Читать книгу Der Leidenschaft verfallen 5 – Erotik - Nora Darcy - Страница 3
ОглавлениеBedächtig fuhr der Zug in die kleine Bahnhofstation von Solitude ein. Der Waggon, in dem Emily saß, ruckelte, als hätte der Zugführer die Bremsen nicht richtig erwischt, ehe die Bahn anhielt. Emily warf einen Blick aus dem Fenster, an dem dicke Regentropfen ihre Spuren hinterlassen hatten. Grau und düster wirkte die Landschaft an diesem Oktobernachmittag. Dichter Nebel verschluckte alles, was mehr als ein paar Fuß entfernt lag.
Emily erhob sich von ihrem Platz, umfasste den harten Griff ihres altmodischen kleinen Koffers und verließ das Abteil, das sie ganz für sich gehabt hatte. Überhaupt schien es ihr, als sei sie mit dem Fahrer und einem ältlichen Schaffner allein im Zug gewesen. Wer wollte auch schon nach Solitude außer ihr? Dieses winzige Nest an einem unbenannten Seitenarm des River Towy, das doch immerhin zur Ortschaft Carmarthen gehörte.
Kaum hatte sie den Bahnsteig betreten, setzte sich der Zug hinter ihr wieder zuckelnd in Bewegung und entfernte sich. Emily stand auf dem verlassenen Gleis, und klamme Kälte kroch unter ihr Kleid. Sie sah sich um und schauderte. Statt eines Bahnhofsgebäudes gab es nur eine Art Unterstand für die Reisenden sowie einen leuchtend blauen Fahrkartenautomaten, der in der verlassenen Gegend wie ein Fremdkörper wirkte. Sie hatte den Bahnsteig viel einladender in Erinnerung. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte die Sonne geschienen, und Tante Matilda hatte auf sie gewartet. Die Tante hatte ein blaugeblümtes Kleid getragen, das über ihren rundlichen Hüften spannte, und auf ihrem Kopf saß ein dunkelrosa Hütchen, unter dem ihre silbernen Locken hervorlugten. Doch heute wusste ihre mittlerweile 82-jährige Tante nichts von Emilys Besuch. Emily wollte sie überraschen. Sie straffte die Schultern und wandte sich nach rechts. Vor ihr lag die schmale asphaltierte Straße, die sie nehmen musste, um zur nächsten Bushaltestelle zu gelangen. Die Teerdecke glänzte schwarz vom Regen, der mittlerweile nachgelassen hatte. Links wuchsen Bäume und Sträucher, dicht an dicht, von dem welkenden Laub tropfte die Nässe. Rechts der Straße ragten in gleichmäßigem Abstand gusseiserne Laternen in die Höhe. Sie brannten jedoch nicht, dazu war es noch zu früh am Nachmittag. Ein schwarzes Geländer sicherte den abschüssigen Bereich, wo etwa fünf Fuß tiefer das dunkel erscheinende Wasser des Flusses dahinrauschte.
Emily sah auf die Uhr. Zehn Minuten vor drei. Bis zur Bushaltestelle waren es höchstens fünf Minuten, und alle volle Stunde fuhr der Bus zu den wenigen Wohnhäusern von Solitude. Sie war viel zu lange nicht hier gewesen. Das letzte Mal war bestimmt schon drei Jahre her. Spätestens in einer halben Stunde würde sie in Tante Matildas gemütlicher Wohnküche sitzen. Die Tante würde ihr Tee kochen und Plätzchen servieren, und bestimmt war sie ganz durcheinander vor Begeisterung über ihren Besuch. Sie wünschte sich die Vorfreude zurück, die sie gestern empfunden hatte, als sie sich spontan entschloss, Matilda zu überraschen. Während sie mit gleichmäßigen Schritten in Richtung Bushaltestelle ging, wurde ihr klar, was ihr auf der Seele lag. Es war diese Stille. Es schien, als wäre sie ganz allein auf der Welt. Oder als hielte die Welt den Atem an. Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken, und sie ging etwas schneller. Im selben Moment knackte ein Zweig. Erschrocken verhielt sie im Schritt und sah sich um. Nichts. Sie war noch immer allein. Dennoch … es hatte geklungen, als wäre jemand auf einen Ast getreten. Ihre Finger wurden kalt. Dann mochte sich dieser Jemand seitlich der Straße im Gebüsch verbergen. In einem Anflug von Panik wollte sie anfangen zu rennen und beherrschte sich eben noch. Welch ein Unsinn! Vielleicht war es ein Tier gewesen. Sie verdrängte das Wissen, dass die Vögel, Eichhörnchen oder Igel, die im Dickicht Unterschlupf suchten, kaum einen Ast zum Knacken bringen würden, und lief zielstrebig weiter. Nach einer Biegung tauchte die Bushaltestelle auf. Auch schien ihr jetzt der Nebel ein wenig lichter zu werden. Emily stellte sich an den Busplatz und hielt ihren Koffer mit beiden Händen. Das antiquierte Stück war unhandlich und schien mit der Zeit immer schwerer zu werden. Dennoch hatte sie keine Wahl gehabt. An ihrer Reisetasche war der Reißverschluss kaputt, und ihren großen Koffer hatte sie für die wenigen Tage, die sie Matilda besuchen wollte, als zu ausladend empfunden.
In der Ferne tauchten die Scheinwerfer des Busses auf, der zügig näher kam und nahezu geräuschlos vor ihr hielt. Das Fahrzeug war rot und modern, mit gepolsterten Sitzen, und der Innenraum war wohlig warm. Erleichtert setzte sie sich. Der einzige Fahrgast außer ihr war ein alter Mann, der mit eingezogenem Kopf auf dem hintersten Platz saß. In ein paar Minuten würde sie bei Tante Matilda sein.
*
Eine halbe Stunde später stand Emily vor dem schmiedeeisernen kleinen Tor, welches das Anwesen ihrer Tante zur Straße hin begrenzte. Es begann bereits zu dämmern. Sie ließ den Blick über den Rasen schweifen, auf dem hier und da ein wenig Herbstlaub lag, und blickte über die Hausmauer. Efeu rankte sich über grobe Mauersteine und bedeckte einen Großteil der Fassade. Um die kleinen Fenster mit den weißen Sprossen waren die Kletterpflanzen offenbar erst kürzlich gestutzt worden. Hinter sämtlichen Fenstern des zweistöckigen alten Gebäudes war es dunkel, und Emily wurde zunehmend unsicher. War Matilda etwa nicht zu Hause? Das war ungewöhnlich. Durch häufige Telefonate glaubte sie, den Tagesablauf der alten Dame recht gut zu kennen. Vielleicht war sie aber auch nur im Keller oder in einem der hinteren Räume des Hauses? Das Gartentor quietschte, als sie es öffnete und über den schmalen Kiesweg zum Haus ging. Drei Treppenstufen führten zu der grünlackierten Haustür. Sie drückte auf die messingfarbene runde Glocke in der Mauer und hörte das melodische Läuten durch den Hauseingang. Sie lauschte, doch innen rührte sich nichts. Erneut drückte sie auf die Klingel, diesmal um einiges energischer, und wartete weiter vergeblich. Emilys Magen zog sich zusammen. Wo war Matilda? Es war Samstagnachmittag. Samstagnachmittags war sie üblicherweise zu Hause. Sie hatten erst gestern miteinander telefoniert. Die Tante war ihr ein wenig aufgeregt erschienen, aber sie hatte nicht erwähnt, dass sie die Tage etwas Außergewöhnliches vorhatte. Ihre Aufregung hatte Matilda auf Emilys Nachfrage damit erklärt, dass sie eben beim Aufräumen sei. Emily stellte ihren schweren Koffer ab und wippte nervös von den Zehen zu den Fersen. Sie hatte keinen Schlüssel zum Haus, und Tante Matilda besaß kein Handy. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie mit einem Besuch zu überraschen. Vielleicht saß sie bei einer Bekannten zum Tee. Vielleicht hatte sie eine überraschende Einladung bekommen. Hier im Ort wusste Emily allerdings niemanden, mit dem Matilda ein wenig Kontakt hatte. Die meisten ihrer Freundinnen wohnten in Carmarthen. Ratlos setzte sie sich auf ihren Koffer. Und nun? Nur mal angenommen, Matilda kam heute gar nicht mehr nach Hause, was sollte Emily dann machen? Hier in diesem verschlafenen Nest gab es keine Pension, ein Bus fuhr heute auch nicht mehr nach Carmarthen, und ein Zug zurück nach Cardigan, wo sie selbst wohnte, wohl auch nicht. Ihr blieb höchstens, ein Taxi zu rufen und sich in Carmarthen eine Unterkunft zu suchen. Dann konnte sie morgen erneut probieren, ihre Tante zu erreichen. Was sie allerdings machen sollte, wenn diese dann immer noch nicht zu Hause war, war ihr ein Rätsel. Von einem Moment zum anderen durchzuckte sie ein fürchterlicher Schreck. Was, wenn Matilda durchaus zu Hause war? Wenn sie einen Schwächeanfall erlitten hatte oder gar … Immerhin war sie 82 Jahre alt. Emily mochte es sich gar nicht vorstellen. Hastig stand sie auf. Oder hatte sie sich in letzter Zeit mit jemand aus der Nachbarschaft angefreundet und war nun dort, um sich ein wenig zu unterhalten? Nein. Diese Überlegungen führten zu nichts. Sie beschloss, bei den unmittelbar angrenzenden Häusern zu klingeln und sich nach Matilda zu erkundigen. Mit einer Mischung aus Sorge und Missmut erhob sie sich von ihrem unbequemen Sitzplatz, nahm ihren Koffer und ging zurück auf die Straße. Sie betrachtete die wenigen Häuser der Straßenzeile. Das linke Gebäude neben dem Anwesen der Tante stand eindeutig leer. Unkraut wucherte, eine Fensterscheibe war zerbrochen, und ein verwittertes Schild stand im Garten und verkündete, dass das Haus zum Verkauf stand. Das Anwesen zur rechten Seite erinnerte Emily an eine kleine Kirche. Es war größer als die anderen Häuser in Solitude, mehrere Stufen führten zu einem bogenförmig überdachten Eingang, und am Dach ragten zwei kleine Türme gen Himmel. Auch das Grundstück um das Gebäude war sehr viel größer als die anderen, und es gab keinen Zaun, der es begrenzte. Fast rechnete sie damit, dass es hinter dem Haus einen Friedhof gab. Unkrautüberwuchert und mit verwitterten Grabsteinen. Sie schauderte bei der Vorstellung und fragte sich, warum ihr das Nachbarhaus zu Tante Matildas Anwesen bei ihren früheren Besuchen nicht wirklich aufgefallen war. Egal, es ging jetzt um Wichtigeres. Zögerlich wandte sie sich dem Bau zu. Es gab keine Glocke zum Läuten, jedoch einen altmodischen Türklopfer. Sie pochte zweimal. Die Haustür wurde so rasch geöffnet, dass sie vor Schreck beinahe einen Schritt rückwärts gemacht hätte, wobei sie wahrscheinlich ins Straucheln gekommen wäre. Gerade noch konnte sie sich zurückhalten. Im Türrahmen stand ein schlanker junger Mann mit dunklen Haaren und musterte sie. Er trug eine Jeans und ein kurzärmeliges weißes Hemd, eindeutig zu leicht für den kalten Nachmittag.
»Ja?«, sagte er, ohne den inneren Türgriff loszulassen.
»Ich … ähm.« Sie musste sich räuspern. Abwartend betrachtete er sie. Er sah unverschämt gut aus und war mindestens einen Kopf größer als sie. Da ihr ein Schritt nach hinten wegen der Treppe nach wie vor verwehrt war, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um ihn richtig anzusehen.
»Mein Name ist Emily Cooper. Ich bin die Nichte von Matilda Davies. Also, eigentlich die Großnichte …« Sie brach ab, und ihr wurde heiß. Der Mann verzog keine Miene und ließ sie nicht aus den Augen. Das machte sie unsicher, und dies wiederum machte sie ärgerlich. Was fiel ihm ein, sie derart zu begutachten?
»Und?«, sagte er schließlich. Ihr Puls beschleunigte sich vor Ärger.
»Wissen Sie vielleicht, wo meine Tante steckt?«, platzte sie heraus, wobei sie spürte, dass ihre Wangen sich röteten. Der Koffer, den sie eisern umklammert hielt, schien immer schwerer zu werden.
»Sie möchten damit sagen, sie ist nicht zu Hause?«, erkundigte er sich.
»Genau.« Allmählich wurde aus ihrem Ärger Wut. Machte sich der Kerl über sie lustig? Unerwartet hielt er ihr die Hand hin.
»Tyler Roberts«, stellte er sich vor. Zögernd schlug sie ein.
»Emily Cooper.«
»Das sagten Sie schon.« Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. Emily presste die Lippen zusammen und entzog ihm ihre Hand. Sie fühlte sich wie ein Schulmädchen. Hilflos, beschämt und ratlos gleichermaßen. Aber auch voller Hoffnung, er könnte und würde ihr helfen. Dabei kannte sie ihn ja gar nicht.
»Ihre Tante ist also abgängig. Waren Sie verabredet?«, fragte er.
»Ja. Nein.« Wurde das jetzt ein Verhör? Sie hatte doch nur wissen wollen, ob er etwas wusste!
»Was denn nun?« Jetzt lehnte er im Türrahmen, lässig, als habe er jede Menge Zeit. Entnervt stellte sie ihren Koffer neben sich. Das hätte sie eigentlich gleich tun sollen. Ihr Arm war schon ganz taub.
»Ich wollte meine Tante mit meinem Besuch überraschen. Aber nun scheint sie nicht da zu sein. Das ist ungewöhnlich. Ich mache mir Sorgen«, erklärte sie ihm und hatte das Gefühl, wirr durcheinanderzusprechen.
»Aha.«
»Ja!« Fast hätte sie mit dem Fuß aufgestampft. »Ich telefoniere mehrmals in der Woche mit Tante Matilda. Samstagnachmittag ist sie immer zu Hause. Das letzte Mal habe ich sie gestern angerufen. Sie hat nichts davon gesagt, dass sie heute etwas vorhat.«
»Nun, es kann sich ja überraschend etwas ergeben haben. Ich nehme an, Ihre Tante hat kein Handy, auf dem man versuchen könnte, sie zu erreichen?«, erkundigte er sich.
»Da nehmen Sie richtig an.« Am besten, sie ließ ihn stehen und klingelte beim nächsten Nachbarn. Hier kam sie nicht weiter.
»Möchten Sie bei mir auf Ihre Tante warten?«, schlug er unvermittelt vor.
»Nein, nein.« Sie erschrak, ohne es sich erklären zu können. Er zuckte mit den Schultern. »Wie kann ich Ihnen dann helfen?«
Emily hatte das Gefühl, innerlich zu schrumpfen.
»Ich weiß es doch auch nicht.« Unglücklich sah sie zu Boden. »Ich dachte nur, Sie wohnen gleich nebenan. Vielleicht wissen Sie irgendwas. Vielleicht haben Sie sie weggehen sehen. Oder vielleicht hat sie Ihnen irgendwas erzählt, was sie heute vorhat.«
»Nein, das hat sie nicht. Ich habe Ihre Tante vor ein oder zwei Tagen das letzte Mal gesehen. Wir haben uns nur zugewunken.« Er schien nachzudenken.
»Was mach ich denn jetzt?«, jammerte sie.
»Lassen Sie mich überlegen.« Er stieß sich mit der Schulter vom Türrahmen ab und hängte die Daumen in die Gürtelschlaufen ein.
»Tante Matilda ist 82 Jahre. Was, wenn ihr etwas zugestoßen ist? Wissen Sie, ich habe keinen Schlüssel zum Haus …« Beschämt brach sie ab. Prompt lächelte er.
»Das habe ich mir schon gedacht. Aber ich habe einen.«
»Was?« Verblüfft sah sie zu ihm auf.
»Ja. Ihre Tante hat sich im letzten Jahr zweimal ausgesperrt und jedes Mal ganz aufgeregt bei mir geläutet, um den Schlüsseldienst zu informieren. Nach dem zweiten Mal hat sie mich gebeten, einen Zweitschlüssel für sie aufzubewahren.«
»Und das sagen Sie jetzt erst?« Empört funkelte sie ihn an.
»Ja. Ich muss ja erst einmal sicher sein, dass Sie keine schlechten Absichten haben«, entgegnete er ungerührt. »Da könnte ja jeder kommen und ins Haus Ihrer Tante wollen.«
»Aber ich wollte doch gar nicht ins Haus! Ich wollte doch nur wissen, ob Sie …«
»Ach, Sie möchten gar nicht rein? Ich dachte, Sie machen sich Sorgen, dass etwas passiert ist?«
Zornige Hitze durchrann Emily vom Kopf bis zu den Zehen und zurück. Was fiel ihm ein, so mit ihr zu reden und sie immer mehr durcheinanderzubringen?
»Dann kann ich ja jetzt wieder an meine Arbeit gehen. Mir wird auch langsam kalt.« Nun machte er ernsthaft Anstalten, die Tür zu schließen.
»Nein!« Hastig stellte sie den Fuß in den Rahmen. »Bitte … ich möchte dort drüben nach dem Rechten sehen.«
»Na dann. Warten Sie einen Moment.« Emily presste die Lippen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch ihr war kalt, und sie hatte Hunger. Hauptsächlich aber hatte sie schreckliche Angst, was sie im Haus von Tante Matilda erwartete.
Tyler Roberts war nach kaum einer Minute zurück. Er trug nun eine bunt karierte Strickjacke, die aussah, als wäre sie nicht billig gewesen, und klimperte mit einem Schlüsselbund.
»Gehen wir«, sagte er, und ehe sie reagieren konnte, hatte er ihr Gepäck an sich genommen.
»Sie müssen meinen Koffer nicht tragen«, protestierte sie und beeilte sich, ihm zu folgen.
»Schon recht. Was haben Sie dabei? Bleikugeln?« Er warf einen flüchtigen Blick auf das altertümliche Stück. »Und überhaupt. Solche Koffer gibt es doch eigentlich nur noch im Antiquitätenhandel.«
Sie beschloss, darauf keine Antwort zu geben.
Mit pochendem Herzen stand sie kurz darauf auf der Treppe zu Matildas Haus hinter Tyler Roberts, der aus seinem Schlüsselbund den Schlüssel der Tante heraussuchte. Er hielt ihn ihr hin.
»Hier.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Bitte machen Sie das.«
Verwundert zog er die Augenbrauen hoch, kam aber ihrem Wunsch nach. Ehe er den Schlüssel im Schloss drehte, wandte er sich ihr noch einmal zu.
»Vielleicht klingeln wir doch erst noch mal.«
Emily nickte, und Tyler Roberts drückte auf die Glocke. Sie hörten das melodische Läuten durch die alten Mauern und das Holz der Tür, sonst blieb alles ruhig.
»Okay. Dann schauen wir rein. Aber Sie übernehmen die Verantwortung«, sagte er, ohne Emily anzusehen, und sperrte auf.
Die Haustür knarrte ein wenig, und die Luft im dunklen Flur roch muffig.
»Tante Matilda?«, rief Emily. Ihre Stimme krächzte. Sie räusperte sich und rief noch einmal nach der Tante. Im Haus blieb es still. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Ein schwerer Druck lag ihr im Magen. Das Licht flammte auf. Der Flur lag verlassen vor ihnen. Alles war, wie sie es in Erinnerung hatte. Die leicht vergilbte Blümchentapete an den Wänden, der weiße Holzstuhl mit den grazilen Armlehnen und dem rosa Bezug, der Garderobenständer aus Messing, an dem zwei Jacken und zwei Hüte von Matilda hingen. Darunter standen, sorgsam aufgereiht, drei Paar Schuhe.
»Bitte«, wandte sie sich an ihren Begleiter. »Würden Sie vorausgehen? Ich hab Angst, dass …« Sie drückte die Fingernägel in die Handballen. Er nickte. Zielstrebig marschierte Tyler Roberts voraus. Die Küche war leer, das Wohnzimmer auch, ebenso wie die Gästetoilette und die Abstellkammer. Auch im oberen Stockwerk, wo sich Matildas Schlafzimmer, ein Bad, zwei ungenutzte Räume sowie das Gästezimmer befanden, war die Tante nicht.
»Ich kann noch im Keller nachsehen?«, schlug Roberts vor.
»Bitte ja«, erwiderte Emily, die nicht sicher war, ob sie erleichtert sein sollte. Mittlerweile war es fast dunkel draußen. Sie wusste, dass die Tante es vermied, bei Dunkelheit unterwegs zu sein. In den Keller ließ sie den Nachbarn allein gehen. Wenige Sekunden später tauchte Roberts am Treppenabgang wieder auf und schüttelte den Kopf.
»Eines ist sicher: Im Haus ist Ihre Tante nicht.« Emily nickte. Wirklich leichter war ihr nicht ums Herz. Abwartend sah ihr Begleiter sie an und spielte mit dem Schlüsselbund.
»Und nun?«, fragte er schließlich.
»Ich weiß es nicht.« Hilflos zuckte Emily mit den Schultern.
»Kann ich Sie irgendwohin bringen? In ein Hotel? Oder möchten Sie zurück nach Hause, wo immer das auch ist?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde gern hierbleiben. Ich bin sicher, Tante Matilda hätte nichts dagegen.« Sie stockte, und ihr wurde immer elender. Fast hatte sie das Gefühl, die alte Dame nie mehr gesund und munter zu sehen. Tyler Roberts rührte sich nicht vom Fleck. Für einen Moment schien es ihr, als überlege er, ob er ihren Aufenthalt im Haus seiner Nachbarin zulassen dürfte. Emily straffte die Schultern.
»Vielen Dank für Ihre Unterstützung Mister Roberts. Wenn Sie mir nun den Schlüssel geben würden, damit ich auf…«
»Den Schlüssel?«, wiederholte er gedehnt.
»Ja! Ich meine, ich muss doch zusperren können!«
»Ich kann doch nicht einfach den Schlüssel, den Ihre Tante mir anvertraut hat, aus der Hand geben. Wie stellen Sie sich das vor?« Er verzog keine Miene. Emily schnappte nach Luft.
»Hören Sie, Mister! Es geht hier um meine Tante! Ich möchte hier auf sie warten!«
»Tun Sie das. Ich kann Sie schlecht mit Gewalt wieder aus dem Haus zerren. Haben Sie einen Ausweis?«
Ihre Wangen fingen an zu brennen, und heißer Zorn durchloderte sie. Am liebsten hätte sie ihn vors Schienbein getreten und ihm den Schlüssel aus der Hand gerissen. Mühsam beherrschte sie sich. So empört sie auch war, sie wusste, im Grunde hatte er recht. Sie nestelte ihren Ausweis aus der Handtasche und hielt ihn ihm hin. Roberts nahm ihn und betrachtete ihn so gründlich, als wollte er die Ausweisnummer auswendig lernen. Endlich reichte er ihn ihr zurück und löste den gewünschten Schlüssel aus seinem Bund.
»Bitte sehr.«
»Danke«, fauchte sie. Roberts nickte.
»Einen schönen Abend wünsche ich.«
Sie konnte nichts antworten. Einen schönen Abend. Sie machte sich die größten Sorgen, fühlte sich allein und hilflos und trotz ihres entschlossenen Auftretens dem Nachbarn gegenüber doch auch ein wenig wie ein Eindringling. Schon deswegen, weil Matilda, falls sie in den nächsten Stunden doch kam, sich sicherlich im ersten Moment furchtbar erschrecken würde, das Haus nicht leer vorzufinden. Roberts zog die Haustür hinter sich zu. Emily stand unbeholfen im Flur. Und jetzt? Sie konnte einen Zettel außen an die Tür kleben, damit die Tante Bescheid wusste, dass sie hier war. Und sie würde etliche Lichter brennen lassen. Sie beschloss, ihren Koffer in das Gästezimmer im ersten Stock zu bringen, in dem sie immer schlief, wenn sie Matilda besuchte. Wenige Minuten später kramte sie aus der Küchenschublade einen Notizzettel und einen Kugelschreiber.
Liebes Tantchen, bitte nicht erschrecken. Ich wollte dich mit einem Besuch überraschen und warte im Haus auf dich. Emy
Mit mehreren Streifen Tesafilm versuchte sie, ihre Nachricht an die Haustür zu kleben. Es war windig geworden, und Emily verbrauchte einen guten Teil der Rolle, bis der Zettel angebracht war. Anschließend durchsuchte sie in der Küche die Vorräte ihrer Tante nach etwas Essbarem. Im Kühlschrank lagen einige Scheiben Roastbeef sowie ein Stück Cheddar Käse, es gab Eier und Speck, und im Gefrierfach lag eine Tüte Fish & Chips. Emily entschied sich für den Käse. Im Brotkasten, der auf der Arbeitsfläche stand, fand sie zwei Scones.
Sie setzte sich mit ihrer Mahlzeit in die Küche, an den soliden Holztisch mit der blankgescheuerten Tischplatte. Die Scones waren trocken, als wären sie schon einige Tage alt. Auch der Käse wollte ihr nicht schmecken. Nach wenigen Bissen gab Emily es auf. So hungrig sie auch war, sie bekam nichts hinunter. Sie trank ein Glas Leitungswasser, räumte das Essen weg und ging ins Wohnzimmer. Vielleicht konnte sie ein wenig fernsehen. Das Licht in der Küche ließ sie brennen.
Sie zappte durch die Programme und stellte fest, dass sie die Geräusche aus dem Fernseher nervös machten. Wiederholt schaltete sie den Ton aus, um durch die Stille des Hauses zu lauschen. Drehte sich ein Schlüssel im Schloss? Rief Matilda nach ihr? Oder war sie gar schon im Flur? Emily schaltete das Fernsehgerät wieder aus und rieb sich mit den Händen über die Arme. Es war kühl im Raum, um nicht zu sagen, kalt. Sie stand auf und berührte den Heizkörper. Er war kalt, obgleich sein Thermostat auf höchster Stufe stand. Ihr Blick ging weiter zum Ofen, der mit Holz geschürt wurde. Sie hatte vor Jahren Tante Matilda beim Anschüren einmal zugesehen. Allzu schwer war es wohl nicht. Trotzdem, sie hatte keine Lust, einen Versuch zu machen und eventuell außer Qualm nichts zustande zu bringen. Vielleicht sollte sie einfach ins Bett gehen. Sie war überreizt von dem langen Tag, der Anreise und ihrer Sorge, wo die Tante war. Eventuell fühlte sie sich ausgeschlafen wieder besser. Und vielleicht war Matilda morgen schon wieder zu Hause. Vielleicht übernachtete sie bei einer Bekannten. Vielleicht hatte sie ein paar Gläschen Likör getrunken und danach nicht mehr nach Hause gewollt. Zu einem leckeren Apfellikör sagte Matilda nicht nein. Emily versuchte bei der Vorstellung zu schmunzeln, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie ließ auch im Wohnzimmer das Licht an und machte sich auf den Weg nach oben ins Gästezimmer. Sie war bereits an der obersten Stufe angekommen, als es an der Haustür pochte. Ihr Herzschlag setzte für einen Augenblick aus, und etwas schnürte ihr die Kehle zu. Wer war das? Mitten in der Nacht? Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war bereits nach elf. Ein Frösteln rann ihr über den Rücken, was nichts mit der Kühle im Haus zu tun hatte, und es pochte wieder. Ihre Hände wurden noch kälter und feucht. Matilda würde kaum klopfen. Wobei ihr in dem Moment klar wurde, dass der Gedanke mit dem Zettel an der Tür unsinnig war. Die Außenbeleuchtung am Haus gab nicht genug Licht, als dass die Tante in der Nacht ihre Nachricht hätte lesen können. Vorsichtig ging sie die Treppe wieder hinunter, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, und wusste doch, dass das keinen Sinn machte. Die Haustür besaß keinen Spion. Entweder sie öffnete oder sie ließ es. Emily räusperte sich.
»Ja? Wer ist da?«, fragte sie durch die geschlossene Tür.
»Ich bin es. Tyler, Ihr Nachbar. Alles in Ordnung Miss Emily?« Ihr Herz sackte vor Erleichterung von der Kehle zurück an seinen Platz.
»Ja, natürlich.« Sie öffnete die Tür. Tyler stand so unmittelbar davor, dass sie einen Schritt nach hinten trat. Sein Hemd stand zwei Knöpfe offen, er trug wieder die edle Strickjacke, und eine Strähne seines dunklen Haares fiel ihm in die Stirn. Bei seinem Anblick spürte sie ein eigentümliches Kribbeln im ganzen Körper. Es machte sie unsicher.
»Warum fragen Sie?« Ihr Mund war seltsam trocken.
»Ich habe überall Licht im Haus gesehen und mir gedacht, dass Sie sich vielleicht nicht wohlfühlen. Bestimmt sind Sie die Einsamkeit nicht gewohnt.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»In gewisser Weise haben Sie recht. Im Zentrum einer Großstadt sind wir hier draußen wirklich nicht.«
Tyler grinste. Kalte Luft drang in den Flur. Emily zog die Schultern zusammen und schlang die Arme um ihren Körper.
»Ist Ihnen kalt?«, erkundigte er sich.
»Ja. Die Heizung springt nicht an, und mit dem Ofen kenne ich mich nicht aus«, gab Emily zu.
»Wenn es Ihnen hilft, schüre ich gern für Sie an«, schlug Tyler vor. Emily zögerte. Sie hatte ohnehin schlafen gehen wollen, und wenn sie sich nicht gerade im Wohnzimmer hinlegen würde, nutzte ihr sein Angebot nicht viel. Zudem war ihr, als würde sie ohne Zustimmung der Tante in Matildas Haus die Herrschaft an sich nehmen.
»Nein?«, hakte Tyler nach.
»Doch«, murmelte sie schließlich und trat beiseite, damit er herein konnte. Zielstrebig ging der Nachbar Richtung Wohnzimmer.
»Die Heizung springt schon seit Längerem sehr schwerfällig an«, informierte er sie über die Schulter. »Ihrer Tante ist das egal.« Er kniete sich vor den gusseisernen Ofen und öffnete die verglaste Tür. Er nahm einen Kehrbesen aus dem Kaminbesteck, welches neben der Feuerstatt lag, und fegte Rußreste durch das im Ofen liegende Gitter.
»Sie sagt, früher hätten sie auch nur mit Holz geheizt«, fuhr er fort, nahm ein Scheit nach dem anderen aus dem gut gefüllten Korb, der bereitstand, und schichtete das Brennmaterial auf. Ehe er ein Streichholz entzündete, stopfte er noch zusammengeknülltes Zeitungspapier zwischen das Holz.
»Ah«, machte Emily, die sich schon gewundert hatte, warum Tante Matilda ihre Tageszeitungen auf dem Fußboden neben dem Holzkorb lagerte. »Damit brennt es leichter an, nicht wahr?«
»Gut erkannt«, antwortete er, und sie glaubte, in seiner Stimme ein Schmunzeln zu hören. Roberts hielt das Zündholz an das Papier, das rasch Feuer fing, und schloss die Ofenklappe.
»So, jetzt geben wir noch ein wenig Luft dazu, und in ein paar Minuten wird es mollig warm«, versicherte er und schob einen Riegel unterhalb der verglasten Scheibe zur Seite.
»Danke«, murmelte Emily. Unschlüssig stand sie schräg hinter ihm. Und nun? Sie konnte ihn doch jetzt nicht gleich wieder vor die Tür setzen. Die Scheite fingen an zu knistern. Tyler rappelte sich hoch und betrachtete zufrieden das Züngeln der Flammen, die um das Holz leckten. Funken sprühten, und es knackte im Ofen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, rang sie sich zu dem einzigen Angebot ein, welches ihr einfallen wollte. Tyler wandte sich ihr zu. Seine Miene war unbewegt. Ihr fiel auf, was für weich geschwungene Lippen er hatte. Sie fühlten sich bestimmt wunderbar an. Hastig sah sie an ihm vorbei. So wie er sie betrachtete, konnte er doch hoffentlich keine Gedanken lesen?
»Gern«, hörte sie seine Stimme.
»Was?« Sie sah ihn nun doch wieder an.
Tyler lächelte.
»Ich meine, ich nehme gern etwas zu trinken.«
»Äh, ja. Sofort. Bitte setzen Sie sich doch.« Sie zeigte zu dem Sofa. Ob Matilda Wein im Haus hatte? Oder Sherry? Oder einen Likör? Letzteres hatte sie bestimmt vorrätig, doch gerade der Likör schien ihr absolut ungeeignet, ihn dem Nachbarn anzubieten. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie etwas finden konnte. Sie konnte ihm doch schlecht einen Tee kochen oder ein Glas Wasser servieren. Eilig verließ sie den Raum. In der Küche, gleich im ersten Schrankfach, welches sie öffnete, stand eine Flasche Rotwein, noch fast voll. Wo die Gläser waren, wusste Emily, auch wenn es nur Wassergläser waren.
Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie keine Minute später die Gläser zur Hälfte füllte.
»Cheers«, würgte sie hervor und hob ihr Glas.
»Cheers«, erwiderte Tyler, nahm einen Schluck und sah zu ihr auf. »Wollen Sie sich nicht setzen? Ich habe beinahe den Eindruck, Sie sind irgendwie in Eile oder Aufbruchsstimmung. Gerade jetzt, wo es gemütlich warm wird.« Sie lächelte verlegen und setzte sich in den einzigen Sessel, der schräg neben dem Sofa stand, auf dem Tyler saß.
»Sie wollten also Ihre Tante überraschend besuchen, und nun fühlen Sie sich unwohl, weil wir gemeinsam in Miss Davies Haus sitzen«, begann er ein Gespräch. Emily lachte verlegen.
»Richtig«, gab sie zu.
»Ich wohne seit zwei Jahren nebenan«, erklärte Tyler ungefragt. »Ich bin von Beruf Immobilienmakler. Eigentlich sollte ich das rustikale Anwesen möglichst rasch verkaufen. Der vorherige Besitzer ist verstorben, und der einzige Sohn hatte reichlich Schulden. Er wollte das Objekt zügig veräußern und war auch bereit, es unter Wert abzugeben, um seine drückenden Verbindlichkeiten loszuwerden. Mir hat es gefallen, und so habe ich es selbst erworben.«
Sie nickte und fragte sich, warum er ihr das erzählte. Tyler drehte sein Glas in den Händen, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
»Ich gehe also davon aus, dass Sie zumindest in den vergangenen beiden Jahren nicht bei Ihrer Tante waren. Sonst wäre mir eine attraktive junge Frau wie Sie mit Sicherheit aufgefallen.«
Emilys Wangen wurden heiß. Sie beschloss, das Kompliment zu ignorieren.
»Sie haben recht. Der letzte Besuch bei meiner Tante ist etwa drei Jahre her.« Sie zupfte an ihrem Rock. »Ich schäme mich deswegen, ehrlich gesagt. Früher war ich oft hier. Aber dann kamen andere Dinge, die mir wichtig waren, ich muss es zugeben.«
»Andere Dinge?«, hakte Tyler nach und sah sie an.
Sie zuckte mit den Schultern und verdrängte den aufkommenden Gedanken an Thomas, mit dem sie verlobt gewesen war.
»Ja. Es spielte natürlich auch die Entfernung eine Rolle. Ich habe kein Auto, und die Anfahrt mit Bahn und Bus wurde mir mit der Zeit einfach lästig. Ich habe mich auf Anrufe beschränkt. Das tut mir jetzt sehr leid. Tante Matilda hat sich nie beklagt, aber ich bin sicher, sie hätte sich gefreut, wenn ich … Nun ja.« Sie brach ab.
»Gibt es denn einen Anlass, weshalb Sie gerade jetzt hier sind?«, erkundigte er sich und nahm einen Schluck Wein.
Emily zögerte.
»Ja und nein. Ich habe meine Tante gestern angerufen und hatte den Eindruck, sie wäre ein bisschen aufgeregt. Vielleicht auch verwirrt. Ich habe nachgefragt, aber sie hat behauptet, es wäre alles wie immer. Nach dem Telefonat habe ich mir Gedanken gemacht. Sie ist jetzt 82. Ich dachte plötzlich, vielleicht wird sie komisch oder auch …«
»Dement?«, beendete er ihren Satz, weil Emily nicht weitersprach.
»Ja. Ich schäme mich ehrlich, so zu denken«, gestand sie.
»Ich glaube nicht, dass Sie sich wegen Ihrer Sorgen schämen müssen. Sie wollten also eine Art Kontrollbesuch machen«, resümierte er.
»Wenn Sie so wollen.« Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. Tyler lächelte.
»Darin sehe ich nichts Schlimmes. Nur dass sie jetzt verschwunden ist, stimmt mich ebenfalls besorgt. Sie haben durchaus recht. Ihre Tante ist viel zu Hause, und abends meines Wissens nach immer. Gelegentlich bekommt sie Besuch von zwei älteren Damen, ab und zu habe ich Misses Davies auch zum Einkaufen mit nach Carmarthen genommen, oder wenn sie zum Arzt oder Friseur wollte. Der Bus fährt ja nicht so oft.«
»Kennen Sie die Namen ihrer Freundinnen? Ich meine, die kompletten Namen. Manchmal spricht sie von einer Molly, aber mehr weiß ich leider nicht.«
»Nein.« Tyler schüttelte den Kopf. »Bei mir hat sie mitunter noch eine Beth erwähnt. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Was mache ich denn, wenn sie nicht auftaucht?« Sie löste die verschränkten Arme und suchte ängstlich seinen Blick.
»So weit sollten Sie nicht denken. Wenn es Ihnen nicht zu unangenehm ist, sehen Sie doch nach, ob Ihre Tante ein Adressbuch hat. Oder irgendwelche Notizen mit Namen und Telefonnummern. Wenn Sie etwas finden, könnten Sie ihre Bekannten anrufen und nachfragen.«
»Oder gleich die Polizei informieren«, fügte Emily hinzu.
»Das natürlich auch«, stimmte er ihr zu.
»Aber vielleicht sollte ich doch noch abwarten«, überlegte sie. »Theoretisch kann sie bei einer Freundin übernachten.«
»Macht sie das manchmal?«, fragte Tyler.
»Ich weiß es nicht.« Resigniert hob Emily die Schultern. »Sie haben ja gesagt, sie ist abends immer daheim.«
Tyler Roberts trank sein Glas aus.
»So weit ich das beurteilen kann, ja. Ich gehe jetzt. Danke für den Wein. Wenn etwas sein sollte, Sie können jederzeit rüberkommen. Oder noch besser: Rufen Sie mich an, dann müssen Sie nicht mitten in der Nacht aus dem Haus, falls Sie mich brauchen. Haben Sie etwas zum Schreiben?«
Emily stand auf. In der Küche gab es einen Notizblock, auf dem Matilda vermerkte, welche Vorräte zur Neige gingen. Sie holte einen der Zettel, und Roberts notierte zwei Nummern darauf. Eine Handynummer und einen Festnetz-Anschluss.
Eine Minute später brachte sie ihn zur Tür. Ehe er ging, wandte sich noch einmal zu ihr um.
»Gute Nacht, Emily«, sagte er, hob die Hand und strich ihr mit einem Daumen sacht über die Wange. Überrascht und verlegen hielt sie den Atem an. Sie spürte der zarten Berührung nach, und ihr Puls ging ein wenig schneller. Tylers Blick, den er unverwandt auf ihr Gesicht richtete, schien in ihr Innerstes zu dringen. Rasch sah sie zur Seite.
»Gute Nacht … Tyler. Und danke für Ihre Unterstützung.«
»Gern.«
Behutsam schloss sie die Tür hinter ihm. Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam.
*
Tyler blieb einen Augenblick im Dunklen stehen. Unvernünftige und völlig überstürzte Sehnsüchte drängten ihn, wieder umzukehren und Emily in den Arm zu nehmen. Er wollte es nicht bei einer zärtlichen Berührung ihrer Wange belassen. Es verlangte ihn, sie zu küssen, ihren Duft einzuatmen und ihre samtweiche Haut zu spüren. Seine Hände unter ihre Kleidung zu schieben und über ihre Rundungen zu tasten. Die vollen Brüste, den wohlgeformten Po. Er wollte ihren flachen Bauch streicheln, ihre Schenkel liebkosen und seine Finger zwischen ihre Beine legen, um die verborgenste Stelle ihres Körpers zu erkunden. Zarte, feuchte Hautfalten ertasten, behutsam in sie eindringen … Es pulsierte in seinem Schoß, und sein Geschlecht regte sich. Genug der Fantasien! Und vor allem weg hier. Was mochte Emily denken, wenn sie zufällig aus dem Fenster sah, und er stand noch immer hier? Tief atmete er die kühle Nachtluft ein, straffte die Schultern und verließ das Grundstück seiner Nachbarin. Ob sie ihm nachsah? Wohl sicher nicht. Dennoch meinte er ihren Blick im Rücken zu spüren. Eilig sperrte er die eigene Haustür auf. Doch auch in seinen vier Wänden angekommen, ließ ihn der Gedanke an die junge Frau, ihren zarten Körper und ihre seidigen Haare nicht zur Ruhe kommen. Er holte sich ein weiteres Glas Wein und setzte sich damit ins Wohnzimmer. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt hier wäre. Besser, er dachte an etwas anderes. An ein paar unbezahlte Rechnungen zum Beispiel. Um die würde er sich morgen kümmern. Ein Einkauf war auch überfällig. Viel hatte er nicht im Kühlschrank. Tyler lehnte sich im Sessel zurück und stellte sein Glas auf den Beistelltisch. Kein Versuch sich abzulenken half. Sein Glied war hart geworden und seine Hose zu eng. Er öffnete den Reißverschluss und befreite seine Erektion von den Stoffen. Er schloss die Augen und umfasste seinen harten Schaft, jedoch ohne zu reiben. Stattdessen stellte er sich vor, Emily wäre bei ihm. Es wären ihre zarten Finger, die ihn umschlossen. Vielleicht ihr Mund, der näher kam. Ein Schauer der Erregung durchlief Tyler, und sein Glied zuckte. Tyler biss die Zähne aufeinander. Wie herrlich war die Vorstellung, Emilys warmer Atem würde über seine geschwollene Eichel gleiten, und Emilys Lippen würden sich über seine Härte stülpen, feucht und warm. Seine Hoden zogen sich dicht an seinen Körper, und mit einem Stöhnen spreizte er die Beine, so gut es die Jeans zuließ. Ob sie rotgoldenen Flaum zwischen den Schenkeln hatte? Oder blank rasiert war? Wie gern hätte er seine Zunge in ihre Spalte getaucht, über ihre Perle geleckt und sacht an ihr gesaugt. Wie herrlich wäre es, Emilys Lust zu sehen und zu spüren. Wie wundervoll, sich vorzustellen, dass sie sich vor Verlangen unter ihm wand, stöhnte und sich ihm entgegendrängte. Seine Erregung wurde übermächtig. Er hielt es nicht mehr aus. Wie von selbst bewegte sich seine Hand auf und ab und rieb seine Erektion mit sich steigernder Geschwindigkeit. Tyler schnaufte. Der Druck in seinem Körper wurde unerträglich, und Tyler hörte sein eigenes Keuchen. Eine heftige Explosion durchjagte ihn, und er entlud sich. Schwer atmend sackte er im Sessel zurück. Ganz langsam verebbte die Erregung. Tyler öffnete die Augen. Sein Hemd musste wohl in die Wäsche. Seltsam kühl fühlte sich der Raum an. Emily war nicht hier. Er war allein.
*
Emily erwachte gegen neun Uhr am anderen Morgen. Für einige Sekunden lag sie still unter ihrer Bettdecke und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, ehe sämtliche Erinnerungen wieder da waren. Sie war in Solitude, im Haus ihrer Tante, die sie nicht angetroffen hatte. Tyler Roberts, der attraktive Nachbar, hatte ihr Zutritt zum Haus verschafft und sie gestern Abend noch besucht. Sie lauschte, ob sie irgendwelche Geräusche hören konnte, doch es war alles ruhig. Sie war offenbar nach wie vor allein. Emily schob die Beine über die Bettkante, tappte auf nackten Füßen zu Tür und öffnete sie. Aus dem Erdgeschoss hörte sie das gleichmäßige Ticken der großen Pendeluhr, die im Flur stand, sonst nichts.
»Tante Matilda?«, rief sie und schaffte es dabei kaum, die Stimme zu heben. Wie erwartet, antwortete niemand. Sie ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Milchiges Sonnenlicht blendete sie. Über den weitläufigen Wiesen, die sich hinter dem Haus erstreckten, waberte eine dicke weiße Nebeldecke, offenbar bereit, sich auf die Landschaft sinken zu lassen. An den wenigen stattlichen Bäumen, die locker verteilt in der Gegend standen, leuchtete das Herbstlaub in allen Rot- und Orangetönen, die sie sich vorstellen konnte. Es schien ein wundervoller Oktobertag zu werden. Und doch war ihr schwer ums Herz. Sie würde sich anziehen, die Zähne putzen und eine Tasse Tee kochen. Anschließend wollte sie zu Roberts rübergehen. Ihr war klar, dass er ihr nicht helfen konnte, doch sie hoffte zumindest auf moralische Unterstützung. Vielleicht konnte er sie nach Carmarthen auf die Polizeiwache bringen, damit sie eine Vermisstenanzeige erstatten konnte. In ihrem Magen lag ein Druck.
Eine halbe Stunde später verließ sie das Haus. Durch die noch kühle Luft des Morgens spürte sie die erste Wärme der Sonnenstrahlen.
Tyler Roberts erschien nach dem zweiten Klopfen.
»Guten Morgen, Miss Emily«, grüßte er freundlich und lächelte. Seine Haare kringelten sich in feuchten Locken um den Kopf, und eine winzige Schramme an seiner Wange verriet, dass er sich beim Rasieren gekratzt hatte. Der Hauch einer angenehm duftenden Bodylotion umgab ihn. Offenbar hatte er gerade geduscht.
»Gibt es Neuigkeiten?«
»Leider nein.« Sie umklammerte den Riemen ihrer Handtasche und fragte sich plötzlich, warum sie diese für die wenigen Schritte zum Nachbarn überhaupt mitgenommen hatte. Ihr Schlüsselbund hätte auch gereicht.
»Wie schade.« Sein Lächeln erlosch. »Möchten Sie sich mit mir auf die Terrasse setzen und frühstücken? Oder haben Sie schon gegessen?«
»Ich … nein. Ich habe noch nicht gefrühstückt. Tut mir leid, wenn ich Sie so überfalle.«
»Aber das macht doch nichts. Kommen Sie. Auf der Terrasse ist es herrlich. Wir sitzen direkt in der Morgensonne, und es ist absolut windgeschützt. Ich hole Ihnen rasch eine Tasse.« Er machte eine einladende Handbewegung. Zögernd folgte sie seiner Aufforderung. Sie hatte sich nicht zum Frühstück einladen wollen. Dennoch, sie saß gern mit Tyler zusammen, und außer weiterzugrübeln, was geschehen sein mochte, hatte sie ohnehin nichts zu tun.
Tyler durchquerte mit großen Schritten eine düstere Wohnhalle, von der mehrere Türen abgingen. Sie kamen in eine geräumige Küche, die linksseitig von einem großen Esstisch beherrscht wurde und einen Hinterausgang in den Garten hatte. Durch zwei Sprossenfenster schien die Morgensonne. Tyler nahm einen weißen Henkelbecher von einem Bord an der Wand und ging voraus in den Garten. Auf der kleinen Terrasse, die unmittelbar ans Haus grenzte, standen ein runder Holztisch und dazu zwei Korbsessel mit roten Sitzkissen.
»Setzen Sie sich. Und nehmen Sie sich, was Sie möchten.« Er zeigte auf einen Brotkorb, in dem Scones und Croissants lagen. Auf Teller verzichtete er offenbar. Auf einer vollgekrümelten Papierserviette lag ein angebissenes Croissant. Er schenkte ihr Tee ein und schob eine Zuckerdose über den Tisch.
Bedächtig nahm Emily Platz. Es war tatsächlich fast sommerlich warm auf der Terrasse.
»Sie sehen aus, als hätten Sie ein Anliegen. Worum geht es?«, fragte Tyler und trank von seinem Tee.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie mich vielleicht nach Carmarthen fahren könnten, zur Polizeiwache. Tante Matildas Verschwinden lässt mir keine Ruhe. Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
Tyler stellte seine Tasse ab.
»Selbstverständlich. Das ist gar kein Problem. Haben Sie nach einem Adressbuch gesucht?«
»Ja.« Ihr wurde unangenehm warm bei der Erinnerung, wie sie vergangene Nacht, nachdem Tyler gegangen war, noch im Sekretär ihrer Tante gekramt hatte. »Ich habe aber nichts gefunden.«
Er nickte.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, der mir schon seit heute Morgen durch den Kopf geht. Sie haben gesagt, Ihre Tante schien Ihnen ein wenig verwirrt. Was halten Sie davon, wenn wir, ehe wir die Anzeige aufgeben, die nähere Umgebung absuchen? Vielleicht wollte sie einen Spaziergang machen und hat sich verlaufen.«
»O, du lieber Himmel.« Erschrocken presste Emily die Hand vor den Mund. »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Das würde ja heißen, sie wäre bei der Kälte und dem scheußlichen Wetter, welches wir gestern hatten, die ganze Zeit draußen gewesen. Sie kann sich …«
»… zumindest gründlich erkältet haben«, schloss Tyler rasch ihren Satz.
»Ja«, würgte Emily hervor.
»Wenn Sie einverstanden sind, fahren wir gleich nach dem Frühstück los. Es gibt einige Spazierwege hier in der Gegend. Es ist zwar nicht erlaubt, diese mit dem Auto langzufahren. Aber in Anbetracht der Lage nehme ich das Risiko auf mich. Ich glaube nicht, dass wir jemandem begegnen, der uns deswegen Ärger macht.«
Sie nickte mühsam. Schlimme Bilder stiegen in ihrer Fantasie auf. Tante Matilda, verwirrt, durchnässt und durchgefroren, die ziellos durch die Gegend irrte. Oder noch schlimmer, durch die Nacht. Vielleicht war sie gestürzt und konnte sich nicht helfen. Ein winziger Funken Zorn flackerte plötzlich in Emily auf. Wie oft hatte sie der Tante geraten, sich ein Handy zuzulegen?
»Aber Kindchen. Wozu sollte ich das brauchen? Ich habe doch ein Telefon«, hatte sie dagegengehalten.
»Ja. Unten im Flur. Was ist, wenn es dir zum Beispiel nachts einmal nicht gut geht? Du könntest das Handy neben dein Bett auf den Nachtkasten legen. Dann kannst du jederzeit Hilfe holen.«
»So ein Unsinn. So schlecht wird es mir nicht gehen, dass ich nicht einmal mehr ans Telefon komme. Nein, nein. Vergiss das. Ich will so ein komisches Ding nicht.«
Damals hatte sie überlegt, Tante Matilda gegen allen Widerstand ein Handy zu kaufen und zu schenken. Da sie jedoch sicher war, sie würde es ungenutzt in einer Schublade liegen lassen, hatte sie letztendlich darauf verzichtet. Vielleicht hätte sie hartnäckiger sein sollen. Emily seufzte.
»Was ist?«, fragte Tyler und krümelte mit seinem Gebäck die Tischkante, seine Hose und die Terrassenfliesen voll.
»Ach, ich musste nur eben an etwas denken.« Sie erzählte ihm von ihrem Versuch, die Tante von einem Handy überzeugen zu wollen. Tyler winkte ab.