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch sah die junge Frau, die vor ihm saß, durchdringend an. »Es ist für unser Haus eine ungeheuer wichtige Angelegenheit, Frau Asanova, verstehen Sie das? Die Krebsbekämpfung ist eine der größten Herausforderungen der modernen Forschung und Wissenschaft, und wir sind dabei, den entscheidenden Schritt auf diesem Gebiet zu tun – das Medikament soll im nächsten halben Jahr auf den Markt kommen. Ich kann nicht zulassen, daß unsere jahrzehntelange aufwendige Forschung durch Industriespionage zunichte gemacht wird. Und da ich weiß, daß Sie hervorragende Arbeit leisten, bin ich auf die Idee gekommen, Sie für diese ganz besondere Aufgabe zu engagieren. Nehmen sie den Auftrag an?«
Maja Asanova schlug graziös eines ihrer schlanken Beine über das andere und lehnte sich lächelnd zurück. »Einige Fragen habe ich noch«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, während sie ihre dunklen Augen aufmerksam auf ihr Gegenüber richtete. »Warum gehen Sie nicht zur Polizei, Herr Dr. Meckenheim? Die Person, die Sie suchen, macht sich doch strafbar. Sie könnten Anzeige erstatten und…«
Der Manager mit dem silbergrauen Haar machte eine Geste, als verscheuche er einen Schwarm lästiger Fliegen.
Er war ein Mann mit klugen Augen, einem sehr ausgeprägten Kinn und einem Mund, der verriet, daß er für seine Überzeugungen zu kämpfen verstand. Sie wußte nicht genau, ob ihr sein Gesicht gefiel oder nicht.
Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß manche Männer sich in solchen Positionen nicht hielten, weil sie gute Menschen waren.
»Die Polizei«, sagte er verächtlich. »Mein Vertrauen in die Polizei ist nicht sehr ausgeprägt, Frau Asanova. Außerdem kann ich nicht monatelang warten, bis endlich ein positives Ergebnis vorliegt. Die Person muß sofort gefunden und daran gehindert werden, ihrem schmutzigen Geschäft nachzugehen.«
Wieder stellte sie eine Frage: »Und wie wollen Sie das machen, Herr Dr. Meckenheim? Die Frau oder den Mann hindern, meine ich – vorausgesetzt, ich finde sie oder ihn?«
»Ihre Aufgabe wird es sein, Beweise mitzuliefern, daß jemand bei uns spioniert – und wer es ist. Mit diesen Beweisen zusammen werden wir zur Polizei gehen – aber nicht vorher. Ich kann kein Risiko eingehen, daß die Person vielleicht doch noch findet, was sie sucht.«
»Sie sind also davon überzeugt, daß es dem Unbekannten bereits gelungen ist, sich in Ihre Firma einzuschleichen?« fragte sie.
»Ja, das weiß ich sicher, denn jemand hat versucht, den entsprechenden Computercode zu knacken. Das hat mir unsere Forschungsabteilung natürlich sofort mitgeteilt.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Tagen. Seitdem denke ich darüber nach, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen. Als ich hörte, daß Sie zufällig in Berlin sind, beschloß ich, das als Wink des Schicksals anzusehen und Sie zu fragen, ob Sie uns helfen wollen.«
»Ihr Vertrauen ehrt mich, Herr Dr. Meckenheim. Meine letzte Frage: Haben Sie bereits einen Verdacht, wer die Person sein könnte, die Sie suchen?«
»Nein, keinen. Es kommen viele in Frage, und das ist auch mein Problem. Hören Sie, Frau Asanova, es soll nicht am Geld scheitern, ich möchte unbedingt, daß Sie den Auftrag übernehmen. Sie sollen die Beste sein, habe ich gehört.«
»Ich bin die Beste, Herr Dr. Meckenheim«, sagte Maja Asanova völlig gelassen. Sie wußte, daß sie ihn in der Hand hatte. Wenn sie geschickt war, konnte sie ihr Honorar wesentlich in die Höhe treiben, denn er war offensichtlich in der Klemme. Aber Maja ging es nicht darum, noch mehr Geld herauszuholen, sondern es war eher ein unbestimmtes Gefühl von Gefahr, das sie bis jetzt hatte zögern lassen. Doch Dr. Meckenheim hatte alle ihre Fragen zu ihrer Zufriedenheit beantwortet, und sie konnte ihn jetzt nicht länger warten lassen.
»Zehn Prozent mehr«, sagte sie ruhig. Das war durchaus bescheiden, aber sie wäre dumm gewesen, wenn sie keine zusätzlichen Forderungen gestellt hätte, wo er es ihr nahezu aufgedrängt hatte. »Dann übernehme ich den Auftrag.«
»Wunderbar!« meinte er sehr zufrieden. Er erhob sich und reichte ihr quer über den Schreibtisch die Hand. »Abgemacht also!«
Auch Maja erhob sich. Ihr Händedruck war fest. Dann setzten sich beide wieder, und Maja fuhr fort: »Ich möchte sofort anfangen. Am besten schleusen Sie mich als Mitarbeiterin ein, damit ich überall Zugang habe. Ich brauche alle verfügbaren Informationen über den Bereich, den ich observieren soll, sonst kann ich unseren Mann oder unsere Frau nicht finden. Ich muß wenigstens mit den Arbeitsabläufen vertraut sein. Und dann müssen wir mir einen Lebenslauf basteln, der hier im Haus offiziell verbreitet wird. Wer bin ich, und warum bin ich auf einmal hier?«
»Selbstverständlich«, erwiderte der Manager. »Übrigens: Reden Sie bitte hier im Haus mit niemandem über Ihren Auftrag. Sie berichten immer nur mir, was Sie herausgefunden haben. Ich übernehme es dann, die anderen leitenden Damen und Herren zu unterrichten. Ich möchte, daß Sie unmittelbar nach Erledigung des Auftrags die Stadt verlassen. Reine Sicherheitsmaßnahme, versteht sich.«
»Sie möchte nicht, daß man Ihren Konzern mit drohender Industriespionage in Verbindung bringt.«
»So ist es.«
»Gut«, sagte Maja. »Können Sie mir eine kleine Wohnung besorgen? Ich wohne bis jetzt im King’s Palace, da sollte ich sicher nicht bleiben, oder?«
»Um Himmels willen, nein!« antwortete er erschrocken. »Wenn jemand sähe, daß eine unserer Mitarbeiterinnen in einem Nobelhotel abgestiegen ist – das wäre ja eine Katastrophe. Man würde sofort anfangen, Fragen zu stellen.«
»Leider haben Sie recht«, erwiderte sie seufzend. »Dabei wäre es für meine Arbeit ideal: Ein hervorragendes Hotel, sehr diskret, ausgezeichneter Service.«
Er sah sie nachdenklich an. »Wir können Sie natürlich auch als Person einführen, die unsere Arbeitsabläufe kontrolliert, um herauszufinden, wo wir rationalisieren können. Dann sind Sie die Abgesandte einer anderen Firma, und es wird für die anderen nicht interessant sein, wo Sie wohnen.«
Sie nickte beifällig. »Gute Idee. Das hat außerdem den Vorteil, daß ich mir kein Wissen auf Gebieten aneignen muß, von denen ich bisher noch nichts verstehe. Das kostet nämlich Zeit, die ich besser darauf verwenden kann, mich mit der internen Struktur Ihres Forschungsbereichs zu beschäftigen.«
»Gut!« sagte er entschlossen. »Dann machen wir das so. Sie bleiben in Ihrem Hotel, das Ihnen so gut gefällt, und ich kümmere mich jetzt zunächst um die Informationen, die Sie benötigen, damit Sie arbeiten können.«
Er drückte auf eine Taste und gab einer der Sekretärinnen ein paar knappe Anweisungen. Maja entspannte sich und ließ ihre Augen durch das Büro wandern. Viel Geld saß hier. Sehr viel Geld. Und wenn sie sich nicht täuschte, dann ging es auch bei dem Auftrag, den sie soeben übernommen hatte, zuallererst um das Geld – und erst in zweiter Linie um Fragen von Moral und Ethik.
Es war ein Milliardengeschäft, wenn es Forschern von Borgmann-Chemie wirklich gelungen war, ein Medikament zu entwickeln, das Hilfe bei Krebserkrankungen versprach, daran zweifelte sie nicht. Aber es war natürlich das gute Recht eines Konzerns, seine Erfindungen und Neuentwicklungen zu schützen. Das Medikament, um das es ging, konnte viele Leben retten. Diesen Aspekt durfte man nicht aus den Augen verlieren.
Wenig später hatte sie alle Informationen, die sie brauchte, und verließ das Büro des Managers.
Sie würde sich umgehend an die Arbeit machen.
*
David Denekamp ließ sich Zeit beim Einkaufen, denn er hatte beschlossen, sich an diesem Abend in dem kleinen Appartement, das er in Berlin-Charlottenburg bewohnte, ein Festmahl zu bereiten. Kochen entspannte ihn, und Entspannung konnte er wahrhaftig gebrauchen. Er kam mit seiner Arbeit nicht schnell genug voran, und das deprimierte ihn über die Maßen. Manchmal fragte er sich, ob er die selbstgestellte Aufgabe überhaupt jemals würde lösen können.
Er war in einem kleinen, italienisch geführten Laden und fragte sich, welche Sorte Pasta er wählen sollte, als sich eine ältere, grauhaarige Dame neben ihn stellte, mit schnellem Blick das Regal absuchte und dann zielsicher nach einer ganz bestimmten Sorte Spaghetti griff.
»Entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit«, sagte David höflich, »aber sind die Spaghetti besonders gut? Weil Sie sofort danach gegriffen haben?«
Die ältere Dame lachte. Sie hatte sehr blaue Augen und trug ihre grauen Haare kurzgeschnitten, was ihm gut gefiel. »Das sind die besten, glauben Sie mir!« erklärte sie. »Luigi macht sie selbst – einfach köstlich! Es kommt natürlich darauf an, was Sie für eine Sauce dazu machen wollen.«
Ehe er sich’s versah, waren sie in eine lebhafte Diskussion über Spaghettisaucen und denkbare Menüabfolgen verstrickt, und David stellte schnell fest, daß die ältere Dame viel vom Kochen verstand. Er änderte auf ihre Anregung hin sein geplantes Abendessen und kaufte viel mehr ein, als er eigentlich vorgehabt hatte.
»Das habe ich nun davon!« sagte er lachend, als er hinter ihr an der Kasse stand. »Ich wollte mich zwar verwöhnen, aber nun könnte ich eine Großfamilie bekochen, wenn ich wollte. Übrigens, mein Name ist David Denekamp, ich freue mich, daß ich Sie kennengelernt habe.«
»Carola Senftleben«, erwiderte die ältere Dame lächelnd. »Mir war es auch ein Vergnügen, Herr Denekamp. Man trifft hier selten junge Männer, die sich so wie Sie für das interessieren, was sie kaufen. Ich weiß es zu schätzen, wenn ich mich mit jemandem unterhalten kann wie mit Ihnen. Die meisten Menschen sehen im Essen ja leider nur eine Nahrungsaufnahme – die wenigsten haben begriffen, welche Quelle der Freude gutes Essen sein kann.«
»Und gute Getränke«, bestätigte er.
»Vielleicht sehen wir uns wieder mal. Ich kaufe oft hier ein.«
»Das werde ich mir merken«, kündigte er an. »Wenn ich mal wieder einen Rat brauche, werde ich Sie hier suchen.«
Sie schüttelten einander die Hand und gingen in verschiedene Richtungen davon. Nett, dachte David. Er fühlte sich einsam in Berlin, was ja kein Wunder war, schließlich kannte er fast niemanden hier. In einer solchen Situation war eine freundliche Unterhaltung wie die mit Frau Senftleben schon ein richtiges Ereignis.
Kein Selbstmitleid, David, dachte er. Jetzt wird erst einmal gekocht, dann gut gegessen, und danach sieht die Welt schon wieder viel freundlicher aus.
*
»Schnell, schnell!« rief Dr. Adrian Winter. »Wir müssen ihr sofort den Magen ausspülen, das Zeug muß raus!«
Das junge Mädchen, das auf einer der Untersuchungsliegen lag, hatte Schlaftabletten geschluckt – wie viele genau, das wußte das Team in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin nicht. Es war ein Glück, daß die Mutter unerwartet nach Hause gekommen war und ihre Tochter gefunden hatte. Diese hatte offenbar Liebeskummer gehabt und ihrem Leben deshalb ein Ende setzen wollen. Zumindest hatte sie das in einem Abschiedsbrief geschrieben.
Der Unfallchirurg Dr. Adrian Winter leitete die Notaufnahme der Klinik, und er tat das mit außerordentlichem Engagement. Er war erst fünfunddreißig Jahre alt, hatte aber bereits einen hervorragenden Ruf. Jetzt arbeitete er mit seinen Kolleginnen und Kollegen fieberhaft, um das Leben des jungen Mädchens zu retten.
»Ihr Puls ist kaum fühlbar«, sagte der Assistenzarzt Dr. Bernd Schäfer besorgt. Er hatte zur Zeit Dienst in der Notaufnahme und freute sich, wieder einmal mit Adrian Winter zusammenzuarbeiten, den er sehr bewunderte.
»Ich weiß«, sagte Adrian, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das war es, was die anderen am meisten an ihm schätzten. Er verlor auch dann nicht die Übersicht, wenn um ihn herum alles im Chaos versank.
Auch diesmal übertrug sich die Ruhe des jungen Notaufnahmechefs auf die anderen, und als der Magen des jungen Mädchens ausgepumpt worden war und man ihm eine Infusion angehängt hatte, da konnte Dr. Schäfer erleichtert melden: »Der Puls wird kräftiger.« Kurz darauf schlug die Patientin die Augen auf.
»Na, also! Ich denke, sie wird es schaffen«, sagte Adrian leise zu seinem Kollegen. »Sie ist noch so jung – es wäre schrecklich gewesen, wenn sie ihr Leben verloren hätte, nur weil ein dummer Junge ein anderes Mädchen lieber mag als sie.«
Sie ließen die Patientin in der Obhut einer zuverlässigen Schwester zurück, da bereits zwei weitere Patienten auf sie warteten. Es war einer dieser Tage, an denen nicht einmal die Zeit blieb, zwischendurch ein Brötchen zu essen. Aber die Ärzte waren das gewohnt. Es würde auch wieder ruhige Tage geben.
*
Genau zwei Wochen später saß Maja Asanova erneut im Büro des Managers Dr. Meckenheim und er sah aufmerksam Majas Bericht durch. Sein Gesicht wirkte angespannt. Er betrachtete die Fotos und nickte. »Der ist es also. Und Sie sind ganz sicher, Frau Asanova? Irrtum ausgeschlossen?«
»Natürlich«, antwortete sie. »Wofür halten Sie mich, Herr Dr. Meckenheim?«
»Entschuldigung, ich wollte Ihre Professionalität natürlich nicht in Frage stellen«, erwiderte er charmant.
»Ich hatte ihn ziemlich schnell in Verdacht«, berichtete Maja. »Natürlich habe ich mich zuerst auf diejenigen Ihrer Mitarbeiter konzentriert, die kürzer als ein Jahr hier arbeiten. Es waren insgesamt fünf. Die anderen sind sehr schnell ausgeschieden – übriggeblieben ist nur David Denekamp. Er war es übrigens, der gestern nacht versucht hat, hier einzubrechen. Sie haben sicher davon gehört.«
Überrascht zog Dr. Meckenheim die Augenbrauen hoch. »Natürlich habe ich das gehört, ein außerordentlich ernster Zwischenfall. Man hat den Mann nicht schnappen können. Was wissen sie darüber?«
Ein amüsiertes Lächeln zeigte sich auf ihrem schönen Gesicht. Die dunklen Augen funkelten, und sie strich sich mit einer anmutigen Geste die langen Haare zurück. »Für ihn als Mitarbeiter war es natürlich kein Problem, das Gebäude zu betreten, aber ich habe mich doch gefragt, was er mitten in der Nacht dort zu suchen hat – ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen, seit ich davon überzeugt war, daß er unser Mann ist. Nun, und so habe ich Herrn Denekamp heute nacht beobachtet und fotografiert, wie er an einem fremden Computer sitzt und versuchte, in das System einzudringen. Außerdem hat er ein paar Aktenschränke durchwühlt. Ich habe daraufhin Ihren Sicherheitsdienst benachrichtigt – selbstverständlich anonym. Aber, wie Sie schon sagten, sie haben ihn nicht erwischt. Er muß die Gefahr gespürt haben und ist entkommen.«
Dr. Meckenheim nickte beifällig. »Gute Arbeit, Frau Asanova. Liegen die Fotos von dem Einbruchversuch ebenfalls bei?«
»Natürlich«, antwortete sie, »ganz am Ende des Berichts. Ich finde, er ist auch recht gut darauf zu erkennen, dank meiner Spezialkamera. Ich habe ihn aber noch bei anderen Gelegenheiten fotografiert, während er versucht hat, zu spionieren, Sie wollten ja Beweise haben. Ich denke, die habe ich Ihnen mit diesem Material geliefert.«
Lächelnd öffnete er eine Schublade, entnahm ihr einen Briefumschlag und hielt ihn Maja entgegen. Sie nahm ihn und verstaute ihn sorgfältig in ihrer Tasche, nachdem sie seinen Inhalt geprüft hatte. Das entlockte ihm ein anerkennendes Lächeln. Sie war wirklich ein Profi, durch und durch.
»Und was haben Sie jetzt vor? Sie werden Berlin doch sofort verlassen, wie besprochen?«
»Heute noch«, antwortete sie lächelnd. »Ich war jetzt lange genug hier, finde ich.«
»Wo leben Sie eigentlich?« fragte er. Jetzt, da er wußte, wer der gesuchte Mann war, wirkte er viel entspannter als zuvor.
»Nicht mehr in Moskau, wo ich geboren bin«, antwortete sie ein wenig wehmütig. »Meine Familie ist mittlerweile in der ganzen Welt verstreut, und ich fühle mich richtig heimatlos, denn eigentlich bin ich immer unterwegs. Aber jetzt fliege ich nach Moskau, denn meine Großmutter ist noch dort, ich werde sie besuchen. Meine Maschine für heute abend ist schon gebucht.«
Er erhob sich, kam um seinen Schreibtisch herum und reichte ihr die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Frau Asanova. Alles Gute weiterhin.«
»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite, Herr Dr. Meckenheim«, erwiderte sie höflich. Dann verließ sie elegant und leichtfüßig das Büro.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als Dr. Meckenheim seine Sekretärin bat herauszufinden, ob Maja Mädchen tatsächlich einen Flug für diesen Abend nach Moskau gebucht hatte. Vertrauen, sagte er immer, ist gut, Kontrolle ist besser. Fünf Minuten später wußte er, daß die junge Russin die Stadt am Abend verlassen würde – genau wie sie es ihm versprochen hatte.
Zufrieden lehnte er sich zurück und vertiefte sich in ihren Bericht. Sie hatte wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet.
*
»Frau Asanova will mich persönlich sprechen? Auf ihrem Zimmer?« wunderte sich Stefanie Wagner. »Das hat sie gesagt?« Sie schüttelte ihre dichten dunkelblonden Locken. »Versteh’ ich nicht.«
»Ich habe sie aber bestimmt richtig verstanden«, versicherte ihre Sekretärin. »Es schien ihr sehr wichtig zu sein.«
»Sie reist doch heute ab, oder?«
»Ja, soviel ich weiß. Mir ist klar, Frau Wagner, daß Sie schrecklich viel zu tun haben, aber…«
»Schon gut, der Gast ist König. Ich gehe sofort.«
Die Sekretärin zog sich zurück, und Stefanie seufzte. Sie war Assistentin des Direktors vom Hotel King’s Palace, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß ihr Chef Andreas Wingensiefen ihr immer mehr Arbeit aufbürdete und sich hauptsächlich dann sehen ließ, wenn es um die Repräsentation des Hauses ging. Die mühselige Kleinarbeit dagegen überließ er sehr gern seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – und ganz besonders eben seiner Assistentin.
Stefanie wußte oft genug nicht, wo ihr der Kopf stand. Aber sie liebte ihre Arbeit, und sie liebte ihr Hotel. Trotz allen Ärgers hätte sie nirgends sonst arbeiten wollen. Insgeheim wurde sie von vielen Angestellten des Hauses als »heimliche Chefin« betrachtet, deren Einsatz sehr bewundert wurde.
Sie stand auf, strich sich den kurzen engen Rock ihres eleganten grauen Kostüms glatt, warf einen raschen Blick in den Spiegel und verließ ihr Büro. Sie fuhr mit dem Aufzug in den sechsten Stock und klopfte gleich darauf an die Zimmertür von Nummer 616. Hier wohnte die schöne Russin, die Stefanie sofort aufgefallen war. Sie war schon seit über zwei Wochen hier – so lange wohnte kaum ein Gast im Hotel.
Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Maja Asanova lächelte erfreut, als sie sah, wer davor stand. »Frau Wagner, das ist schön, daß Sie gleich zu mir kommen. Sie haben sich bestimmt gewundert über meinen Wunsch, Sie zu sehen, nicht wahr?«
Die offene Art der anderen gefiel ihr, und so gab Stefanie unumwunden zu: »Ja, allerdings, das habe ich. Und nun bin ich allmählich neugierig, worum es geht, Frau Asanova.«
»Bitte, nehmen Sie Platz. Ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Es handelt sich nur um eine kleine Verschwörung, bei der Sie mir helfen sollen.« Sie lachte amüsiert, als sie Stefanies Gesicht sah, wurde aber gleich wieder ernst. »Keine Sorge, nichts Ungesetzliches, falls Sie das gedacht haben sollten.«
»Eigentlich nicht – ich traue Ihnen gar nichts Ungesetzliches zu«, erwiderte Stefanie offen.
Die schöne Russin lächelte rätselhaft. »Da geht es mir anders, ich traue Menschen erst einmal alles zu, wenn ich sie nicht näher kenne. Ich will Sie aber nicht mit meiner Familiengeschichte langweilen, Frau Wagner, nur soviel: Mein Vater und mein Großvater haben als politische Agenten gearbeitet, das ist die Atmosphäre, in der ich groß geworden bin. Natürlich wollte ich als Kind unbedingt in ihre Fußstapfen treten, aber die politischen Entwicklungen haben das verhindert. Aber ganz untreu bin ich der Agenten-Branche doch nicht geworden: Ich übernehme Spezialaufträge von großen Firmen, die zum Beispiel Industriespionage befürchten.«
Stefanies schöne veilchenfarbene Augen waren immer größer geworden. »Das ist ja wahnsinnig interessant!« rief sie. »Was für ein aufregendes Leben führen Sie, Frau Asanova!«
»Ach, es ist weniger aufregend, als man denkt. Vor allem muß man viel und sehr hart arbeiten, aber das tue ich gern. Jedenfalls habe ich gerade einen solchen Auftrag erfolgreich durchgeführt und sollte eigentlich heute abend nach Moskau fliegen. Aber mein Gefühl sagt mir, daß etwas nicht in Ordnung ist mit dieser Sache, an der ich gerade gearbeitet habe. Ich möchte noch ein paar Tage in Berlin bleiben.«
Stefanie hatte bereits verstanden, worum es ging. »Sie möchten offiziell abreisen, aber inoffiziell hierbleiben, weil es Ihnen in unserem Hotel so gut gefällt.«
Maja Asanova lachte schallend. »Das ist der Grund, weshalb ich unbedingt mit Ihnen persönlich sprechen wollte, Frau Wagner. Ich wußte, daß Sie sofort verstehen würden, was ich meine. Ist das machbar?«
»Sie haben mir die Wahrheit gesagt, Frau Asanova?« fragte Stefanie. »Über die Gründe für Ihre ungewöhnliche Bitte?«
»Ja, das habe ich, Frau Wagner.«
»Gut«, sagte Stefanie. »Natürlich können wir das machen. Wollen Sie unter einem anderen Namen hierbleiben – oder an was hatten sie gedacht?«
»Das wäre mir am liebsten. Sie sollten Ihre Angestellten möglichst nicht einweihen. Ich werde ab jetzt in Verkleidung auftreten, niemand wird mich erkennen.«
»Und wie werden Sie aussehen?«
»Wenn Sie noch ein paar Minuten Zeit haben, zeige ich es Ihnen.«
»Ich habe keine Zeit, aber ich bin einfach zu neugierig«, gestand Stefanie. »Ich warte.«
Knapp zehn Minuten später trat eine mollige Rothaarige in Jeans und nachlässigem Hemd ins Zimmer. Auf ihrer Nase saß eine unkleidsame Hornbrille, durch die grüne Augen prüfend auf Stefanie gerichtet waren. Keine Spur mehr von der schönen schlanken Russin, die zuvor das Zimmer verlassen hatte. »Guten Tag, Frau Wagner«, sagte die Rothaarige mit harter Stimme.
»Das kann ich nicht glauben!« rief Stefanie. »Sogar Ihre Stimme klingt anders. Wie haben Sie denn das mit Ihrer Figur gemacht? Und wie haben Sie Ihre Augenfarbe verändern können? Sind das farbige Kontaktlinsen?«
»Ja, sehr hilfreich für Verkleidungen«, antwortete Maja Asanova mit ihrer eigenen weichen Stimme. »Und ich trage unter meinen Sachen eine Art wattierte Unterwäsche – auch sehr nützlich, wie Sie sehen.«
»Ich bin völlig platt, Frau Asanova. Darf ich mir etwas wünschen?«
»Versuchen Sie’s.«
»Daß Sie mir hinterher sagen, ob Sie recht hatten mit Ihrer Vermutung. Also, daß etwas nicht gestimmt hat bei Ihrem letzten Auftrage, meine ich.«
»Ich denke, das kann ich Ihnen guten Gewissens versprechen. Sagen Sie, muß ich jetzt all meine Sachen packen, das Hotel verlassen und dann als Branka Dovic wiederkommen – oder können wir die Sache vereinfachen?«
»Das kriegen wir hin«, antwortete Stefanie nach kurzem Nachdenken.
»Müssen Sie noch mehr Leute einweihen?« erkundigte sich Maja. »Mir wäre es natürlich am liebsten, wenn außer Ihnen niemand weiter Bescheid weiß.«
»Ich lasse mir eine kleine Geschichte für unsere Rezeption einfallen«, versprach Stefanie. »Viel Glück, Frau Asanova, was auch immer Sie vorhaben. Ich rufe Sie an, sobald die Sache geklärt ist. Branka Dovic heißen Sie?«
Wortlos übergab die Russin ihr einen Paß, der auf diesen Namen ausgestellt war. »Geben Sie ihn mir wieder, wenn Sie alles geklärt haben. Ich danke Ihnen sehr, Frau Wagner.«
Stefanie sagte nichts mehr, aber an der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Nur mal gesetzt den Fall, jemand kommt auf die Idee zu kontrollieren, ob Sie die Stadt auch wirklich mit dem gebuchten Flug verlassen?«
»Aus Ihnen könnten eine gute Agentin werden, Frau Wagner, Sie haben die besten Anlagen«, erwiderte die junge Russin mit feinem Lächeln. »Wenn also jemand das überprüft, dann wird er feststellen, daß Maja Asanova Berlin an diesem Abend Richtung Moskau verlassen hat.«
»Wahnsinn«, sagte Stefanie überwältigt, »wie im Kino!«
Dann verließ sie das Zimmer und ging als erstes zurück in ihr Büro. Sie mußte in Ruhe überlegen, wie sie jetzt vorgehen sollte, um Maja Asanova bei ihrem Vorhaben bestmöglich zu unterstützen.
*
»Wir werden also die nächsten Nächte gemeinsam verbringen, Bernd«, sagte Dr. Adrian Winter und unterdrückte ein Gähnen. »Ich bin jetzt schon müde, dabei haben wir noch nicht einmal richtig angefangen zu arbeiten.«
»Wir sind ein großartiges Paar: Du bist müde, und ich bin hungrig«, erwiderte Dr. Bernd Schäfer und sah betrübt auf seinen beträchtlichen Bauch. »Die Diät hat nichts genutzt, Adrian, ich habe sie abgebrochen – ohne den geringsten Erfolg. Im Gegenteil, ich hatte sogar den Eindruck, daß ich dadurch noch hungriger geworden bin.«
»Ist doch logisch«, meinte Adrian lachend. »Wenn du weniger ißt, hast du mehr Hunger. Was hattest du denn erwartet?«
»Ach, ich weiß es auch nicht«, sagte Bernd achselzuckend. »Vielleicht sollte ich zu meiner Figur stehen, was denkst du?«
»Das sage ich dir schon, seit wir uns kennen«, antwortete Adrian. »Aber bisher wolltest du ja nicht auf mich hören.«
»Ich probier’s mal«, versprach Bernd. »Wer hat eigentlich noch Dienst in dieser Woche?«
»Unter anderem ich«, antwortete Oberschwester Walli, die plötzlich vor ihnen stand. Sie hatten sie nicht kommen hören. »Hoffentlich ist euch das recht – oder gibt’s irgendwelche Einwände? Dann heraus damit!«
Sie beeilten sich, ihr mitzuteilen, wie entzückt sie darüber waren, mit ihr zusammen Nachtdienst zu haben, und schließlich rief sie: »Es reicht, es reicht. Vielen herzlichen Dank. Wer von euch beiden möchte sich denn mal den ersten Messerstich des Abends ansehen? Er ist nicht besonders tief, aber der Gauner, der ihn abgekriegt hat, regt sich mächtig darüber auf. Allerdings sagt er, daß er seinen Gegner viel schlimmer verletzt hat – den haben sie uns bisher allerdings nicht gebracht.«
»Auch das noch«, murmelte Adrian. »Drogendealer? Zuhälter? Oder was?«
»Beides vermutlich«, antwortete Walli ungerührt. Sie war eine hübsche Frau mit braunem Pagenkopf, ein wenig mollig, und sie wurde von den Patienten sehr geschätzt, weil sie eine ungemein warme und herzliche Ausstrahlung hatte. »Ziemlich betrunken ist er auch, aber ich habe die Wunde schon einmal desinfiziert, daraufhin ist er ganz blaß und still geworden.«
Bernd grinste vergnügt in sich hinein und wechselte einen vielsagenden Blick mit Adrian. Walli konnte knallhart sein, wenn sie wollte, und bei Leuten, die ihrer Ansicht nach mit Drogen handelten, kannte sie keine Nachsicht. Bestimmt war sie nicht gerade zimperlich mit dem Mann umgegangen. Er konnte einem direkt leid tun.
»Ich mach’s«, sagte Bernd gutmütig. »Dann vergesse ich vielleicht meinen Hunger, und Adrian schafft es, in der Zwischenzeit richtig wach zu werden. Er hat noch mit Anfällen von Müdigkeit zu kämpfen.«
Er folgte Walli, und Adrian beschloß, einen Kaffee zu trinken. Der erste Nachtdienst war immer der schlimmste, er hatte damit schließlich Erfahrung.
*
»Kannst du einen Augenblick allein hierbleiben, Patricia?« fragte Rainer Gerlach. Er war Rezeptionist im Hotel King’s Palace und hatte an diesem Abend zusammen mit einer niedlichen Auszubildenden Dienst. »Ich bin sofort wieder hier.«
»Natürlich«, antwortete Patricia beleidigt. »Ich war schon öfter allein an der Rezeption, das wissen Sie doch, Herr Gerlach.«
»Na gut.« Er verschwand, und nur wenige Sekunden später klingelte das Telefon.
Stolz hob Patricia ab und sagte: »Hotel King’s Palace, guten Abend.«
»Guten Abend, mein Name ist Wegemann. Ich hätte gern mit Frau Asanova gesprochen, sie ist seit einiger Zeit Gast in Ihrem Hotel. Zimmer 616.«
Patricia wollte gerade nachsehen, aber dann fiel ihr wieder ein, daß die elegante Russin ja gar nicht mehr da war. »Das tut mir sehr leid, Herr Wegemann, aber Frau Asanova ist heute abgereist.«
»Ach, wie schade!« Die Stimme klang sehr enttäuscht. »Hat sie hinterlassen, wo sie jetzt zu erreichen ist?«
»Das kann ich leider nicht sagen.« Patricia dachte angestrengt nach und sagte dann, glücklich darüber, daß sie sich noch daran erinnern konnte: »Sie wollte nach Moskau, glaube ich.«
»Dann versuche ich es dort, vielen Dank für Ihre Mühe.«
Patricia legte auf, und schon stand Herr Gerlach wieder neben ihr. »Was hast du da eben von Moskau gesagt?« wollte er wissen.
Sie erzählte es ihm, und er wurde so böse, daß sie vor Angst anfing zu zittern.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du solche Auskünfte nicht geben darfst?« schimpfte er. »Wie kommst du dazu, irgend jemandem am Telefon zu erzählen, wohin sie reisen wollte? Vielleicht war es jemand, der ihr nachspioniert – oder was weiß ich, wer es war! Einmal noch, Patricia, und du kannst deine Sachen packen und gehen, das verspreche ich dir. Indiskretion ist in einem Hotel unserer Klasse eine der schlimmsten Todsünden – geht das denn nicht in deinen Kopf hinein?«
Während die niedliche Patricia verzweifelt in Tränen ausbrach, lehnte sich Dr. Meckenheim zufrieden in seinem komfortablen Bürosessel zurück. Maja Asanova war also wirklich abgereist. Es war nur ein Routineanruf gewesen in diesem Hotel, aber er hatte gelernt, daß man nichts dem Zufall überlassen durfte. Auch die erneute Überprüfung am Flughaben hatte ergeben, daß die Russin in dieser Minute tatsächlich in der Maschine saß, die nach Moskau flog.
Mit zufriedenem Lächeln griff er zum Telefon.
*
Adrian Winters Müdigkeit war verflogen, und das war auch gut so, denn es war wieder einmal eine heiße Nacht in der Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik. Es hatte bisher nur wenige ruhige Minuten für ihn gegeben. Und schon wieder rief die unermüdliche Oberschwester Walli: »Schwerverletzter Mann mit mehreren Schußwunden! Wird in wenigen Minuten hier sein.«
»Blutkonserven bereitstellen«, kommandierte Adrian automatisch. »Haben sie gesagt, was für Verletzungen der Mann hat?«
»Offenbar eine Bauchverletzung, das haben sie erwähnt, und daß es ein Wunder ist, daß er überhaupt noch am Leben ist«, berichtete Walli.
Fieberhaft bereiteten sie eine der Notfallkabinen vor. Als der Patient von den Sanitätern hereingebracht wurde, betteten sie ihn sofort um, während einer der Männer im Eiltempo die wenigen Informationen herunterrasselte, die sie hatten.
»Name des Mannes unbekannt, Alter etwa dreißig, Verdacht auf eine Bauchverletzung durch Fausthiebe oder Tritte, ansonsten Schußverletzungen: Zwei Kugeln stecken im rechten Arm, ein Streifschuß hat ihn am Kopf verletzt. Er verliert immer wieder das Bewußtsein, Herztätigkeit unregelmäßig, Puls kaum fühlbar.«
»Danke«, sagte Adrian, während Bernd und er sich bereits über den Mann beugten. »Walli, der Mann hat einen Volumenmangel-Schock. Wickle ihm eine Decke um die Beine und lagere sie hoch. Dann laß ein großes Blutbild machen und gib ihm Kochsalzlösung, um das Volumen aufzufüllen.«
Umsichtig machte sich die Oberschwester an die Arbeit, während Adrian vorsichtig den Bauch des Mannes abtastete. Dieser stöhnte sofort laut auf. Adrian und Bernd wechselten einen besorgten Blick.
»Hallo!« sagte Adrian. »Können Sie mich hören? Sie müssen uns sagen, wo es Ihnen weh tut, damit wir Ihnen helfen können. Hier?«
Wieder stöhnte der Mann und murmelte ein »Ja«.
»Sagen Sie es mir genau!« drängte Adrian. »Strahlt der Schmerz ab?«
»Schulter«, murmelte der Mann.
»Die Milz«, meinte Bernd.
»Genau«, stimmte Adrian zu. »Es kann ein Kapselriß sein.«
»Muß er in den OP?« fragte Walli. Sie hatte bereits die Infusion angelegt und nahm dem Patienten nun mit geschickten Bewegungen Blut ab.
»Zuerst einmal nicht. Röntgen Abdomen, dann zum Ultraschall, damit wir wissen, was mit der Milz ist. Was ist mit den anderen Verletzungen, Bernd?«
»Der Streifschuß am Kopf ist nicht so schlimm. Auch die Kugeln im Arm haben offenbar nicht allzuviel angerichtet. Ich habe die Wunden notdürftig verbunden – die Kugeln müssen natürlich schleunigst entfernt werden, aber die Bauchverletzung hat ja wohl Vorrang.«
»Ganz sicher.«
»Ich bringe das Blut ins Labor«, sagte Walli und verschwand.
Wieder stöhnte der Mann, und in diesem Augenblick wurde ein weiterer Verletzter gebracht. Nach Aussage der Sanitäter schwebte er jedoch nicht in Lebensgefahr.
Der junge Notaufnahmechef faßte einen schnellen Entschluß. »Kümmere dich um den Neuzugang, Bernd, ich fahre mit dem Patienten nach oben. Die Sache mit seiner Milz gefällt mir nicht.«
Bernd nickte. »In Ordnung, Adrian. Bis später.«
»Sag Walli Bescheid, damit ich die Laborergebnisse schnell erfahre und weiterleiten kann«, bat Adrian.
Bernd half ihm, die Liege aus der engen Notfallkabine zu schieben.
»Du kommst doch ohne mich klar?« fragte Adrian.
Bernd nickte. »Ja, sicher, mach dir keine Sorgen. Du bist ja auch nicht aus der Welt.«
»Ich hoffe, daß ich schnell zurück bin. Aber ruhig bin ich erst, wenn ich weiß, wie der Mann von innen aussieht.«
»Alles klar, Adrian.«
Im Laufschritt schob Dr. Adrian Winter die Liege zum Aufzug. »Vergiß das Labor nicht, Bernd!« rief er noch einmal. Dann schlossen sich die Türen, und er verschwand mit seinem Patienten.
*
Maja Asanova lag in ihrem eleganten Hotelzimmer auf dem Sofa und dachte nach. Es war eine Menge, was es zu bedenken gab für die nächsten Tage. Heute hatte sie das Hotel vorsichtshalber nicht mehr verlassen, man konnte nie wissen… Aber morgen mußte sie sich sofort an die Arbeit machen. Sie hätte das Gefühl nicht genau benennen können, das sie dazu gebracht hatte, noch in Berlin zu bleiben. Ihr Vater und ihr Großvater hatten ihr immer wieder eingeschärft, wie wichtig es sei, der eigenen Intuition zu trauen. Und diese war es gewesen, die ihr gesagt hatte, daß etwas nicht stimmte bei dem Auftrag, den Dr. Meckenheim ihr erteilt hatte. Sie konnte förmlich riechen, daß da etwas faul war.
Es klopfte leise, und sie zog die Augenbrauen hoch. Um diese Zeit noch Besuch? Wer konnte das sein? Bevor sie fragen konnte, hörte sie Stefanie Wagners Stimme leise sagen: »Hallo, ich bin’s, Frau Dovic«, und mit einem Lächeln öffnete sie die Tür.
»Sie haben mich erschreckt«, erklärte sie. »Eigentlich sollte ich hier als Rothaarige verkleidet liegen, aber um diese Zeit habe ich mich sicher gefühlt. Und als es plötzlich klopfte…«
»… dachten Sie, man hätte Sie bereits als Frau Asanova entlarvt.«
»Pst – erwähnen Sie diesen Namen in meiner Gegenwart bitte nicht mehr. Frau Asanova ist in Moskau – sie müßte gerade dort gelandet sein.«
Stefanie reichte ihr ihren Paß. »Hier, alles erledigt. Niemand hat etwas gemerkt, Sie haben ordentlich ausgecheckt, und einige Stunden später hat Frau Dovic das Zimmer bezogen.«
»Perfekt. Ich weiß gar nicht, wie ich mich jemals bei Ihnen bedanken soll, Frau Wagner. Wahrscheinlich ahnen Sie nicht einmal, wie sehr Sie mir helfen.«
Stefanie wandte sich bereits wieder zum Gehen, zögerte dann aber. »Ist das eigentlich gefährlich, was Sie vorhaben, Frau A… äh, Frau Dovic?«
»Wenn ich das wüßte«, antwortete Maja. »Wirklich, ich habe keine Ahnung. Es ist ja nur mein Gefühl, das mir sagt, daß etwas nicht stimmt.« Sie lächelte. »Setzen Sie sich doch einen Augenblick, bitte. Oder haben Sie es eilig, nach Hause zu kommen – zu Mann und Kindern?«
»Kein Mann, keine Kinder, leider«, antwortete Stefanie und setzte sich in einen der eleganten Sessel. »Was ist das für ein Gefühl, von dem Sie gesprochen haben?«
»Ich habe einen Mann gesucht, der Industriespionage betreibt«, antwortete Maja, »und ich habe ihn gefunden. Ich habe Beweise beschafft für seine Tätigkeit, und ich habe ihn bei einem Einbruch beobachtet.«
»Dann ist doch eigentlich alles klar«, wunderte sich Stefanie. »Das ist schließlich ein Verbrechen.«
»Ja, das ist es. Und es ist richtig, daß so etwas hart betraft wird. Es ist nur…« Sie unterbrach sich und überlegte ihre Worte genau. Dann sprach sie weiter. »Ich habe den Mann tagelang beobachtet, ihn nicht aus den Augen gelassen. Das mußte sein, sonst hätte ich ihn ja nicht überführen können.«
Stefanie nickte. Sie fragte sich, worauf Maja Asanova wohl hinauswollte.
»Vorhin, als Sie kamen, habe ich Ihnen gesagt, daß ich Menschen, die ich nicht kenne, zunächst einmal alles zutraue, erinnern Sie sich?«
»Natürlich«, antwortete Stefanie.
»Nun, bei diesem Mann hätte ich schwören können, daß er unschuldig ist«, fuhr die junge Russin fort, und ihr Gesichtsausdruck wurde weich. »Er sieht gut aus, aber nicht besonders auffällig, wissen sie? Das heißt, er sähe recht alltäglich aus, wenn er nicht diese ausdrucksvollen Augen hätte. Heißt es nicht, daß die Augen der Spiegel der Seele sind? Wenn das stimmt, dann kann er einfach nicht schuldig sein. Und das bringt mich durcheinander. Ich bin nicht romantisch veranlagt, Frau Wagner, das dürfen Sie keinesfalls glauben. In meinem Beruf kann ich mir das nicht leisten. Aber wenn dieser Mann ein Lügner und Betrüger ist, dann bin ich eine Zarentochter.«
Stefanie mußte lachen, obwohl ihr klargeworden war, wie ernst Maja Asanova die Sache nahm. Dennoch versuchte sie, einen Scherz zu machen, um die andere ein wenig aufzuheitern. »Klingt fast, als hätten Sie Ihr Herz an diesen Mann verloren.«
Tatsächlich lächelte die schöne Russin. »So schnell geht das nicht bei mir«, versicherte sie. »Aber er hat ein gutes Gesicht, und das beschäftigt mich eben.«
»Ich hoffe, Sie bringen sich nicht irgendwie in Gefahr«, sagte Stefanie besorgt. »Versprechen Sie mir, vorsichtig zu sein. Komisch, ich fühle mich ein wenig verantwortlich für Sie, seit ich weiß, warum Sie Ihren Aufenthalt verlängert haben.«
»Ich habe dadurch, daß ich Sie eingeweiht habe, gegen eine goldene Regel verstoßen«, erwiderte Maja. »Schließlich kann ich nicht sicher sein, daß Sie wirklich vertrauenswürdig sind. Aber ich habe gelernt, daß ich mich auf meine Intuition verlassen kann – ich habe gewußt, daß wir einander gut verstehen werden. Und genauso weiß ich, daß an dieser Geschichte mit der Industriespionage etwas faul ist.«
Stefanie stand auf. »Jetzt muß ich gehen. Wollen Sie mir versprechen, mich um Hilfe zu bitten, wenn Sie welche brauchen?«
Die andere stand auf, kam auf sie zu und umarmte sie rasch. Dann trat sie einen Schritt zurück und lächelte. »Das verspreche ich Ihnen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, sagte Stefanie leise und verließ das Zimmer.
*
»Die Milz ist verletzt«, stellte der Röntgenologe fest, »sehen Sie hier, Herr Winter!« Er zeigte Adrian das Röntgenbild und wies auf die entsprechende Stelle, wo man in der Tat die Verletzung deutlich erkennen konnte.
»Wie ich vermutet habe«, sagte Adrian und studierte die Aufnahmen sorgfältig. »Es scheint eine sekundäre Ruptur zu sein, nicht wahr? Dann hätte der Mann Glück im Unglück gehabt.«
Sein Kollege nickte. »Ja, sehen Sie hier das Hämatom. Wenn alles gutgeht, erholt sich das Organ wieder, wenn der Patient in den nächsten Wochen strikte Bettruhe hält.«
Der Mann stöhnte leise, und Adrian warf ihm einen besorgten Blick zu. »Mir gefällt das nicht«, murmelte er.
»Was ist denn eigentlich passiert?« fragte der Röntgenologe. »Er hat ja noch andere Verletzungen, wie ich sehe.«
»Schußverletzungen«, antwortete Adrian. »Aber die sind in diesem Fall das kleinere Problem.«
»Schußverletzungen!« Der Röntgenologe schüttelte den Kopf. »Er sieht gar nicht so aus wie jemand, der sich mitten in Berlin mit einem anderen eine Schießerei liefert. »Wissen Sie, wie er heißt?«
»Nein. Immer wenn ich ihn fragen will, stöhnt er laut vor Schmerzen, und ich habe nur noch die Untersuchungsergebnisse im Kopf und vergesse meine Frage.«
»Wir sollten noch eine Ultraschalluntersuchung machen, um sicherzugehen, daß wir auf eine Operation verzichten können«, schlug der Röntgenologe vor.
»Ja, der Meinung bin ich auch.« Adrian folgte seinem Kollegen mit dem Patienten zum Ultraschallgerät.
»Wie heißen Sie?« fragte Adrian den Mann, während der Röntgenologe sehr vorsichtig mit der Untersuchung begann. »Ich wollte Sie schon mehrfach fragen, es ist immer einfacher, wenn man einen Patienten auch mit Namen ansprechen kann, wissen Sie.«
Der Mann öffnete den Mund und sagte mühsam: »Ich heiße Da…« Doch weiter kam er nicht. Er brach ab und fing vor Schmerzen geradezu an zu brüllen, während Adrian entsetzt aufsprang.
»Was ist passiert?« fragte er. »Was ist los?«
Der Röntgenologe sah fassungslos zuerst auf den Mann und dann auf den Bildschirm. »Durchbruch!« rief er mit Panik in der Stimme. »Herr Winter, die Milzverletzung ist aufgebrochen. Der Mann muß sofort operiert werden, sonst verblutet er!«
Adrian hörte nicht mehr, was er sonst noch sagte.
Er raste bereits mit der Liege zu den Aufzügen und drückte den Knopf für das Stockwerk, auf dem sich die Operationssäle befanden. Als er dort angekommen war, schrie er: »Notoperation – Milzdurchbruch. Der Patient verblutet! Schnell, ich brauche Hilfe!«
*
Carola Senftleben schob mit einem Seufzer das Briefpapier zur Seite. Drei Briefe hatte sie geschrieben, zu mehr war sie in dieser Nacht nicht fähig. Sie war das, was man eine »Nachteule« nannte, selten ging sie vor ein Uhr ins Bett, meistens sogar noch später. Jetzt war es bereits zwei, aber sie war noch immer nicht müde, es hatte also gar keinen Sinn, das Bett aufzusuchen.
Ihr junger Nachbar Dr. Adrian Winter, den sie gern und häufig bekochte, hatte in dieser Woche Nachtdienst, und das gefiel ihr gar nicht, denn es bedeutete, daß sie ihre gemeinsamen späten Abendessen ausfallen lassen mußten, weil er nicht zu Hause war. Das war schade, denn sie liebte die Gespräche mit dem intelligenten und humorvollen Arzt, mit dem sie sich auf Anhieb gut verstanden hatte. Sie selbst hatte keine Kinder, aber wenn sie sich einen Sohn hätte wünsche können, dann wäre er wie Adrian gewesen.
Sie stand auf und machte das Radio an, weil es ihr plötzlich zu still war in ihrer geräumigen Wohnung. Vom Fernsehen wurde sie eher nervös, aber Radio hörte sie gern. Gerade liefen die Nachrichten, und der Sprecher sagte: »Bei einer Schießerei in Berlin-Charlottenburg ist ein Mann durch mehrere Schüsse und Schläge schwer verletzt worden. Er wurde in eine Klinik gebracht. Von den Tätern fehlt jede Spur, die Identität des Mannes ist bisher nicht bekannt. Er ist ungefähr dreißig Jahre alt, einsfünfundachtzig groß und hat dunkles Haar. Die Polizei bitte die Bevölkerung um ihre Mithilfe. Zeugen der Schießerei werden gebeten, sich unter folgender Rufnummer zu melden…«
Carola Senftleben schaltete das Radio mit einer unwilligen Bewegung wieder aus. Selbst in Charlottenburg wurden also die Menschen schon einfach auf der Straße angeschossen! Manchmal fragte sie sich, in was für einer Welt sie eigentlich lebte. Dann erst fiel ihr ein, daß der Mann mit großer Wahrscheinlichkeit in die Kurfürsten-Klinik eingeliefert worden war und daß ihr junger Nachbar ihr am nächsten Morgen also vermutlich etwas über den Fall würde erzählen können.
Das machte sie noch wacher, als sie ohnehin schon war, und ergeben setzte sie sich wieder an den Tisch und begann energisch mit dem vierten Brief.
*
Adrian stand der Schweiß auf der Stirn. Noch nie hatte er so unvermutet im OP stehen müssen wie in dieser Nacht. Die Vorbereitungen für die Notoperation waren in Windeseile getroffen worden, kein anderer Chirurg hatte schnell genug zur Verfügung gestanden. So war Adrian nichts anderes übriggeblieben, als selbst zu operieren. Er biß die Zähne zusammen, aber er fühlte sich in diesem Augenblick hoffnungslos überfordert.
»Ich brauche einen Assistenten«, sagte er, während er sich verzweifelt bemühte, die Blutungen zu stoppen, die sich unablässig in den Bauchraum des Mannes ergossen, »ich schaffe das nicht allein! Das ist unmöglich. Es ist einfach zuviel! Das ist doch Wahnsinn, was wir hier machen, das kann ich einfach nicht!«
»Du mußt, Adrian!« sagte Werner Roloff, der grauhaarige Anästhesist, mit ruhiger Stimme. »Es ist sonst niemand da, und wir können auch keinen rufen, der dir assistiert, denn bis wir das getan haben, wäre der Mann bereits verblutet.«
Er hatte recht, und Adrian wußte es. Es erschien ihm wie ein Wunder, daß ausgerechnet dieser hervorragende Arzt, zu dem er volles Vertrauen hatte, bereit gewesen war, ihm in den OP zu folgen, obwohl sein Dienst bereits seit Stunden beendet war. Mit Werner Roloff verband ihn mehr als kollegiales Einverständnis – man konnte sagen, daß sie Freunde waren.
»Ich versuche zu assistieren«, sagte die Schwester in diesem Augenblick mit leiser Stimme. Sie hieß Susanne, war sehr jung, und Adrian hatte sie bisher noch nie gesehen.
Er nickte nur. Allzuviel erwartete er nicht, aber jede Hilfe war ihm im Augenblick willkommen. »Hier«, sagte er und wies auf eine Stelle, an der das Blut besonders heftig sprudelte. »Abklemmen, bitte.«
Sie folgte seiner Aufforderung schnell und geschickt, und tatsächlich schien es ihm, als lasse der Blutstrom ein wenig nach.
Er fühlte sich elend und versuchte, nicht daran zu denken, daß dieser Mann vor ihm auf dem Tisch vielleicht sterben würde, wenn es ihm nicht sehr schnell gelingen sollte, die Blutungen zum Stillstand zu bringen.
*
Es war noch ziemlich früh am Morgen, als es an Majas Tür klopfte und der Zimmerkellner: »Ihr Frühstück, Frau Dovic!« rief.
Maja hatte ihn bereits erwartet und öffnete ihm schnell die Tür. »Guten Morgen«, sagte sie mit harter Stimme, die ihre neue Rolle von ihr verlangte, während sie scheinbar nervös an ihren roten Haaren nestelte. Sie wußte, daß sie als Branka Dovic eine völlig neue Person sein mußte – eine etwas nervöse und linkische Frau, die nicht besonders hübsch, aber dafür ziemlich unsicher war.
Der junge Kellner würdigte sie kaum eines Blickes. Er hatte sofort erkannt, daß sie als Frau eher uninteressant war, und so brachte er nicht mehr als professionelle Höflichkeit auf. Er stellte das Tablett neben ihrem Bett ab und fragte: »Möchten Sie eine Zeitung lesen?«
»Mehrere, wenn’s geht«, antwortete sie.
»Natürlich«, sagte er zuvorkommend, wie er es gelernt hatte, und sie bat auszuwählen, was sie haben wollte.
Das tat sie, dann gab sie ihm ein Trinkgeld, und er verließ zufrieden das Zimmer. Frau Dovic war zwar nicht hübsch, aber wenigstens großzügig – das würde er sich merken.
Sobald er gegangen war, riß sich Maja die Perücke vom Kopf, nahm die Kontaktlinsen von den Augen, zog die wattierte Unterwäsche aus und machte es sich erneut in ihrem Bett gemütlich. Ein anstrengender Tag lag vor ihr, und sie mußte sich stärken, um allen Anforderungen gewachsen zu sein.
Als sie die erste Tasse Kaffee getrunken und das erste Brötchen gegessen hatte, griff sie nach einer der Zeitungen. Auch das war etwas, das sie von ihrem Vater und ihrem Großvater gelernt hatte: Sich immer zu informieren über alles, was dort vor sich ging, wo man sich gerade aufhielt und arbeitete. Man konnte gar nicht genug wissen.
Sie fand die Meldung neben einem Foto im Lokalteil auf der ersten Seite: Ein bisher unbekannter Mann war bei einer Schießerei schwer verletzt worden und lag jetzt in einem Krankenhaus. Die Polizei tappte im Dunkeln und suchte nach Zeugen für das Geschehen.
Majas Augen froren förmlich an dem Foto fest. Sie erkannte die Person, die darauf zu sehen war, auf den ersten Blick. Es war David Denekamp, der Mann, den sie als Industriespion entlarvt hatte.
*
Adrian taumelte fast, als er gemeinsam mit Werner Roloff und der jungen Schwester Susanne den OP verließ. »Es ist wirklich vorbei«, sagte er fassungslos. »Ich kann es noch gar nicht glauben.« Er wandte sich der jungen Frau zu. »Das haben Sie ganz großartig gemacht, Schwester Susanne«, erklärte er. »Wirklich, ganz großartig.«
Sie errötete. »Danke schön«, sagte sie schüchtern. »Aber ich glaube, derjenige, der etwas ganz großartig gemacht hat, sind Sie, Herr Dr. Winter.«
»Da hat Schwester Susanne recht«, bekräftigte Werner Roloff. »Junge, Junge, Adrian, ich habe dich ja schon öfter operieren sehen, aber dieses Mal hast du dich selbst übertroffen.«
»Noch ist der Patient nicht gerettet«, wandte Adrian ein. »Außerdem, wenn wir schon dabei sind, einander zu loben: Ohne dich hätte ich das nicht durchgestanden, Werner. Ich war ein paarmal nahe daran, den Mut zu verlieren – es war im Grunde genommen wirklich unmöglich, was wir gemacht haben.«
»Ich habe gemerkt, daß deine Nerven heute nicht ganz so gut waren wie sonst«, meinte Werner Roloff mit feinem Lächeln. »Aber dafür hast du dich dann ganz gut geschlagen, muß ich sagen.«
Schwester Susanne verabschiedete sich von den beiden Ärzten, die ihr nachblickten. »Nettes Mädchen«, sagte Adrian. »Und eine wirklich ausgezeichnete Kraft.«
»Stimmt, sie ist mir bisher auch noch nicht aufgefallen, aber jetzt vergesse ich sie sicher nicht mehr. Wir haben übrigens ziemlich viele ausgezeichnete Leute an dieser Klinik, falls du das noch nicht wußtest.«
Er versuchte, seinen jungen Kollegen, der bemerkenswert bleich und müde aussah, auf andere Gedanken zu bringen.
»Geh nach Hause, Adrian«, sagte er väterlich, was er sich erlauben konnte, denn er war mehr als zwanzig Jahre älter als Adrian. »Geh nach Hause und schlaf dich richtig aus.«
»Worauf du dich verlassen kannst, mein Freund«, murmelte Adrian. »Aber ich muß noch mal kurz nach unten, ich hoffe, Bernd hat irgendwie erfahren, wo ich geblieben bin, und es hat keine Massenkarambolage in unserer Nähe gegeben, so daß in der Notaufnahme jetzt das blanke Chaos herrscht.«
»Ach, was«, entgegnete der Anästhesist lächelnd. »In der Regel sind wir verzichtbar, das weißt du doch, da geht es ganz gut auch ohne uns. Nur manchmal, da ist es dann doch gut, daß wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind.«
»So wie heute, meinst du?«
»So wie heute, Adrian.« Lächelnd reichte er dem Jüngeren die Hand, und sie tauschten einen festen Händedruck.
*
»Was kann ich für Sie tun?« fragte der junge Beamte, als Maja Asanova ein wenig unschlüssig vor ihm stand.
»Mein Name ist Dovic«, sagte Maja und hielt ihm die Zeitung hin. »Ich möchte eine Aussage machen, die diesen Mann betrifft.«
Der Beamte betrachtete das Foto, auf das Maja zeigte, und fragte schnell: »Kennen Sie den Mann?«
Sie nickte. »Ja, ich weiß ziemlich viel über ihn. Aber ich habe eine Bitte. Könnten wir uns vielleicht unter vier Augen über den Fall unterhalten? Es gibt ziemlich viel zu erklären dazu. Und ich glaube, daß mehr dahintersteckt als eine Schießerei unter Klein-Kriminellen.«
Die natürliche Autorität, mit der sie sprach, beeindruckte den jungen Beamten. »Vielleicht sprechen Sie lieber mit meinem Vorgesetzten darüber?« fragte er. »Wenn es sich um eine wichtige Sache handelt – ich weiß ja nicht…«
»Das wäre ganz bestimmt besser«, erwiderte Maja. »Glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage.«
Er nickte und stand auf. »Einen Augenblick bitte«, murmelte er und verschwand.
Während sie wartete, blickte Maja sich um. Es gab einmal eine Zeit, da hatte auch sie überlegt, zur Polizei zu gehen, aber dann war doch alles anders gekommen.
»Frau Dovic?«
»Ja«, antwortete Maja und sah den Mann, der nun in Begleitung des jungen Polizisten zurückkehrte, aufmerksam an. Sie war erleichtert, als sie seine ruhigen Bewegungen und die klugen blauen Augen sah. Er war sicher schon fast sechzig und mußte über viel Erfahrung verfügen. Mit ihm würde sie offen reden können.
»Kriminalhauptkommissar Oever«, stellte sich der ältere Beamte vor. »Kommen Sie bitte.« Er ging voraus in ein erstaunlich großes Büro. Sein jüngerer Kollege folgte ihnen nicht, und darüber war Maja froh.
»Frau Dovic«, begann er, und sie unterbrach ihn sofort.
»Dovic ist nicht mein richtiger Name«, korrigierte sie ihn. »Ich sage das nur, damit Sie Bescheid wissen. Es gibt Gründe dafür, warum ich mich im Augenblick verstecke, und ich glaube, die Schüsse auf David Denekamp haben bestätigt, daß ich gut daran tue, vorsichtig zu sein.«
Er machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht so schnell folgen. David Denekamp heißt der Mann, der angeschossen worden ist?«
Sie nickte. »Ich habe ihn fast zwei Wochen lang observiert, im Auftrag einer großen Firma. Das heißt, ich suchte nach einem Industriespion und bin ziemlich schnell auf Herrn Denekamp gestoßen. Ich war sicher, daß er der gesuchte Mann sei.«
»Bitte erzählen Sie mir von Anfang an, was passiert ist«, sagte der Beamte ruhig. »Und nennen Sie mir Ihren richtigen Namen. Oder muß er ein Geheimnis bleiben?«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich heiße Maja Asanova, und ich sehe normalerweise völlig anders aus als im Augenblick. Aber ich habe das Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, denn eigentlich bin ich gar nicht mehr in Berlin, sondern seit gestern in Moskau.«
Sie sah erneute Verwirrung in den Augen des Mannes und fing nun endlich mit dem Beginn ihrer Geschichte an. »Also: Ich bekam vor etwas mehr als zwei Wochen einen Anruf von Herrn Dr. Meckenheim von der Firma Borgmann-Chemie…«
Maja blieb über eine Stunde auf dem Polizeirevier. Kriminalhauptkommissar Oever befragte sie überaus gründlich, während gleichzeitig die Information an die anderen Dienststellen gegeben wurde, daß der Angeschossene vermutlich David Denekamp heiße. Der Polizeiapparat lief auf Hochtouren.
*
Der Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, Thomas Laufenberg, sah unwillig auf. »Was ist denn jetzt schon wieder, Frau Meyer? Ich habe doch gesagt, daß ich nicht gestört werden möchte!«
Die junge Sabine Meyer zuckte zusammen. Noch immer hatte sie Angst vor ihrem Chef, obwohl er sie in der Regel freundlich behandelte.
Aber sobald er Zeichen von Unwillen oder Ungeduld zeigte, wie er es jetzt gerade tat, dann erstarrte sie förmlich und konnte nicht mehr klar denken. In solchen Situationen machte sie Fehler, und eines Tages, da war sie ganz sicher, würde Herr Laufenberg ihr kündigen, weil sie einfach nicht gut genug für diesen Posten war.
Und wenn sie an diese Möglichkeit auch nur dachte, dann konnte sie sich überhaupt nicht mehr konzentrieren.
Thomas Laufenberg bemerkte den angsterfüllten Blick seiner jungen Mitarbeiterin und unterdrückte einen Seufzer.
Er wußte nicht, was mit Sabine Meyer los war. Er war mit ihrer Arbeit hochzufrieden, aber manchmal blickte sie ihn an wie ein erschrecktes Kaninchen, und er fragte sich, was wohl der Grund dafür sei.
Er behandelte sie so freundlich wie alle anderen auch, aber schließlich kam es auch bei ihm gelegentlich vor, daß er an einem Tag ein wenig reizbarer war als an einem anderen – und das schien die junge Frau regelmäßig an den Rand einer Krise zu bringen.
»Was gibt es denn, Frau Meyer?« fragte er, wobei er sich zwang, freundlich zu sprechen, denn noch immer stand sie wie erstarrt in der Tür.
»Die Polizei«, stieß sie hervor. »Die Polizei möchte Sie sprechen.«
Er runzelte die Stirn. Er hatte bereits gehört, daß in der Nacht ein schwerverletzter Mann nach einer Schießerei in die Klinik eingeliefert worden war. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen der üblichen Bandenkriege, sondern es steckte noch mehr dahinter.
»Wegen des Angeschossenen?« vergewisserte er sich.
Sie nickte ein wenig entspannter als zuvor. »Ja. Sie wissen offenbar, wer der Mann ist. Jedenfalls sagen sie, daß sie unbedingt sofort mit Ihnen sprechen müssen.«
»Dann führen Sie sie herein«, sagte Thomas ergeben, während er sich die dichten braunen Haare zurückstrich, die an den Schläfen schon grau wurden. Er war Anfang vierzig, wirkte aber jünger. Die grauen Schläfen unterstrichen sein gutes Aussehen, was ihm jedoch kaum bewußt war. Er war nicht besonders eitel, was sein Äußeres betraf. Sein Ehrgeiz galt seiner Arbeit in der Kurfürsten-Klinik, der er seine ganze Kraft widmete.
Gleich darauf betrat ein älterer Kriminalbeamter in Begleitung einer rundlichen rothaarigen Frau mit Hornbrille das Büro. »Herr Laufenberg?« fragte der Mann. »Sie sind der Verwaltungsdirektor dieser Klinik?«
Thomas nickte. »Ja, bin ich. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
»Kriminalhauptkommissar Oever«, stellte sich der Beamte vor. »Und dies ist Frau Dovic, eine – Kollegin.« Er hatte mit Maja vereinbart, ihre Identität zunächst geheimzuhalten.
Sie setzten sich, und Thomas bot ihnen Kaffee an, den sie aber beide ablehnten. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Wir haben Grund zu der Annahme, daß Herr Denekamp, der heute Nacht angeschossen in Ihre Klinik eingeliefert wurde, in Lebensgefahr schwebt.«
»Das tut er in der Tat, obwohl er die Notoperation offenbar recht gut überstanden hat«, erwiderte Thomas, der immer gut informiert war über alle Vorgänge in der Klinik.
Kriminalhauptkommissar Oever schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht, Herr Laufenberg. Wir glauben, daß man Herrn Denekamp unbedingt töten wollte und daß man erneut versuchen wird, das zu tun. Und zwar ziemlich bald.«
»Hier?« rief Thomas erstaunt und entsetzt. »In der Klinik?«
Der Beamte nickte, und zum ersten Mal ergriff Maja das Wort. »Es gibt bisher nur Vermutungen, warum Herr Denekamp getötet werden soll. Wir können nur soviel sagen: Er wurde der Industriespionage verdächtigt, und die Beweislage hätte ausgereicht, um ihn damit vor Gericht zu bringen. Offensichtlich wollte man das aber nicht, sondern man wollte ihn aus dem Weg räumen. Es ist daher wahrscheinlich, daß etwas anderes hinter der Sache steckt. Wir müssen nur noch herausfinden, was.«
»Industriespionage?« murmelte Thomas. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Herr Laufenberg«, warf der Kriminalhauptkommissar hastig ein, »können wir davon ausgehen, daß alles, was wir hier besprechen, unter uns bleibt? Es ist von größter Wichtigkeit, daß nichts davon an die Öffentlichkeit dringt.«
»Natürlich können Sie sich darauf verlassen. Aber ich möchte wenigstens verstehen, worum es sich eigentlich dreht.«
»Verständlich. Also: Herrn Denekamps Leben ist bedroht, davon gehen wir aus, obwohl wir noch nicht wissen, warum das der Fall ist. Man hat ihn der Industriespionage beschuldigt, aber die Beweise, die es dafür gibt, nicht genutzt, um ihn anzuzeigen. Stattdessen hat man versucht, ihn umzubringen.«
»Woher wissen Sie denn das alles?« fragte der Verwaltungsdirektor verwirrt.
»Das können wir Ihnen aus Sicherheitsgründen leider nicht mitteilen«, antwortete der Beamte ruhig. »Aber Sie dürfen uns glauben.«
»Na schön«, murmelte Thomas. »Und weiter?«
»Wir möchten, daß Sie Frau Dovic als Krankenschwester einstellen, damit sie Herrn Denekamp schützen kann. Sie hat eine Spezialausbildung für solche Fälle. Außerdem werden wir ein paar Beamte in Zivil in der Klinik postieren. Auf diese Weise ist allen gedient: Es gibt kein unnötiges Aufsehen durch auffälligen Polizeischutz, und wir haben die Möglichkeit, daß uns diejenigen ins Netz gehen, die versucht haben, den Mann umzubringen.«
»Klingt wie ein spannender Kriminalroman, finden Sie nicht?« Thomas schüttelte den Kopf und dachte einige Augenblicke nach. Dann sagte er ruhig: »Das bedeutet auch Gefahr für die Kurfürsten-Klinik, nicht wahr?«
»Wir versuchen, diese Gefahr so gering wie möglich zu halten«, antwortete der Beamte. »Glauben Sie mir bitte, daß wir sehr wohl wissen, in welcher Situation Sie sich befinden, aber solange sich Herr Denekamp hier aufhält, muß man leider davon ausgehen, daß die Sache nicht ganz ungefährlich ist, das stimmt.«
»Könnte man ihn verlegen, sobald er transportfähig ist?«
Der Hauptkommissar nickte. »Sicher, daran haben wir auch schon gedacht – das Problem scheint jedoch zu sein, daß er noch immer in Lebensgefahr schwebt. Er wird also in den nächsten Tagen auf keinen Fall transportfähig sein.«
»Verdammt!« Thomas sprang auf und lief in seinem Büro hin und her. »Wissen Sie eigentlich, was Sie von mir verlangen? Am liebsten hätte ich, daß Sie die ganze Klinik mit Ihren Polizisten abriegeln, wenn das wirklich stimmt, was Sie mir eben gesagt haben. Statt dessen soll ich mich auf eine Frau und ein paar Beamte in Zivil verlassen, wo wir es doch, Ihren eigenen Worten zufolge, mit Leuten zu tun haben, die zu allem entschlossen sind. Das haben sie ja außerdem schon bewiesen bei ihrem Überfall auf unseren Patienten.«
Maja hatte die ganze Zeit geschwiegen, aber jetzt hatte sie den Eindruck, daß sie sich einschalten mußte. »Die Mörder müssen gefunden werden«, sagte sie mit ihrer harten Branka-Dovic-Stimme. »Und das geht nicht, wenn wir das ganze Krankenhaus mit Polizei umstellen. Wir haben uns gut überlegt, was wir Ihnen vorschlagen, Herr Laufenberg – niemand will ein unnötiges Risiko eingehen, das dürfen Sie uns glauben. Und ich versichere Ihnen, daß ich sehr wohl imstande bin, Ihren Patienten zu schützen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Thomas unwillig. »Wie wollen Sie das denn machen? Als Krankenschwester getarnt ständig mit einer Waffe an seinem Bett sitzen?«
Sie lächelte amüsiert. »Das überlassen Sie nur ruhig uns, Herr Laufenberg. Wir tun unsere Arbeit, Sie die Ihre.«
Er lächelte entschuldigend. »Ich wollte Ihre Fähigkeiten nicht anzweifeln, aber die Sache kommt ziemlich überraschend für mich.«
»Für uns auch, Herr Laufenberg«, sagte der Kriminalbeamte. »Könnten wir nun die Einzelheiten besprechen? Es muß einiges vorbereitet werden, und wir haben keine Zeit zu verlieren. Die andere Seite schläft nicht.«
»Gut«, stimmte Thomas zu. »Sie haben mich überzeugt. Fangen wir also an.«
Erst nach einer weiteren Stunde verließen Maja und der Kriminalhauptkommissar das Büro des Verwaltungsdirektors wieder. Sie hatten einen detaillierten Plan erstellt und gingen nun entschlossen daran, diesen in die Tat umzusetzen.
*
Carola Senftleben stand für ihre Verhältnisse an diesem Morgen früh auf – dabei war es schon nach vier gewesen, als sie endlich ins Bett gegangen war. Aber sie war von der ersten Sekunde an hellwach und hatte auch keine Lust mehr liegenzubleiben. Also stand sie auf, machte ein paar Gymnastikübungen am offenen Fenster, duschte und bereitete sich danach das Frühstück zu.
Kurz überlegte sie, ob Adrian Winter wohl bereits schlief – nach seinem anstrengenden Nachtdienst – sonst hätte sie ihn zum Frühstück einladen können. Aber er hatte sich sicher bereits hingelegt. Sie holte sich also die Zeitung und fing an zu lesen. Wie üblich überflog sie zuerst den Lokalteil, und sofort entdeckte sie das Foto des Mannes, den man angeschossen hatte – die Meldung war ja bereits nachts im Radio durchgegeben worden. Als sie das Foto ansah, entfuhr ihr unwillkürlich ein Ausruf des Erstaunens. »Das gibt’s doch gar nicht!« murmelte sie. »Dieser nette junge Mann, der soviel vom Kochen versteht – also, das kann ich einfach nicht glauben.«
Hastig las sie den Artikel durch. Die Polizei suchte nach Zeugen – auch der Name des Mannes war noch unbekannt. Sie versuchte angestrengt, sich zu erinnern, wie er hieß. Er hatte es ihr gesagt, das wußte sie, aber es wollte ihr nicht einfallen.
In diesem Augenblick hörte sie zu ihrem größten Erstaunen Schritte auf ihrem Stockwerk. Sofort stand sie auf und lief in den Flur, um ihre Wohnungstür zu öffnen. Als sie ihren Nachbarn sah, rief sie erfreut: »Adrian! Wieso kommen Sie jetzt erst? Ich dachte, Sie würden längst schlafen!«
Dr. Adrian Winter drehte sich zu ihr um und lächelte müde. »Schön wär’s, Frau Senftleben.« Er wirkte erschöpft, und sofort regte sich ihr Mitleid. Er arbeitete zuviel, das sagte sie ihm immer wieder.
»Frühstücken Sie mit mir!« bat sie. »Ich muß Ihnen unbedingt etwas erzählen – über diesen Mann, der angeschossen worden ist. Ich kenne ihn!«
Das verblüffte ihn so sehr, daß er seine Müdigkeit vorübergehend vergaß. »Sie kennen ihn?« fragte er ungläubig. »Er ist der Grund, daß ich so spät komme, Frau Senftleben.«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
Er folgte ihr in ihre gemütliche Küche und setzte sich, während sie bereits dabei war, noch ein Gedeck für ihn auf den Tisch zu stellen.
»Ich komme bloß nicht auf seinen Namen«, erzählte sie weiter. »Stellen Sie sich vor, ich habe ihn beim Einkaufen getroffen und mich sehr nett mit ihm unterhalten.« Sie berichtete ihm von ihrer Begegnung mit dem jungen Mann, der nun schwerverletzt in der Klinik lag, und Adrian hörte ihr aufmerksam zu.
»Merkwürdige Geschichte«, meinte er, als sie geendet hatte. »Hört sich so an, als sei er ein Mensch wie du und ich – da wird man doch nicht einfach aus heiterem Himmel angeschossen, sollte man meinen.«
»Heutzutage offenbar doch«, entgegnete sie. »Ich habe die Nachricht schon heute nacht im Radio gehört, aber da wäre ich natürlich nicht im Traum auf die Idee gekommen, daß ich mit dem Mann schon einmal gesprochen habe.«
Adrian trank den ersten Schluck Kaffee und stöhnte vor Wohlbehagen. »Das tut gut«, sagte er. »Es war wirklich eine Horror-Nacht, Frau Senftleben.« Er erzählte ihr in wenigen Worten, was sich ereignet hatte. »Es stand wirklich auf Messers Schneide für den armen Kerl, das kann ich Ihnen sagen.«
»War die Polizei schon da?« fragte sie gespannt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er achselzuckend. »Wahrscheinlich ja. Als ich ging, habe ich mitbekommen, daß sich die Journalisten um die Geschichte regelrecht schlagen. Daß ein Mensch mitten in Berlin von mehreren Kugeln getroffen wird, ist ja auch nicht alltäglich – da wittern natürlich alle eine Sensation dahinter. Ich möchte bloß wissen, was eigentlich dahintersteckt, das muß ich zugeben. Der Mann sieht wirklich nicht wie ein kleiner Krimineller aus, den irgendwelche anderen Gangster wegen seiner dunklen Geschäfte aus dem Weg räumen wollen.«
»Könnte er zufällig getroffen worden sein?« fragte seine Nachbarin. »Das gibt es doch, daß jemand aus Versehen angegriffen wird. Eine Verwechslung zum Beispiel.«
Adrian überlegte, dann meinte er zögernd: »Eigentlich dürfte ich Ihnen das wohl nicht sagen, Frau Senftleben, aber eine Verwechslung ist ziemlich ausgeschlossen.«
»Warum?«
»Die Täter haben ihn auch noch geschlagen. Ich reime mir den Verlauf in etwa so zusammen: Zuerst haben sie auf ihn geschossen, dann sind sie zu ihm gelaufen, weil sie etwas von ihm wollten, und haben ihm ein paar böse Schläge und Tritte verpaßt. Vermutlich sind sie dann überrascht worden und mußten flüchten. Spätestens, als sie direkt vor ihm standen, hätten sie erkennen müssen, daß er nicht der Richtige war. Es gibt keinen Grund, den falschen Mann auch noch mit Schlägen und Tritten zu traktieren. Deshalb denke ich, daß eine Verwechslung ausgeschlossen ist.«
»Der arme Mann«, sagte Carola Senftleben leise. »Wird er überleben?«
»Das kann man noch nicht genau wissen«, antwortete Adrian ehrlich. »Wir waren jedenfalls froh, daß er die Operation überstanden hat – aber die Stunden danach sind natürlich immer besonders gefährlich. Es können noch so viele Komplikationen eintreten, das ist sehr schwierig vorherzusagen.«
»Meinen Sie, ich sollte der Polizei melden, daß ich ihn einmal getroffen habe, obwohl ich mich an seinen Namen nicht erinnern kann?«
»Das würde ich auf jeden Fall tun«, antwortete Adrian »Wenn sie völlig im Dunkeln tappen, wer er ist, werden sie für jeden Hinweis dankbar sein.«
»Gut, dann mache ich das«, sagte sie. »Essen Sie noch ein Brötchen, Adrian, Sie haben ja kaum etwas angerührt.«
Er schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, Frau Senftleben, aber ich gehe jetzt rüber, nehme ein Bad, um abzuschalten, lese vielleicht noch ein wenig die Zeitung und gehe dann ins Bett. Ich will zeitig wieder in die Klinik, weil ich wissen möchte, was mit dem Mann wird.« Er stand auf und verabschiedete sich herzlich von seiner Nachbarin.
Als Carola Senftleben allein war, rief sie bei der Polizei an, wo man ihre Aussage interessiert zur Kenntnis nahm. Nein, sagte der freundliche Beamte, es sei nicht nötig, daß sie vorbeikomme. Wenn sie nur so freundlich sein würde, ihren Namen und ihre Adresse anzugeben, dann würde man sich bei Bedarf wieder an sie wenden.
»Vielen Dank, daß Sie sich gemeldet haben, Frau Senftleben«, sagte er am Ende des Gesprächs. »Sie haben uns sehr geholfen.«
Sie war ein wenig enttäuscht, irgendwie hatte sie sich mehr erhofft, aber dann mußte sie über sich selbst lächeln. Wahrscheinlich hatte sie zu viele Kriminalgeschichten gelesen. Energisch begann sie, den Tisch abzuräumen. Warum wollte ihr bloß der Name des Mannes nicht einfallen? Er lag ihr auf der Zunge, doch sie kam einfach nicht darauf. Wahrscheinlich, dachte sie wehmütig, werde ich allmählich alt.
*
Auf der Intensiv-Station der Kurfürsten-Klinik herrschte eine solche Hektik, daß niemand sich über die rothaarige pummelige neue Krankenschwester mit der häßlichen Hornbrille und der harten Stimme wunderte. Im Gegenteil, es wurde dankbar zur Kenntnis genommen, daß es offenbar endlich eine Personalaufstockung gegeben hatte – denn schließlich war das eine oft wiederholte Forderung in der letzten Zeit gewesen.
Schwester Branka machte einen kompetenten Eindruck, sie schien über den Sorgenfall der Intensiv-Station bereits umfassend informiert zu sein, als sie ihren Dienst antrat, und sie war außerordentlich aufmerksam. Jedenfalls ließ sie den Patienten David Denekamp, um den sie sich besonders kümmern sollte, keine Sekunde aus den Augen.
Maja atmete insgeheim auf, als sie endlich ihren »Dienst« in der Kurfürsten-Klinik angetreten hatte. Sie hatte sich mit Hilfe Thomas Laufenbergs in aller Eile mit den Abläufen auf der Intensivstation vertraut gemacht, und man hatte den Stationsarzt eingeweiht. Er würde dafür sorgen, daß sie keine Fehler machte und daß niemand sich darüber wunderte, wenn sie den Patienten Denekamp nicht aus den Augen ließ.
Maja verstand genug von Krankenpflege, um für einige Tage die Rolle einer Schwester zu spielen, wenn ihr ein Arzt half, sobald es kritisch wurde. Darüber machte sie sich keine Sorgen. Was sie hingegen sehr beunruhigte, war zum einen der kritische Zustand des Patienten. Sie hatte einen Aufschrei unterdrücken müssen, als sie David Denekamp wiedergesehen hatte. Wo war der vitale Mann geblieben, den sie zwei Wochen lang observiert hatte? Der Mann mit den schönen Augen und dem lebhaften Gesicht, das ihr gleich so gut gefallen hatte? Jetzt lag hier vor ihr ein leichenblasser Schwerverletzter, dessen Brust sich beim Atmen kaum hob und dessen Lebenslicht nur noch müde zu flackern schien. Jeden Augenblick konnte es verlöschen, und sie selbst mußte dabei hilflos zusehen.
Sie fühlte sich schuldig, denn sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie ihn, freilich ohne es zu ahnen, seinen Jägern ausgeliefert hatte. Aber wer waren diese Leute, und warum hatten sie versucht, David Denekamp zu töten?
Sie richtete die Infusionsschläuche, als einige Ärzte hereinkamen, um nach dem Patienten zu sehen. Reiß dich zusammen, Maja, dachte sie. Du spielst hier eine Rolle, spiel sie gefälligst gut.
Während sie das dachte, prägte sie sich die Gesichter aller Personen ein, die im Zimmer waren. Es war lebensnotwendig, daß sie das tat. Denn wenn sie den Killer nicht sofort erkannte, dann war der Patient verloren.
*
»Guten Morgen, Frau Wagner«, sagte Herr Gerlach, der Rezeptionist, und deutete eine leichte Verbeugung an. Wie viele seiner Kollegen im King’s Palace verehrte er die schöne Assistentin des Direktors insgeheim. Er hätte alles getan, um ihr einen Gefallen zu tun.
»Guten Morgen«, sagte sie und schenkte ihm ein so hinreißendes Lächeln, daß er vor Freude errötete. »Ich suche Frau Dovic, aber sie ist nicht auf ihrem Zimmer. Und im Frühstücksraum ist sie auch nicht.«
Er warf einen Blick auf die Zimmerschlüssel und sagte bedauernd: »Sie ist nicht im Hause, Frau Wagner. Ist es wichtig?«
»Es hat Zeit«, antwortete sie eilig. Sie durfte ihn nicht mißtrauisch machen. »Aber wenn Sie sie sehen, Herr Gerlach, dann bitten Sie sie doch, mich kurz anzurufen, ja?«
»Selbstverständlich, Frau Wagner«, sagte er, und sie sah, daß er bereits anfing, sich zu fragen, was sie wohl von dieser unattraktiven Rothaarigen wissen wollte.
Ich muß aufpassen, dachte sie, wieso habe ich ihn überhaupt gefragt? Das ist viel zu auffällig. Mit einem harmlosen Lächeln sagte sie: »Es ist eher privat, verstehen Sie? Ich habe gesehen, daß sie aus einem Ort stammt, in dem ich einmal Urlaub gemacht habe, und ich glaube, ich habe damals jemanden kennengelernt, der Dovic heißt. Danach wollte ich sie fragen.«
Sie hatte die richtigen Worte gefunden, denn augenblicklich verschwand der nachdenkliche Ausdruck von seinem Gesicht und wich einem verständnisvollen Lächeln. »Ach so!« rief Herr Gerlach. »Ja, es gibt solche Zufälle. Keine Sorge, Frau Wagner, ich vergesse es nicht. Sobald ich Frau Dovic sehe, sage ich es ihr.«
Er benahm sich, als habe sie ihn bei einem großen Geheimnis ins Vertrauen gezogen, und mit einem letzten Nicken setzte sie ihren Weg fort, um seine Phantasie nicht noch weiter anzuregen. Sie haßte Vertraulichkeiten am Arbeitsplatz, aber sie hatte sich selbst in diese Situation manövriert. Herrn Gerlach jedenfalls traf keine Schuld. Er war nett, und er machte seine Arbeit vorzüglich. Sie mußte in Zukunft einfach vorsichtiger sein mit dem, was sie sagte.
*
Dr. Adrian Winter hatte doch länger geschlafen als geplant und stürmte nun durch den Eingangsbereich der Kurfürsten-Klinik, ohne nach links oder rechts zu sehen. So war es kein Wunder, daß er den Verwaltungsdirektor nicht bemerkte. Erst als dieser »Guten Tag, Herr Dr. Winter«, sagte, hob er den Kopf.
»Guten Tag, Herr Laufenberg«, erwiderte er förmlich, denn noch immer hatte er seine Vorbehalte gegenüber dem anderen nicht aufgegeben, obwohl viele seiner Kollegen sich sehr beeindruckt von dem neuen Mann zeigten. Adrian jedoch glaubte, daß Thomas Laufenberg ein »Bürohengst« sei, der sich hauptsächlich für die Aktenlage interessierte.
»Wie ich hörte, haben Sie heute nach den Mann mit den Schußverletzungen aufgenommen«, fuhr der Direktor fort, und Adrian nickte.
»Ich will gerade noch einmal nach ihm sehen, bevor mein Dienst beginnt«, antwortete er. Dann stockte ihm der Atem, und er fragte: »Oder ist er…?«
»Bisher lebt er«, sagte Thomas Laufenberg ruhig.
»War die Polizei schon da? Gibt es eine Vermutung, was dahintersteckt?« fragte Adrian. »Meine Nachbarin hat den Mann nämlich beim Einkaufen kennengelernt und sein Bild sofort wiedererkannt. Sie war ganz entsetzt, daß diesem netten Menschen so etwas Schreckliches passiert ist.«
Während er sprach, fragte er sich, warum um alles in der Welt er das ausgerechnet Thomas Laufenberg erzählte? Er mochte den Mann nicht besonders, was also veranlaßte ihn, hier mit ihm zu stehen und nahezu freundschaftlich mit ihm zu plaudern? Das mußte dieser ja falsch auffassen.
Sein Gesicht verschloß sich, und fast hätte er sich auf die Zunge gebissen, damit ihm nicht noch mehr Sätze über die Lippen rutschten. »Ich muß los«, sagte er förmlich. »Auf Wiedersehen.«
Er wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern eilte, den Kopf nun wieder gesenkt, weiter.
Thomas Laufenberg schüttelte ärgerlich den Kopf und hätte ihm fast etwas hinterhergerufen, dann jedoch setzte er seinen Weg ebenfalls fort. Er hatte Dr. Winter eigentlich einweihen wollen, daß David Denekamp in Gefahr schwebte und daß Zivilpolizei im Hause war. Immerhin hatte Dr. Winter den Verletzten aufgenommen, und er fühlte sich offenbar für ihn verantwortlich. Aber nun war er ja wieder einmal davongestürmt, als müsse er die Nähe seines Verwaltungsdirektors peinlich meiden.
Für wenige Augenblicke war der junge Arzt völlig normal gewesen. Doch dann, als sei ein Vorhang heruntergelassen worden, hatte er sich wieder so ablehnend wie üblich verhalten.
Thomas gestand sich ein, daß er das Verhalten des Notaufnahmechefs mittlerweile höchst irritierend fand. Normalerweise kam er mit anderen Menschen gut aus, und er glaubte auch, daß seine Arbeit durchaus dem Wohl sämtlicher Mitarbeiter der Kurfürsten-Klinik diente. Aber Dr. Winter schien vom Gegenteil überzeugt zu sein. Warum sonst verhielt sich der Arzt so, als habe er ihm etwas getan?
Ach was, dachte Thomas ärgerlich. Ich habe anderes zu tun, als mir über launische Ärzte den Kopf zu zerbrechen!
*
Maja blickte mißtrauisch auf den jungen Mann, der völlig außer Atem hereingestürzt kam und so tat, als gehöre er hierher. Er beugte sich über David Denekamp und griff sofort nach seinem Puls. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig. Sein Haar war dunkelblond, dazu hatte er braune Augen.
Er sah ausgesprochen sympathisch aus, aber das bedeutete nichts, wie sie nur allzu gut wußte.
»Wer sind Sie?« fragte sie, während sie sich innerlich anspannte.
»Dr. Winter«, antwortete er erstaunt und richtete sich auf. Jetzt erst nahm er die rothaarige Schwester neben dem Bett des Patienten wahr, die er noch nie in der Klinik gesehen hatte. »Notaufnahme«, fügte er hinzu. »Der Patient wurde heute nacht bei uns eingeliefert, und ich habe ihn danach operiert. Sind Sie neu hier?«
Sie nickte. »Schwester Branka«, stellte sie sich vor. Sie war höchst erleichtert. Dr. Winter sollte eigentlich auch informiert werden über ihre Anwesenheit und die der Zivilbeamten. Das hatte der Verwaltungsdirektor vorgeschlagen, aber offenbar hatte er noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Nun, sie würde jedenfalls nichts verraten, das war nicht ihre Aufgabe. »Ich soll die Kolleginnen hier auf der Station entlasten. Alle haben große Angst um Herrn Denekamp.«
»Denekamp heißt er? Das wußte ich nicht«, sagte Adrian erstaunt. »Haben Sie mit ihm gesprochen und nach seinem Namen gefragt?«
»Nein, er wacht immer nur kurz auf, aber er ist kaum ansprechbar.«
»Wie hat man das denn so schnell herausgefunden? Ich hatte ihn nämlich gerade nach seinem Namen gefragt, als er anfing zu schreien vor Schmerzen.«
»Die Polizei«, erklärte sie. »Jemand hat ihn identifiziert – es gab ein Foto in der Zeitung.« Das war nicht einmal gelogen, dachte sie, denn genauso hatte es sich schließlich abgespielt. Dennoch wandte sie sich etwas ab, damit er ihre Augen nicht sehen konnte.
»Ja«, bestätigte er, »das Foto habe ich gesehen.« Er wandte sich erneut dem Patienten zu. »Er hat das Schlimmste immer noch nicht überstanden«, murmelte er. »Ich möchte wirklich zu gern wissen, in was für eine Geschichte der Mann da bloß hineingeraten ist.«
Er konnte nicht ahnen, wie sehr er ihr aus dem Herzen sprach, doch Maja hütete sich davor, ein Wort zuviel zu sagen. Es war sowieso ein äußerst heikles Spiel, das sie hier spielte. Zwar wußte sie, daß einige Kriminalbeamte in der Nähe waren, aber wenn es wirklich jemandem gelang, bis hierher vorzudringen, dann war der Patient verloren, daran zweifelte sie nicht.
Die Stationen waren in aller Stille angewiesen worden, verstärkte Besucherkontrollen durchzuführen, doch der Verwaltungsdirektor hatte keine Panik riskieren wollen und deshalb darauf bestanden, daß die Polizei bei ihren Maßnahmen äußerst diskret vorging. So war zwar der Schutz der Intensivstation verstärkt worden, aber im allgemeinen lief der Klinikbetrieb normal weiter.
»Er war also schon wach?« fragte Adrian.
»Ja, schon ein paarmal, aber immer nur ganz kurz. Die Polizei will natürlich auch gern mit ihm sprechen, aber das ist völlig unmöglich. Sie hoffen, daß er ihnen Hinweise auf die Täter geben kann.«
Während sie das sagte, hatte Adrian sie zum erstenmal genauer angesehen, und er fand, sie sah irgendwie merkwürdig aus. Warum nur trug sie eine so unkleidsame Brille? Auch ihre Frisur schmeichelte dem Gesicht nicht unbedingt. Er sah, daß sie seinen Blick bemerkt hatte, und das war ihm unangenehm.
Schließlich war ihr Aussehen nicht sein Problem – wenn es ihr gefiel, sich unattraktiv zu machen, dann sollte sie das tun.
»Auf Wiedersehen, Schwester Branka«, sagte er. »Ich komme im Laufe der Nacht noch einmal, um zu sehen, wie es ihm geht. Irgendwie fühle ich mich noch immer für ihn verantwortlich.«
Das kann ich auch von mir behaupten, dachte Maja. »Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, antwortete sie mit leiser Stimme.
*
David wußte, daß er verletzt war, schwer verletzt. Und er wußte auch, daß er Angst haben mußte, denn sie würden nicht ruhen, bis sie ihn umgebracht hatten. Das mußte er den Leuten sagen, die im Zimmer waren, und er tat es auch, doch merkwürdigerweise schien ihn niemand zu hören. Aber er wußte ganz genau, daß er nicht allein war. Oder waren es vielleicht diese Männer, die ihn bereits gefunden hatten und sich zum zweiten Angriff rüsteten?
Dieser Gedanke ließ seine Verzweiflung und seine Angst ins Unermeßliche wachsen. Er konnte nicht länger ruhig liegen, er mußte von hier verschwinden! Er mußte sich verstecken. Aber wie sollte er das anstellen, wo er doch allein keinen einzigen Schritt tun konnte? Ob es ihm gelingen würde, um Hilfe zu schreien?
Gerade, als er es versuchen wollte, hörte er eine weiche Stimme, die sagte: »Keine Sorge, Herr Denekamp, ich bin da und passe auf Sie auf. Hören Sie das? Sie müssen keine Angst haben, beruhigen Sie sich. Niemand wird Ihnen etwas tun, ich verspreche es Ihnen. Hier sind nur Freunde um Sie herum. Wir alle wollen Ihnen helfen. Sie sind in einer Klinik. Hier sind Sie völlig sicher.«
Merkwürdig, dachte David. Es ist eine Frau, die das sagt. Wie will mich denn eine Frau beschützen? Sie weiß doch überhaupt nicht, worum es hier geht! Er versuchte, seine Augen zu öffnen, um ihr zu zeigen, daß er wach war und jedes Wort verstand, doch auch das gelang ihm nicht.
Wenn ich spreche, dachte er voller erneut aufkeimender Panik, dann versteht mich keiner, und meine Augen scheinen zugeklebt zu sein – so will ich nicht leben! Ich will wieder gesund werden und keine Angst haben. Aber es nützte nichts. Die Angst beherrschte ihn so sehr, daß er anfing zu zittern und mit den Zähnen zu klappern.
Wieder fing die weiche Stimme an zu sprechen, aber diesmal verstand er sie nicht.
Der Stationsarzt, den Maja schließlich gerufen hatte, bewahrte die Ruhe. Die Zusammensetzung der Medikamente, die der Patient bekam, wurde geändert, und nach einer halben Stunde ebbte die Krise ab. Der Patient wurde ruhiger.
»Gut, daß Sie mich gleich gerufen haben«, sagte der Stationsarzt und nickte Maja anerkennend zu. »Bleiben Sie die ganze Nacht?«
Sie nickte. Ihre Theorie war, daß ein erneuter Angriff sehr schnell erfolgen mußte, bevor der Patient anfangen konnte zu reden. Und deshalb würde sie die Nacht über an seiner Seite bleiben.
Am folgenden Tag allerdings mußten sie sich dann etwas Neues einfallen lassen, denn spätestens dann würde ihr Körper dringend nach Schlaf verlangen. Doch bis zum Morgen war es noch lang.
*
Stefanie Wagner fing allmählich an, sich Sorgen um Maja Asanova zu machen. Die junge Russin war den ganzen Tag über nicht zum Hotel zurückgekehrt, und nun war es bereits Abend, und noch immer hatte sie nichts von ihr gehört. Das machte sie nervös, obwohl sie sich fragte, warum sie am Schicksal dieser Frau eigentlich solchen Anteil nahm. Sie kannte sie doch kaum!
Stefanie saß noch immer in ihrem Büro und arbeitete. Es hatte sich vieles angesammelt in den letzten Tagen, das sie nicht mehr hatte erledigen können – das würde sie dann eben heute abend tun. Ohnehin eigneten sich die Abendstunden hervorragend, um liegengebliebene Büroarbeiten zu erledigen, denn dann schwieg in der Regel das Telefon, und auch sonst hielten sich die Störungen in Grenzen.
Wie um ihre Gedanken Lügen zu strafen, klingelte der Apparat auf ihrem Tisch genau in diesem Augenblick. Der Anruf erfolgte von außerhalb. »Hotel King’s Palace, Wagner, guten Abend.«
»Frau Wagner, hier ist Branka Dovic. Haben Sie mich schon vermißt?«
»Ja! Wo stecken Sie?«
»Ich bin in der Kurfürsten-Klinik und werde die ganze Nacht hierbleiben. Vielleicht auch noch länger – das läßt sich jetzt noch nicht vorhersagen.«
»Um Himmels willen, was ist denn passiert? Sind Sie verletzt?«
»Ich nicht«, antwortete die harte Stimme am anderen Ende, »aber jemand, auf den ich aufpassen muß. Ich kann jetzt nicht länger sprechen, Frau Wagner.«
»Danke, daß Sie mich angerufen haben.«
»Hatte ich ja versprochen.«
»Kann ich etwas für Sie tun?«
»Sie haben schon mehr als genug für mich getan.« Ein leises Klicken zeigte das Ende des Gesprächs an.
In der Kurfürsten-Klinik war Frau Asanova! In jenem Krankenhaus also, in dem auch sie selbst schon einmal gewesen war, nach diesem Unfall mit dem kleinen Jungen. Es kam ihr so vor, als sei das eine kleine Ewigkeit her, aber so war es nicht. Im letzten Jahr erst war das gewesen.
Damals hatte Stefanie Dr. Adrian Winter kennengelernt, den Mann, an den sie seitdem oft denken mußte, denn er gefiel ihr außerordentlich gut. Auch er schien sie gern zu haben, aber offenbar nicht gern genug, daß er sich wirklich um sie bemühte. Zwar tauchte er in regelmäßigen Abständen wieder auf, sie verbrachten einen Abend zusammen, unterhielten sich großartig – und dann ging es nicht weiter. Sie war mittlerweile fast überzeugt davon, daß es eine Frau in seinem Leben geben mußte, denn sonst…
Mit einem unwilligen Kopfschütteln beugte sie sich wieder über ihre Arbeit. Sie sollte sich diesen Mann endlich aus dem Kopf schlagen, das wäre das Beste. Aber wenn er dann wieder einmal kam und sie aus seinen klugen braunen Augen ansah, dann fing ihr Herz eben jedesmal an zu flattern. Und sie bildete sich ein, daß auch er mehr für sie empfand als freundliche Sympathie. Aber warum sagte er das nicht endlich?
Sie kaute auf einem Stift herum und gab sich selbst die Antwort auf diese Frage: Weil sie sich alles nur einbildete, darum! Er fand sie nett, unterhielt sich gern mit ihr – aber das war’s auch schon. Zeit, das endlich zu begreifen und zu akzeptieren.
Ob ich jemals erwachsen werde? fragte sie sich, als sie zum nächsten Ordner griff.
Es wird allmählich Zeit.
*
Der Abend war schon fortgeschritten, als zwei Männer in die Notaufnahme kamen: Einer humpelte und konnte ganz offensichtlich kaum gehen, der andere stützte ihn. Sie waren relativ jung und sahen ziemlich wild aus, aber das war das Notaufnahme-Team gewöhnt: Über grüngefärbte Haare, wie sie der Verletzte hatte, gewagte Tätowierungen am ganzen Körper und Ringe in Oberlippe und Nasenflügel, die sie beide voller Stolz trugen, verlor niemand auch nur ein Wort. Und der Rucksack, den der Verletzte trug, gehörte heutzutage auch zur Standardausrüstung dazu.
Schwester Walli nahm die beiden in Empfang, die die Ärzte gerade dabei waren, andere Patienten zu behandeln. »Was ist passiert?«
»Mein Freund hier hat einen Unfall gehabt – er ist von einer Mauer gestürzt und hat sich wohl den Fuß verstaucht. Jedenfalls kann er nicht mehr richtig laufen.«
»Legen Sie sich bitte hier auf die Liege«, sagte Walli ruhig. »Ich sehe mir das gleich an. Aber Sie werden ein wenig warten müssen, bis einer der Ärzte frei ist.«
»Kein Problem, wir haben Zeit«, erwiderte der unverletzte Begleiter. »Außerdem haben wir gehört, daß das hier eine ganz berühmte Klinik ist – da liegt doch auch der Mann, den sie gestern angeschossen haben, oder?«
»Ist das der Grund, warum Sie hierher in die Kurfürsten-Klinik gekommen sind?« erkundigte sich Walli amüsiert, während sie sich über den Fuß des Patienten beugte.
»Wo denken Sie hin? Wir waren sowieso in der Nähe, deshalb sind wir hier!«
Der Fuß war stark angeschwollen und sah nicht gut aus. »Tut das weh?« fragte sie.
Der Mann mit den grünen Haaren nickte und biß die Zähne zusammen, als sie den Fuß vorsichtig abtastete.
Sein Begleiter verließ die Kabine und lief draußen auf und ab. »Ich kann das nicht sehen, wenn er fast anfängt zu heulen vor Schmerzen«, erklärte er, und sie lächelte verständnisvoll.
»Kann ich mich hier unten ein bißchen umsehen«, fragte er. »Oder gibt’s hier irgendwas, wo man nicht ’reindarf?« Seine Stimme klang, als könne er sich das überhaupt nicht vorstellen.«
»Auf die Intensivstation würde man Sie nicht lassen«, antwortete sie. »Aber die ist sowieso oben, und Sie bleiben ja in der Nähe, nicht wahr?«
»Klar doch!« antwortete er.
»Wollen Sie nicht Ihren Rucksack hier lassen?« fragte sie. »Der sieht ziemlich schwer aus.«
»Ne, der muß immer mit«, antwortete er. »Bis später, Kleiner!«
Die beiden wechselten einen Blick, der Schwester Walli merkwürdig bedeutungsvoll er schien, aber sie machte sich keine weiteren Gedanken darüber.
»Adrian!« rief sie. »Kannst du dir mal einen verstauchten Fuß ansehen? Ist das möglich?«
»Gleich!« rief er zurück.
»Soll ich Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben?« fragte sie leise, doch der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Es geht schon«, murmelte er und wich ihrem Blick aus.
Als Adrian kam, begrüßte er den Patienten freundlich und untersuchte dann den verletzten Fuß. »Sieht nach einer bösen Verstauchung aus, ich glaube nicht, daß er gebrochen ist. Aber wir müssen den Fuß röntgen – und das in ein paar Tagen wiederholen, weil jetzt alles so sehr geschwollen ist, daß man einen Bruch unter Umständen gar nicht erkennen würde. Aber, wie gesagt, ich gehe eher von einer Verstauchung aus.«
»Ich fahre mit ihm zum Röntgen«, bot Schwester Walli an.
»Ja, gut, tu das, Walli.« Adrian nickte dem Patienten noch einmal zu und machte sich auf die Suche nach seinem Kollegen Bernd Schäfer. Als er ihn gefunden hatte, sagte er: »Es ist im Augenblick ziemlich ruhig hier, Bernd, meinst du, ich könnte schnell noch einmal nach Herrn Denekamp sehen? Ich mache mir immer noch Sorgen um ihn.«
»Geh nur«, meinte Bernd. »Falls was ist, lasse ich dich rufen, du bist ja nicht weit.«
»Eben!« Adrian prallte fast mit Schwester Walli zusammen. »Nanu, da bist du ja noch – ich dachte, du wolltest den jungen Mann zum Röntgen bringen?«
»Ich suche den anderen, der bei ihm war. So ein großer Blonder, sehr dünn, auch ziemlich tätowiert und gepierct, mit einem großen Rucksack – hast du den nicht gesehen?«
»Tut mir leid, Walli, nein, hier ist er nicht.«
»Na, gut!« Mit einem Achselzucken verschwand sie wieder, und Adrian machte sich auf den Weg zur Intensivstation.
*
Majas Nerven waren bis zum Äußersten gespannt. Sie mußte allmählich gegen ihre Müdigkeit ankämpfen, und sie wußte, wie gefährlich dieser Zustand war. Doch in diesem Augenblick schlug der Patient die Augen auf, und ihre Erschöpfung war wie weggeblasen.
»Hallo«, sagte sie freundlich und beugte sich über ihn. »Sind Sie jetzt richtig wach, oder werden Sie gleich wieder einschlafen?«
»Ich bin schrecklich müde«, antwortete er. »Warum, weiß ich auch nicht. Waren Sie die ganze Zeit hier?«
Sie nickte. »Ja«, antwortete sie lächelnd. »Ich passe auf Sie auf.«
»Komisch«, murmelte er, während er sie genau betrachtete. Es klang enttäuscht.
»Wie meinen Sie das?« fragte sie.
»Ihre Stimme«, sagte er. »Ihre Stimme klingt ganz anders – als ich schlief, habe ich eine Stimme gehört, und ich dachte, das müßte die Ihre sein. Aber ich habe mich wohl getäuscht.«
Maja erschrak. Sie erinnerte sich, daß sie mit ihrer normalen Stimme gesprochen hatte, um ihn zu beruhigen, als er so unruhig gewesen war. Das hätte sie offenbar nicht tun dürfen, er erinnerte sich daran. »Sie haben geträumt«, sagte sie ruhig.
»Ich dachte, ich wäre wach«, entgegnete er. Die rothaarige Schwester an seinem Bett sah ganz anders aus als die Frau, die zu der sanften Stimme gepaßt hätte, aber dennoch hatte sie eine ähnliche Art, sich auszudrücken. Ein Rätsel, dachte er. Aber er war zu müde, um es zu lösen.
»Sie haben geschlafen, glauben Sie mir. Und geträumt. Manchmal sind Sie sehr unruhig. Ich bin froh, daß es Ihnen allmählich besser zu gehen scheint.«
»Vielleicht geht es mir besser«, sagte er erschöpft, »aber wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Ich merke nicht allzu viel davon. Ich fühle mich einfach schrecklich.«
»Wissen Sie, was passiert ist?« fragte sie ihn und ließ ihn nicht aus den Augen, damit ihr nichts von seiner Reaktion entging.
»Ich bin überfallen worden«, antwortete er. »Das stimmt doch, oder?«
»Überfallen und angeschossen«, sagte sie. »Die Polizei wartet darauf, Sie vernehmen zu können.«
»Ach, die Polizei?« sagte er müde. »Wie heißen Sie?«
»Schwester Branka.«
»Angenehm. Denekamp.« Mit diesen Worten schlief er wieder ein.
Sie ließ sich das Gespräch noch ein paarmal durch den Kopf gehen, doch wesentliche Erkenntnisse hatte sie daraus nicht gewinnen können, wie sie sich eingestehen mußte.
Sie blickte sich um. Es war sehr still jetzt auf der Intensivstation, und sie hatte noch immer etliche Stunden vor sich, in denen sie wachbleiben mußte. Dabei fühlte sie bereits, daß die Müdigkeit sie erneut zu überwältigen drohte. Aber das durfte nicht sein! Wenn ihre Aufmerksamkeit erst einmal nachließ, dann hatten die Verbrecher leichtes Spiel…
Der Mann stand so plötzlich vor ihr, daß sie unwillkürlich einen leisen Schrei ausstieß.
»Was ist los mit Ihnen, Schwester Branka?« fragte Adrian erstaunt. »Haben Sie mich nicht gesehen?«
»Tut mir leid«, sagte sie mühsam. »Sie haben mich erschreckt – ich war mit meinen Gedanken gerade woanders.«
»Sie sehen zu viele Horrorfilme«, meinte er lächelnd. »Das ist gefährlich und schlecht für die Nerven.«
»Ich bin bloß müde, Herr Dr. Winter«, gestand sie.
»Dann ruhen Sie sich doch eine Weile aus«, meinte er. Er beugte sich über den Patienten und betrachtete ihn aufmerksam. »Es geht ihm besser, oder?«
»Ja«, gab sie zu. »Wir haben uns sogar ein wenig unterhalten können. Allerdings fühlt er sich noch immer sehr erschöpft. Immerhin kann er sich daran erinnern, daß er überfallen worden ist. Aber das ist auch alles.«
»Ich bin froh, daß es allmählich mit ihm aufwärts geht«, sagte Adrian. »Wissen Sie, die Sache mit ihm war ziemlich aufregend – solche Fälle haben wir hier nicht jeden Tag. Das steckt man so schnell nicht weg.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Maja und unterdrückte ein Gähnen.
Er bemerkte es und sagte: »Hören Sie, Schwester Branka, Sie müssen doch nicht die ganze Zeit hier an Herrn Denekamps Bett festwachsen. Die Maschinen werden schon Alarm schlagen, wenn es nötig ist.«
Maja dachte angestrengt nach. Dr. Winter wußte also noch immer nicht Bescheid! Sie zögerte, aber nur kurz. Sie erinnerte sich genau, daß der Verwaltungsdirektor gesagt hatte, Dr. Winter solle auch eingeweiht werden. Nun, jetzt mußte sie das eben tun, sonst konnte sie nicht hinausgehen und sich einen Kaffee holen.
»Doch«, widerspach sie, »ich muß bei ihm bleiben. Jede Sekunde.«
»Aber wieso denn?« fragte er.
»Er ist in Gefahr«, flüsterte sie. »Ich bin gar keine Krankenschwester, ich passe auf ihn auf. Hat denn Herr Laufenberg Ihnen das nicht mitgeteilt? Er wollte Sie informieren.«
»Was sagen Sie da?« Unwillkürlich flüsterte Adrian ebenfalls. »Kein Wort hat er gesagt, dabei habe ich sogar mit ihm gesprochen.«
»Das versteh ich nicht«, sagte Maja. »Aber das spielt im Augenblick auch keine Rolle, denn ich brauche dringend einen Kaffee, aber jemand muß bei Herrn Denekamp bleiben. Er darf keine Minute alleingelassen werden. Wir haben große Angst um ihn.«
»Wir?« fragte Adrian verwirrt. »Wer ist wir?«
Maja hielt sich nicht mit Einzelheiten auf. »Die Polizei«, sagte sie knapp. »Es sind einige Zivilbeamte in der Nähe, aber man kann nicht vorsichtig genug sein. Jemand hat versucht, Herrn Denekamp umzubringen, und dafür gibt es Gründe, die wir bisher nicht kennen. Jedenfalls haben wir uns entschieden, ihn zu bewachen. Bleiben Sie drei Minuten bei ihm? Länger brauche ich nicht bis zum Automaten. Ich könnte Sie natürlich auch bitten, mir einen Kaffee zu holen, aber ehrlich gesagt bin ich froh, wenn ich mal ein paar Schritte laufen kann. Mein Kreislauf braucht dringend Bewegung.«
»Ja, sicher bleibe ich hier, und ich passe auf wie ein Luchs«, versprach Adrian. »Sagen Sie, Sie erlauben sich doch keinen Scherz mit mir?«
Maja sah ihn an. »Ganz sicher nicht«, antwortete sie mit Nachdruck. »Bis gleich also.« Sie verließ das Zimmer, nicht ohne sich vorher aufmerksam umgesehen zu haben, und eilte den Gang hinunter zum Kaffeeautomaten.
In diesem Augenblick fing David Denekamp an zu stöhnen. Adrian beugte sich sofort über ihn, weil er hoffte, der Patient werde aufwachen, doch es war nicht so. Er bewegte nur unruhig den Kopf hin und her, als habe er einen bösen Traum.
»Ganz ruhig«, murmelte Adrian. »Sie haben die Operation gut überstanden, Herr Denekamp, Sie werden wieder gesund – und diese verrückte Geschichte, die ich eben gehört habe, wird sicher auch gut ausgehen. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, und dann sah er einen Mann hereinkommen, der ihm bekannt vorkam. In der nächsten Sekunde begriff er, daß es der Mann war, den Schwester Walli ihm beschrieben hatte, als sie auf der Suche nach dem Begleiter ihres Patienten gewesen war. Schlank, blond, mit Tätowierungen auf den Armen und Ringen in Mund und Nase. Außerdem trug er einen Rucksack. Adrian hätte nicht sagen können, warum er auf einmal ganz sicher war, daß dieser Mann David Denekamp nach dem Leben trachtete. Ihm schoß jedenfalls der Gedanke durch den Kopf, daß jemand, der einen Freund in die Notaufnahme begleitete, auf der Intensivstation nichts zu suchen hatte – und er griff bereits nach dem Alarmknopf, bevor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte.
»Aber nicht doch, Herr Doktor«, sagte der Mann freundlich und richtete eine Waffe direkt auf Adrians Herz. »Heben Sie die Arme über den Kopf, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, und bewegen Sie sich ganz langsam zu mir herüber. Ganz langsam, hören Sie? Und wehe Ihnen, Sie geben dabei auch nur einen Mucks von sich. Dann liegen hier im nächsten Augenblick nämlich zwei Tote, darauf können Sie sich verlassen.«
*
Maja hatte den Becher Kaffee gierig hinuntergestürzt, sich danach ausgiebig gedehnt und gestreckt, und jetzt fühlte sie sich tatsächlich besser. Gern wäre sie noch ein wenig hin und her gelaufen, aber sie wollte ihren Schützling nicht länger mit Dr. Winter alleinlassen – das Gefühl einer drohenden Gefahr, das sie schon die ganze Nacht über verfolgte, hatte sich in der letzten Stunde noch verstärkt.
Sie lief also zurück und wußte bereits, bevor sie das Zimmer erreicht hatte, daß etwas passiert sein mußte. Etwas war anders als zuvor, auch wenn sie nicht hätte sagen können, was es war.
Sie blieb stehen und lauschte, doch es war nichts zu hören. Vorsichtig ging sie noch einen Schritt weiter, und da sah sie den blonden Mann mit der Waffe in der Hand auch schon, die er an Dr. Winters Schläfe gedrückt hielt.
Sie hielt den Atem an, während sich ihre Gedanken überschlugen. Wie war es dem Mann gelungen, hier hereinzukommen? War er allein, oder hatte er einen Komplicen bei sich? Wo waren die Zivilpolizisten? Hatten sie überhaupt schon bemerkt, daß dieser Mann hier eingedrungen war?
Energisch drängte sie die Fragen beiseite – all das spielte jetzt keine Rolle, sie mußte handeln, und zwar sehr schnell. Es blieb ihr keine Zeit, lange Überlegungen anzustellen. Wenn sie eingreifen wollte, dann mußte sie es sofort tun. Sie versuchte zu sehen, ob David Denekamp noch am Leben war, doch die beiden Männer versperrten ihr die Sicht.
Es war klar, was der Verbrecher vorhatte: Er würde David Denekamp töten, wenn er es nicht bereits getan hatte – und dann würde er mit Dr. Winter als Geisel das Gebäude verlassen. Wenn der Arzt Glück hatte, würde er ihn unterwegs freilassen. Aber darauf konnte man sich nicht verlassen. Ebensogut war es denkbar, daß er auch seine Geisel töten würde. Soweit durfte sie es nicht kommen lassen!
Auf dem Gang herrschte absolute Ruhe, der Verbrecher hatte sich einen günstigen Zeitpunkt für seinen Überfall ausgesucht. Sie mußte ihn überraschen, für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit ablenken, so daß sie die Möglichkeit hatte, ihn zu überrumpeln. Aber was sollte sie tun?
Fieberhaft ging sie in Gedanken alle Möglichkeiten durch, die ihr blieben. Viele waren es nicht, und sie entschied sich rasch für diejenige, die ihr die beste zu sein schien. Ob sie es wirklich war, würde sich allerdings erst erweisen, wenn alles vorüber war.
*
David wachte von einer Stimme auf, die er kannte und von der er gehofft hatte, sie nie wieder im Leben hören zu müssen. Im selben Augenblick wußte er, daß die Männer zurückgekommen waren, die ihn überfallen hatten. Sie waren wieder da, und sie würden ihn umbringen. Diesmal würden sie es schaffen, denn er konnte ja nicht einmal fliehen. Er konnte nur liegenbleiben und sich wehrlos abknallen lassen.
Er lag stocksteif da und rührte sich nicht. Die Augen hielt er geschlossen, als könne das ein Schutz sein. Einer der Männer sagte: »Ganz ruhig, Doc, hören Sie. Sie können sowieso nichts tun, also versuchen Sie’s am besten erst gar nicht. Ich drücke sofort ab, wenn Sie etwas tun, was mir nicht gefällt.«
»Schon klar«, kam eine gepreßt klingende Antwort.
Doc? War auch noch ein Arzt hier? Offensichtlich. Und diesen Arzt hatten die Männer – oder war es nur einer? – in ihrer Gewalt. Wenn ihm nur das Denken nicht so schwergefallen wäre! Er hob unmerklich den Kopf und öffnete die Lider gerade so weit, daß er ein wenig sehen konnte.
Es war nur ein Mann! Fast zum Greifen nah stand dort der große Dünne, der ihn zusammengeschlagen hatte.
David erkannte den Mann sofort, obwohl er jetzt blonde Haare hatte. Er umklammerte einen Arzt, dem er eine Waffe an den Kopf hielt.
David hätte fast geschrien vor Angst und Entsetzen. Was sollte er nur tun? Er konnte doch nicht einfach hier liegenbleiben und abwarten, bis ihn dieser Mann erschoß!
Noch während er das dachte, wirbelte plötzlich jemand lautlos in den Raum, schlug dem Mann mit einem einzigen Schlag die Waffe aus der Hand und richtete eine andere auf ihn. David riß die Augen auf. Es war die rothaarige Krankenschwester mit der harten Stimme. »Ganz ruhig!« sagte sie. »Und schön die Hände über den Kopf, mein Freund.«
Ich werde verrückt, dachte David, denn ihre Stimme war gar nicht hart, sondern sie klang genauso weich wie in seinen Träumen. Ich werde verrückt, oder ich träume.
Aber ein Traum konnte es nicht sein, denn der Arzt, der so unerwartet befreit worden war, wirkte jetzt ausgesprochen lebendig. Er sprang mit einem Satz auf Davids Bett zu und drückte auf den Alarmknopf, den er nicht mehr losließ, bis schließlich von allen Seiten Menschen in das Zimmer strömten. Offenbar waren auch Polizisten darunter, denn der blonde Mann wurde gleich darauf abgeführt.
David schloß die Augen ganz fest. Sein Herz schlug schmerzhaft, und er wollte nichts mehr sehen und hören. Vor allem wollte er nicht, daß sie jetzt anfingen, ihm Fragen zu stellen.
*
Mitten in der Nacht wurde eine Krisensitzung im Büro von Verwaltungsdirektor Thomas Laufenberg abgehalten, der in aller Eile in die Kurfürsten-Klinik gekommen war, nachdem er gehört hatte, was passiert war. An der Sitzung nahmen außer dem Direktor selbst Kriminalhauptkommissar Oever und einige seiner Beamten teil sowie Maja Asanova, die noch immer als Branka Dovic auftrat, und Dr. Winter.
Letzteren hatte man in aller Eile über das informiert, was er noch nicht wußte. Er verzichtete darauf, sich darüber zu beschweren, daß das nicht schon zuvor geschehen war. Er erinnerte sich daran, daß er das Gespräch mit Thomas Laufenberg selbst abgebrochen hatte. Außerdem war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um persönliche Differenzen auszutragen.
Zuerst wurde natürlich analysiert, wie es dem Mann überhaupt hatte gelingen können, in die Intensivstation zu gelangen. Es ergab sich, daß eine Reihe von unglücklichen Zufällen dazu geführt hatte. Außerdem war es natürlich außerordentlich geschickt gewesen, sich als begleitender Freund eines Verletzten Zugang zum Krankenhaus zu verschaffen. Die Polizei hatte ihr Augenmerk bevorzugt auf Besucher gerichtet, was sich im Nachhinein als Fehler herausgestellt hatte.
Jedenfalls war es dem Mann, nachdem er einmal in der Klinik gewesen war, relativ leichtgefallen, sich unbemerkt durchzuschmuggeln. Das war eine böse Panne, die polizeiintern sicher noch einige Diskussionen nach sich ziehen würde.
Aber auch Maja machte sich Vorwürfe, daß sie sich gerade im entscheidenden Augenblick einen Kaffee geholt hatte, obwohl das unsinnig war, denn sie war zwischendurch auch gelegentlich auf der Toilette gewesen, das war schließlich nicht zu vermeiden. Niemand konnte stundenlang an einem Platz bleiben, ohne sich zu rühren.
»Ich bin davon überzeugt«, erklärte Maja, als sie diese Punkte durchgesprochen hatten, »daß der Mann, der verhaftet worden ist, lediglich ein Auftragskiller ist. Dahinter stecken andere. David Denekamp weiß etwas oder hat etwas, das für irgendwen von großer Wichtigkeit ist.«
»Das glaube ich auch«, stimmte Adrian zu. »Der Mann ist in das Zimmer gekommen, und er hätte unseren Patienten sofort abknallen können, ohne daß ich auch nur die geringste Chance gehabt hätte einzugreifen. Das hat er aber nicht getan. Er hat mir die Waffe an den Kopf gehalten und mich gezwungen, die Sachen von Herrn Denekamp zu durchsuchen. Aber bevor ich etwas gefunden habe, hat ja zum Glück Schwester Branka eingegriffen.«
»Was könnte der Mann gesucht haben?« fragte Kriminalhauptkommissar Oever. »Und in wessen Auftrag?«
»Ich habe eine Theorie«, sagte Maja langsam. »Zwar fehlt mir noch die Erklärung, was hinter dem Ganzen steckt, aber ich habe einen sehr konkreten Verdacht.«
»Und welchen?« fragte Thomas Laufenberg, während sich die Augen aller Anwesenden aufmerksam auf die pummelige, rothaarige junge Frau richteten.
Sie begann sehr konzentriert zu sprechen. Alles, was sie sagte, hatte Hand und Fuß, und in dem Büro war es sehr still, als sie schließlich schwieg.
»Aber müssen wir nicht mehr in der Hand haben als einen Verdacht, wenn wir uns mit so mächtigen Leuten anlegen?« fragte einer der jüngeren Kriminalbeamten.
»Das ist eben das Problem«, meinte Maja. »David Denekamp muß uns endlich sagen, was er bei Borgmann-Chemie gesucht und offenbar auch gefunden hat.«
»Oder der Mann, den wir festgenommen haben, fängt an zu reden.«
»Das wird er nicht tun, fürchte ich. Deshalb schlage ich vor, daß ich noch einmal mit Herrn Denekamp spreche. Vielleicht kann ich sein Vertrauen gewinnen.«
»Versuchen Sie es«, sagte der Kriminalhauptkommissar. »Wir knöpfen uns auf jeden Fall unseren Mann in der Zwischenzeit vor. Ich fürchte, wir müssen sehr schnell zu einem Ergebnis kommen.«
»Das sehe ich genauso«, sagte Maja und erhob sich. Sie nickte den anwesenden Herren noch einmal zu und verließ das Zimmer.
*
»Sag mal, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte Bernd Schäfer, als Adrian Winter endlich in die Notaufnahme zurückkehrte. »Hier war ziemlich viel los, und du verschwindest einfach auf der Intensivstation, wo du noch nicht einmal erreichbar bist, obwohl ich dich mehrmals angepiept habe.«
»Hast du etwa noch nicht gehört, was passiert ist?« fragte Adrian erstaunt zurück. »Ich dachte, das hätte sich längst bis in den letzten Winkel dieses Krankenhauses herumgesprochen.«
»Wir hatten keine Zeit für Gespräche hier, wir hatten jede Menge Arbeit, wie ich eben schon sagte«, erwiderte Bernd anzüglich.
Schwester Walli kam aufgeregt auf Adrian zu. »Hat Bernd dir schon erzählt, daß mein Patient verschwunden ist?« rief sie. »Der mit dem verstauchten Fuß, stell dir das mal vor, Adrian! Nach dem Röntgen war er plötzlich weg, dabei konnte er doch kaum laufen! Einfach abgehauen ist er. Also, so etwas ist mir noch nie passiert.«
»Ihr seid ja wirklich völlig ahnungslos«, stellte Adrian fest. »Die beiden waren Gangster und haben sich auf diese geschickte Art hier eingeschlichen. Sie haben den verstauchten Fuß nur als Vorwand genommen, ziemlich schlau, muß ich zugeben. Der andere hatte in dem Rucksack seine Waffe versteckt, mit der er Herrn Denekamp umbringen wollte. Mich hatte er schon als Geisel genommen.«
»Haha«, sagte Bernd mit müdem Lächeln. »Deine Scherze waren auch schon mal besser, Adrian. Wenn das eine Entschuldigung dafür sein soll, daß du so lange weggeblieben bist, dann finde ich sie ziemlich mager. Denk dir das nächste Mal bitte eine bessere Geschichte aus.«
Adrian wollte sich gerade verteidigen, als die Türen der Notaufnahme aufflogen und zwei Schwerverletzte hereingebracht wurden.
Für weitere Erklärungen blieb also keine Zeit, sie mußten auf später vertagt werden.
*
»Da sind Sie ja wieder«, sagte David leise, als sich die rothaarige Schwester Branka erneut neben sein Bett setzte. »Ich habe Sie schon vermißt. Schließlich muß ich mich bei Ihnen ja noch dafür bedanken, daß Sie mir das Leben gerettet haben.«
»Hab’ ich gern getan«, sagte Maja.
»Ihre Stimme!« hauchte David verwirrt. »Sind Sie sicher, daß das Ihre richtige Stimme ist, mit der Sie jetzt sprechen?«
Nein, dachte Maja, das ist sie nicht, aber noch ist es zu früh, um dir das zu verraten.
»Was Sie nur immer mit meiner Stimme haben«, erwiderte sie ausweichend.
»Sie sind doch keine Krankenschwester, oder?«
»Nein«, gab sie zu. »Und deshalb möchte ich, daß Sie mir erzählen, was Sie bei Borgmann-Chemie gesucht haben.«
Seine Augen wurden groß. »Das wissen Sie?« fragte er.
»Ich weiß ziemlich viel«, erklärte sie. »Und ich möchte Ihnen gern helfen. Aber das kann ich nur, wenn Sie mir die Wahrheit sagen.«
»Woher soll ich wissen, daß ich Ihnen trauen kann?« fragte er.
Sie lächelte. »Verlassen Sie sich einfach auf Ihren Instinkt«, riet sie.
Er ließ sie nicht aus den Augen. »Das kann ich nicht«, meinte er endlich. »Mein Instinkt sagt mir, daß mit Ihnen etwas nicht stimmt. Etwas ist nicht richtig an Ihnen – und es ist nicht nur die Stimme, die mal weich ist und mal hart. Am Anfang dachte ich, es seien die Nachwirkungen der Operation – daß ich zwischen Traum und Wirklichkeit noch nicht wieder unterscheiden kann. Aber es ist etwas anderes.«
»Ihr Instinkt ist in Ordnung«, sagte sie anerkennend. »Ich sehe normalerweise anders aus, und ich spreche auch anders.« Unversehens sprach sie mit ihrer normalen Stimme. »Hören Sie das? Das ist meine Stimme. Und ich habe einmal, als Sie sehr unruhig waren, so mit Ihnen gesprochen, um Sie zu beruhigen. Aber ich selbst bin auch in Gefahr, und deshalb habe ich mir diese Tarnung zugelegt. Ich kann Ihnen jetzt nicht alles verraten, was ich weiß, Herr Denekamp. Ich kann Sie nur bitten, mir zu vertrauen. Verstehen Sie das? Ich bin auf Ihrer Seite.«
»Sie haben eine wunderschöne Stimme«, sagte er leise. »Und wie sehen Sie aus, wenn Sie Sie selbst sind?«
»Sobald dieser Fall abgeschlossen ist, werden Sie es sehen«, versprach sie.
»Ich wette, Sie sind eine Schönheit«, murmelte er. »Kann ich jetzt schlafen? Ich bin todmüde.«
»Nein, erst müssen Sie mir die Wahrheit sagen!« verlangte sie. »Wir müssen handeln, Herr Denekamp. Diese Verbrecher dürfen keine Zeit haben, sich einen neuen Schlag auszudenken. Oder vielleicht zu flüchten.«
»Also schön«, sagte er. »Irgend etwas haben Sie an sich, das unwiderstehlich ist. Holen Sie meine Jacke, und suchen Sie nach dem Geheimfach im Innenfutter. Dort finden Sie die Erklärungen, die Sie suchen.«
*
Adrian verließ müde die Notfallkabine, in der er seinen letzten Patienten für diese Nacht behandelt hatte.
Er hatte keinen anderen Wunsch mehr, als möglichst bald zu schlafen. So interessant es auch gewesen wäre zu wissen, was die Polizei zur Stunde wohl anstellte – er würde sich erst dann wieder damit beschäftigen, wenn er ausgeruht und sein Kopf klar war.
Bernd Schäfer kam mit verlegenem Lächeln auf ihn zu. »Das war ja gar keine Ausrede von dir, Adrian«, begann er. »Warum hast du das denn nicht gesagt?«
»Hab’ ich doch, aber du hast mir nicht geglaubt, schon vergessen?«
»Na ja«, meinte Bernd, noch immer sichtlich verlegen, »wenn du es mit dem entsprechenden Nachdruck wiederholt hättest…«
»Wozu?« Adrian lächelte vergnügt und vergaß für einen Augenblick sogar seine Müdigkeit. »Die Wahrheit hat sich doch ohne Anstrengung meinerseits inzwischen bis zu dir herumgesprochen. Mehr kann man nicht verlangen.«
Auch Oberschwester Walli kam jetzt und stellte sich zu den beiden Ärzten. »Du bist vielleicht einer, Adrian!« sagte sie. »Uns so auflaufen zu lassen!«
»Ach, jetzt ist das alles auch noch meine Schuld? Ich habe sofort die Wahrheit gesagt, erinnert euch bitte daran.«
»Aber du mußt zugeben, daß es ziemlich unwahrscheinlich klang, was du uns erzählt hast.«
»Mag ja sein. Die Wahrheit ist eben manchmal unwahrscheinlich. Aber ihr hättet mir trotzdem glauben sollen, schließlich kennen wir uns lange genug, so daß ich ein gewisses Grundvertrauen eigentlich voraussetzen kann.«
Schwester Walli und der rundliche Assistenzarzt wechselten einen amüsierten Blick. »Grundvertrauen klingt gut«, meinte Bernd. »Das muß ich mir unbedingt merken.«
»Gute Nacht – oder vielmehr guten Morgen!« Adrian konnte ein Gähnen nicht länger unterdrücken. »Ich gehe nach Hause und schlafe erst einmal. Irgendwie sitzt mir der Schock von dieser Pistole an meiner Schläfe doch noch ein bißchen in den Knochen.«
»Du hättest eigentlich gar nicht mehr arbeiten sollen danach«, sagte Schwester Walli vorwurfsvoll.
Adrian widersprach ihr: »Doch! Für mich war das die beste Therapie. Ich hätte zu dem Zeitpunkt gar nicht nach Hause gehen und schlafen können. Jetzt habe ich schon etwas Abstand, das ist besser. Also, bis morgen. Ach, übrigens: Woher habt ihr denn nun auf einmal gehört, daß ich die Wahrheit gesagt habe?«
»Wie du vorhin schon vermutet hattest: Die Geschichte hat sich jetzt bis in den letzten Winkel des Krankenhauses herumgesprochen. Nur die Notaufnahme scheint für eine Weile eine kleine Insel der Unwissenden geblieben zu sein, aber das ist jetzt auch Vergangenheit: Alle wissen Bescheid.«
»Tschüß!« sagte Adrian, und diesmal ging er wirklich.
*
Stefanie Wagner fühlte eine merkwürdige Unruhe, die sie noch früher als sonst aus dem Bett trieb. Sie war ohnehin immer als eine der ersten im Hotel – ihren Chef Andreas Wingensiefen hatte sie um diese Uhrzeit noch nie an seinem Schreibtisch gesehen.
Aber ihr war das gleichgültig, sie folgte ihrem eigenen Rhythmus, und bislang war sie damit sehr gut gefahren.
An diesem Morgen also kam sie noch früher als sonst im Hotel an. Sie hätte gern nach Frau Dovic gefragt, aber als sie sah, daß es wiederum Herr Gerlach war, der Dienst an der Rezeption hatte, unterließ sie das. Kein Aufsehen erregen, das hatte sie sich schließlich eingeschärft.
Sie wollte schon nach einem freundlichen, aber knappen Gruß im Fahrstuhl verschwinden, als sie Herrn Gerlach sagen hörte: »Wer kann das denn sein? Erwarten wir Prominente?« Sie blieb stehen und drehte sich um. Vor dem gläsernen Portal hielt eine große schwarze Limousine, und sie stellte sich verwirrt die gleiche Frage wie der Mann an der Rezeption. Im nächsten Augenblick aber sah sie Maja Asanova als Branka Dovic dem Wagen entsteigen und auf den Eingang zueilen.
Sie wartete. Die junge Frau verlangte an der Rezeption ein wenig atemlos ihren Schlüssel, dann kam sie auf Stefanie zu.
»Guten Morgen, Frau Dovic!« sagte diese laut. »Schön, daß ich Sie endlich treffe. Ich wollte Sie nämlich schon längst etwas fragen.«
Maja Asanova machte ein erstauntes Gesicht, und gleich darauf betraten sie den Aufzug, wo Stefanie ihr erklärte, warum sie so betont laut gesprochen hatte.
»Ich sagte es ja schon: Sie wären eine gute Agentin«, lächelte Maja. »Sogar akzeptable Notlügen erfinden Sie in Windeseile. Wollen Sie mich auf mein Zimmer begleiten? Ich muß mich sehr schnell in Maja Asanova verwandeln – und dann werden wir den großen Fisch fangen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was sich heute nacht in der Klinik abgespielt hat, Frau Wagner!«
Sie hatten das Stockwerk erreicht, auf dem Majas Zimmer lag, das sie wenige Augenblicke später betraten.
»Was hat sich abgespielt?« fragte Stefanie. »Bitte erzählen Sie es mir – oder ist das immer noch alles geheim?«
»Geheim ist nur die Auflösung. Aber daß sich ein Mörder in die Klinik eingeschlichen und fast einen Patienten und einen Arzt umgebracht hätte – das können Sie sowieso in den Frühnachrichten hören. Das ganze Krankenhaus weiß es, daran ist also nichts Geheimes.«
»Umgebracht? Einen Patienten und einen Arzt?« fragte Stefanie, während ihr Herz einen ängstlichen Satz machte. »Ein Mörder in der Klinik? Entschuldigen Sie, Frau Asanova, aber ich verstehe nicht…«
Maja erklärte ihr in wenigen Sätzen durch die geöffnete Badezimmertür das Nötigste, während sie ihre Perücke abnahm, ihr wattierte Unterwäsche auszog, die Kontaktlinsen entfernte und sich in aller Eile etwas zurechtmachte.
»Aber das war doch eine ganz gefährliche Sache!« rief Stefanie entsetzt, als sie ihren Bericht
beendet hatte. »Das hatten Sie mir nicht gesagt, daß Sie sich auf eine solche Geschichte einlassen!«
»Das konnte ich auch nicht, ich habe Ihnen ohnehin schon viel zuviel erzählt«, sagte Maja und verließ das Bad.
Sie sah so atemberaubend aus, daß Stefanie voller Bewunderung erklärte: »Umwerfend, Frau Asanova, wirklich.«
»Danke, sehr liebenswürdig«, erwiderte Maja. »Als Kind wollte ich immer so aussehen wie Sie, wissen Sie das? Blonde Locken und diese Augenfarbe, also, das wäre mein absoluter Traum gewesen.«
»Man will wohl immer das haben oder sein, was man gerade nicht hat oder ist«, stellte Stefanie weise fest. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß Ihnen nichts passiert ist.«
»Das habe ich zum Teil diesem wirklich sehr reaktionsschnellen Dr. Winter zu verdanken«, meinte Maja. »Wenn er nicht sofort auf den Alarmknopf gedrückt und das halbe Krankenhaus aufgescheucht hätte, dann…«
»Dr. Winter?« fragte Stefanie, und unwillkürlich zitterte ihre Stimme. »Haben Sie gerade Dr. Winter gesagt?«
»Ja. Dr. Adrian Winter, Chef der Notaufnahme. Er war der Arzt, der eine Pistole an der Schläfe hatte, als ich zu dem Patienten zurückkehrte.« Sie unterbrach sich und fragte aufmerksam: »Sie kennen ihn?«
»Ja«, antwortete Stefanie. Sie war blaß geworden. »Es ist ihm wirklich nichts passiert?«
»Wirklich nicht. Nun ja, einen ordentlichen Schrecken wird er wohl bekommen haben, aber bei unserer anschließenden Sitzung wirkte er eigentlich ganz gefaßt, das muß ich schon sagen.«
Sie unterbrach sich erneut und sah Stefanie nachdenklich an. »Sie mögen ihn also«, stellte sie fest. »Sie mögen ihn sogar sehr.«
Stefanie nickte. Antworten konnte sie nicht, denn die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
»Weiß er das?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann sorgen Sie dafür, daß er es erfährt, wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf. Er wird Ihnen garantiert nicht widerstehen können, Frau Wagner.« Maja umarmte die andere rasch und liebevoll. »Ich muß dringend weg!«
Die beiden verließen Majas Zimmer wieder, dann trennten sich ihre Wege. Während Stefanie sich auf den Weg zu ihrem Büro machte, bestieg Maja, der die Angestellten an der Rezeption mit fassungslosen Gesichtern nachsahen, die elegante Limousine, die vor dem Haus auf sie wartete.
Kriminalhauptkommissar Oever stieß einen Pfiff aus, als er sie sah. »Sind Sie sicher, daß Sie’s sind?«
Maja lachte und sagte mit harter Stimme: »Ja, ich bin sicher.« Mit ihrer eigenen fügte sie dann hinzu: »Ganz sicher, Herr Kriminalhauptkommissar. Von mir aus kann’s losgehen.«
Der Fahrer bekam ein Zeichen, dann setzte sich die Limousine in Bewegung.
*
Adrian hatte eine Kleinigkeit gegessen und war auf dem Weg ins Bett, als das Telefon klingelte. Ungläubig sah er auf die Uhr und murmelte: »Das darf doch nicht wahr sein. Die werden doch jetzt nicht auf die Idee kommen, mich zurück in die Klinik zu beordern!« Er meldete sich betont mürrisch, um gleich zu erkennen zu geben, was er von einem Anruf zu dieser frühen Stunden hielt.
»Herr Winter?« fragte eine zaghafte Frauenstimme, die dafür sorgte, daß er im selben Augenblick hellwach war.
»Frau Wagner!« rief er. »Sind Sie das wirklich?«
»Ja, ich habe gehört, was in der Klinik passiert ist, und ich mußte Sie einfach anrufen. Sagen Sie mir nur, ob es Ihnen auch wirklich gutgeht, dann lege ich gleich wieder auf, und Sie können ins Bett gehen.«
Nichts wollte Adrian jetzt weniger als das. »Mir geht es gut, aber deshalb müssen Sie nicht sofort wieder auflegen. Wir haben uns lange nicht gesprochen, da müssen wir doch diese Gelegenheit unbedingt nutzen.«
Sie lachte, es klang ein wenig nervös, fand er. »Eigentlich kann man ja um diese frühe Uhrzeit niemanden anrufen, es ist sehr unhöflich von mir«, erklärte sie. »Aber als ich hörte, daß Ihnen jemand eine Pistole an die Schläfe gedrückt hat, da habe ich es doch mit der Angst zu tun bekommen.«
Er schwebte plötzlich im siebten Himmel. Sie hatte sich tatsächlich Sorgen um ihn gemacht! Stefanie Wagner, die Frau mit den veilchenblauen Augen, die er so hinreißend fand, daß er am liebsten… am liebsten… Er konnte den Gedanken nicht zu Ende bringen, denn sie sagte etwas.
»Wie bitte?« fragte er. »Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden.«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust haben, heute abend hier im Hotel ein Glas Champagner mit mir zu trinken – ich lade Sie ein.«
»Geht nicht, ich habe Nachtdienst«, sagte er betrübt. »Aber wie wäre es mit morgen? Da habe ich nämlich frei.«
»Abgemacht!« sagte sie schnell, als habe sie Angst, er könne es sich noch anders überlegen.
»Aber jetzt verraten Sie mir endlich, woher Sie überhaupt wissen, was hier passiert ist!« bat er.
»Von der Dame, die dieses Abenteuer mit Ihnen zusammen durchgestanden hat«, antwortete sie. »Sie wohnt nämlich hier, und zufällig habe ich ein bißchen über die Geschichte erfahren. Aber darüber können wir morgen sprechen. Schlafen Sie jetzt, Sie müssen doch völlig erschöpft sein. Bis morgen also!«
»Bis morgen«, sagte er und wartete, bis sie aufgelegt hatte.
Jetzt kann ich bestimmt nicht einschlafen, dachte er, als er sich hinlegte, aber er täuschte sich. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen war er bereits wenige Minuten später fest eingeschlafen.
*
»Die Polizei?« fragte Dr. Meckenheim, der Manager der Borgmann-Chemie, seine Sekretärin stirnrunzelnd. Er fuhr sich mit der Hand durch sein silbergraues Haar, für einen kurzen Moment nur flackerte Unsicherheit in seinen klugen Augen auf. »Was will denn die Polizei von mir?«
»Ich weiß es nicht ich…« Weiter kam die junge Frau nicht, denn sie wurde sanft, aber energisch beiseitegeschoben.
»Das würden wir Ihnen gern selbst erklären, Herr Dr. Meckenheim«, sagte Kriminalhauptkommissar Oever verbindlich. »Meine Kollegin Frau Asanova und ich. Mein Name ist Oever, ich bin Kriminalhauptkommissar.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch hatte sich wieder vollkommen in der Gewalt. Er erhob sich höflich und sagte, während er zu einer kleinen Sitzgruppe ging: »Dann nehmen Sie bitte hier Platz. Möchten Sie Kaffee oder Tee? Ein Wasser?«
»Danke, für mich nichts«, sagte Maja und lehnte sich entspannt zurück.
Sie ließ Dr. Meckenheim nicht eine einzige Sekunde aus den Augen. Bisher hatte er durch nichts zu erkennen gegeben, daß sie sich schon einmal begegnet waren.
»Für mich auch nichts, vielen Dank.«
Der Manager gab seiner Sekretärin ein Zeichen, und sie zog sich lautlos zurück. »Also?« fragte er freundlich. »Was kann ich für Sie tun?«
Der Kriminalhauptkommissar zog ein Blatt Papier aus seiner Tasche und reichte es ihm. »War es das, was Ihr Killerkommando gesucht hat, als es Herrn Denekamp überfiel und um ein Haar umgebracht hätte?«
Dr. Meckenheim warf nur einen flüchtigen Blick auf das Blatt und legte es dann vor sich auf den Tisch. Er machte ein amüsiertes Gesicht. »Killerkommando? Ich nehme doch an, das soll ein Scherz sein.«
»Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt, Herr Dr. Meckenheim. Kennen Sie meine Kollegin, Frau Asanova?«
»Bisher nicht«, antwortete der Manager. »Meine Erfahrungen mit der Polizei beschränken sich auf gelegentliche Strafzettel, die mein Fahrer manchmal bekommt, wenn wir es besonders eilig haben.«
Maja und Kriminalhauptkommissar Oever wechselten einen schnellen Blick, dann zog Maja ein kleines Tonbandgerät aus der Tasche und stellte es vor sich auf den Tisch. Im nächsten Augenblick erklang die Stimme von Dr. Meckenheim, die mit verächtlichem Unterton sagte: »Mein Vertrauen in die Polizei ist nicht sehr ausgeprägt, Frau Asanova. Außerdem kann ich nicht monatelang warten, bis endlich ein positives Ergebnis vorliegt. Der Mann muß sofort gefunden und daran gehindert werden, seinem schmutzigen Geschäft nachzugehen.«
Der Manager war blaß geworden. »Ich möchte meinen Anwalt sprechen«, sagte er mühsam beherrscht.
»Aber zuerst folgen Sie uns bitte«, erwiderte der Kriminalbeamte liebenswürdig. Er drückte eine Taste des Funkgerätes, das er bei sich trug, und gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und mehrere Beamte kamen herein. Dr. Meckenheim wurde vor den fassungslosen Augen seiner Sekretärin festgenommen und abgeführt.
Auf dem Weg nach draußen gähnte Maja verhalten.
Kriminalhauptkommissar Oever lachte. »Schlafen Sie sich erst einmal aus, Frau Asanova. Sie haben es redlich verdient. Wir fahren Sie zurück ins Hotel. Kommen Sie.«
»Danke«, murmelte Maja und stieg in den Wagen. Die Limousine hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als ihr Kopf auch schon an die Schulter des Kriminalbeamten sank und ihre tiefen Atemzüge verrieten, daß sie bereits eingeschlafen war.
Der Hauptkommissar lächelte in sich hinein. Er hatte nichts gegen eine Autofahrt einzuwenden, bei der eine schöne junge Frau sich vertrauensvoll an ihn lehnte.
*
Als Adrian am späten Nachmittag aufwachte, wußte er zunächst nicht, wo er war. Er hatte so tief geschlafen, daß er Mühe hatte, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Er ließ sich die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durch den Kopf gehen. Es war unglaublich viel passiert, und er fragte sich, ob die Polizei den Fall in der Zwischenzeit wohl gelöst hatte.
Und dann fiel ihm auch wieder ein, warum er so glücklich eingeschlafen war: Stefanie Wagner hatte ihn angerufen, weil sie in Sorge um ihn gewesen war. Etwas Schöneres hätte ihm wirklich nicht passieren können. Und nach dem heutigen Nachtdienst hatte er ein paar Tage frei – er würde sich mit ihr treffen und sie vielleicht endlich fragen, was es mit diesem Mann auf sich hatte, mit dem er sie einmal zusammen gesehen und der sich so besitzergreifend ihr gegenüber verhalten hatte. Denn dieser Mann war schließlich der Grund dafür, daß er ihr gegenüber bisher auf Distanz geblieben war…
Nun sprang er endlich mit einem Satz aus dem Bett, schließlich mußte er noch ziemlich viel erledigen, bevor er seinen Dienst in der Klinik antrat. Zuallererst war er es Frau Senftleben schuldig, sie über die letzten Entwicklungen zu informieren. Während er unter der Dusche stand, fragte er sich, ob sie vielleicht daran gedacht hatte, mit ihm zusammen eine kleine Mahlzeit einzunehmen, bevor er das Haus verließ. Manchmal, wenn er Nachtdienst hatte, überraschte sie ihn mit solchen Einfällen.
Als er wenig später frisch geduscht und rasiert vorsichtig seine Wohnungstür öffnete, um nach einer eventuellen Nachricht seiner Nachbarin Ausschau zu halten, erspähte er sofort den Zettel, den sie ihm geschrieben und sorgfältig auf der Fußmatte vor seiner Wohnung deponiert hatte: »Bitte nach dem Aufwachen umgehend bei mir melden!«
Er lachte zufrieden, griff nach seinem Schlüssel und tat, wozu sie ihn aufgefordert hatte.
*
Es war bereits Abend, als es an Stefanies Bürotür klopfte und sie rief: »Herein!« Um diese Zeit war ihre Sekretärin längst zu Hause.
»Sie arbeiten wohl rund um die Uhr?« erkundigte sich Maja. Sie sah blendend aus, schließlich hatte sie fast den ganzen Tag verschlafen.
»Heute bin ich eigentlich eher geblieben, weil ich hoffte, Sie noch zu sehen. Es ist also alles gutgegangen?«
»Ja, ist es«, antwortete Maja. Sie erzählte Stefanie in wenigen Worten, was diese bisher nicht wußte.
»Das wäre nichts für mich«, meinte Stefanie nachdenklich, als die andere geendet hatte. »Ich habe auch gern ein wenig Streß und Aufregung – aber was Sie machen, wäre mir einfach zuviel, Frau Asanova.«
»Jede nach ihren Fähigkeiten«, lächelte die schöne Russin.
»Ich habe übrigens Dr. Winter angerufen«, gestand Stefanie. »Ich weiß gar nicht, woher ich den Mut genommen habe, aber ich habe ihn gleich direkt nach unserem Gespräch angerufen und gefragt, ob es ihm auch wirklich gutgeht. Und dann habe ich ihn auf ein Glas Champagner eingeladen.«
»Und?« fragte Maja gespannt. »Wie hat er reagiert?«
»Wir treffen uns morgen.« Stefanie konnte nicht verhindern, daß ihre Augen strahlten. »Sagen Sie, Frau Asanova, sind Sie eigentlich verheiratet?«
Maja schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich wäre es gern«, gestand sie freimütig, »wenn der Richtige käme.« Sie brach ab, und ihr Gesicht nahm einen versonnenen Ausdruck an. »Das heißt, vielleicht…«
»Ja?« fragte Stefanie, als sie nicht weitersprach. »Was wollten Sie sagen?«
»Vielleicht habe ich ihn auch schon getroffen«, meinte Maja leise, »allerdings weiß er noch nichts davon.«
Stefanie lachte. »Sie werden es ihm schon klarmachen, Frau Asanova. Wenn er der Richtige ist, dann hat er sicher keine Chance, Ihnen zu entkommen.«
Maja machte ein erstauntes Gesicht, dann stimmte sie in Stefanies Lachen ein.
*
»Na, Herr Denekamp? Haben Sie alles gut überstanden?« fragte Adrian Winter, als er sich vor Beginn seines letzten Nachtdienstes für diese Woche bei dem jungen Mann auf der Intensivstation blicken ließ.
»Ein paar Kreislaufprobleme, sonst ist alles in Ordnung«, antwortete der Patient. »Aber ich habe große Angst gehabt, das muß ich sagen. Als ich die Stimme des Mannes hörte, dachte ich, jetzt bin ich verloren. Ich bin Ihnen und der Schwester zu großem Dank verpflichtet.«
»Schwester Branka war großartig, nicht wahr?« Adrian lächelte amüsiert. »Wie sie dem Mann den Revolver aus der Hand geschlagen hat – also, das war schon erste Klasse.«
»Sie waren aber auch nicht schlecht mit Ihrem Hechtsprung zum Alarmknopf«, meinte David Denekamp. »Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Meinen Sie, Schwester Branka kommt mich noch einmal besuchen? Ich weiß ja, daß sie gar nicht Schwester Branka heißt, aber ihren richtigen Namen hat sie mir noch nicht verraten. Und wie sie in Wirklichkeit aussieht, möchte ich auch gern wissen.«
»Und ich möchte gern wissen, welche Rolle Sie in dieser ganzen Geschichte eigentlich gespielt haben«, sagte Adrian.
»Fragen Sie Schwester Branka«, antwortete der Patient mit einem kleinen Lächeln. »Sie weiß alles.«
Adrian erhob sich. »Das tue ich bestimmt«, erwiderte er.
Eine Schwester kam herein und sagte: »Herr Dr. Winter, Sie möchten bitte dringend zu Verwaltungsdirektor Laufenberg kommen.«
»Der schon wieder«, murrte Adrian.
»Mögen Sie ihn nicht?« fragte David Denekamp neugierig.
Adrian dachte nach. »Vor ein paar Wochen hätte ich diese Frage ganz leicht beantworten können: Nein, ich mag ihn nicht, hätte ich gesagt. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Auf jeden Fall hat er etwas an sich, das mich reizt – zum Widerspruch meistens. Bis später, Herr Denekamp.«
»Bis später«, sagte David. Er war schon wieder müde, aber trotzdem fühlte er sich bedeutend besser, seit er der geheimnisvollen Schwester Branka die Wahrheit gesagt hatte.
*
Bei Thomas Laufenberg, dem Verwaltungsdirektor der Kurfürsten-Klinik, traf Adrian Kriminalhauptkommissar Oever an, der einen äußerst zufriedenen und entspannten Eindruck machte. Er begrüßte den Notaufnahmechef herzlich. »Ihr Sprung zum Alarmknopf wird in die Geschichte eingehen«, sagte er. »Er hat sich bereits herumgesprochen.«
»Bloß nicht«, wehrte Adrian verlegen ab. »Ich konnte ja gar nichts anderes tun. Jeder andere hätte das auch gemacht.« Er sah Thomas Laufenberg und den Kriminalbeamten fragend an. »Warum haben Sie mich gebeten herzukommen?«
»Wir warten noch auf Frau Asanova«, erklärte Kriminalhauptkommissar Oever, »Ihnen bisher bekannt als Branka Dovic. Wir hatten Gründe, für ihre Sicherheit zu fürchten, und haben sie daher unter falschem Namen und auch äußerlich verändert auftreten lassen.« Er konnte ein vergnügtes Lächeln bei diesen Worten nicht unterdrücken.
Als Sabine Meyer, die verschüchterte Mitarbeiterin des Verwaltungsdirektors, kurz darauf die Tür öffnete und sagte: »Frau Asanova ist jetzt da«, blickten Adrian Winter und Thomas Laufenberg gespannt zur Tür. Sie wußten nicht, daß der Hauptkommissar sie ebenso gespannt beobachtete.
Maja Asanova sah umwerfend aus. Sie trug ein elegantes helles Kostüm mit kurzem Rock und langer Jacke, ihre dunklen Haare glänzten und fielen ihr locker bis auf die Schultern, und ihre fast schwarzen Augen strahlten die drei Männer an. »Guten Abend«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme und reichte allen nacheinander die Hand. »Mein Name ist Maja Asanova.«
»Würde mich bitte mal jemand kneifen?« bat Adrian und Thomas Laufenberg konnte der Versuchung nicht widerstehen und kam dieser Bitte nach. Er kniff den Notaufnahmechef recht kräftig in den Arm.
»Aua!« sagte Adrian, aber er mußte lachen, und Thomas lachte ebenfalls. Es war das erste Mal, daß die beiden in der Gesellschaft des jeweils anderen völlig entspannt wirkten.
»Sie sind nicht wirklich die pummelige Schwester Branka, oder?« fragte Thomas. »Frau Asanova, das kann einfach nicht sein. Außerdem hatten Sie eine andere Augenfarbe, und Ihre…«
»Alles kein Problem mehr heutzutage«, versicherte Maja und sprach noch einmal mit Branka Dovics Stimme »Das können Sie mir glauben.«
»Unfaßbar«, murmelte Adrian. »Erfahren wir jetzt endlich die Auflösung dieser ganzen rätselhaften Geschichte?«
»Darum haben wir Sie hergebeten«, antwortete Kriminalhauptkommissar Oever und nickte Maja aufmunternd zu. »Die Lorbeeren gebühren Frau Asanova, denn sie hatte den richtigen Verdacht, und ihr ist es auch gelungen, Herrn Denekamp dazu zu bringen, uns zu vertrauen.«
»Hat er nun Industriespionage betrieben oder nicht?« fragte Thomas Laufenberg.
»Nein, hat er nicht«, antwortete Maja. »Er hat nur versucht, einen Beweis dafür zu finden, daß es sein Vater war, der vor einigen Jahren die Formel für das Medikament gefunden hat, mit dem Borgmann-Chemie jetzt das ganz große Geld machen will. Dr. Meckenheim wollte die Lorbeeren für sich behalten, und er wollte den Gewinn nicht teilen. Also hat er David Denekamps Vater einfach ausgebootet. Und das ist schon fast die ganze Geschichte. Eine besonders üble Geschichte.«
»Aber der Mann muß doch auch Denekamp heißen, wieso hat Dr. Meckenheim nicht gleich Bescheid gewußt, als er den Namen gehört hat?«
»Weil David Denekamps Vater Hans Bromberger hieß – Davids Eltern waren nie miteinander verheiratet, er ist das Kind einer außerehelichen Beziehung seines Vaters. Aber gerade er hat sich mit seinem Vater ganz besonders gut verstanden. Und dieser hat ihm, bevor er vor einem Jahr starb, erzählt, was man ihm angetan hat: Man hat sein geistiges Eigentum gestohlen, ihn abgefunden und mundtot gemacht. Er war zu alt und zu müde, um für seine Rechte zu kämpfen. Also hat es sein Sohn an seiner Stelle versucht. Allerdings hat er unterschätzt, wieviel kriminelle Energie die andere Seite aufbringen würde. Niemals wäre er wohl auf die Idee gekommen, daß Dr. Meckenheim so weit gehen würde, ihn umzubringen.«
»Hat er denn gefunden, was er gesucht hat?«
Maja nickte. »O ja, das hat er. Auch im Zeitalter der Datenverarbeitung gibt es noch handschriftliche Notizen und Vermerke in Akten – und daran hat sich sein Vater erinnert. Er hat vermutet, daß im Computersystem keine Spuren mehr zu finden sein würden, und so war es auch, aber David Denekamp hat zwei Schriftstücke gefunden, die die Urheberschaft seines Vaters eindeutig belegen.«
»Und wieso hat Dr. Meckenheim die nicht auch vernichtet?« fragte Adrian erstaunt. »Das ist doch außerordentlich dumm von ihm gewesen.«
»Er wußte vermutlich nichts davon. Aber Hans Bromberger war wohl bereits mißtrauisch, jedenfalls hat er zur Vorsicht das, was er entwickelt hatte, niedergeschrieben und dafür gesorgt, daß es in die Akten kommt – wo man es einfach vergessen hat.«
»Und da das aus dieser Formel entwickelte Medikament einen Meilenstein in der Krebsbekämpfung darstellt«, warf der Hauptkommissar ein, »können Sie sich vielleicht vorstellen, daß wir hier tatsächlich über ein Milliardengeschäft reden.«
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen in der Runde. Dann ergriff Maja erneut das Wort und sagte nüchtern: »Dr. Meckenheim hat mich also engagiert, um durch mich jemanden zu finden, den er unbedingt aus dem Weg räumen mußte, wenn er sein Geschäft und seinen weiteren persönlichen Aufstieg in der Firma nicht gefährden wollte.«
»Aber wie sind Sie denn darauf gekommen, daß an dem Auftrag etwas faul war?« wollte Adrian wissen. »Industriespionage ist ja ein schweres Verbrechen, und es ist völlig legitim, sich dagegen zu schützen.«
»Es war mehr so ein Gefühl, daß etwas bei der Sache nicht stimmte«, antwortete Maja. »Er hat mein Honorar zum Beispiel nicht über die Bücher laufen lassen, wir hatten keinen schriftlichen Vertrag. Außerdem hat mich mißtrauisch gemacht, daß er sehr viel Wert darauf legte, mich unmittelbar nach Erledigung des Auftrages aus der Stadt zu haben. Er hatte wohl Angst, daß ich mißtrauisch werden würde, wenn ich erführe, daß ein Unbekannter erschossen worden sei. Und so war es dann ja auch. Ich sah das Bild in der Zeitung und wußte, daß ich sofort zur Polizei gehen mußte. Und das habe ich dann auch getan. Hauptkommissar Oever hat sich zum Glück schnell überzeugen lassen, daß ich keine Spinnerin bin.«
»Wir alle sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet«, sagte der Verwaltungsdirektor ernst.
»Ich ganz besonders«, warf Adrian ein. »Sie haben mir das Leben gerettet. Dieser Verrückte hätte mich glatt umgebracht. Was wird jetzt eigentlich aus ihm?«
»Er wird mit Meckenheim zusammen auf der Anklagebank landen – er und die anderen, die David Denekamp überfallen haben.«
Maja erhob sich anmutig. »Ich möchte Herrn Denekamp noch einmal besuchen – ich nehme an, es spricht nichts dagegen?«
»Natürlich nicht«, antwortete Adrian. »Ist er überhaupt schon informiert darüber, daß Sie Meckenheim überführen konnten?«
Der Hauptkommissar nickte. »Ja, er hat es natürlich als erster erfahren, wir fanden, das gehörte sich so. Er ist unendlich erleichtert, daß die Geschichte zu Ende ist und daß er den Wunsch seines Vaters noch erfüllen konnte. Ich glaube, er hat noch gar nicht darüber nachgedacht, daß diese Sache der Familie viel Geld bringen wird – ihm aber vielleicht überhaupt nichts, obwohl sein Vater ihn als seinen Sohn offiziell anerkannt hat. Aber Herrn Denekamp ging es wohl gar nicht in erster Linie um das Geld, sondern darum, seinem Vater zu seinem Recht zu verhelfen.«
»Ein sehr mutiger Mann«, murmelte Thomas Laufenberg, und diesen Satz nahm Maja zum Anlaß, um sich endgültig von den drei Männern zu verabschieden.
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, seufzte der Hauptkommissar: »Eine Frau zum Verlieben. Also, wenn ich dreißig Jahre jünger wäre…«
»Warum so schüchtern?« fragte Thomas Laufenberg lächelnd. »Vielleicht mag sie ältere Männer, Herr Hauptkommissar. Wer nicht wagt…«
Doch der Beamte schüttelte den Kopf. »Wenn mich nicht alles täuscht, meine Herren«, sagte er zur größten Verblüffung der beiden anderen, »dann ist Frau Asanovas Herz bereits vergeben.«
*
David wachte auf und stöhnte leise. Wieder hatte er diese verführerische weiche Stimme gehört, aber er hatte die Frau nicht finden können, der sie gehörte. Ob er Schwester Branka, die Frau mit den zwei Stimmen – und vielleicht auch zwei Gesichtern – jemals wiedersehen würde? Er hatte schon mehrfach versucht, sich vorzustellen, wie sie tatsächlich aussah, aber es war ihm nicht gelungen.
»Besuch für Sie, Herr Denekamp. Aber nicht lange, bitte. Sie brauchen Ruhe.«
David sah die schöne schlanke Frau, die lächelnd an sein Bett trat, verständnislos an. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie hatte glänzende dunkle Haare, wunderschöne, ebenfalls dunkle Augen und einen Mund, der zu einem Lächeln verzogen war, als sie nun mit der weichen Stimme seiner Träume sagte: »Mein Name ist Maja Asanova. Bisher kannten Sie mich unter dem Namen Schwester Branka, Herr Denekamp.«
»Das ist unmöglich«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Niemand kann sich so sehr verändern.«
Unversehens wechselte sie die Stimme und spielte ihm Branka Dovic vor. »Wenn Sie wollen, verwandele ich mich noch einmal in Schwester Branka, das fällt mir nicht besonders schwer!«
»Nein, bloß nicht!« rief er und fügte leiser hinzu: »Bitte nicht. Bleiben Sie so, wie Sie jetzt sind. Sie sind wunderschön, Maja Asanova, wissen Sie das?«
»Sie sind auch nicht übel«, meinte sie, um ihre Verlegenheit zu verbergen. »Auch wenn Sie um die Nase herum noch ziemlich blaß wirken.«
»Ich habe ja auch keine Milz mehr«, erwiderte er ernst. »Wissen Sie, was das heißt?«
Sie nickte. »Das heißt, daß Ihr Immunsystem nicht mehr intakt ist. Sie müssen sich besser vor Infektionen schützen als andere Menschen.«
»Haben Sie sich darüber informiert?« fragte er erstaunt. »Oder woher haben Sie diese Kenntnisse?«
»Ich habe mich erkundigt«, gestand sie.
Er griff nach ihrer Hand und ließ ihren Blick nicht los. »Warum, Maja?« fragte er leise. »Warum haben Sie das getan?«
Sie entzog ihm ihre Hand nicht, ihr Gesicht war weich. »Weißt du das wirklich nicht?« fragte sie zärtlich. »Dann bist du dümmer, als ich dachte, David. Du weißt, daß ich dich schon ein wenig länger kenne als du mich. Schließlich habe ich dich zwei Wochen lang nicht aus den Augen gelassen. Und ich habe es sofort sehr bedauert, daß du ein Industriespion zu sein schienst, denn ich fand dich von Anfang an sehr sympathisch.« Sie beugte sich über ihn. »Meinst du, ich könnte dir einen Kuß geben – oder fühlst du dich zu schwach?«
»Ich liege ja«, antwortete er. »Da kann mir doch eigentlich nicht allzuviel passieren, findest du nicht?«
Sie küßte ihn vorsichtig, weil sie Angst hatte, ihm weh zu tun. Doch als sie sich wieder von ihm lösen wollte, forderte er: »Noch mal. Ich bin übrigens nicht zerbrechlich. Solange du dich nicht auf meinen Bauch legst…«
Der zweite Kuß fiel daraufhin bedeutend intensiver und länger aus. Diesmal konnten sie sich gar nicht wieder voneinander trennen. Als sie es schließlich doch taten, flüsterte David: »Eine bessere Medizin gibt es nicht, Maja. Du mußt mich einfach immer küssen, dann kann ich dich nächste Woche heiraten!«
Die Schwester, die eigentlich gekommen war, um die Besucherin hinauszubitten, blieb in der Tür stehen und sah sprachlos auf das sich küssende Liebepaar, das ihre Anwesenheit nicht einmal bemerkte. Schließlich drehte sie sich um und ging wieder. Sie würde dem diensthabenden Arzt mitteilen, daß der Patient Denekamp die Intensivstation verlassen könnte. Er befinde sich unübersehbar auf dem Wege der Besserung.
*
Stefanie Wagner saß mit einer dunkelhaarigen jungen Frau in der Bar des King’s Palace, und Dr. Adrian Winter, der die beiden nur von hinten sah, war im ersten Augenblick zutiefst enttäuscht. Er hatte so sehr gehofft, ein paar Stunden mit der schönen Blonden allein verbringen zu können – und nun…
In diesem Augenblick drehte sich die Dunkelhaarige um, und er rief erstaunt: »Frau Asanova!«
»Guten Abend, Herr Dr. Winter«, sagte die junge Russin. Sie kam ihm irgendwie verändert vor. Schön war sie auch vorher schon gewesen, aber jetzt schien sie zu strahlen vor Glück. Er dachte an die Worte des Hauptkommissars und fragte sich, wer wohl der Mann war, von dem dieser andeutungsweise gesprochen hatte.
Nun wandte sich ihm auch Stefanie Wagner zu. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sie hier im Hotel wohnt, Herr Winter!« Sie reichte ihm die Hand, und er hielt sie länger fest, als es notwendig gewesen wäre, während er wieder einmal ihre veilchenfarbenen Augen bewunderte.
Maja stand auf. »So, dann lasse ich Sie allein«, sagte sie und zwinkerte Stefanie Wagner zu. Diese errötete daraufhin, und Adrian fragte sich verwirrt, was die beiden Frauen wohl miteinander besprochen hatten.
»Warum bleiben Sie nicht noch ein bißchen?« fragte er höflich.
»Ich fahre in die Klinik«, sagte sie, »David besuchen.«
»David?« fragte er verblüfft. »Ach so, David Denekamp, meinen Sie. Aber ich dachte, Sie hätten sich bereits gestern von ihm verabschiedet.«
»Wer spricht von Abschied?« fragte Maja und lachte ihn strahlend an. »Wir werden heiraten, David und ich, Herr Dr. Winter. Trinken Sie ein Glas auf uns!« Sie warf ihnen noch eine Kußhand zu und verließ die Bar. Die Augen sämtlicher Männer folgten ihr.
»Eine unglaublich nette Frau«, sagte Stefanie. »Und schön ist sie auch noch.«
Adrian war noch immer völlig verwirrt. »Also, darauf wäre ich nie im Leben gekommen, daß sie und David Denekamp ein Paar werden würden. Immerhin hat sie ihn doch wochenlang beschattet…«
»… und dabei schon festgestellt, daß sie ihn außerordentlich sympathisch findet. Und er hat sich wohl als erstes in ihre Stimme verliebt. Eine schöne Geschichte, finden Sie nicht?«
»Wunderschön«, sagte er leise und sah ihr in die Augen. Es war nicht ganz eindeutig, wovon er sprach. »Wirklich, ganz wunderschön.«
Wieder stieg ihr die Röte ins Gesicht. Hastig hob sie ihr Glas, um mit ihm anzustoßen. »Auf andere schöne Geschichten, Herr Winter!«
Sanft klangen ihre Gläser aneinander, und Adrian dachte: Ja, am liebsten auf unsere eigene! Aber er sagte es nicht laut.
Auf einmal kam es ihm so vor, als hätten sie noch viel Zeit, Stefanie Wagner und er.