Читать книгу Techno der Jaguare - Nino Haratischwili - Страница 10
ОглавлениеMAKA MIKELADZE
EINE MIT BUCH UND IHRE ERLESENE LESERSCHAFT
Früh am Morgen, gleich nach dem Aufwachen, wurde ihr klar: Das Leben steckt voller Überraschungen. Ihr Spiegelbild teilte ihr mit, dass ihr über Nacht ein Buch aus dem Kopf gewachsen war.
Am Abend vorher, als sie zu Bett gegangen war, war noch alles in Ordnung gewesen – sie war Tino und sah auch wie Tino aus.
Sie betrachtete die Neuausgabe ihrer selbst genauer. Sie befingerte das Buch. Sie zog daran. Es saß fest. Sie zuckte nur mit den Schultern. Dann legte sie ein leichtes Make-up auf und überlegte, wie sie sich nun frisieren sollte. Das frisch hervorgesprossene Buch ging ihr, ehrlich gesagt, schon ein wenig auf die Nerven. Heute passte ihr das ganz und gar nicht. Ausgerechnet heute … aber auch nicht morgen, auch nicht gestern. ›Wie sieht das denn aus? Was soll ich bloß damit machen?‹, dachte sie.
Sie kämmte die Blätter nach links. Mehr Blätter auf der einen Seite, auf der anderen weniger. Das stand ihr gut. Ihre Laune stieg wieder, und sie betrachtete ihr Spiegelbild von allen Seiten.
Auf ihrem Nacken entdeckte sie ein weiteres kleines Buch.
Prüfend betrachtete sie sich im Profil. Wenn sie das kleine Buch offen trug, sah es verwuschelt aus. Darum klappte sie es sorgfältig zu und schob es mit einer anmutigen Bewegung ein wenig den Hinterkopf hinauf.
»Fertig!« Sie war zufrieden.
Mit gemischten Gefühlen verließ sie das Haus: ›Wer weiß, wie die Leute darauf reagieren … Was sie wohl sagen werden?‹
›Vermutlich ist das jetzt der letzte Schrei‹, mutmaßte die Verkäuferin, als sie ihren Kopf sah, und überreichte ihr die hübsch verpackten Einkäufe mit Respekt.
Auf dem Rückweg sahen ihr ein paar gewohnheitsmäßige Gaffer hinterher. Ganz ohne böse Absicht, nur eben neugierig. Sie bekam sogar Komplimente wegen ihrer neuen Kreation.
Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
Auch das Frühstück ließ alles noch einmal rosiger erscheinen. ›Das wird doch noch ein schöner Tag‹, sagte sie sich. Nichts fürchtete sie mehr als ein graues Dasein. Mit aller Kraft krallte sie sich an ihrem außergewöhnlichen Erscheinungsbild fest. Sie klammerte sich ebenso daran wie an alles Gewohnte.
Der gewohnte Liebhaber rief an, aufgeregt hechelnd. Er sabberte vor Lust. »Schnell, ich habe eine halbe Stunde frei, in fünf Minuten bin ich bei dir und kann zwanzig Minuten bleiben. Dann muss ich wieder weg.« Atemlos fuhr er fort: »Und heute Abend steigt eine grandiose Party, echt lebenswichtig, da müssen wir einfach hin! Springbrunnen und Feuerwerk, ein Riesen-Tamtam, ganz nach deinem Geschmack. Die Location schlechthin! Wirf dich in Schale, da ist cooles Outfit angesagt, Mensch!«
Die Nachbarin kam vorbei – »Hast du zufällig einen Löffel Kaffee zu Hause?« – und zündete sich gemächlich eine Zigarette an.
»Wow, krass! Wo hast du das denn her?« Sie deutete auf das Buch.
»Aus einem Antiquariat.« Tino drehte ihr den Nacken zu, um ihr einen genaueren Blick auf das Buch zu ermöglichen. »Kannst du mir sagen, was drinsteht?«
»Komm, zeig mal her …« Gleichgültig blätterte die Nachbarin die Seiten durch. Sie gehörte zu den Menschen, die ein Buch in erster Linie nach seinem Cover beurteilten.
Mit klopfendem Herzen wartete unser Buchköpfchen auf die Antwort, sie wartete ebenso sehnsüchtig darauf wie auf einen Anruf des Geliebten im grauen Alltag, wie auf das Verschwinden der Nachbarin vor dem Erscheinen des Geliebten.
»Da steht gar nichts.« Die Entwicklungsperspektive der Unterhaltung schrumpfte auf null.
»Wie, nichts? Überhaupt nichts?« Tino bekam es mit der Angst zu tun – und wie!
»Überhaupt nichts.«
»Aha …« Jetzt wünschte sie sich umso mehr, dass die Nachbarin endlich ginge.
Der Kaffee in den Tassen dümpelte fade, halb ausgetrunken.
Die Nachbarin spürte Tinos Gereiztheit. Irritiert stand sie auf, um sich zu verabschieden.
»Das Cover ist echt stark …«, versuchte sie ihre Taktlosigkeit zu überspielen.
»Mit einem Softcover würde ich mich auch gar nicht erst abgeben!«, erwiderte Tino schnippisch.
Die Nachbarin verschwand.
Tino zog sich schnell noch um, bevor ihr Liebhaber kam. Sie schlüpfte in ein Kleid, das er ihr geschenkt hatte, und bemerkte, dass sich die Bücher der Farbe des Kleides anpassten.
Das Kleid – feuerrotes Tuch – lud zum Ausziehen ein. Begeistert ging ihr Liebhaber darauf los wie ein Stier und spießte Tino auf die Hörner, die er seiner Frau aufsetzte.
Danach hechelte er wie ein Hund und entdeckte nun auch das Buch auf Tinos Kopf, aber er wollte seine Atlasschulter, auf der bereits die gesamte Geschäftswelt ruhte, nicht noch zusätzlich belasten.
»Kannst du mir sagen, was da drinsteht?« Tino schmiegte sich an ihren Liebhaber, der wie durch Herakles’ List der Geschäftswelt entrückt schien, und raschelte vor seiner Nase mit den Seiten des Buches.
»Ich hab doch gesagt, du siehst toll aus«, brummte er.
»Aber was steht denn nun drin?« Sie tippte sich an den Kopf.
Der Liebhaber warf einen kurzen Blick in das Buch und gähnte.
»Jährliche Berechnung des Einkommens, Kredite, Bilanzen – alles Excel-Tabellen. Sonst nichts.«
Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. ›Dann muss ich ja ziemlich klug aussehen …‹, dachte sie geschmeichelt.
»Ich muss jetzt los!« Hastig sprang er zu dem Stuhl, auf den er seine Socken und die Krawatte geworfen hatte, und streifte beides umgehend über, während seine Partnerin taktvoll auf ihre Armbanduhr schaute, um sich nicht anmerken zu lassen, dass der Anblick eines nur mit Socken und Schlips bekleideten Mannes nicht gerade ein Augenschmaus war.
»Punkt elf heute Abend musst du fertig sein!« Sie küssten sich flüchtig in der Tür. »Und wirf dich in Schale: cooles Outfit!«, mahnte er noch.
»Tino, du bist vielleicht ein Glückspilz!« Eine Freundin kam herein, wie immer up to date. »Und …? Will er dich heiraten?«
Mit Krediten und Bilanzen war diese Freundin nicht zu beeindrucken.
»Wieso heiraten? Das würde ich nicht gerade Glück nennen! Wer braucht schon solche ausgeleierten Beziehungen? Ach, was! Er kommt, macht mich glücklich und geht wieder; er kommt und geht einfach. Gerade jetzt ist er wieder gegangen. Er trennt sich nicht von ihr und wird sich auch nicht von ihr trennen. Dann eben nicht, ist mir doch egal!« Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder seine Socken über dem Stuhl hängen, und so versuchte sie es mit einem angenehmeren Gesprächsthema.
»Schau mal hier!« Sie fasste sich an den Kopf, um die Blätter zu ordnen.
»Hast du etwa Läääuseeee?« Die Freundin kreischte entsetzt auf, und Tino kreischte mit, aber dann kam sie wieder zu sich.
»Bist du verrückt? Das fehlte mir noch! Nein, nur einen Bücherwurm!«
Die Freundin vertiefte sich in das Buch. Mit Tränen in den Augen rasselte sie vor Tino den Inhalt einer Seifenopern-Folge herunter, als handelte es sich um einen Auszug aus der Sonntagszeitung oder aus einem Groschenroman. Es klang ungefähr so:
»Hand in Hand spazierten sie die Allee entlang. Er, Don Juan, deklamierte inbrünstig, dass er bis jetzt noch keiner Frau seine Liebe erklärt hätte. Dona Silvia schwieg. Der Mann wandte sich ihr mit wilder Entschlossenheit zu und eroberte ihre heißen Lippen. Ihr Körper sehnte sich mehr und mehr nach dem seinen, und sie versuchte, sich zur Vernunft zu rufen. Ihr Ruf blieb ohne Antwort. Die Hand des Geliebten aber schlängelte sich schon in ihr Dekolleté. Plötzlich öffnete sich die Truhe ihrer Erinnerungen und leerte sich über ihr aus, die Ermahnungen ihres Erziehers überschwemmten sie.
›Nein, Don Juan! Nein!‹, rief sie vieldeutig aus. ›Du hast mich verraten!‹
›Nicht nein, ja!‹ – Der feurige Macho war wie von Sinnen.
›Genau das sage ich doch!‹, empörte sich Dona. ›Verräter!‹ – Klatsch!
Sein Blick wanderte nach oben, zum Mond, der sorglos in den Zweigen der Birken schaukelte.
›Du wirst mich niemals wiedersehen!‹, rief er pathetisch und jagte sich seine Machete in die linke Brust. Natürlich besaß er eine Machete, Macho, der er war.
›Don-Juan-Giacomo-José-Carlos-Carrera-Alejandro! O nein! Ich bin für immer … dein!‹
Der Don gab seine Seele Gott zurück und seinen Leib der Fazenda.«
Die Tränen der beiden Freundinnen flossen wie Bäche, und als das Schluchzen nachgelassen hatte, sagte Tino: »Ja, das ist viel besser.« Sie warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu. »Mit dem Inhalt kann man sich getrost überall blicken lassen. Komm, lass uns gehen. Ich muss noch kurz bei einer Totenmesse vorbeischauen. Steht es mir, wenn ich das Buch geschlossen trage?«
»Sieht super aus! Dir steht sowieso alles!« Die Freundin beäugte das kleine Buch in ihrem Nacken.
»Das lass ich dich ein andermal lesen!« Tino versuchte, sich herauszumanövrieren. Ihr sechster Sinn sagte ihr, dass dieses Büchlein besser ihr Geheimnis bleiben sollte.
Der Weg zur Totenmesse folgte der Marschroute der Gewerkschaftsdemonstration, vielleicht folgten auch die Gewerkschafter selbst der Straße zum Friedhof, und mit ihrem Marsch produzierten sie unentwegt Verkehrsstaus.
In Vorbereitung auf die Totenmesse, so um sieben Uhr am Abend, zeigte sich das Buch in einer akademisch-strengen weinroten Färbung unter einer Goldprägung; das Buch in ihrem Nacken bevorzugte eine zarte Blässe mit einem Silbertouch.
Trotz ihrer hohen Absätze fing sie an zu laufen – um einen Ausweg zu finden. Sie hatte Angst vor den Leuten, und so verließ sie den selbstsicheren Strom der Straße, wurde aber auf dem Gehsteig von einem quer gestellten, selbstgezimmerten Verkaufsstand aufgehalten, auf dem sich Bücher stapelten.
Der rüstige, elegante Verkäufer in seinem abgetragenen Regenmantel ruhte so fest in sich selbst wie der Katalog der Akademiebibliothek.
»Bücher!« Ihr Herz schlug höher bei dem Anblick, und das war etwas völlig Neues für sie. Misstrauisch beäugte sie den Mann. Bestimmt waren seine Machenschaften die Ursache dafür, dass in ihrem Kopf Bücher sprossen, beschloss sie. Sie beobachtete ihn lange, und schließlich stöckelte sie zu ihm hinüber.
»Ähm, wie soll ich sagen … Wissen Sie … Welches Buch würden Sie mir empfehlen?«
»Werteste junge Freundin, Sie sollten Don Quijote lesen!« Seine Augen lächelten sie an. Das Gleiche hatte übrigens ein berühmter Chirurg geantwortet, auf die Frage eines Studienanfängers, der wissen wollte, wie man Arzt wird.
Dieser seltsame Mann war keinesfalls langweilig, aber im Wind schlugen Tinos Bücher wie wild mit den Seiten, und es gab keinen Unterschied zwischen ihnen, weil sich auch der Buchhändler mit beiden Händen zu schützen versuchte. Wehende Winde und sich drehende Windmühlenflügel verstärkten nicht gerade ihren Kampfgeist.
»Kaufen Sie auch Bücher an?«, fragte Tino und fasste sich an den Kopf.
»Je nachdem, um was es sich handelt.« Die Melancholie des Buchhändlers war grenzenlos, wie die äußere Hülle des Leviathan. Tino ließ ihren Blick pro forma über die Auslage schweifen. »Ich schaue in den nächsten Tagen noch mal vorbei«, murmelte sie, dem Stand zugewandt, denn die Augen des Händlers flößten ihr Furcht ein.
»Ich erwarte Sie morgen, bei Tagesanbruch.« Der Buchhändler benahm sich wirklich verdächtig.
Der Taxifahrer hatte seinen Schlagersender eingeschaltet und war in der Musik versunken wie die rote Sonne im Meer bei Capri. Erst als sie ausstieg, wandte er sich seiner Kundin zu: »Das sehe ich zum ersten Mal, dass so eine hübsche junge Frau wie Sie einen Malerhut aus Zeitungspapier trägt!«
Die Straße war gesperrt. Tino hatte Mühe, sich den Weg durch die Demonstranten zu bahnen. Manch einem schien sie einen Papyrus auf dem Kopf zu tragen, manch einem einen verstaubten und altmodischen Folianten, die Mehrheit aber nahm sie als eine Apologetin wahr, der die Memoiren Tausender demokratischer und überparteilicher Führer als Kopfbedeckung dienten.
»Als wessen Text werde ich hier eigentlich gelesen?« Aufgebracht setzte Tino die Ellenbogen zu ihrer Verteidigung ein. Die Bücher entflammten, als hätte man sie ins Kaminfeuer geworfen, wurden zu Asche und stiegen dann wieder auf wie ein Phönix: wieder in DIN-A5-Größe, 120 mg, gelbes Papier, Fadenheftung, mit einem farbigen, festen Einband, laminiert, reich verziert, mit verschnörkelten Beschlägen und Goldprägung.
Bei einer Wechselstube bog sie ein, und bald darauf mischte sie sich unter die Trauergäste.
Die Angehörigen schauten missbilligend auf ihre weinroten Bücher. Tino erstarrte. Sie war in ein Fettnäpfchen getreten.
So stellte sie sich verschämt in den Hauseingang. Ihr flehender Blick musterte die Besucher, fand aber kein einziges bekanntes Gesicht. Mit gesenktem Kopf und auf ihr Handy konzentriert, harrte sie noch die obligatorischen zehn Minuten aus, dann verschwand sie in Windeseile.
»Warten Sie doch!«, rief jemand von oben hinter ihr her. »So einen spannenden Krimi findet man nicht auf dem Markt …«
Tino ging umso schneller weiter.
»Tja, wie immer: an der interessantesten Stelle …«, seufzte der Liebhaber kostenfreier Lesesäle.
Von der Fülle der Eindrücke überwältigt, beschloss Tino, sich erst einmal hinzulegen. Im Schlaf leerte sich ihre Festplatte wieder. Gut erholt wachte sie auf, gerade rechtzeitig, um die Einladung zur Party wahrzunehmen.
Ein Kleid mit Schlangenhautmuster, figurbetont, rückenfrei und hochgeschlossen, knöchellang und breit ausgestellt, Handtasche und Schuhe aus vergoldetem Krokoleder, das einseitig gescheitelte Buch diamantbesetzt und das kleinere im Nacken wie eine Jubiläumsausgabe in Kängurufell gebunden – ihretwegen brauchte sich ihr Geliebter wirklich nicht zu schämen.
Sie verriegelte das goldene Schlösschen des Buchs in ihrem Nacken: niemand sollte in ihren Büchern etwas lesen können. Sie war die Inkarnation des Mysteriösen.
›Belesenheit‹ in Bewegung
Der Geliebte kam mit einem offenen weißen Cabrio herangerauscht wie ein Playboy, »machen wir die Nacht zum Tage« usw., öffnete galant zuerst die Tür seines fahrenden Fetischs, dann die der Bar darin, und taramtaram turumturum …
Das Restaurant hieß Ein weites grünes Feld – der Rasen war feucht, der Springbrunnen weiß, daneben antike Säulen und bengalische Feuer, »Nein, so viel kann ich nicht trinken!« usw., mit Bandmusik und Jazz und »Hat doch alles keinen Sinn!« und taramtaram und turumturumtaram …
Mit Messer und Gabel und Sektglas und schwarzem Kaviar. Mit trockenem Obst und Nüssen und aufgespießten Oliven und taramtaram turumturum …
Mit Saxophon und Fagott und Fagott und Flöte und Gartenbank, mit Bussi links und Bussi rechts und Gesellschaftsdrama. Mit Charme und Flirt, Flüstern und Taxieren. Was will man mehr? Taramtaram turumturum …
Oh, was das gegenseitige Taxieren angeht … Die Frisuren der anwesenden Damen … taramtaram …
Auch sie hatten ihre Bücher festlich toupiert …
Zum Beispiel die eindrucksvoll wirkende junge, rundliche, fröhlich lächelnde Frau mit einem Zopfkranz und wie Kopfhörer um die Ohren gelegten Büchern.
Oder die stattlich aussehende, strenge, schmalgesichtige Dame, die ihre Bücher siebenfach auf dem Nacken gestapelt hatte.
Besondere Aufmerksamkeit erregte die Tangotänzerin mit dem papierfreien Nacken und dem wie ein Pony in die Stirn fallenden Titelblatt.
Auch bei der Kleidung dominierten die Bücher. Wie die Adelsfrauen der Renaissance trugen einige einen hochgeschlossenen, königlichen Buchkragen, so dass man meinte, das Buch wachse ihnen direkt aus dem Hals …
Die Männerfrisuren waren meist in schwarze Businessmappen gehüllt, mit ebenso schwarzen, schmalen Lederbändchen als Lesezeichen – very busy eben.
Von den Kreativen hatten manche Schubladen in der Stirn, im Nacken oder im Scheitel: zog man an einer davon, sprang ein Buch heraus, bei der nächsten eine Zeitschrift. Manche waren Unilibristen, manche Multilibristen, es gab auflagenstarke und auflagenschwache … Auf manchen Köpfen lagen die Bücher schlicht und ordentlich, abgestaubt, vorsichtig angehaucht und mit einem Seidentuch poliert, ohne Fingerabdrücke. Aus den Brusttaschen ihrer Besitzer ragten Brieföffner statt Einstecktüchern, für den Fall, dass jemand in ihren druckfrischen, jungfräulichen Büchern zu blättern anfinge. Andere trugen ihre Bücher umhüllt von Staub- und Wortwolken.
Tinos Geliebter vertiefte sich in ein Gespräch mit einer Dame, die mit ihrem Fremdwörterbuch kokettierte; Arm in Arm führte er sie zu einem entfernten, verdunkelten Pavillon, so dass Tino nur noch ihre Schatten sehen konnte, während sie sich gegenseitig ihre Seiten wild durchwühlten … vielleicht, um die Druckfarbe tiefer einatmen zu können. Tataramtaram turumturum … Jaaah.
Die Musik wurde wieder lauter.
Das verlassen wirkende, rundum verglaste Restaurant, die blühenden Mandelbäume, die weiß behandschuhten Hände, die Lupen und Monokel hielten; die im Mondschein leuchtenden Marmorbüsten und Torsi, die tanzenden, glitzernden Wellen im Springbrunnen, die Senioren in ihren weißen Fracks, die Damen und die Ober; die muschelförmigen Sessel, die Tische, die weißen Fliesen, die Musen, die hochhackigen Tanzschuhe und die High Heels, der weiße Flügel, die Dramen und so weiter – Tino beobachtete alles von der Seite, wipipiwipipiwi … Jaaah.
Ein junger, stattlicher Mann kam auf sie zu. Er trug seine Bücher prächtig gewellt.
»Na, was steht denn darin?« Tino gab ihre geheimnisvolle Strenge auf und streckte ihm den Kopf entgegen.
»Ah, du bist ein Fan von mir? Das ist ja mein Meisterwerk! Vermutlich kennst du auch die ganzen Zitate auswendig, oder, Süße?«
Natürlich konnte sie ihn jetzt weder nach seinem Vornamen noch nach seinem Nachnamen fragen. Deswegen sagte sie:
»Was für eine narzissenfarbige Zartheit, nicht wahr? Ich bin vor dem Spiegel förmlich erschaudert!«
»Du scheinst kein einfaches Mädchen zu sein, Süße!« Seine Hände versanken in ihren Büchern.
Bis jetzt hatte Tino das ungefragte Blättern in fremden Büchern als Sakrileg empfunden.
»Ich schaue mal, was in den Büchern der anderen steht!« Höflich verabschiedete sie sich von dem Meister.
Ticktackticktack …
War es ein Regenschauer, oder hatte sich die Zeit bewegt? Die Musik wurde leiser, lief aber weiter.
Das Lesen in fremden Büchern entpuppte sich als großartig. So erfuhr sie, wer wer ist, was er ist und wo er ist … ticktackticktack usw. Eins, zwei, drei, Walzer und Martini, ein Abend jung wie der Juni.
Die Musik musizierte wieder.
Was passiert mit den alten Menschen da, die in ihren Büchern trockene Chrysanthemen aufbewahren? Warum verlieren sie ihre Buchstaben und sammeln sie dann wieder ein für die Kreuzworträtsel ihrer Erinnerungen? Oder der pagenhafte Junge und das engelhafte Mädchen dort – warum kritzeln sie ihre linierten Hefte einfach mit den kompliziertesten Formeln voll? Wer hat sie die Liebe gelehrt? Sollen sie doch ihre Hefte schließen, damit keiner ihre noch tintenfeuchten Gleichungen sieht! Und die Paare, die dort auf dem Rasen beieinanderliegen – warum verlöschen die Eintragungen in ihren Büchern? … Nein, sie enthielten keine Wörter, die Blätter stammten wohl eher aus einem Notenheft, wie Blätter von Mandelblüten.
Langsam umherspazierend inspizierte Tino die Bücher der anderen.
Hätte man in die runden Glasscheiben des Restaurants geblickt, wäre es einem vorgekommen, als hätte man die Bücher schon alle gelesen. Doch Spiegelbilder sind trügerisch. Spiegelverkehrte Buchstaben ähneln Betrunkenen …
In seiner Trunkenheit hatte jemand sein Buch verloren. Es ist ja oft so, dass man, wenn man ein fremdes Buch zu retten versucht, sein eigenes verliert.
»Du, weißer Narziss, auch in deinem Wunderwerk hat mir das eine oder andere gefallen!«, rief sie dann und wann dem einen oder anderen ›Meister‹ zu.
Wenn sie die Möglichkeit hätte, würde sie alle Wunderwerke lesen – auch den Himmel, den Regen, die Stunden …
Ticktackticktack und …
***
Das aggressive Aufheulen von Motorrädern überdeckte den aufgebluesten Jazz – mit quietschenden Reifen und kreischenden Bremsen fuhren sie vor.
Statt Büchern wuchsen ihnen Computer aus den Köpfen, die Festplatten mit Gedanken überladen; unter die Achseln geklemmt trugen sie Laserdrucker, und an den Stiefeln hatten sie Prozessoren befestigt. Breitbeinig stapften sie los, mit den auf ihren Schultern montierten Musikboxen, und auf ihrer Stirn blinkten Webcams. Ganz vorne stolzierten die mit den Laptops, am Schluss schleppten sich die mit den Kopierern. Die Verkabelten blieben zurück, die Kabellosen schritten voran. Die, auf deren Köpfen Monitore angebracht waren, drehten ihre LCD-Bildschirme unterschiedlicher Größe selbstgefällig hin und her.
Aus den Musikboxen schallte E-Musik in voller Lautstärke, vibrierend und Bio- und Stromwellen aussendend. Die gemütliche Liebesoase wurde von einer allumfassenden Panik ergriffen.
Die Neuankömmlinge sahen wie Außerirdische aus.
»Sie haben sie hereingelassen!« Einige liefen vor Entsetzen schreiend davon. »Sie werden uns vernichten!« Andere liefen wie vom Habicht aufgescheuchte Küken durch die Gegend.
»Ist das schon das Jüngste Gericht?«
»Wieso Gericht? Was haben wir denn verbrochen?«
Die Neuankömmlinge benahmen sich unverschämt. Sie speicherten die Bücher mit ein, zwei Befehlen in ihre Computer ein, fotografierten mit Digitalkameras die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Anwesenden, und die gierigen Maschinen verschlangen die Aufzeichnungen wie ein Vielfraß. Durch ihre Mobiltelefone waren sie eingewoben in ein unergründliches weltweites Netz von Hirn und Wissen, und unwillkürlich verwoben sie auch alle anderen in dieses Netz, unabhängig davon, ob sie Hirn hatten oder nicht, ob sie Wissen hatten oder nicht.
Ihr Kommen bedrohte die Existenz der schmalschlitzigen eisernen Briefkästen, gnadenlos. Die Postkarten wurden noch virtueller als die Briefkästen. Man konnte sie nicht mehr aus Zorn zerreißen. Sie zu vernichten ging nur noch per Knopfdruck.
Sie hatten auch ihre Schwächen. Schamlose Nacktheit berührte sie nicht, aber ein nacktes Kupferkabel verstörte sie zutiefst. Einkaufen gingen sie, ohne das Haus zu verlassen, mit Chips statt Schlips, sie chatteten, zippten, wechselten die Seite von Site zu Site, bloggten und hackten. Die Schlimmsten unter ihnen strebten die Weltherrschaft an.
Die Welt war zu träge für das neue Tempo.
»Ach! Diese alte, alte, alte … müde Welt!«
»Was für Filme laufen denn auf deinem Bildschirm?« Der ›Meister‹ versuchte, die Oberhand zu behalten.
Der Anführer der Eindringlinge hatte sein Laptop-Desktop samt Tastatur und Maus, DVD-ROM und Baba-O-Rum, kurz, alles zusammen in einem armbanduhrgroßen Gerät untergebracht.
Ticktackticktack.
»Und unter welchem Nickname bist du hier eingeloggt?«, fragte er Tino.
Tino kam sich auch ohne diese Frage wie ein Ladenhüter aus dem Antiquariat vor, einfach veraltet.
»Was steht denn da drin?«, fragte sie mechanisch. Eigentlich wollte sie weglaufen.
»Soll ich dir ein Printout machen?«
Der Geliebte war nirgends zu sehen, sonst hätte sie ihn gefragt, ob sie einen dämlichen Eindruck hervorrufen würde, wenn sie jetzt das Wort »Excel« ausspräche.
Unwillkürlich stellte sich Tino Sex mit dem Anführer vor (wahrscheinlich nahm sie unbewusst an, dass Ausdrucken etwas mit Sichvermehren zu tun hätte). Wird er dich vielleicht mit verschiedenen Kabeln an seine Geräte anschließen und einschalten? Piiiep. Ein Knopfdruck, und egal was Tino machen wird: prrt, prrt, tsst, tsst, plints, klints, und der Download ist perfekt.
»Rap? Techno? Supertechno? Was willst du dir reinziehen? Bei deiner Frisur stehst du bestimmt auf Breakdance. Wollen wir?«
Der Break brachte Tino zur Strecke, sie brach fast zusammen, und auch einer ihrer Schuhabsätze brach ab.
Ein kleiner Junge mit Pagenschnitt kam zu dem Anführer und zog ihn am Ärmel.
»Onkel, ich habe einen Virus!«
»Und ich einen Antivirus!«
»Wenn du das Foto von mir und meiner Freundin ohne meine Zustimmung veröffentlichst, werde ich dir das Licht ausblasen.«
Der Anführer schenkte dem gescheiten Jungen einen brandneuen iPod, gab ihm die Erlaubnis, im Ausland zu studieren, und überreichte ihm alles zusammen mit Büchern aus dem besten digitalen Verlag der Welt.
»Wer braucht denn so was? Ein Rolltop wäre mir viel lieber!«, empörte sich das Kind.
Weithin sah man Lichter funkeln, nur Tino stand schon längst im Dunkeln …
***
Hinkend verließ sie den Mandelgarten.
Sie schaute zurück.
Das bengalische Feuer stieg wie ein Wolkenkratzer in die Höhe und zersprang dann in der Luft. Der Mandelgarten sah aus wie ein Kirschgarten, die Funken stoben durch die Zweige und Blätter. Die Mandelblüten glitzerten wie Sterne, und die Sterne glitzerten in verweinten Mandelaugen. Und es war Stille. Timtarim.
Hinter ihr blieb das weite, grüne Schlachtfeld ihres Lebens zurück.
Es war schon halb fünf morgens. Der Himmel färbte sich langsam rosa.
An diesem farblosen Morgen, in dieser farblosen Stadt, vor dem leeren Haus einer leeren Frau stand der Buchhändler vor seinem selbstgezimmerten Stand, als ob er nie weg gewesen wäre, als wartete er auf jemanden.
Tino setzte sich auf die Kante des Gehsteigs und versuchte, den Schuhabsatz wieder anzubringen.
Verzweifelt stampfte sie immer wieder mit dem Fuß auf.
»Ähm … also … Verzeihung, äh … Genügt Ihnen der Bücherverkauf zum Überleben?«
Wieder lächelten sie sich nur mit den Augen an.
»Ich schreibe auch Bücher ab …«
»Mit der Hand?« Tino blickte erstaunt auf.
»Nein, mit Gottes Gnade …«
Die Frau stand auf, ordnete das Buch auf ihrem Kopf und richtete sich auf. Endlich hatte sie verstanden.
»Also, ich muss dann gehen, ich werde mein Buch selbst lesen, ich werde prüfen, was man lassen kann und was nicht, was man auslöschen muss und was man abschreiben muss … was neu ist und was alt … und was immerwährend.«