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Die antike Kontrastfolie

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Den antiken Begriff »Polis« lässt man am besten unübersetzt. Er meint weder den Staat im modernen Sinne noch die Nation. Und auch Übersetzungen mit »Vaterland« oder »bürgerliche Gesellschaft« verdecken mehr, als sie erhellen. Oswald Spengler hat die Polis einmal als das »Ideal des Staates als Statue« bezeichnet; das sollte den homogenen, übersichtlichen, aber partikularistischen Charakter dieser Gemeinschaftsform hervorheben: nach innen zunftartig geschlossen, nach außen im permanenten Kampf aller gegen alle. Für die Bürger der Polis sind Religion und Politik, Recht und Moral noch nicht voneinander getrennt. Dem entspricht, dass die Bürgerschaft nicht nur in der Polis lebt, sondern selbst ihre Verfassung ist. Nicht nur in der Polis leben, sondern sie sein – das hat Nietzsche das »Stadt-sein« der antiken Griechen genannt. Jeder Bürger ist hier repräsentativ für das Ganze.

Die durch Aristoteles berühmt gewordene Definition des Menschen als Zoon politikon muss man zunächst einmal in diesem Zusammenhang einer Öffentlichkeit der antiken Existenz in der Polis verstehen: Ich bin meine öffentliche Erscheinung. Die antike Polis ist also der Raum des Auftretens, des Erscheinens der Bürger vor ihresgleichen. Was dann durch das christliche Verbot der Exzellenz und des Stolzes diskriminiert worden ist, steht für das antike Menschsein im Zentrum, nämlich das öffentliche Hervorragen des Einzelnen. Immer der Erste zu sein und vorzustreben vor anderen – das ist die Formel der agonalen Existenz. Agon heißt Streit und Wettkampf, also eine Gegnerschaft ohne Feindschaft. Auf dem Marktplatz, der Agora, traten die Griechen in rhetorische und athletische Wettkämpfe ein, um sich zu unterscheiden und auszuzeichnen. Sich mit anderen zu messen, war die einzig akzeptierte Form der Selbstdarstellung. Die Griechen hatten also auch ein agonales Verhältnis zu sich selbst.

Das setzt voraus, dass die anderen die Arbeit tun – also Sklaverei. Hannah Arendt formuliert: »Politik fing an, wo Sorge um das Leben aufhörte.« Politik war für die Griechen eine Seinsweise. Christian Meier spricht in diesem Zusammenhang von »bürgerlicher Gegenwärtigkeit«: Alles ist personen- und situationsbezogen. Die Bürger hatten alle politischen Dinge selbst in der Hand. Politisches Leben im eigentlichen Sinne war für die Griechen nur das Leben des aktiven Bürgers in der Stadt. In ihr könne der Mensch seine höchsten Möglichkeiten verwirklichen, so Aristoteles.

Das politische Leben ist das Leben des freien Stadtbürgers, und die Polis ist die Gemeinschaft der Freien: koinonía ton eleuthéron. Entscheidend ist nun aber, dass sich diese Freien mit Haut und Haaren von der Polis konsumieren lassen und individuelle Freiheit in unserem modernen Sinne gar nicht kennen. Jacob Burckhardt spricht von der »Hingebung der ganze Existenz« und charakterisiert diese Unentrinnbarkeit der Polis scharf als »Staatsknechtschaft des Individuums«. Der Bürger gehört der Polis.

Wie lässt sich dieser Widerspruch von Freiheit und Knechtschaft auflösen? Die Definition des Menschen als Zoon politikon versteht man nur, wenn man sich klar macht, was Aristoteles unter der Natur eines Wesens versteht: Natur ist der Zustand, den ein Einzelnes erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluss gekommen ist. Der Naturzustand ist also das Ziel. Nur in diesem Sinne lässt sich davon sprechen, dass der Staat »von Natur« existiert und dass der Mensch »von Natur aus« ein staatenbildendes Wesen ist. In der Politik des Aristoteles findet sich die berühmte Formel »anthropos phýsei politikon zoon«. Zu Deutsch: Menschsein heißt in der Polis leben – und wer dies nicht tut, ist entweder ein Tier oder ein Gott. Wenn aber die Polis die Natur des Menschen verwirklicht, dann müssen wir uns das Glück als bürgerliche Praxis vorstellen. Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass die alten Griechen Erziehung in aller Unbefangenheit als Züchtung verstanden. Der Mensch ist das Kunstwerk der Polis.

Die berühmtesten Sätze über die Polis und den antiken Bürger finden sich schon am Anfang der Politik des Aristoteles. Olof Gigon übersetzt missverständlich, »dass der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und dass der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist«. Im griechischen Original lautet die Stelle: »hoti ton physei hä polis esti, kai hoti anthropos physei politikon zoon«. Man müsste also übersetzen, dass die Stadt zu dem gehört, was von Natur ist, und dass der Mensch von Natur das in der Stadt lebende Wesen ist. Die Polis macht den Menschen erst zum Menschen im eigentlichen Sinne, sie ist das Potenzial seines Seinkönnens. Insofern ermöglicht die Polis dem Bürger das beste Leben.

Für Aristoteles erreicht ein Wesen seinen Naturzustand also erst am Ende seiner Entwicklung. Dass der Mensch von Natur ein Zoon politikon sei, zeige sich eben im freien bürgerlichen Leben der Polis. Hobbes sieht das ganz anders, der Mensch müsse alles daransetzen, um sich vom Naturzustand zu befreien. Natürlich weiß auch Aristoteles, dass es bei der Organisation der Polis zunächst um gegenseitigen Beistand, um Verkehrs- und Wirtschaftsvereinbarungen geht. Doch der Stadtstaat hat ein Ziel und einen Zweck, die weit über eine Schutz- und Komfortgemeinschaft hinausreichen. Politeia ist die Sorge um die Tugend, eine Kultur des guten, edlen Lebens – »zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden, dann aber um des vollkommenen Lebens willen bestehend«. Das gute Leben lässt sich demnach nicht auf Selbsterhaltung reduzieren. Es erfordert die gute Gesellschaft, die gleichsam als Transzendenzbegriff der klassischen politischen Philosophie fungiert – die von Natur aus richtige politische Ordnung.

Die aristotelische Unterscheidung zwischen dem Entstehen der Polis um des Überlebens willen und ihrem Bestehen um des vollkommenen Lebens willen ermöglicht es auch heute noch, den aus der Not des konfessionellen Bürgerkriegs geborenen modernen Staat, dessen theoretische Grundlagen von Hobbes gelegt worden sind, von der guten Gesellschaft abzuheben. Wir können hier nicht verfolgen, wie aus dem Zoon politikon schon bei Seneca und dann bei Thomas von Aquin das animal socialis wird, werden diesem aber in der Gesellschaftstheorie Rousseaus wiederbegegnen.

Um 400 v. Chr. bietet Thukydides in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg ein ganz anderes Bild von der griechischen Politik. Vergleicht man es mit der politischen Philosophie des Aristoteles, so könnte man von einer politischen Wirklichkeitswissenschaft im Gewand der Geschichtsschreibung sprechen. Der Melier-Dialog des Thukydides ist das erste Dokument der Staatsräson, das die Eigengesetzlichkeit der Macht offenbart. Werner Jaeger zeigt, wie Thukydides bei der Erforschung der Ursachen des Peloponnesischen Krieges auf einen medizinischen Ursachenbegriff, nämlich próphasis, zurückgreift, um die wahren Ursachen von den bloßen Symptomen zu unterscheiden. Das bedeutet, dass er bewusst nicht moralisch-rechtlich urteilen will. Thukydides gelingt so die Emanzipation des politischen Urteils aus der Einsicht in die Unmöglichkeit, moralische Maßstäbe an die Geschichte anzulegen. Wolfgang Schadewaldt nennt Thukydides deshalb den »Entdecker der geschichtlich-politischen Realität«; er wird damit zum wichtigsten Vorläufer Machiavellis.

Im Melier-Dialog legt Thukydides in aller Nüchternheit die Prinzipien der Realpolitik offen. Der Schlüsselbegriff lautet hier ta dynaton, das Mögliche. Gemeint ist das, was in einer konkreten Situation für jeden klar denkenden Menschen möglich ist – und eben nicht das, was gerecht wäre. Hinter dem realpolitisch Möglichen treten das Recht und die Moral zurück.

Überall, wo er die Macht hat, herrscht der Mensch nach dem Zwang der Natur; der Stärkere setzt sich durch, der Schwächere muss sich fügen. Und nur bei ausgeglichenen Kräfteverhältnissen kommt das Recht zum Zug. Den hoffnungslos unterlegenen Meliern, die noch auf Billigkeit und den zukünftigen Beistand von Bundesgenossen hoffen, halten die Athener entgegen: »Wir preisen euch glücklich wegen eurer naiven Unkenntnis alles Bösen, beneiden euch aber nicht um eure Torheit.« Das ist Klartext.

Thukydides ist deshalb für Nietzsche die große Gegenfigur zu Platon. Während Platon vor der Wirklichkeit in die Idee flüchtet, zeigt Thukydides »Muth vor der Realität« und wird, neben Machiavelli, für Nietzsche zum Vorbild »durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn« – nämlich jenseits von Mythos und philosophischer Abstraktion. Und auch Thomas Hobbes hat viel von Thukydides gelernt; er hat ihn ins Englische übersetzt und sich immer wieder an seiner Art, Geschichte politisch zu interpretieren, orientiert.

Die Bezugsgrößen unseres Themas sind also, trotz Hegel, nicht in der politischen Philosophie, sondern in einer politischen Wirklichkeitswissenschaft von Thukydides bis Max Weber zu finden sind. Das darf nicht dazu verleiten, Thukydides’ Aktualität zu behaupten. Zu groß ist die Kluft, die uns von der klassischen Antike trennt. Sie dient uns lediglich als Kontrastfolie.

Denn die Moderne hat einen völlig anders gearteten Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff. Der Kosmos der alten Griechen war präsent: Wahrheit als Unverborgenheit. Die Schöpfungsordnung des Mittelalters war transparent: Offenbarung. Die moderne Welt ist perspektivisch. Ihr Cogito, ihr transzendentales Ich ermächtigt die Fantasie, das Genie und seine absoluten Setzungen; sie will frei anfangen und variieren. Hans Blumenberg hat für diese Zäsur ein sehr prägnantes Paradigma gefunden. Der Himmelsbetrachter, also die Figur, die in der Antike für Theorie schlechthin einsteht, wird durch das Planetarium ersetzt, das uns allen einen präparierten, »technisch simulierten Sternenhimmel« zeigt.

Die Neuzeit steht nicht im Zeichen der Beobachtung, sondern der Konstruktion; sie sucht keinen natürlichen Weltzugang, sondern einen künstlichen. Kulturkritisch wurde das unter dem Titel »Entfremdung« diskutiert. Doch die Rechtfertigung der Neuzeit sieht gerade in dieser Entfremdung den Startmechanismus der Freiheit. Mit anderen Worten: Die moderne Emanzipation des Individuums ist ein Nebeneffekt der Technisierung. Die Wissenschaften der Neuzeit entdecken nicht die Wahrheit, sondern sie sondieren die Welt mit Simplifikationen; sie repräsentieren die Welt nicht, sondern schreiben Konstruktionen in sie ein. Neuzeitliche Technisierung heißt, dass man von den Eigenqualitäten der Dinge abzusehen lernt und sie einem souveränen Konstruktionsprozess unterwirft.

Die Natur kommt dem neuzeitlichen Menschen also nicht mehr freundlich entgegen. Die Welt zeigt sich ihm nicht mehr von sich her. Man muss vielmehr umgekehrt sagen, dass die Selbstbehauptung des Menschen gegen die Natur als den absoluten Feind das Wesen der modernen Technik ausmacht. Sie ist prinzipiell Angriff, oder doch zumindest Prävention. Und die Begriffe, die sie implementiert, sind sämtlich selektive Vorgriffe. Wenn das Wesen versperrt, die Welt fremd und Gott fern ist, muss der Mensch durch technische Erkenntnis und poietisches Handeln eine zweite Natur schaffen, in der sich leben lässt. Seine Maschine ist der kleine Kosmos, der dem technischen Willen des Menschen gehorcht. Damit aber entzweit sich der schöpferische Mensch mit der Schöpfung Gottes. Als Ingenieur ist er, wie Oswald Spengler sagt, der »kleine Schöpfer wider die Natur«. Die antike Hybris wird in die moderne Kreativität umgewertet.

Doch wie entsteht der moderne technische Wille im Gegensatz zum agonalen Willen der Antike? Formelhaft gesagt: aus dem Verlust des Weltvertrauens. Der neuzeitliche Prozess der Technisierung und das Projekt der Aufklärung sind Reaktionen auf den Verlust von Gewissheiten und traditionellen Ordnungsvorstellungen, für die Begriffe wie Kosmos und Schöpfung stehen. In der Perspektive einer Geistesgeschichte der Technik, wie sie Hans Blumenberg skizziert, ist die schöpferische Zerstörung der Welt nur als Antwort auf die »Zerstörung des Weltvertrauens« zu verstehen. Und selbst die extremste Bewusstseinsform der Moderne, der Nihilismus, lässt sich dann als Selbstbehauptung durch technischen Konstruktivismus interpretieren. Welche Folgen das für die Politik hat, wird erstmals bei Machiavelli deutlich.

Keine Macht der Moral!

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