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Kapitel 2 Alles ist Geschichte

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Die Entdeckung der Autonomie der Einzelnen, die – wie begrenzt sie auch immer sein mag – übergangen, aber nicht beseitigt werden kann, die Entdeckung, sich des eigenen Verstandes bedienen zu können und sich von niemandem vorschreiben lassen zu müssen, was man zu denken und zu empfinden hat – all das gehörte zum innersten Kern der Aufklärung, zum großen Aufbruch des westlichen Selbst­bewusstseins im 18. Jahrhundert.

Die Vernunft war dabei zwar bedeutsam, aber nicht unbedingt das wichtigste Stichwort. Die meisten Aufklärer hielten vom Rationalismus so wenig wie vom Irrationalismus. Sie sahen den Philosophen der Aufklärung vielmehr als Kritiker, als jemanden, »der Vorurteile, Überlieferung, generellen Konsens, Autorität, kurz: alles mit Füßen tritt, was die meisten Geister versklavt, der es wagt, selbst zu denken«, wie es in der berühmten Encyclopédie von Diderot und d’Alembert heißt. Darin drückte sich – noch lange vor der Französischen Revolution von 1789 – ein bürgerlicher Stolz aus, der sich allmählich auch auf das gesellschaftliche Klima vor allem in Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und den USA auswirkte: Was nur autoritär verordnet, aber nicht mit Argumenten begründet wurde, fand keine bereitwillige Zustimmung mehr, sondern traf auf Skepsis.

Viele andere Themen hingen mit dieser Autoritätskritik zusammen und gruppierten sich darum herum: das Vertrauen auf Erfahrung und Experiment, die Abkehr von Magie und Wunderglauben, zunehmende Diesseitigkeit und Zweifel an der Totenauferstehung, die Überzeugung, dass sich alles entwickelt hatte und nicht einfach fertig vom Himmel fiel und also eine klar benennbare Ursache haben musste. (Und auch diese Punkte haben ihre eigenen Ursachen und Anfänge, etwa in den naturwissenschaftlichen Denkformen seit der Renaissance oder in dem aus England kommenden Deismus, der kein direktes Eingreifen Gottes in die Welt mehr für denkbar hielt.) Es fällt leicht, sich auszumalen, wie groß die Herausforderung für die Kirchen gewesen sein muss.

Besonders wichtig wurde das Stichwort der Geschichte. In der Aufklärung wurde es gewissermaßen neu formatiert: als säkulares Konzept, fern von allen heilsgeschichtlichen Anklängen. In dieser Form veränderte es nach und nach das gesamte westliche Denken.

Am Anfang stand Voltaire: Nach dem verheerenden Erdbeben, das 1755 die Stadt Lissabon fast völlig zerstörte und Zehntausende von Todesopfern forderte, protestierte der französische Aufklärer gegen die traditionellen Darstellungen der Geschichte, die noch fraglos davon ausgingen, dass alles in der Welt – auch Naturkatastrophen, Verfolgung, Krieg und Vergewaltigungen – im Grunde von Gott gewollt sei. Voltaire hielt es für empörend, das Weltgeschehen als Manifestation der göttlichen Vorsehung zu betrachten oder die Welt sogar, wie Leibniz, zur besten aller möglichen Welten zu erklären. In seiner Novelle Candide ließ Voltaire seinen Protagonisten in den Wirren nach dem Lissaboner Erdbeben seufzen: »Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen erst die anderen sein!« (30).

Für Voltaire gab es keine überzeugende Antwort, wie man die Existenz Gottes, an die er anfangs noch glaubte, mit der Existenz des Leidens in Einklang bringen konnte – er ließ die Frage offen. Die Menschen hatten in seinen Augen nicht die Aufgabe, sich auf die Ewigkeit auszurichten, sondern die Welt zu einem Ort zu machen, an dem man gut leben konnte: »Il faut cultiver notre jardin« sind die abschließenden Worte Candides am Ende des Buchs: »Wir haben in unserem Garten zu arbeiten« (١٥٨). In seiner Philosophie de l’Histoire (»Geschichtsphilosophie« – von ihm stammt dieser Ausdruck) hielt sich Voltaire dementsprechend konsequent an empirisch fassbare Geschichtsdaten und Ursachenzusammenhänge. (Seine Hoffnung auf eine »natürliche Religion« schien ihm zuletzt ebenso wenig haltbar wie das Christentum, das er ohnehin ablehnte. Voltaire, schreibt Roy Porter, »starb vermutlich als Atheist« [47].)

So wurde Voltaire zum Wegbereiter einer neuen, ganz und gar »weltlichen« Betrachtung der Geschichte – ohne jeden religiösen Überbau. Hinzu kam das Ursache-Wirkungs-Denken der Naturwissenschaften, das sich allmählich ins gesellschaftliche und geschichtliche Denken einfügte: Alles hatte eine »innerweltliche« Ursache, alles hatte eine Geschichte. Für die Theologie wurde das vor allem im Werk von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) sichtbar.

Reimarus, Professor für die Sprachen des Orients in Hamburg, hätte nach dem Wunsch seiner Eltern eigentlich ein angesehener lutherischer Pastor werden sollen, sah sich aber umso weniger dazu in der Lage, je mehr er seine philologischen und theologischen Studien miteinander und mit der Philosophie der frühen Aufklärung konfrontierte. Vieles am christlichen Glauben erschien ihm anstößig, unvernünftig, moralisch inakzeptabel; der Deismus überzeugte ihn mehr. Dennoch betrieb er über dreißig Jahre lang – bis zu seinem Lebensende – in seiner freien Zeit kritische Bibelstudien. Sein Ziel war es, denjenigen etwas an die Hand zu geben, die sich nicht mehr von den kirchlichen Glaubensvorgaben gängeln lassen wollten. Er hielt seine Aufzeichnungen aber unter Verschluss und bestimmte, dass sie nicht veröffentlicht werden dürften, »bevor sich die Zeiten mehr aufklären« (Apologie, 41).

Als Gotthold Ephraim Lessing in seiner Eigenschaft als ­Bibliothekar der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel in den 1770er-Jahren erstmals einige »Fragmente« aus Vorstufen von Reimarus’ Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes anonym veröffentlichte, rief er einen immensen Sturm der Entrüstung, aber auch viel Begeisterung hervor. Der sogenannte »Fragmentenstreit« wurde zur bedeutendsten theologischen Kontroverse im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Allein von 1777 bis 1780 entstanden mehr als fünfzig Gegenschriften. Und auch in den folgenden Jahrzehnten wurden immer wieder Auseinandersetzungen mit Reimarus veröffentlicht.

Was war so aufregend an seinen Studien? Ich erwähne nur zwei Aspekte, die in unserem Zusammenhang bedeutsam sind.

Vor allem – das ist der erste Aspekt – hatte Reimarus die Bibel mit »geschichtlichem Blick« gelesen. Das war neu und in der Tat bahnbrechend. So stellte er etwa fest, dass diejenigen, die nach der Hinrichtung des Jesus von Nazaret die christliche Gemeinde aufbauten, anderes vertraten als Jesus selbst, weswegen seine Botschaft nicht mit der der Apostel »vermischt« werden dürfe:

[…] ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben wirklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern. Denn die Apostel sind selbst Lehrer gewesen, und tragen also das ihrige vor, haben auch nimmer behauptet, daß Jesus ihr Meister selbst in seinem Leben alles dasjenige gesagt und gelehret, was sie schreiben.

(Von dem Zwecke Jesu, 7 f)

Erstmals unterschied hier ein Bibelkenner verschiedene Zeitschichten mit unterschiedlichen Tendenzen in den biblischen Texten. Und darüber hinaus tat er es so, dass seine Leser und Leserinnen die Beobachtungen leicht selbst nachvollziehen konnten, wenn sie ihre Bibel zur Hand nahmen. Sie konnten feststellen, dass die Behauptung, die Bibel sei insgesamt das unveränderliche, eine, heilige Wort Gottes, zumindest auf der Ebene der Textoberfläche einfach nicht stimmte: Es ließen sich in den biblischen Büchern deutlich unterscheidbare und zum Teil einander widersprechende Auffassungen ausmachen; man konnte auch nachverfolgen, wie sich bestimmte Aussagen weiterentwickelt hatten, und es war zu erkennen, dass man den Texten Gewalt antäte, wollte man sie auf eine einheitliche Botschaft festlegen.

Was Jesus betraf, führte dies zu der Frage, was dieser denn von allem, was die Kirchen über ihn sagten, wirklich vertreten hatte. Für Reimarus war »wirklich«, was geschichtlich zu­ver­lässig festzuhalten war. Er ging davon aus, dass die Evangelien, die von der Zeit Jesu erzählten, die unmittelbarsten Zeugnisse sein mussten, während die »Schriften der Apostel« bereits eine sekundäre, von anderen Interessen geleitete, quasi schon »kirchliche« Erweiterung darstellten:

Dagegen führen sich die vier Evangelisten blos als Geschichtschreiber auf, welche das hauptsächlichste, was Jesus sowol geredet als gethan, zur Nachricht aufgezeichnet haben. Wenn wir nun wissen wollen, was eigentlich Jesu Lehre gewesen, was er gesagt und geprediget habe, so ist das res facti, so frägt sichs nach etwas das geschehen ist; und daher ist dieses aus den Nachrichten der Geschichtschreiber zu holen. Da nun dieser Geschichtschreiber gar viere sind, und sie alle in der Haupt-Summe der Lehre Jesu übereinstimmen: so ist weder an der Aufrichtigkeit ihrer Nachrichten zu zweifeln, noch auch zu glauben, daß sie einen wichtigen Punkt oder wesentlich Stück der Lehre Jesu sollten verschwiegen oder vergessen haben.

(Von dem Zwecke Jesu, 8)

Hier müssen wir uns nicht damit aufhalten, dass Reimarus die Evangelisten noch umstandslos als Geschichtsschreiber (und nicht als Prediger oder Theologen) ansah – auch etliche andere seiner Hypothesen sind inzwischen offenkundig überholt. Der springende Punkt für unsere Überlegungen ist vielmehr, dass für Reimarus der Blick auf die geschichtlichen Fakten maßgeblich wurde.

Waren die Theologen in den Jahrzehnten vor Reimarus zuallermeist davon ausgegangen, dass alles, wovon die Bibel erzählt, geschichtliche Wahrheit sei, so befragte Reimarus nun die Texte anhand eines rein weltlichen Geschichtsverständnisses, wie es vor ihm schon Voltaire skizziert hatte. Er wollte wissen, ob die in der Bibel berichteten Geschehnisse historisch und logisch überhaupt denkbar seien, ob die Fakten stimmen konnten.

So rechnete er bei der Geschichte vom Durchzug der Israeliten durchs Rote Meer nach, wie groß das Volk während der Sklaverei in Ägypten geworden sein musste, und fragte süffisant, ob ein Exodus so vieler Menschen überhaupt möglich gewesen sein konnte. Und bei der Verkündigung der Auferstehung Jesu spekulierte er darüber, warum die Jünger erst an Pfingsten, fünfzig Tage nach der Kreuzigung, damit an die Öffentlichkeit gegangen seien. Hatten sie vielleicht doch den Leichnam Jesu beiseitegeschafft und gewartet, bis er nicht mehr identifizierbar war? So suchte Reimarus nach der Wirklichkeit hinter den Erzählungen.

Dass die Texte andere Absichten gehabt haben könnten, war ihm (und seiner Zeit) fern. Er nahm die »fünfzig Tage« zwischen Ostern und Pfingsten als Faktum, das sein kritischer Geist nicht – wie so vieles andere – infrage stellte. Dass die Zeitspanne zwischen den beiden christlichen Hochfesten genau der Spanne zwischen den jüdischen Festen Pessach und Schawuot entsprach und die neutestamentliche Darstellung offenbar eine christliche Interpretation dieser Feste sein wollte, entging seiner Faktenfixierung.

Reimarus zielte mitten ins Herz des christlichen Selbstverständnisses, wenn er fragte, »ob Jesus würklich nach seinem Tode auferstanden, und gen Himmel gefahren sey«, »ob die Facta wirklich geschehen, ob die Umstände dabei so beschaffen gewesen, wie erzählet wird, ob es auch natürlich, oder durch Kunstgriffe und Betrügerey, zugegangen, oder ob es so von ohngefähr zusammen getroffen« (Fragmente, 137). Was sich nicht geschichtlich und vernünftig plausibel erklären ließ, musste Lüge oder Fantasterei sein.

So zu fragen – es dachten und fragten ja immer mehr Menschen so – hat tiefe Spuren in unserem Denken hinterlassen. »Wirklich« ist dem allgemeinen Bewusstsein bis in unsere Tage vor allem das, was historisch belegbar ist. Wann fand der Exodus der Israeliten aus Ägypten statt? Auf welcher Route zogen sie durchs Rote Meer? Auf welchem Berg erhielt Mose von Gott die Tafeln mit den Zehn Geboten? Wo ging Jesus über den See Gennesaret? Wo war sein Grab? War es wirklich leer? »Wirklich« ist auch heute das zentrale Schlüsselwort. Fragen nach anderen Aspekten – etwa nach dem, was Menschen bezeugen, oder danach, was eine Metapher oder eine Legende ausdrücken will – stehen im Rang wesentlich tiefer, wenn sie überhaupt ernst genommen werden.

Der Buchmarkt reagiert darauf mit Titeln wie »Wer Jesus wirklich war«, »Der historische Jesus aus Nazareth: So lebte er wirklich!« oder »Der letzte Tag Jesu: Was bei der Passion wirklich geschah«. Kirchliche Bildungshäuser veranstalten Diskussionen zum Thema »Gibt es den Teufel wirklich?«, und Nachrichtenmagazine stellen regelmäßig zu Ostern und zu Weihnachten »auf den Spuren des historischen Christus« die Frage: »Wer war Jesus Christus wirklich?«

Artikel wie »Archäologen öffnen Jesus-Grabkammer« ­legen nahe, dass verlässliche »historische Fakten« heute ­­eher von der Geschichtswissenschaft oder der Archäologie erwartet werden. In dem Wort »wirklich« schwingt eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der kirchlichen Verkündigung mit, gepaart mit dem Optimismus der Moderne, dass »die Wissenschaft« die Wahrheit schon zutage fördern werde.

Natürlich war es nicht Reimarus allein, der diesen Umschwung verursacht hat; sein Werk atmet vielmehr auf allen Seiten den Geist seiner Zeit, die mehr und mehr nach handfesten historischen Tatsachen verlangte.

Neben dieser Orientierung an den Fakten hinter den Erzählungen förderte Reimarus in seiner Beschäftigung mit den Texten – das ist der zweite wichtige Aspekt – aber auch eine Erkenntnis zutage, die nicht hinter, sondern durchaus in den Texten zu finden war: die Einsicht nämlich, dass die Worte und Taten Jesu nur vor dem Hintergrund des jüdischen Denkens seiner Zeit angemessen zu verstehen sind, da Jesus als Jude intensiv aus den Traditionen, Schriften und der Sprache des Judentums schöpfte.

Wichtig, so Reimarus, sei es deshalb zu fragen: Im Rahmen welcher jüdischen Vorstellungen mussten Jesu Äußerungen gedeutet werden? Auf welche Traditionen bezog er sich? Wogegen wandte er sich in seiner Zeit? Und wie mussten wohl die zentralen Begriffe der Evangelien – beispielsweise das Himmelreich, der Messias, der Sohn Gottes – »nach Jüdischer Redensart« (Fragmente, 8) verstanden werden?

Reimarus war aufgefallen, dass Jesus in den Evangelien solche Begriffe niemals erläuterte oder neu definierte; er muss sie also bei den »ersten Christen, die ursprünglich Juden gewesen waren«, in ihrer traditionellen jüdischen Bedeutung als bekannt vorausgesetzt haben. Jesus habe demnach keine neuen Mysterien oder Glaubenslehren offenbart, sondern lediglich die Tora und die Schriften der Propheten ausgelegt:

Ich kann nicht umhin, einen gemeinen Irrthum der Christen zu entdecken, welche aus der Vermischung der Lehre der Apostel mit der Lehre Jesu sich einbilden, daß Jesu Absicht in seinem Lehr-Amte gewesen, gewisse zum Theil neue und unbekannte Glaubensarticul und Geheimnisse zu offenbaren, und also ein neues Lehrgebäude der Religion aufzurichten, dagegen aber die Jüdische Religion nach ihren besonderen Gebräuchen, als Opfern, Beschneidung, Reinigung, Sabbathen und andern levitischen Ceremonien, abzuschaffen. [… Im Gegenteil:] Er trieb nichts als lauter sittliche Pflichten, wahre Liebe Gottes und des Nächsten: darin setzet er den ganzen Inhalt des Gesetzes und der Propheten: und darauf heisset er die Hoffnung zu seinem Himmelreich und zur Seligkeit bauen. Uebrigens war er ein gebohrner Jude und wollte es auch bleiben; er bezeuget er sey nicht kommen das Gesetz abzuschaffen, sondern zu erfüllen: er weiset nur, daß das hauptsächlichste im Gesetze nicht auf die äusserlichen Dinge ankäme. Was er sonst […] vorbringet, das war alles sowohl den Juden bekannt, und der damaligen Jüdischen Religion gemäs […]

(Fragmente, 13)

Solche Sätze sind umso erstaunlicher, als sie nahe an dem sind, was in der Gegenwart für das christlich-jüdische Gespräch von grundlegender Bedeutung ist: die Anerkennung Jesu als eines Juden, die Anerkennung, dass die Worte Jesu in allem mit dem Judentum übereinstimmen, und die Anerkennung der meisten neutestamentlichen Schriften als jüdisch geprägte Schriften.

Man kann sich leicht vorstellen, dass der »geschichtliche Blick«, der Jesus immer klarer als einen praktizierenden Juden zeigte, in den christlichen Kirchen für wachsende Beunruhigung sorgte. Was bedeutete es für das Christentum, wenn Jesus wirklich seinen jüdischen Glauben weder verlassen noch überwinden wollte? Und wenn es so war – wie konnte er dann zugleich der Sohn Gottes und der kirchlich verkündigte Christus sein? Hier taten sich Fragen auf, die die Mitte des christlichen Glaubens betrafen.

Zunächst allerdings ist festzuhalten, dass Reimarus nicht nur heftige Proteste hervorrief, sondern bei vielen auch auf entschiedene Zustimmung stieß. Immerhin hatte er gezeigt, wie viel Erstaunliches man in den biblischen Texten entdecken konnte, wenn man sich nicht von der Vorstellung einschüchtern ließ, dass die Bibel in ihrer vorliegenden Form das irrtumslose heilige Wort Gottes war.

Das inspirierte schon im 18. Jahrhundert zahlreiche Theologen, ihren Arbeitsschwerpunkt auf die Erforschung der Bibel zu verlegen und mit historischen Studien zu beginnen. Die Bibelwissenschaft nahm in den folgenden Jahrzehnten einen ungeheuren Aufschwung. Bald schon korrigierte sie einige der gröbsten Missverständnisse von Reimarus. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Identifizierung und Diskussion der verschiedenen Textgattungen, die in der Bibel anzutreffen sind. Nicht alles konnte als geschichtlicher Bericht veranschlagt und dann als Betrug kritisiert werden. Mythische und legendenhafte Darstellungen, poetische Texte, liturgische Vorlagen und anderes mehr sollten in ihrer jeweiligen Eigenart erkannt werden, wenn man sie recht verstehen wollte.

Natürlich gab es auch weiterhin die Frage nach den Fakten, den Versuch, biblische Geschichten als Geschichte zu verifizieren. Insbesondere die frühen Archäologen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins Heilige Land aufbrachen, trauten der Bibel noch durchaus zu, geschichtliche Ereignisse getreulich festgehalten zu haben. So nahmen die meisten von ihnen biblische Aussagen als Ausgangspunkt und suchten dafür nach archäologischen Belegen. Die Frage, »wie es würklich gewesen ist«, beherrschte auch dann noch das Denken, als mit dem Namen Reimarus kaum noch jemand etwas anzufangen wusste.

Eine Gruppe protestantischer deutscher Bibelwissenschaftler soll in jener Zeit an den See Gennesaret aufgebrochen sein, um die Beschaffenheit seiner Ufer und seine Tiefe einmal gründlich zu untersuchen: Gab es im Uferbereich eventuell breitere flache Abschnitte oder größere Steine, die eine »natürliche« Erklärung dafür abgeben konnten, dass Jesus seinen Jüngern über das Wasser entgegenkam? Oder musste man sich Jesu Gang auf dem Wasser anhand philologischer Erwägungen doch eher als einen Gang am Wasser denken – weil anderes eben nicht »denkbar« war?

Natürlich förderte die biblische Archäologie auch bedeutende Erkenntnisse zutage. Ich erwähne als Beispiel nur die Entdeckung von literarischen Zeugnissen aus der Handelsmetropole Ugarit an der Nordwestküste des heutigen Syrien. Dieser kanaanäische Stadtstaat hatte seine Blütezeit zwischen 1400 und 1200 v. Chr. – also lange bevor sich Israel als Königreich konstituierte. Ausgrabungen seit dem Jahr 1929 brachten zahlreiche Tontafeln mit Texten in einer bis dahin unbekannten Sprache in Keilschrift ans Licht. Die Entzifferung zeigte, dass es sich um eine dem Hebräischen verwandte Sprache handelte; unter den Texten waren Verse aus dem ugaritischen Kult. Besonders aufsehenerregend war dabei, dass viele Texte Entsprechungen zu biblischen Schriften aufwiesen. Die Religion des alten Israel war demnach tiefer in der kanaanäischen Kultur verwurzelt, als man bis dahin angenommen hatte. Schließlich sprach ja die Bibel viel von Konflikten zwischen Israel und Kanaan. Nun konnten weitere Untersuchungen zeigen, dass manche Psalmen in ihrem Kern aus alten kanaanäischen Liedern bestanden, also nicht vom Himmel gefallen, sondern aufgegriffen und weiterentwickelt worden waren. Alles hatte eine Entstehungsgeschichte – auch die Gottessprache im alten Israel. Die Frage, mit welcher Offenbarungstheologie das zu deuten war, stellte sich immer dringlicher. Die traditionelle Theorie von der wörtlichen Inspiration der Bibel durch Gott war nicht mehr haltbar.

Darüber hinaus hatten im Laufe des 19. Jahrhunderts manche Theologen begonnen, den »geschichtlichen Blick« nicht nur auf die Bibel, sondern ebenso auf die christliche Dogmengeschichte zu richten. Auch hier ließ sich zeigen, dass die Dogmen nicht ewig und unverrückbar die Kernsätze des christlichen Glaubens festhielten, sondern ihrerseits eine Geschichte hatten und Entwicklungen durchliefen. Was war, war nicht immer so gewesen, und deshalb musste es auch nicht unbedingt so bleiben.

Das mag bei Menschen unserer Zeit nur ein Schulterzucken hervorrufen, doch damals wurde das von kirchlicher Seite und von manchen Theologen als Bedrohung wahrgenommen, auf die die Kirche in etlichen Fällen mit Exkommunikation und Verboten reagierte. (Dazu mehr im nächsten Kapitel.)

Aber natürlich waren solche Machtmittel hilflos gegen das Rad der Zeit. Es drehte sich weiter. Nicht nur im Bereich des Christentums brachten historische Fragestellungen und Forschungen aufsehenerregende neue Erkenntnisse hervor; auch auf allen anderen Gebieten spielte die Frage nach der Geschichte eine immer wichtigere Rolle – mit entsprechenden Rückwirkungen auf den christlichen Glauben.

Als etwa Charles Darwin (1809–1882) anhand seiner Forschungen die Evolutionstheorie entwickelte, war das nicht nur eine bahnbrechende Entdeckung, die die Entstehung der Tierarten aus früheren Formen sowie die Geschichte der Erde und der Menschheit in einem völlig neuen Licht zeigte, sondern wurde auch als Schlag gegen jene Theologie erlebt, die die Schöpfungsdichtung im Buch Genesis immer noch als »Bericht« las und fest von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen ausging.

Die Fortschritte in den Wissenschaften machten es vielen immer schwerer, dem Christentum in seiner traditionellen Gestalt zu folgen. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit der »Agnostiker« erfunden wurde: Thomas Henry Huxley (1825–1895), britischer Wissenschaftler und Unterstützer der Evolutionstheorie von Darwin, prägte den Begriff als Bezeichnung für diejenigen, die meinten, es gebe nicht genügend handfeste Beweise für die Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Neutralität sei deshalb in religiösen Angelegenheiten die angemessenste Haltung.

Und so bekam allmählich auch das überkommene metaphysische Weltbild Risse. Die seit Parmenides (ca. 520–455 v. Chr.) bestehende griechisch-europäische Vorstellung, dass hinter der Realität eine ewige Struktur, ein absoluter Wesenskern – eine Metaphysik also – erkennbar und benennbar sei, wurde mit der Beobachtung konfrontiert, dass auch die Bestimmungen dieses Wesenskerns ihre Geschichte hatten und Wandlungen erlebten. Es wurde immer klarer, dass die Menschen in ihrer Zeitgebundenheit und Vergänglichkeit nur zeitgebundene, vergängliche Erkenntnisse haben konnten. Ein Denken, das die Welt, wie der Philosoph Gianni Vattimo sagt, »im Namen einer letzten Wahrheit um jeden Preis in eine Einheit bringen« wollte, verblasste zunehmend an der Vielfalt ebendieser Welt und ihrer Wissensformen. Was als ewige »innerste Einheit« der Welt präsentiert wurde, spiegelte allzu durchschaubar nur die Machtverhältnisse der jeweiligen Zeit. War Gott einst der oberste Monarch, der noch über dem Kaiser stand, so wurde er später zur Naturkraft, zum Willen oder zur Zukunft.

Erschüttert wurde dieses Denken nicht nur von der jungen Geschichtswissenschaft, sondern auch von einer weiteren, radikal geschichtlichen Erfahrung: vom Kolonialismus und seinen Rückwirkungen auf Europa. Die Existenz nichteuropäischer Kulturen und Religionen trat verstärkt ins Bewusstsein der Europäer; und es zeigte sich, dass diese nicht einfach als »primitiv« etikettiert werden konnten, sondern Denken auf hohem Niveau pflegten. Der hellsichtige protestantische Theologe Ernst Troeltsch (1865–1923) sprach 1893/94 davon, dass die »Zusammenbestehbarkeit« des Christentums mit anderen Welt- und Lebensanschauungen zukünftig »das eigentliche Geschäft aller Theologie« sein müsse (Christliche Weltanschauung, 229).

So »reifte das Bewusstsein, dass es nicht nur einen einzigen Gang der Geschichte (der dann angeblich in der westlichen Zivilisation kulminiert), sondern verschiedene Kulturen und Geschichtsverläufe gibt« (Vattimo, 11). Es gab darum auch nicht mehr nur die eine Wahrheit, die alles andere in sich enthielt. Natürlich unternahmen es Theologen und Philosophen weiterhin, Metaphysiken zu entwerfen, doch gerieten diese immer abstrakter, sodass sie zur konkreten Weltwahrnehmung der Menschen kaum noch etwas beizutragen hatten.

Die Geschichtswissenschaft und das junge Forschungsgebiet der Kulturanthropologie gingen bereits mit diesen Tatsachen um; Künstler, Literaten und freie religiöse Denker (wie etwa Leo Tolstoi) nahmen das Ende der Metaphysik intensiv wahr. Und Friedrich Nietzsches berühmtes Wort »Gott ist tot« in seinem Aphorismus Der tolle Mensch, das von vielen irrtümlich als Ausdruck des Atheismus verstanden wird, brachte präzise die empfundene Unmöglichkeit metaphysischer Aussagen zur Sprache: Nietzsche konnte nicht mehr sagen, dass Gott nicht existiere, denn das wäre wiederum eine metaphysische Aussage, also die Behauptung einer übergeschichtlichen Wahrheit, gewesen. Er musste einen geschichtlichen Ausdruck finden für das, was er sagen wollte, und er fand ihn in der Formulierung, dass Gott »tot« war. Das hieß: Gott als letztes Fundament, als absolute metaphysische Struktur des Wirklichen, war für Nietzsche und zahlreiche andere nicht mehr aussagbar, und darum konnte man diesen Gott eben auch beiseiteschaffen, »töten«.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass Nietzsche sich dem geschichtlichen Denken nicht entziehen konnte. Denn schon in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1874 wehrte er sich heftig gegen dieses Denken, das alles erschütterte, alles kontaminierte. Letztlich aber konnte er dessen umstürzende Kraft nur bestätigen:

Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig fluthet jetzt dies Problem vor unseren Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Constellation von Leben und Historie verändert, dadurch, dass ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist? […] Es ist allerdings ein solches Gestirn, ein leuchtendes und herrliches Gestirn dazwischengetreten, die Constellation ist wirklich verändert – durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll. Jetzt regiert nicht mehr allein das Leben und bändigt das Wissen um die Vergangenheit: sondern alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles, was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht, wie es jetzt die Wissenschaft des universalen Werdens, die Historie, zeigt: freilich aber zeigt sie es mit der gefährlichen Kühnheit ihres Wahlspruches: fiat veritas pereat vita. (35 f.)

»Die Wahrheit soll zutage treten, auch wenn das Leben dar­über zugrunde geht«: Nietzsches Pathos bringt nicht allein das Ausmaß der Umwälzung durch das geschichtliche Denken zum Ausdruck, sondern auch dessen zerstörerische Kraft. Was einmal als Projekt der Aufklärung mit emanzipatorischen Vorzeichen und enormem Fortschrittsoptimismus begonnen hatte, was mit der Suche nach verlässlichen Fakten Klarheit schaffen wollte, was mittels geschichtlicher Perspektiven Selbstbewusstsein gegenüber Autoritäten zu fördern suchte, schlug immer deutlicher in sein dialektisches Gegenteil um: Alles wurde zu Geschichte, nichts war ewig; der Wunsch nach Eindeutigkeit wurde nicht erfüllt, sondern führte nur zu mehr Ambivalenz, weil immer neue Einzelheiten den Weg zu Verallgemeinerungen verstellten und »alle Grenzpfähle« umgerissen wurden; die Geschichte dehnte sich ins Unendliche, überflutete das Denken und bot keinen Halt mehr; die Metaphysik zerbrach … Führten also die Aufbrüche des 18. Jahrhunderts in den folgenden Jahrhunderten unweigerlich ins Unheil?

Dass alles Geschichte ist, dass alles eine Geschichte hat, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Ebenso wenig ist aber zu leugnen, dass der »weltliche«, nicht von theologischen Perspektiven vorgeprägte Blick auf die Geschichte der Menschheit, des Denkens, der Bibel Erkenntnisse hervorgebracht hat, die nicht nur für Religionskritiker interessant sind, sondern auch für Gläubige wertvoll sein können.

Die Erkenntnis etwa, dass auch »heilige Schriften« Erzeugnisse von Menschen sind, ist kein Sakrileg, sondern eine Einsicht, die zu einer tieferen und verständigeren Lektüre verhelfen kann. Texte von Menschen, Texte, die ihre Gestalt im Verlauf vieler Generationen gewonnen haben, müssen und wollen daraufhin befragt werden, welche Aussageabsichten ihre Verfasser und Verfasserinnen hatten, unter welchen Bedingungen sie entstanden sind, worauf sie antworteten und wofür sie eintraten. Auch wenn die historischen Rahmenbedingungen und Intentionen der Texte immer nur annäherungsweise erschlossen werden können: In der Frage danach drückt sich auch Respekt gegenüber denjenigen aus, die sich gegen unsere Interpretationen nicht mehr wehren können.

Die simple Alternative – die fraglose Lektüre der Texte als unmittelbarer Gottesbotschaft nämlich – macht aus der Bibel einen Fetisch, einen Götzen, dem man Herrschaftsmacht oder magische Vorhersagekraft zuspricht und dem man sich unterwirft (worüber sich schon biblische Autoren lustig machten: Jesaja 44,15–20). Diese Art des Umgangs mit der Bibel macht nicht sehend, sondern blind, indem sie zeitgebundene Aussagen für ewig gültig erklärt, die man dann nur »glauben« kann, ohne sie verstehen zu müssen.

Verschiedene Spielarten des Fundamentalismus gehen bis heute so mit der Bibel um. Am Beginn der Bewegung stand eine in den USA veröffentlichte Schriftenreihe, Fundamentals, die in den Jahren 1910 bis 1915 fünf unaufgebbare »Fundamentalien« des christlichen Glaubens festzuhalten trachtete: 1. die buchstäbliche Inspiration der Bibel und damit ihre Irrtumslosigkeit; 2. die Jungfrauengeburt; 3. das stellvertretende Sühnopfer Christi am Kreuz; 4. die leibliche Auferstehung; 5. die Göttlichkeit Jesu Christi und seine unmittelbar bevorstehende Wiederkehr zum Gericht über die Menschen. Das zielte unverkennbar gegen die kritische Bibelwissenschaft; doch der Gestus des Festhaltens an wenigstens fünf »unaufgebbaren« Wahrheiten verriet auch eine tiefe Verunsicherung: War Wahrheit wirklich Wahrheit, wenn man ihre »Unaufgebbarkeit« betonen musste? Gab man damit nicht schon zu, dass alles ins Rutschen geraten war? Offenbar grassierte die Furcht, der Glaube könne der Moderne entgleiten, wenn man nicht wenigstens einige fundamentale »Fakten« entschieden bekräftigte.

So ist der Fundamentalismus einerseits eine Reaktion auf die Entwicklungen in der Moderne und andererseits selbst ihr Produkt: Auch er hält sich an vermeintliche »Fakten«, indem er umstandslos die Bibel insgesamt als geschichtliche Wahrheit verabsolutiert und dabei nicht merkt, welcher ungeheuren Reduktion des christlichen Glaubens auf wenige Punkte er damit Vorschub leistet.

Spiegelbildlich steht dem die Verabsolutierung der Geschichte selbst gegenüber: die bereits angesprochene Faktengeschichte als erster und eigentlich einziger Zugang zur Wirklichkeit. Sie ist heute sehr viel weiter verbreitet als der Fundamentalismus – auch wenn ihr ein gewisser fundamentalistischer Beigeschmack ebenfalls nicht abzusprechen ist. Wie tief diese Art des Denkens ins westliche Bewusstsein eingedrungen ist, zeigt der Vergleich mit anderen Kulturen. Der Schriftsteller Peter Bichsel macht das anhand einer Reiseerinnerung anschaulich:

Als ich vor vier Jahren in Bali war, begann mich der balinesische Hinduismus zu interessieren. Er hat sich zweitausend Jahre unabhängig vom indischen Hinduismus entwickelt und zu einer faszinierenden humanen Form gefunden. Ich habe selbst eine religiös pietistische Vergangenheit, die ich ganz schön verdrängt hatte; in Bali packte es mich wieder. […]

Ein junger Balinese wurde mein Hauptlehrer. Eines Tages fragte ich ihn, ob er denn glaube, dass die Geschichte vom Prinzen Rama – eines der heiligen Bücher der Hindus – wahr sei.

Ohne zu zögern antwortete er mit »Ja.«

»Du glaubst also, dass Prinz Rama irgendwann irgendwo gelebt hat?«

»Das weiß ich nicht, ob der gelebt hat«, sagte er.

»Dann ist es also eine Geschichte?«

»Ja, es ist eine Geschichte.«

»Und dann hat wohl jemand diese Geschichte aufgeschrieben – ich meine: ein Mensch hat sie geschrieben?«

»Sicher hat sie ein Mensch geschrieben«, sagte er.

»Dann könnte sie ja auch ein Mensch erfunden haben«, antwortete ich und triumphierte, weil ich dachte, ich hätte ihn überführt.

Er aber sagte: »Es ist gut möglich, dass einer die Geschichte erfunden hat. Wahr ist sie trotzdem.«

»Dann hat also Prinz Rama nicht auf dieser Erde gelebt?«

»Was willst du wissen?« fragte er. »Willst du wissen, ob die Geschichte wahr ist, oder nur, ob sie stattgefunden hat?«

»Die Christen glauben, dass ihr Gott Jesus Christus auf der Erde war«, sagte ich, »im Neuen Testament ist das von Menschen beschrieben worden. Aber die Christen glauben, dass dies die Beschreibung von Wirklichkeit ist. Ihr Gott war wirklich auf der Erde.«

Mein balinesischer Freund überlegte und sagte: »Davon hat man mir schon erzählt. Ich verstehe nicht, warum es wichtig ist, dass euer Gott auf der Erde war, aber mir fällt auf, dass die Europäer nicht fromm sind. Stimmt das?«

»Ja, es stimmt«, sagte ich. (13 f.)

Was im balinesischen Hinduismus noch selbstverständlich möglich ist, ist in Westeuropa zerbrochen: Die biblischen Geschichten lassen sich im Rahmen des bürgerlich-westlichen Denkens nicht mehr ohne Weiteres als bedeutsam, als wahr erzählen und verstehen. Das historische Fragen führt beständig auf Abwege. Man fragt, ob etwas »stattgefunden« hat. Doch die dabei gewonnenen Erkenntnisse können die Bedürfnisse nach Sinn, nach einer tragenden Deutung des eigenen Daseins nicht erfüllen. Sie bleiben die »zufälligen Geschichtswahrheiten«, die schon Lessing für belanglos erklärt hat.

Am präzisesten hat in meinen Augen der Neutestamentler Wolfgang Stegemann erfasst, was hier geschehen ist. Mit Blick auf das 19. Jahrhundert spricht er von der »Historisierung aller Lebensbereiche«. Diese habe auch das Christentum ergriffen und bei der Lektüre der Bibel zu einem »historic turn« geführt:

Von jetzt an dienen nicht mehr die Bibel und ihre Erzählungen (von der Weltschöpfung bis hin zu den Geschichten über Jesus) als Referenzrahmen der Welterfahrung. Vielmehr fragte man sich umgekehrt: Passen die Erzählungen der Bibel noch zur »wirklichen« (wissenschaftlich erforschten) Welt? Die Geschichten der Bibel werden seitdem einer Kritik – einer Prüfung – unterzogen, die ihren Maßstab an der Vernunft bzw. den Wissenschaften findet. (259)

Diese »umgekehrten Fragen« waren die Fragen des aufgeklärten Bürgertums. In einer komfortablen Situation wollte es wissen, was zu ihm passte und was ihm plausibel erschien. Die Schrift diente ihm nicht mehr zur Befragung der eigenen Lebenssituation und zur Wahrnehmung der Welt aus einer anderen Perspektive – vielmehr diente nun die eigene ­Perspektive zur Beurteilung der Schrift und ihres Wahrheitsgehalts. Mit anderen Worten: Das zum »Herrschafts- und ­Bedürfnissubjekt in der Gesellschaft« (Metz, III/1, 50) aufgestiegene Bürgertum ließ sich nicht mehr von biblischen Erzählungen infrage stellen, sondern folgte eigenen Anschauungen und entschied selbst, was es für glaubhaft hielt. Natürlich fiel sein Urteil, das es gemäß den naturwissenschaftlichen und weltanschaulichen Überzeugungen der Zeit gewonnen hatte, in den meisten Fällen negativ aus: Die biblischen Erzählungen, so wie man sie verstand, waren mit den Wahrheitsansprüchen der neuen Zeit nicht vereinbar. Und damit hörten diese Erzählungen – trotz immer feinerer historischer Instrumentarien – auf, zu den Leuten zu sprechen.

Das gilt übrigens – bis heute – nicht nur für diejenigen, für die das Christentum darum nicht mehr diskussionswürdig ist, sondern auch für gläubige Christinnen und Christen: Sie können das geschichtliche Denken, mit dem sie aufgewachsen sind und das ihre ganze Lebenswelt bestimmt, nicht per Beschluss abstellen – der geschichtliche Blick bestimmt auch ihre Suche nach der Wahrheit der Religion.

Brachte also das neue Denken insgesamt eher Fluch als Segen? Ist es (mit-)verantwortlich für den großen Schwund an Gläubigen? Für manche Kirchenleute, die gerne das Problem irgendwo »außerhalb« lokalisieren, mag es so scheinen. Aber natürlich ist es mit dieser Denkform wie mit vielen »innerweltlichen« Dingen: Sie sind weder gut noch böse – sie sind. Die Dimension der Geschichte wurde ja nicht erdacht, sondern entdeckt. Und diese Entdeckung kann so wenig rückgängig gemacht werden wie die Entdeckung Amerikas. Es gibt kein Zurück zu einem vorkritischen Denken. Und es gibt auch nicht die Wahl, Ja oder Nein zur Geschichte zu sagen – wir sind immer schon ein Teil von ihr. Es fragt sich nur, wie wir damit umgehen. Daran entscheidet sich, wie lebensnah wir denken, argumentieren, glauben.

Genau an diesem Punkt liegt deshalb auch die Herausforderung für die Kirchen und die Theologie. Den verschiedenen Reaktionen widmen sich die nächsten Kapitel.

Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums

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