Читать книгу Hausmittel - Nina Naster - Страница 6

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innen leben

Frühling schwebt durch die von Ruhe und Vernunft weich gezeichneten Straßen, als hätte ein seine Güte hinter reichlich Zynismus versteckender Gott seine Pinsel geschwungen. Ein März, der die Großstadt mit etwas eincremt, das sie bremst oder glättet oder jedenfalls verwandelt. Wie eine dieser Wärmesalben, nach deren Auftragen eine Weile schwer zu erfühlen ist, ob die Haut nach dieser Betäubung gekühlt oder verbrannt sein wird. Und doch wirken weder die Amseln und Meisen, noch die Tulpen und Kirschblüten außer Takt mit den kitschigen Frühlingsliedern jedes anderen Märzes. Sonnenschein, blauer Himmel, frühe Vorgärten voller Frieden.

Beim Bäcker stehen zwei alte Frauen, loben das Wetter und lachen sich aus zwei Meter Abstand zu. Der Geruch von frisch gebackenem Brot keimt in meinen Nasenlöchern, um sich von da aus in meinem ganzen Körper zu verbreiten. Ich kann nicht wissen, ob er dort auch auf die Erreger trifft, um die sich gerade alles dreht. Ob ich zu den Menschen zähle, die diese in die morgendliche Frühlingsluft dieser Stadt pusten, wo sie unentdeckt von den anderen wieder eingeatmet werden. Um weitere Gründe zu liefern für Absagen, Verbote, Schließungen und Angst.

Natürlich bedeutet es etwas für diese Stadt, wenn sich auch heute die Tür zu „Astrid’s Haarsalon“ nicht öffnen wird, nicht die zum „Schokostübchen“ oder dem „Restaurant Zeus“. Keine Boutique, keine Bar, kaum ein Büro.

Wo sonst dutzende auf einmal fahren, brummt jetzt nur ein einziges Auto an mir vorbei, deren Lautsprecher das Viertel mit einem Lied beschallen, das ich nicht kenne. Der Mann vom Paketshop winkt mir durch sein Schaufenster zu und ich winke zurück. Das Vertraute beruhigt, die Gemeinschaft tröstet. Wir alle stecken in der gleichen Premiere. In der niemand einsam sein sollte, in der niemand durchdrehen sollte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rast mir eine Rennradfahrerin entgegen, mit dunkler Brille gegen die Frühlingssonne, mit Beinlingen und Sturmmaske gegen den Frost. Alle suchen Bewegung. Und Chance auf Triumph über sich selbst.

Mein Erfolgsgefühl rührt von einer frühen Runde zum noch fast menschenleeren Supermarkt, von der ich nun mit für meinen und den Haushalt meiner Nachbarin Frau Neubert gefüllten Taschen zurückkehre. Ich fühle Stolz darauf, Lösungen gefunden zu haben für die Rätsel, vor die mich ihre Handschrift auf dem per Foto verschickten Einkaufszettel gestellt haben. Vielleicht nicht immer die richtigen Lösungen, aber Lösungen.

Von diesem Ausflug belebt, steige ich die Stufen hinauf und stelle Frau Neubert die Einkaufstasche vor die Tür. Das mit dem Geld regeln wir später, habe ich ihr geschrieben und dass ich sowieso einkaufen gegangen wäre. Ohne dringenden Notfall würde ich ihre Wohnung jetzt nicht betreten. Dabei war ich immer so gern darin zu Besuch, immer wieder davon fasziniert, dass es meine eigene Wohnung auch spiegelverkehrt gibt und voller Möbel, die so anders sind als meine.

Als meine Wohnungstür ins Schloss fällt, höre ich es in meinen Ohren rauschen. Ich wasche mir die Hände, räume die Taschen aus und wasche mir noch einmal die Hände. Mobile Daten aus, Teewasser an, Haare zum Zopf und Jogginghose. Dann krieche ich unter die Bettdecke, die Michael warmgehalten hat. Da bist du ja endlich wieder, murmelt er an die Haut an meinem Hals und döst weg.

Am Fußende unseres Bettes malt Finn an seiner Stadt. Blatt für Blatt malt er Bäume, Menschen und Häuser, die er auf dem Fußboden seines Zimmers zu einer ganzen Stadt zusammenlegt. Im Sommer wird er sechs und gestern hat er mich gefragt, ob auch er dann niemanden einladen darf. So wie seine Cousine, zu deren Geburtstag wir vorgestern per Videochat gratulieren mussten, obwohl sie nur ein paar Straßen weiter wohnt. Finn hatte ihr ein Bild gemalt, auf dem ein flauschiges Etwas mit Zacken zu sehen ist, zwei schiefe Kreise als Augen und ein etwas größerer als Nase und dann ein Mund, dessen Winkel traurig herunterhängen. „Das ist aber ein trauriger Drachen!“, hat seine Cousine Finns Bild zu bestaunen versucht. Um von ihm belehrt zu werden: „Nein! Das ist der Corona-Virus!“ Das Bild hängt jetzt an unserem Kühlschrank. Neben denen von Tieren, Baggern und Drachen.

In ein paar Jahren wird er vielleicht auch so gern lange schlafen wie Michael. Für den das alles noch sehr neu ist. Für mich nur ein bisschen. Ich gehe schon seit 11 Wochen morgens nicht ins Büro, sondern an meinen Schreibtisch in dem Zimmer, das Michael „Kammer“ nennt. Nicht viele haben in meinem Alter die Chance, beruflich neu anzufangen. Die Wahrheit ist, dass ich kaum etwas dafür tun musste, dass es mir einfach passiert ist. Ein Verlag hat mich um ein Buch gebeten. Weder weil ich gut schreiben, noch weil mein Name in Menschen Neugier auslösen kann. Der einzige Grund ist ein Terroranschlag. Außer mir hat nur ein Kleinkind überlebt, also mussten sie mich um das Buch bitten.

Seitdem führe ich ein sehr simples Leben. Aufstehen, Kaffee, Schreiben, Mittag, Schreiben, Sport, Kochen, Abendbrot, Couch, Ins-Bett-Gehen. Einen Großteil davon zwischen den Wänden dieses länglichen Vierecks. Dreiachtundsechzig mal zweisiebenundachtzig voller weißer Raufaser und ein kleines Fenster nach Osten. Ich werde ein Buch geschrieben haben.

Als Michael aufsteht, habe ich wieder zwei Seiten geschafft. Er hat mich oft gebeten, wenigstens ein Kapitel lesen zu dürfen, hat gefragt, nachgebohrt, sogar ein bisschen gebettelt. Und dann hat er Begründungen dafür gefordert, dass ich ihm meine Seiten verweigere. Nach seinem Frühstück höre ich ihn einen Nachrichtensender gucken. Es beschäftigt ihn, dass die Menschen zu Hause bleiben, allein mit ihren Ängsten und ihren Kindern. Dass sie schlafen und essen, einander anrufen, dass sie netter sind und fauler. Er selbst wird gerade nicht gebraucht. Seine Chefin hat ihn freigestellt. Die paar Gerichte für den Lieferservice kann sie auch allein kochen. Gestern Nachmittag hat er ein 6 Jahre altes Fußballspiel geguckt, worüber ich mich noch beim Einschlafen gewundert habe.

Mein Blick bleibt auf der Wand vor mir hängen. An die ich eine von Finns Zeichnungen geklebt habe. Vielleicht ist es nur deshalb mein Lieblingsbild von ihm, weil er es in unserem letzten Urlaub gemalt hat. Michael mit Strubbelhaaren und je einem Blumenstrauß in den erhobenen Händen, Finn selbst beim Pflücken von Früchten eines Baumes und ich winkend und mit einer Riesenwaffel voller bunter Eiscreme in der anderen Hand. Während Michaels Augen zwei blaue Kreise sind, kann ich in meinen die Gewissheit erkennen, das Schlimmste im Leben schon hinter mir zu haben.

Ich schreibe ein paar Sätze. Bis ich Michael durch die Wohnung tapsen und mit seinen Eltern telefonieren hören muss. Es geht um Atemschutzmasken und dann kritisiert er die Regierung und ich kann mir vorstellen, wie sein Vater dazu nickt. Ein aufbrausender Kerl, an dessen bulligem Körper die Arme immer etwas kurz wirken und ungelenk. Der alles deuten, auf einfach alles sofort eine Antwort finden kann. Und ich habe Angst, dass Michael diesem Mann irgendwann ähnlicher wird.

Der noch nicht weiß, wie gut es ihm tun würde, früher aufzustehen. Regelmäßiger zu essen. Mit seinem Kind Spaziergänge zu machen, Bilder zu malen und Städte zu bauen. Michael wird es herausfinden. Auch dass er rein gar nichts verpassen wird, wenn er weniger Nachrichten anschauen würde, geht mir nicht über die Lippen. Er wird es von selbst verstehen. Sich Aufgaben suchen und Lösungen finden. Den Müll wegbringen, den Balkon bepflanzen, die Fotos auf seinem Telefon sortieren oder neue entstehen lassen.

Gegen Nachmittag macht er sich die Reste vom Vorabend warm. Ich esse einen Apfel und trinke in der Balkonsonne einen Espresso dazu. Frau Neuberts Nachricht auf meiner Mailbox lässt mich schmunzeln und ihr sofort antworten. Er kommt dazu und küsst mich und beginnt, mir seinen Traum zu erzählen. Ich komme darin vor, ein Karussell und verschluckte Katzenbabys. Obwohl mir klar ist, dass ich etwas darin lesen soll, scheitere ich daran.

Eigentlich will ich längst an den Schreibtisch zurück, aber er hört nicht auf und ich scheue mich davor, ihn zu unterbrechen. Ich finde es schwer genug, mich so viel erinnern zu müssen. Um dann alles aufschreiben zu können, den Versuch zu wagen, das Erlebte umzudeuten, es mit Sinn oder wenigstens mit Anfang und Ende zu versehen. Auf einmal höre ich ihn über Vertrauen reden. Er beklagt sich und wird lauter und wenn auch unsere Nachbarn gerade auf ihren Balkonen stehen sollten, werden sie ihn klarstellen hören können, dass das alles eine Frechheit ist. Ich höre ihn einige meiner aktuellen Lieblings-Worte wie „interstellare Monster“, „Zeitreisende“ und „Zwölfgesteinszauber“ in dem Ton benutzen, in dem er aus Kinderbüchern die Worte der Hexe vorliest.

Meine Augenbrauen recken sich nach oben. An diesem Morgen, als ich für uns und Frau Neubert einkaufen gewesen bin, muss er in meinen Manuskripten gelesen haben. Wortlos gehe ich an meinen Schreibtisch zurück und klappe den Laptop wieder auf. Dass es ihm leidtut, ruft er mir hinterher, dass er mich doch nur besser verstehen wollte. Ich kann mir denken, wie er nun überlegt, ob er sich entschuldigen soll oder verteidigen oder beides. Natürlich ist er mir in die Kammer gefolgt. Und bittet mich, zu erkennen, wie gestresst er ist. Ihm zu glauben, wie sehr er sich um mich sorgt. Dass er jetzt enttäuscht ist, weil ich an etwas anderem schreibe als er dachte und was wohl der Verlag dazu sagen würde, dass ich statt an der „Attentatsstory“ lieber an „Quatsch mit kleinen grünen Männchen“ arbeite. Und als ich noch immer nicht reagiere, sagt er mir, dass ich doch genau wissen müsste, dass er meinen Laptop nur aufgeklappt hat, weil er mich so liebt.

Durch das offene Fenster hören wir, wie draußen eine Autotür geschlossen wird. Dann ist sie wieder da, die dieser Stadt so fremde Stille. Etwa dreihundert Seiten habe ich fertig, vierhundertfünfzig sind geplant. Während das Leben weitergeht. Menschen werden geboren, Menschen sterben, Menschen fühlen sich unsterblich. Manche werden ihr Leben ändern, andere sich in Nostalgie flüchten. Michael wird sich entschuldigen.

Ganz unrecht hat er nicht. Der Verlag bezahlt mich nicht für Science-Fiction. Vielleicht war in dem Drang, in meinem Manuskript zu schnüffeln, auch Liebe enthalten. Vielleicht hätte ich den Spaß an meinem Kontrastprogramm-Text mit ihm teilen sollen. Vielleicht aber auch nicht. Jetzt höre ich ihn betteln und weinen. Ich tröste ihn, wir trösten uns.

Finn kommt in die Kammer. Als er uns Arm in Arm dastehen lässt, muss er schmunzeln. Auch ich grinse, als ich erkenne, dass er sich das Gesicht angemalt hat. Lauter farbige Striche auf Wangen, Nase und Stirn. In der Hand hält er ein Blatt Papier. Zwei große bunte Menschen, ein etwas kleinerer. Das wir das sind, erklärt er uns. „Und das?“, deutet Michael auf ein Tier. Vier Beine, eckige Ohren, langer Schwanz. „Eine Katze?“ Finn lacht und sieht mich an. „Ein Hund?“, rate ich. „Das bin ich.“, erklärt er uns mit seinem Gesicht voller bunter Linien.

Später kocht Michael Abendessen, zu dem wir uns zusammen an den Esstisch setzen und ohne dass der Fernseher läuft, was vielleicht einer der Gründe dafür ist, dass es Finn nicht schmeckt. Dessen Gesicht noch immer voller Striche ist, aus denen ich etwas zu erkennen versuche. Vielleicht hilft es mir, so zu tun, als wären auch diese Tage Alltag. Dabei weiß niemand von uns, wie oder wie lange. Auch die Nachbarn wissen es nicht und nicht mal die, die es unbedingt wissen wollen.

Natürlich werden uns diese Tage in Erinnerung bleiben, einigen wird es sogar das ganze Leben ruinieren. Möglicherweise werden wir es hassen, daran zurückzudenken. Und auch, wie oft wir das tun müssen. Als ich ins Bett gehe, ist von meinem Zorn Enttäuschung geblieben. Wieder höre ich Michael ein Fußballspiel gucken. Aber dann schlafe ich ein. Es beginnt nach Gebratenem zu riechen, nach Frittiertem, nach Zuckerwatte. Ein Platz, laute Musik, viele Menschen. Außen Tränen und innen Trost. Das Versprechen von etwas Riesigem, Wummernden. Ein Echo. Ich spüre meinen Herzschlag und die Körper von tausenden Menschen, die mich berühren und mitreißen. Denen ich vertraue.

Hausmittel

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