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Vive la vie à Paris

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März/April 1985

Mit 19 Jahren bin ich nicht mehr so zufrieden in meiner kleinen beschränkten Welt, sondern wünsche mich immer öfter weit weg. Meine schulischen Leistungen haben sich in den letzten Jahren nicht nennenswert verbessert – trotzdem habe ich mich die vielen Jahre bis zum Abitur gequält. Unmengen an Zeit habe ich in Nachhilfestunden und das Lernen investiert. Von dem, was ich gelernt habe, ist mir nichts zugeflogen. Ich musste mir alles hart erarbeiten, regelrecht erkämpfen. Dabei versuche ich wohl eher, den Erwartungen anderer an mich als meinen eigenen Vorstellungen gerecht zu werden. Denn dass wir fürs Leben und nicht für die Schule lernen sollen, kann ich mir bei so trockenen Fächern wie Latein, Altgriechisch, Mathe und Physik selbst mit der blühendsten Fantasie nicht vorstellen. Erst recht nicht, dass ich eines Tages der Meinung sein werde: Die Schulzeit war die schönste Zeit meines Lebens.

Von den Problemen in der Schule bleibt natürlich auch mein Selbstbewusstsein nicht unberührt. Ich habe nicht das Gefühl, für irgendetwas ein besonderes Talent zu haben. Einen Freund habe ich auch nicht, denn ich bin viel zu zurückhaltend. Außerdem finde ich mich eher unattraktiv, obwohl ich groß, schlank und sportlich bin und lange blonde Haare habe, die im Sonnenschein mit einem leichten Rotstich leuchten. In toller modischer Kleidung laufe ich auch nicht herum, sondern kaufe mir eher billige Fetzen. Die paar Mark, die ich seit geraumer Zeit als Nachhilfelehrerin verdiene, reichen für Kleinigkeiten, zum Ausgehen und ein wenig zum Sparen – leider nicht für teure Klamotten.

Meinen Vater habe ich seit neun Jahren nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich würde ich ihn auf der Straße nicht mal erkennen. Zu gern hätte ich einen Vater, der für mich da ist, der mich unterstützt, den ich zu meinen Hausaufgaben und vielerlei anderen Dingen im Leben befragen könnte. Ganz dunkel kann ich mich an Dinge erinnern, die ich als kleines Kind, lange bevor ich in die Schule kam, mit ihm gemeinsam unternommen habe. Ich fand es toll, von ihm auf seinen Schultern durch den Wald getragen zu werden. Und das Fahrradfahren hat er mir auch beigebracht. Erst rannte er hinter mir und dem Rad her, hielt es so fest, dass ich nicht umkippte, und ließ es plötzlich los … Ich merkte es gar nicht und fuhr einfach so ohne seinen Halt weiter.

Leider überwiegen aber die traurigen Erinnerungen an ihn. Sie begleiten mich jeden Tag, obwohl ich mir wünsche, ich könnte sie aus meinem Gedächtnis radieren. Auch die Verwandtschaft meines Vaters habe ich nie kennengelernt. Er hat immer gesagt, er hätte keine mehr. Somit fehlt mir nicht nur ein Papa – mir fehlt auch seine Familie. Ich weiß genau, dass ich meinen Vater nicht dazu zwingen kann, sich für mich zu interessieren. Sein Verhalten ist nicht meine Schuld. Womöglich wollte er nie die Verantwortung übernehmen, die ein Kind mit sich bringt. Trotzdem frage ich mich insgeheim oft, ob es an mir liegt, ob ich nicht gut genug bin und irgendetwas besser machen könnte … Mich plagen Schuldgefühle.

Außer den wenigen Briefen, an deren Inhalt sich seit Jahren nichts geändert hat, bekomme ich nichts von ihm. Ein Geschenk zu Weihnachten oder gar zum Geburtstag – Fehlanzeige! Er leistet wohl seine Unterhaltszahlungen, aber sie stehen in keinem Verhältnis zu den Kosten, die meine Mutter tatsächlich für mich hat. Je früher ich auf eigenen Beinen stehe und Geld verdiene, desto besser ist es für ihn – dann ist er zu keinen Zahlungen an mich mehr verpflichtet. Das erklärt auch die Fragen nach meinen schulischen Leistungen, die ich als Kind nie verstanden habe. Warum fragte er immer nur nach der Schule? Was ich sonst machte, wie es mir ging, das wollte und will er nie wissen.

Mit meiner Mutter verstehe ich mich weiterhin sehr gut, aber nur ungern möchte ich ihr, die sich stets alles so mühselig für mich abgespart hat, weiter auf der Tasche liegen. Und meine Oma, die in einer ungemütlichen Einzimmerwohnung an einer stark befahrenen Straße lebt, gibt ihrem einzigen Kind und Enkelkind alles, was sie kann, und verzichtet dafür selbst auf vieles. Für mich steht fest: Studieren nach dem Abi? Das kommt für mich nicht infrage! Im letzten Jahr habe ich mich bereits um einen Ausbildungsplatz bemüht und tatsächlich einen Vertrag für eine Ausbildung als Bürokauffrau in Wiesbaden unterschrieben.

Jetzt habe ich endlich Osterferien und seit ein paar Tagen das schriftliche Abitur hinter mir. In einigen Wochen bekommen wir die Ergebnisse, vor denen es mir jetzt schon graut. Ich bekomme sogar fast Panik, wenn ich daran denke. Immerhin habe ich meinen Ausbildungsplatz schon in der Tasche. Und so versuche ich, wie so oft, das Beste aus meiner Situation und dem Leben zu machen und rede mir zuversichtlich zu: »Lass dich nicht unterkriegen!«

Und wo könnte ich besser neue Lebenskraft tanken als in Paris? Ich besuche meine Mutter, die seit ein paar Wochen als Sekretärin an einem internationalen Projekt in der französischen Hauptstadt arbeitet und in ihrem Hotelzimmer in Montmartre noch ein Bett für mich frei hat.

Nach der sechsstündigen Zugfahrt habe ich lange genug gesessen. Ich will raus aus dem Hotelzimmer – etwas sehen, flanieren! Ahnungslos mache ich mich direkt nach meiner Ankunft wieder auf, um allein die Gegend um das Hotel herum zu erkunden. Doch statt mit Pariser Romantik empfängt mich der Place Pigalle gleich um die Ecke mit jeder Menge Erotikshops, Sex-Kinos, Striptease-Lokalen, Bars und Cabarets. Die bescheidene Pizza Nina, die ich mitten im Getümmel entdecke, lässt mich das Gesicht zwar noch zu einem vorsichtigen Lächeln verziehen, das verkneife ich mir im Weitergehen jedoch sofort wieder. Schließlich möchte ich nicht, dass sich jemand in dieser Gegend von meinem Lachen angesprochen fühlt … Stattdessen versuche ich, mich mit meinen unschuldigen 19 Jahren von den vielen ausgemergelten Obdachlosen und zwielichtigen Gestalten, die mich aus schwarzen Augen unverhohlen anstarren und mir gelegentlich auf Französisch etwas Unverständliches hinterherrufen, nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Fast an jeder Straßenecke stehen Frauen in dünnen Blusen, knappen Westchen, Miniröcken und hochhackigen Schuhen. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, ihre müden, stark geschminkten Augen starren ins Leere. Viele von ihnen sind nur ein paar Jahre älter als ich, aber wirken auf mich so, als hätten sie ihre Zukunft längst hinter sich gelassen. Das ist so gar nicht, wie ich mir Paris vorgestellt hatte, – dieser Stadtteil hat für mich das Flair einer Frankfurter Bahnhofsgegend. Etwas Besseres fällt mir dazu in meiner gut behüteten Unschuld nicht ein.

Zum Glück sieht die Welt nur ein paar Stunden später schon anders aus. Noch am selben Abend sind wir zu einer Party von Mutters Kollegen in einem Haus in Saint-Cloud, einer vornehmen Gegend mit vielen Einfamilienhäusern und Villen, eingeladen. Hier fühle ich mich wohler. Mutters Chef, den ich schon kenne, macht mit mir auf Deutsch Witze. Mit den französischen Kollegen, die ich heute zum ersten Mal treffe, spreche ich Englisch. Ich bedauere, dass meine wenigen Brocken Französisch nicht für ein simples Gespräch ausreichen, denn so entgeht mir vieles in dieser wunderschönen Sprache, die ich so gern verstehen und noch lieber sprechen würde. Trotzdem werde ich als Nesthäkchen in der munteren Gesellschaft ganz charmant in alle Gespräche involviert. Meine Probleme sind plötzlich ganz weit weg, so als wäre ich auf einem anderen Planeten. Ich beginne, meine Zeit in Paris zu genießen.

Später fährt Mutters Kollegin Isabel uns zurück ins Hotel. Auf den nächtlichen Straßen von Paris ist viel los. Die Franzosen lächeln in unser Auto hinein und unterhalten sich an den roten Ampeln mit unserer hübschen Fahrerin, deren braune Lockenmähne durch das offene Fenster vom Wind zerzaust wird. Sie verfährt sich ein wenig in dem nächtlichen Verkehrschaos und entschuldigt sich überschwänglich. »Das ist mir noch nie passiert, excusez-moi!« Ohne ihren Hinweis hätten wir das gar nicht bemerkt. Tatsächlich genieße ich diese Nachtfahrt in vollen Zügen und finde trotz des holprigen Starts nach nur einem halben Tag immer mehr Gefallen an dieser beeindruckenden Stadt. Ich habe es überhaupt nicht eilig, zurück ins Hotelzimmer zu kommen.

Für den nächsten Morgen hat meine Mutter mir eine Überraschung versprochen.

»Mama, was haben wir heute vor? Was ist das für eine Überraschung?«, frage ich sie zum x-ten Mal, weil ich vor Neugier fast platze.

»Das wirst du bald sehen. Wenn ich dir das jetzt sage, ist es doch keine Überraschung mehr! Nur Geduld, es dauert nicht mehr lange«, entgegnet sie mit einem wissenden Grinsen.

Erst mal gibt es Frühstück – und da ist die Auswahl am Büfett im Hotel reichlich. Ich stürze mich sofort auf die frischen Croissants. Sie sind zwar etwas kleiner als bei uns, aber schmecken mir dafür umso besser. Wie die Franzosen schneide ich sie in der Mitte auseinander, beschmiere sie erst mit Butter und dann mit Marmelade, die aus einem niedlichen Gläschen mit rot-weiß kariertem Deckel kommt. Immer wieder stehe ich auf, um mir Nachschub zu holen. Nachgespült mit schwarzem Tee, verschwindet Croissant um Croissant in meinem Magen. Meine Mutter staunt nicht schlecht, welche Mengen der französischen Köstlichkeit ich verdrücke. Sie vergisst das Zählen nicht – und kommt auf ganze 13 Stück! Unglaublich! Ich habe ganze 13 Croissants mit Belag verspeist, bevor ich endlich satt bin. Mir wird nicht einmal schlecht. Und was für ein Glück: Bei dem anstrengenden Tagesprogramm, das mir bevorsteht, muss ich mir immerhin über Gewichtsprobleme keine Sorgen machen.

Nur wenig später werden wir von dem Amerikaner Sherry in der Hotellobby abgeholt. Er ist Direktor einer englischen Firma, die am selben Projekt mitarbeitet wie Mutter. Seine grauschwarzen Haare lichten sich ein wenig, und auf seiner großen Nase trägt er eine schwarze Brille. Ganz sportlich in ein blaues Sweatshirt, Jeans und weiße Turnschuhe gekleidet, schüttelt er zuerst meiner Mutter und dann mir mit dem strahlenden Lächeln eines Gewinnertyps die Hand. Er führt uns nach draußen und präsentiert uns vor dem Hotel stolz seine neue Errungenschaft. Erst vor ein paar Tagen hat er ihn gekauft, und jetzt wartet er geduldig auf uns am Straßenrand, leuchtend rot wie ein Feuerwehrauto – ein echter Rolls-Royce!

Als Sherry mir zwinkernd die Tür aufhält, kann ich es kaum fassen. In diesem Luxuswagen sollen wir die nächsten Stunden eine Stadtrundfahrt bekommen? Wow! Vorsichtig nehme ich links neben dem Fahrersitz Platz. Die Polster sind aus weichem, hellem Leder, die Anschnallgurte geschmeidig. Die Armatur ist aus edlem Holz gefertigt. Sie strahlt mich regelrecht an – alles ist blitzblank und nagelneu. Als wir losfahren, schnurrt der Motor so leise wie ein zufriedener Kater.

Auf dem Weg zu einem der Pariser Wahrzeichen, der Basilique du Sacré-Cœur de Montmartre, die auf einem Hügel liegt, wird die Nobelkarosse neben der imposanten Kirche ebenfalls zum begehrten Foto-Objekt. Die »Basilika des Heiligen Herzens Jesu«, die in ihrer Bauweise römisch-byzantinischen Kirchen nachempfunden ist, wirkt, als sei sie von einem Bäcker mit Zuckerguss verziert worden, so weiß leuchten ihre drei Kuppeln weit über die Stadt hinweg. In der Nähe verkaufen französische Maler bunte Bilder und Bleistiftzeichnungen. Mit meinem ziemlich leeren Portemonnaie könnte ich mir bei den stolzen Preisen kein Gemälde leisten – wahrscheinlich auch nicht mit viel Verhandlungsgeschick.

Mit dem roten Luxusgefährt geht es weiter zum Bois de Boulogne, einem eindrucksvollen Park im Westen von Paris, in dem es sogar eine Reitschule gibt. Mitten auf der Straße treffen wir auf eine zwölfköpfige Reitergruppe. Durch die Frontscheibe bekomme ich sie zusammen mit der silbernen Metallfigur auf der Kühlerhaube des Rolls-Royce – Eleanor im wehenden Kleid, bekannt als »Spirit of Ecstasy« – vor die Linse meines Fotoapparats.

Genauso verzückt ist mein Geist, als wir am meistfotografierten Wahrzeichen des Landes, dem Tour Eiffel, vorbeischnurren und danach in gemütlichem Tempo auf die Avenue des Champs-Élysées Kurs nehmen. Langsam umrunden wir anschließend den imposanten Arc de Triomphe. Um uns die Beine zu vertreten, steigen wir gelegentlich aus und werden dabei wie ein paar Prominente von vorbeilaufenden Passanten fotografiert.

Zum Ende unserer Besichtigungstour machen wir Station am Centre national d’art et de culture Georges-Pompidou, das seit seiner Eröffnung vor acht Jahren über sechs Millionen Besucher im Jahr anzieht. Das große Gebäude aus Stahl und Glas erinnert mich stark an eine moderne Raffinerie. An seiner Hauptfassade schlängelt sich eine Glasraupe empor, in der geschickt ein paar Rolltreppen installiert sind. Uns zieht es in den ersten Stock, wo wir uns eine Ausstellung anschauen, die zufällig aus dem Frankfurter Architekturmuseum stammt. Danach fahren wir so weit wie möglich nach oben und genießen den Blick über Paris. In der Ferne sehen wir den 321 Meter hohen Eiffelturm, Sacré Coeur und den Tour Montparnasse, das zweithöchste Gebäude der Stadt.

Nach über vier Stunden auf Tour fährt uns Sherry zurück ins Hotel.

»Thank you!«, bedanke ich mich überschwänglich und völlig überwältigt von den vielen Eindrücken. Am Abend kann ich kaum einschlafen, weil ich die tollen Erlebnisse dieses Tages immer wieder Revue passieren lasse.

Als meine Mutter am nächsten Morgen um sieben Uhr aufsteht, um zur Arbeit zu gehen, scheint von draußen schon die Sonne herein und ich werde automatisch wach. Bei diesem schönen Wetter halte ich es nicht viel länger im Bett aus. Erneut mache ich mich wie ausgehungert über die Croissants am Frühstücksbüfett her. Heute schaffe ich nur noch zehn beschmierte Hörnchen. Dafür habe ich, ganz praktisch, wieder für den Rest des Tages keinen Hunger mehr.

Bei Sonnenschein und Temperaturvorhersagen von bis zu 28 Grad will ich heute endlich den Frühling einläuten und werfe mich in ein Paar Shorts und ein buntes Trägeroberteil. Obwohl ich mich mit der Metro weit aus dem Vergnügungsviertel entferne und wieder beim Centre Pompidou lande, werde ich von allen Seiten schräg beäugt. Mir kommt es fast so vor, als fiele ich jetzt ohne Rolls-Royce sogar noch mehr auf. Hat mir da gerade etwa jemand hinterhergepfiffen? Das bin ich aus Frankfurt so ganz und gar nicht gewöhnt.

Langsam schlendere ich durch die Straßen und betrachte die glänzenden Schaufenster, in denen Modepuppen die neuste Haute Couture tragen. Dabei sehen die Leute auf der Straße ganz anders aus: Ich kann nicht verstehen, wie die Franzosen bei diesem herrlich sonnigen Frühlingswetter in so dunkle, schwere Stoffe gekleidet sein können. Das soll die Stadt der Mode sein? Da fällt mir ein: Habe ich nicht irgendwo gehört, dass die Franzosen ihre Francs lieber fürs Ausgehen und Mode von der Stange, also »prêt-à-porter«, ausgeben, anstatt sie in neue Designerklamotten zu investieren? Da stimme ich voll und ganz zu! Mit Freunden unterwegs zu sein und neue Leute kennenzulernen, finde ich auch viel interessanter, als wieder ein neues teures Kleidungsstück im Schrank hängen zu haben.

Auf dem Boulevard de Sébastopol reißt mich eine ältere Frau mit verfilzten blond gefärbten Haaren aus meinen Gedanken. Etwas Unverständliches zeternd, überholt sie mich auf dem Trottoir und lässt mich im Dunst ihrer Alkoholfahne zurück. Schwankend bewegt sie sich in ihren hochhackigen Schuhen nun ein paar Meter weiter vor mir. Eine auffällige pinkfarbene Bluse fällt lose über ihren weißen Minirock. Den lüftet sie jetzt plötzlich mit ihrer rechten Hand und kratzt sich an ihrer nackten Arschbacke. Eine Unterhose trägt sie nicht! Ich mag meinen unschuldigen blauen Augen nicht trauen. Wo bin ich denn hier gelandet? Ganz französisch bemühe ich mich um Contenance. Obwohl ich mit meinen kurzen Hosen auch viel nacktes Bein zeige, hoffe ich, dass ich etwas stilvoller gekleidet bin als sie.

Doch auch als ich ein paar Minuten später das Einkaufszentrum Les Halles erreiche, ernte ich weiterhin zweideutige Blicke. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie als Kompliment nehmen soll oder gerade in die Schublade des leicht bekleideten Mädchens gesteckt werde. Das Vergnügungsviertel vorgestern war fast harmlos gegen das, was ich heute auf meinem Spaziergang erlebe. So richtig wohl fühle ich mich nicht mehr in meiner Haut. Aber jetzt schon zurück ins Hotel will ich auch nicht. Lieber mache ich noch einen Abstecher in die Galeries Lafayette auf dem Boulevard Haussmann gegenüber dem großen Opernhaus. In der gediegenen Atmosphäre eines der ältesten Kaufhäuser Frankreichs hoffe ich, unter den teuren sommerlichen Kleidern weniger Aufsehen zu erregen. Kaufen will ich hier natürlich nichts – nur mal gucken. Die stolzen Preise könnte ich mir eh nicht leisten. Aber anschauen kostet ja nichts.

Als ich in dem Konsumtempel mit seiner riesigen Kuppel auf dem Dach mit der Rolltreppe in den ersten Stock fahre, spüre ich, fast am Ziel angekommen, plötzlich eine fremde Hand zwischen meinen Beinen. Was ist denn das?! Erschrocken drehe ich mich um und schaue in die dreist grinsenden Gesichter zwei junger Franzosen. Ich bin fassungslos! Jetzt auch noch Grabscher?! Vor Schreck wie gelähmt kann ich weder etwas sagen – was mir auf Französisch aus Mangel an entsprechenden Vokabeln eh nicht gelingen würde – noch meine Hände in irgendeiner Form sprechen lassen. Dabei hätte ich mich nur zu gern mit zwei schallenden Ohrfeigen gewehrt! Stattdessen verlasse ich wie ferngesteuert die rollende Treppe und gehe weiter.

So etwas ist mir noch nie passiert! Ich trage doch nur ein Paar Bermudashorts, die mit einem Wirrwarr aus großen dornigen Rosen in Blau-Rosa bedruckt sind, und dazu ein farblich abgestimmtes Trägeroberteil. Darüber habe ich eine lange weiße Weste gezogen, die fast bis über meinen Po reicht. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mir in Paris über diese farbenfrohe Kleidung, die meine langen nackten Beine in weißen Sandalen zur Schau stellt, weitere Gedanken zu machen. Zu Hause in der Frankfurter City würde ich in diesem Aufzug von keinem Mann eines Blickes gewürdigt werden. Das ist mir so auch lieber, als wie hier dreist begrabscht und auf sexuell übergriffige Art degradiert zu werden.

Ab ins Hotel! Umziehen! Erst mit langen grauen Hosen und einem dunkelblauen T-Shirt traue ich mich wieder nach draußen. Erschreckend, dass ich mir solche Gedanken machen muss, wie ich mich hier als junge Frau anziehen kann, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. In der Nähe des Hotels setze ich mich an einen kleinen Brunnen. Mit einem deutsch-französischen Wörterbuch bewaffnet, in dem ich gelegentlich Wörter nachschlage, die mir für den Alltag wichtig erscheinen, betrachte ich die Menschen, die an mir vorbeilaufen. Gedanklich bereite ich mich darauf vor, dem nächsten Grabscher das gelbe Wörterbuch um die Ohren zu hauen. Und tatsächlich dauert es nicht lange und ich werde angesprochen – aber immerhin freundlich, so wie es sich gehört. Das Wörterbuch behalte ich in der Hand und übe mich stattdessen bei einem kurzen Plausch in meinem noch brüchigen Französisch.

So halte ich es auch in der folgenden Woche: Werde ich in den nächsten Tagen von neugierigen jungen Franzosen auf der Straße angesprochen, lasse ich mich hier und da in ein freundliches Gespräch verwickeln, wenn mein Gegenüber mir sympathisch ist, – mehr nicht. Ich bin interessiert an Paris und den Menschen und habe eh nichts Besseres zu tun, also nutze ich die Chance, um diese wunderschöne Sprache zu üben und ungeschickt durch mein französisches Vokabular zu holpern. Zum Glück haben alle erstaunlich viel Geduld mit mir und meinen linguistischen Bemühungen. Ich kann sogar aufatmen, weil ich mal nicht nach meinen Fehlern beurteilt und benotet werde. Außerdem klappt es erstaunlich gut, die Wörter aus Latein und Englisch abzuleiten und dann so gut wie möglich französisch klingend auszusprechen. Nach einer Weile gewöhne ich mich sogar richtig an diese unverfänglichen Schwätzchen, die viele in meiner Heimat wahrscheinlich als Anmache bezeichnen würden.

Alles in allem erlebe ich so eine wunderbar abwechslungsreiche Woche in Paris. Ich gehe zum ersten Mal in den imposanten Louvre, wo ich vor lauter Menschen an der kleinen Mona Lisa fast vorbeilaufe. Im Musée de l’Orangerie bin ich begeistert von den Gemälden bekannter Impressionisten und bestaune die beeindruckenden Seerosenbilder von Claude Monet, die bis zu 17 Meter lang und jeweils zwei Meter hoch sind, mit offenem Mund. Meine Mutter besuche ich an ihrem Arbeitsplatz in Saint-Cloud, und wir gehen zusammen mit ihren sympathischen Kollegen Mittag essen. Meinen Croissant-Konsum zum Frühstück hingegen reduziere ich drastisch. Immerhin will ich das nächste Mal, wenn ich in Paris bin, genauso schlank sein wie jetzt. Und das ist schon bald! Denn es hat mir in dieser großen, weitläufigen Stadt mit ihren freundlichen, zugänglichen Menschen so gut gefallen, dass ich in ein paar Monaten für einen Sommerferienjob in der französischen Metropole zurück sein werde – dieses Mal aber ohne die »gewagte« Kombination aus dünnen Shorts und luftigem Top!

Fernweh im Herzen

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