Читать книгу Bei lebendigem Leibe - Norbert Johannes Prenner - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеDie Tournee
Wenn Sie möchten, lade ich Sie gerne ein bei uns mitzuspielen, sagte der Professor, wir suchen einen Substituten für - er nannte einen populären Flötisten – der - in gewisser Weise - verhindert ist. Sie verstehen? Mit anderen Worten, wir haben uns von ihm getrennt. Meine Frau findet, er passt nicht zu uns. Sie spielen doch auch Renaissanceflöte? Ich war etwas verwirrt. Der kleine Student im vierten Semester an der Akademie sollte mit den grandiosen Orchestermusikern nicht nur mitspielen, sondern, wie ich kurz danach erfuhr, auch mit ihnen auf Konzertreise gehen dürfen? Ja, ja natürlich, sicher, stotterte ich nach einer Nachdenkpause, während ich, im Inneren tief aufgewühlt und von Fantasien abgelenkt, überlegte, wie denn das sein könne, und noch dazu so völlig unerwartet. War ich überhaupt dafür qualifiziert? Aber, schließlich kannte mich der Professor ja schon seit zwei Semestern und hatte mich oft genug für meine Leistungen im Ensemble als Pflichtfach gelobt.
Also, warum nicht? Ja, wiederholte ich, natürlich, gerne. Es ist mir eine Ehre! Damit schien die Sache beschlossen. Gut. Dann kommen Sie also am Freitag zu uns zur Probe. Er nannte eine Adresse, die ich mir notierte. Sie bekommen das Instrumentarium von uns, Originalinstrumente aus dem sechzehnten Jahrhundert, Sopran-, Alt- und Tenor die Sie selbstverständlich mit nach Hause nehmen, damit Sie darauf üben können, nicht? Ich war baff. Alles, aber das hatte ich an diesem Tag nicht erwartet.
Der Freitag war gekommen und ich hatte die genannte Adresse aufgesucht. Im nächsten Augenblick sollte ich auf einen Schlag eine Menge völlig fremder Menschen kennenlernen. Die genannte Adresse war, wie sich jetzt herausstellte, die Wohnung des Professors und seiner Gattin Eva. Er selbst war Cellist. Nach dem ersten Händeschütteln mit den anderen durfte ich dann auch zu ihm Franz sagen. Er war weit über fünfzig, kahlköpfig und hatte eine ovale, rahmenlose goldene Brille auf der Nase, die ihn sehr weise aussehen ließ. Seine Gattin Eva, sie spielte Violine, vom Aussehen her etwas alternativ, in bodenlangem indischen Rock und kurzem bunten Westerl, schien mir gegenüber etwas sehr zurückhaltend zu sein. Dann waren da der Lautenspieler Ernst, ziemlich unauffälliger Typ, und die zweite Violine, Karl, der im Orchester eigentlich erster Geiger war.
An der Violone Willi, groß und eher schweigsam. In die Posaune stieß Fritz, gleichzeitig der Manager des Ensembles. Er war der Mann für´s Grobe, verantwortlich für die Honorare, für die Reiseroute, die Flug- und Bahntickets und die Hotelbuchungen, und – was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, einmal würde er sogar mein Bettnachbar sein. Dann Peter, zweiter Orchestergeiger und noch ziemlich jung. Er und Karl und Willi sollten auf dieser Tournee ebenso unzertrennlich wie ich und Fritz sein. Dann gab es einen Sänger, der zwar nicht immer dabei war, aber zu manchen Konzerten eingeflogen wurde, Stefan Svancera.
Der strenge Herr Vater, der herzensgute, schnupfte nervös und war ganz aus dem Häuschen, als er erfuhr, dass man nun wohl einmal ein bisschen stolz sein könnte auf den unwürdigen Sohn, der es einem bisher nicht leicht gemacht hatte. Und er wurde sich seiner Verantwortung in diesem Falle sofort bewusst, indem er fragte, hast du überhaupt was Ordentliches anzuziehen? Nein, hätte man nicht und so weiter. Also, Abmarsch in die Herrenabteilung eines Kleiderhauses. Der Herr bekommen schon?, fragte der Angestellte erwartungsvoll. Für diesen jungen Mann einen Anzug, aber – und der Vater machte eine die Spannung erhöhende kryptische Pause, Konzert - wenn ich bitten darf!
Der Verkäufer stutzte. Wie bitte? Ich versteh´ nicht? Aber er verstand gleich, als klar geworden war, dass man einen Anzug für besondere Anlässe suchte. Genau so war es. Nur diesmal ließ man sich nicht mehr einreden, die Ärmel mögen etwas länger sein, denn man würde ja nicht mehr wachsen, so wie damals, als man noch ein Bub war.
Dann ging es also los. Man schrieb Dezember neunzehnhundertsiebenund-siebzig und bloß so nebenbei, im sechzehnten Jahrhundert gab es erstmalig selbständige Instrumentalmusik. Bevorzugte Instrumente waren oft Blasinstrumente. In diesem Ensemble waren allerdings die Streicher in der Mehrzahl. Im Gegensatz zu heute spielte man damals hauptsächlich auf Blockflöten und nicht auf Querflöten. Instrumente wie die der Viola-da-Gamba-Familie waren die wichtigsten Streichinstrumente der Ensemble-musik. Die Guitarra Espanola, eine Frühform unserer heutigen Gitarre, mit fünf Saitenpaaren, die, wie ich selbst hörte, Ernst meisterhaft zupfte, war in Spanien, Frankreich und Italien sehr verbreitet. Die meisten, und wahrscheinlich zu der Zeit auch die bedeutendsten Komponisten, deren Werke uns der Professor aufs Pult legte, kamen aus Italien oder haben dort gelebt oder gearbeitet und waren Komponisten, Kapellmeister und/oder Hofkomponisten.
Darunter finden sich Namen wie Benevoli, Byrd, allerdings Engländer, ebenso wie John Dowland, oder Frescobaldi, Gumpeltzhaimer, ein Deutscher und Claudio Monteverdi. Im Übrigen spielten wir natürlich auch Kompositionen von Hans Neusiedler oder Paul Hofheimer. Die ersten Proben verliefen problemlos. Ich hatte ein gutes Gefühl bei der ganzen Sache und nach einigen Wochen war es endlich soweit. Ich packte meine Koffer, verabschiedete mich innig von meiner geliebten Freundin und los ging´s. Zuerst mit der Bahn nach Bregenz. Das erste Konzert fand im Festspielhaus statt. Von da aus ging es wiederum per Bahn nach Zürich. Dort bestieg man das Flugzeug nach Madrid.
Diese erste gemeinsame Reise nach Bregenz verbrachten wir übrigens im Nachtzug. Ein Sechser-Abteil mit heruntergeklappten Liegen. Ganz oben der Professor, darunter Evalein, auf der Liege gegenüber von Ernst, übrigens ihr treuester Vasall, und ein Ehepaar aus London, wie sich herausstellte. Ich teilte das Abteil nebenan mit Karl, Peter, Willi und Fritz. Der Professor hatte die ganze Nacht über fürchterlich wie ein Nilpferd geschnarcht. Wir konnten es bis in unser Abteil gut hören. Evalein ist hysterisch auf dem Gang auf- und abgelaufen und hat vor sich hergeflucht, nein, zum Speiben (Erbrechen) ist das mit ihm, immer diese Schnarcherei! Ich halte das nicht mehr aus!
Nun, die eigentliche Tournee sollte danach über Madrid nach Santander Salamanca, Valladolid, León und Bilbao führen und in Paris enden, wo Rundfunkaufnahmen und ein Konzert in einer kleinen Barockkirche neben Notre-Dame geplant waren. Eine Tournee, tja, das ist eben eine in geographischen, sportlichen oder künstlerischen Kontexten gebräuchliche Kurzform für Tour, und ist eine Serie von Auftritten eines oder mehrerer Künstler an verschiedenen Orten, ganz einfach.
Spanien! Man könnte denken, Sonne, Meer und Orangen. Doch es war Mitte Februar und bitterkalt. Bereits während der Bahn- und Flugreise beobachtete ich, dass sich innerhalb der fröhlichen Truppe kleine Grüppchen zu konstituieren begannen. Ein Teil um den Professor und dessen Gattin, der das Ensemble gewidmet war. Soll heißen, er hatte ihr das Ensemble geschenkt und es hörte auf den Namen Consortium Musicalis. Sie war eine offenbar mittelmäßige Geigerin, wie Karl gerne immer wieder betonte, wenn über sie gesprochen wurde, natürlich nur dann, wenn sie nicht in der Nähe war, versteht sich. Immerhin war er Erster Geiger in einem der namhaftesten Orchester des Landes, und genau dieser Umstand stieß ihm offenbar sauer auf, es hier nicht sein zu dürfen. Aus diesem Grund ließ er sich zum Gaudium einiger anderer gerne weidlich über Eva aus und sprach dann abfällig vom sogenannten Consortium Menstrualis, wegen ihr eben.
Der Professor war ein starker, wenn auch heimlicher Raucher. Und alle rauchten, bis auf Eva und Ernst den Lautisten, den Karl oft Autisten nannte, einer, der überhaupt kein Laster zu haben schien. Wenn Eva herausbekam, dass Franz geraucht hatte, sagte sie: Nein, das gibt´s nicht, was hast du für einen schwachen Charakter! Und jetzt hab´ ich aber genug!, oder so ähnlich, und echauffierte sich stets darüber, dass Franz sie diesbezüglich so wenig respektierte, denn sie machte sich schon ein wenig Sorgen um ihn. Eva war sicher um mehr als zwanzig Jahre jünger als Franz. Und sie musste schon irgendwie aufpassen auf ihn, denn er war auch etwas zu dick und kriegte keine Luft, wenn er die Treppen hochstieg.
Eva spielte die Pardessus de Viole. In Fachbüchern ist zu lesen: „The pardessus de viole is the highest-pitched member of the viol family of instruments. It is a bowed string instrument with either five or six strings and a fretted neck. The pardessus first appeared in the early 18th century, and was commonly played by women, particularly in French-speaking countries.“ Und Eva war nun einmal eine Frau. Meine Aufgabe jedenfalls war es, mit ihrer Stimme unisono auf der Flöte mitzuhalten. Das war nicht immer ganz leicht. Und ich sollte nur sie dabei ansehen, wenn ich spielte. Das war auch nicht immer ganz leicht. Karl lachte und ätzte oftmals während der Pausen, dass die Pardessus de Karfiol (sic!) heute wieder einmal hinterher war. (Er hätte Eva lieber in der Küche gesehen) Und die, die um ihn herumstanden, lachten zynisch.
Die Stimmung im Flugzeug war wahrlich ausgelassen. Man bestellte gläserweis Sekt und kriegte Sandwiches dazu. Was für ein Leben! Da es Februar war, waren wir Musiker beinahe die einzigen Fluggäste und der Flieger gehörte uns. Einige legten sich quer über die Sitze und versuchten zu schlafen. Aber es gab so starke Turbulenzen, dass sie sich wieder ordentlich hinsetzen und anschnallen mussten, während sich das Luftschiff wegen des starken Windes nach allen Regeln der Kunst zu verwinden anschickte. Karl erzählte indes lautstark schmutzige Witze und der Professor lachte ganz hoch dazu oder kicherte in sich hinein. Eva wurde permanent rot und sagte, Karl wäre ein Schweindl. Das aber stachelte diesen zu Höchst-leistungen an und er ließ so richtig die Sau heraus, indem er sein ganzes gesammeltes Repertoire tiefer Zoten aus seiner Kiste holte.
In Madrid angekommen, bestiegen wir, nach kurzer Stadtbesichtigung und einem ausgiebigen Mittagessen den Zug nach Santander. Jeder von uns hatte Einzelabteil im Schlafwagen, ein unglaublicher Luxus für diese Zeit. Es gab ein schmales Bett, ein Nachtkästchen und einen ebenso schmalen Spiegel-kasten, der sich öffnen ließ und der dahinter eine winzige Toilette samt Waschbecken verbarg, sehr zu meinem Erstaunen. Dieser Zustand wollte mir schon gefallen, dachte ich und er mochte so lange wie möglich anhalten.
Santander, einst wichtige Hafenstadt für Kastilien sowohl für das Mittelalter als auch für den beginnenden Handel mit der Neuen Welt. Wir waren in einem Vier-Sterne-Hotel untergebracht, probten am Nachmittag eine Stunde und gaben abends ein zweistündiges Konzert in der nach einem Brand nach 1941 abgebrannten wiedererbauten Kathedrale. Das Publikum schien begeistert und amüsierte sich über die obskuren Ansagen Evaleins, wenn sie etwa Hans Neusiedlers Hupf Auff oder Wascha Mesa ankündigte. Innsbruck ich muss dich lassen nahm es hingegen ehrfürchtig auf. Das durfte bekannt gewesen sein. Mit diesem Lied endete das Konzert. Jeder von uns bekam dafür eintausendreihundert Schilling bar auf die Hand. Damit ließ sich schon einiges anfangen. Gehen wir allesamt essen, schlug der Professor vor. Gute Idee! Meine Bestellung im Restaurant fiel bescheiden aus, wollte ich doch so viel wie möglich auf dieser Tournee sparen. Und wann würde ich wieder so leicht zu so viel Geld kommen?
Für die Orchestermusiker war das ein Klacks. Jeder von ihnen spielte nebenher noch in ein, zwei oder sogar drei Ensembles. Das machte zusätzlich zum Hauptverdienst einiges aus. Und noch dazu steuerfrei, im Ausland verdient! Und die Tournee sollte zehn Tage dauern und wir spielten jeden Tag, bis auf einen einzigen, an dem wir auch einmal zur freien Verfügung hatten. Der Professor blickte zufrieden in die Runde am Gabentisch, an dem alle artig aßen und warf einen Blick in die Karte für den Nachtisch. Zauberhaft, flüsterte er Eva ins Ohr, was es da alles gibt, nicht war, Evalein? Im Übrigen schien ihm die Gelegenheit jetzt günstig, seine Gattin an dieser Stelle gleich zu fragen, ob er denn nicht heute zur Feier des Tages doch auch wenigstens eine einzige Zigarette hier am Tisch rauchen dürfte, immerhin war sie in ausgelassener Stimmung. Nein, kommt überhaupt nicht infrage, schmetterte Evalein sein Ersuchen heftig ab, und dann, wie immer, das ist ja zum Speiben etc. und sei nicht so ein schwacher Charakter und so weiter! Zack! Damit war die Sache vom Tisch.
Die anderen, bis auf Ernst, grinsten in sich hinein und dachten sich ihr Teil. Als ich jedoch kurz danach die Toilette aufsuchte, traf ich eben dort auf den Professor, wie er vorm Spiegel stand und hastig rauchte. Er lachte verlegen. Gefällt´s dir, fragte er dann?, und meinte wohl, die Reise, die Konzerte und alles eben. Ich dachte nicht lange nach. Ja, es gefiel mir. Karl war auch hinzugekommen und bemerkte grinsend sofort, was los war. Aha, Rauchpause? Hihihi, machte Franz infantil und nickte. Wann kommt denn der Schwanzera, fragte er den Professor, und grinste. Er meinte den Sänger, Stefan Svancera. Der Professor kicherte wieder. Ach, der Stefan wird erst in Leon dabei sein, weißt du. Er ist selber mit einer Sängerin auf Tournee in Deutschland, sagte er. Naja, wenn einer einen solchen Namen hat, dem muss er natürlich alle Ehre machen, lachte Karl und schloss die Tür hinter sich. Hihihi, kicherte der Professor. Das konnte er wirklich überzeugend.
In Alter Musik wurde immer wieder versucht, eine "Blickrichtung auf den Menschen" zu vermitteln, das heißt, die Musik menschlicher, harmonischer, natürlicher, lebendiger zu gestalten. Mit Hilfe "neuer" Kompositionsweise,- der Text und die Musik wurden aufeinander abgestimmt-, wurden etwa Messen sinngemäß und gotteswürdig vertont. Hauptsächlich in Klöstern, sogenannten Schulen der Musik und an Adelshöfen komponierten Kapellmeister und Organisten Oden, Psalmen, Hymnen und Motetten. Mit Hilfe der Musik und der "neuen" Kompositionsweise wurde Gott gepriesen und die durch Polyphonie erreichte Ausdruckskraft und Vielfältigkeit wurden dazu benutzt, die Musik sozusagen heiliger zu machen und würdig, um in Messen den religiösen Geist der vergangenen Zeit auszudrücken.
Es gab aber nebenher auch sogenannte "scherzi musicali", kleine kurze Musikstücke über Wein, Vorgänger der heutigen Sauflieder, aber immer alles huldigend und odenartig musikalisch dargestellt. Karl und Peter hingegen priesen Gott jedenfalls auf ihre eigene Art und Weise. Nach dem ausgiebigen Abendessen verabschiedeten sie sich und begaben sich in eine der zahllosen Spielhallen, oder Spielhöllen, wie Eva sie nannte, um hier die Tageslosung auf lasterhaft elegante Art bei Spiel und Brandy wieder los zu werden. Und schließlich hatte man morgen ja wieder ein Konzert, das was einbrachte. Als sie schließlich spätnachts leicht angeheitert ins Hotel zurückkehrten, sangen sie lauthals „Innsbruuuck ich muuss dich laaassen – ich faaahr dahin mein Straaaßen – in fremde Land dahin – mein Schnaps ist mitgekooommen – ich bin schon ganz benooommen – wo ich im Elend bin“, umarmten sich und lachten lauthals dazu.
Am nächsten Tag ging es per Bahn nach Valladolid. Im Abteil freundete ich mich mit Fritz der Posaune näher an. Wir entdeckten dieselben Interessen an uns, die Berge. Fritz war natürlich um etliche Jahre älter und schon viel in der Welt herumgekommen, nicht nur mit dem Orchester. Seine letzte Bergtour führte ihn und seine Gattin auf den Kilimandscharo. Ich war weg! Mein Gott, das wollte ich auch alles machen, wenn ich… und so, na ja, später einmal, dachte ich dann. Karl hielt derweil im Nebenabteil mit seinen Jüngern Peter und Willi Hof. Es ging um den Flötenständer, den wir im Gepäck mit uns führten, und der aus vier hölzernen Stangen auf einer Bodenplatte bestand, die ich stets neben mir auf der Bühne stehen hatte, um die Flöten, die darauf steckten, gleich griffbereit zu haben, denn oft verlangte ein Stück zwei verschiedene Instrumente. Das war ganz praktisch mit diesem Ständer, die Flöten ruhten auf unterschiedlich langen Holzstäben und konnten somit leicht heruntergenommen werden, wenn man sie brauchte.
Karl fantasierte indessen darüber, dass Franz seine Eva zu Hause wohl heimlich da drauf setzen mochte. Und Eva würde in höchsten Tönen quietschen, malte er sich aus, hach, Franz, und jetzt auf die Längste da und er ahmte ihr Seufzen nach und dann, nachdem sie von dort abgestiegen wäre, machte Karl mit Finger und Mund ein Ploppgeräusch, so würde es sich anhören, wenn sie die Stäbe wechselte. Peter und Willi brüllten vor Lachen. Franz und Eva steckten ihre Köpfe zur Abteiltür herein und fragten, ob sie etwas versäumt hätten? Sicherlich, bestätigte Karl grinsend und schlug sich dabei auf die Schenkel. Der Professor schüttelte den Kopf, Eva aber zog sich mit rotem Kopf in ihr Abteil zurück und schien, als ahnte sie was. Die anderen lachten hinter der geschlossenen Schiebetür und hielten sich die Bäuche, während Tränen ihre Wangen hinunterkullerten.
Durch seine Höhenlage auf 665 Meter über dem Meeresspiegel und das kontinentale Klima sind die Sommer in Valladolid heißer und trockener, die Winter jedoch deutlich kälter als etwa in den Städten am Mittelmeer. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 12 Grad Celsius. Im Januar beträgt die Monatsdurchschnittstemperatur vier Grad Celsius, der kälteste Monat, aber der Februar hier war auch nicht ohne. Gottlob hatte ich eine warme Jacke mit. Am 20. Mai 1506 starb hier Christoph Kolumbus. Aha! Trotz der grandiosen Vergangenheit dieser interessanten Stadt sind nur wenige historische Bauwerke erhalten, darunter die unvollendete Kathedrale Nuestra Señora de la Asunción. Nach einem wie üblich üppigen Abend-essen, ich nahm diesmal Steak vom Stier, machte ich mit Fritz der Posaune noch eine Abendrunde durch die Altstadt.
Das fiel langsam auf, denn Evalein machte ein Faltenmündchen als wir vom Tisch aufstanden und uns verabschiedeten. Willi, Peter und Karl waren gleichfalls aufgebrochen, zum allabendlichen Spiele in einer der Lasterhöhlen. Franz und Evalein wurden wortkarg von Ernst in ihrer Zweisamkeit unterstützt. Franz durfte auch an diesem Abend keine Zigarette rauchen, obwohl alles so entzückend war in diesem Restaurant. Offiziell, versteht sich, durfte er nicht. Als wir nach Hause kamen, trafen wir den Professor - im Lift, rauchend. Keiner wusste, wie oft er damit schon auf- und abgefahren war. Aber er war guter Dinge. Mich sah er etwas kritischer an als sonst, oder bildete ich mir das ein? Fritz und ich mussten diesen und den nächsten Abend ein Zimmer miteinander teilen. Aber das war ok, obwohl, wie ich die erste Nacht feststellen musste, Fritz die ganze Nacht zumindest wie ein Wildschwein schnarchte.
Am nächsten Abend spielten wir in einer Art Kinosaal vor mindestens vierhundert Zuhörern, die allesamt sehr begeistert waren und lang und heftig applaudierten. Danach, Abendessen. Steak. Weil es eben so billig war hier. Zu Hause hätte das ein Vermögen gekostet. Fritz und ich machten einen Verdauungsspaziergang und zogen uns dann auf unser Zimmer zurück. Am nächsten Morgen hieß es wieder einmal Koffer packen. Und wieder eine Bahnreise. Diesmal nach León, und am Abend würde Stefan Svancera zu uns stoßen und seine Arien schmettern. Also kleine Programmänderung. León, das ist eine Stadt in der Autonomen Gemeinschaft Kastilien und León ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und – war die Hauptstadt der Königreiches León, einer der wichtigsten „Vorläufer“ Spaniens. Aber das war schon lange her. Bekannt ist es für seine gotische Kathedrale und andere Gebäude wie die Basilika San Isidor, in der wir an diesem Abend spielen würden. Überdies war León eine alte Station auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.
Aber da wollten wir diesmal ja nicht hin. Auffallend war, dass Evalein mir bei den Proben nicht in die Augen sah, obwohl ich sie ständig fixierte, wie´s ausgemacht war. Irgendwie ahnte ich etwas. Außerdem hackte sie ständig auf Fritz herum, dass er diesmal das Hotel nicht nach ihrem Geschmack ausgesucht hätte und warum man nicht da und dort noch hingefahren wäre und überhaupt. Das drückte auf die allgemeine Stimmung. Wie auch immer. Stefan ließ trotz allem an diesem Abend sein eindrucks-volles Organ für alle überzeugend erklingen und wir bliesen und strichen ohne Unterlass, was die Instrumente hergaben. Das Publikum jubelte. Franz verteilte die Gagen hinterher. Das Abendessen verlief zwischen Franz, Evalein und uns anderen bis auf Stefan und Ernst eher kühl. Letztere scharwenzelten eifrig um den Professor und seine Gattin herum, sodass es nicht besonders auffiel, als sich die beiden übrigen Truppenteile wie gewohnt unauffällig zu entfernen anschickten. Abendspaziergang und Spielhalle war angesagt, wie gehabt.
Fritz und ich ließen uns in einer kleinen Bar nieder, in der einige Gäste um einen winzigen Fernseher herumsaßen, über den man soeben life einen Stierkampf miterleben konnte und nahmen noch etwas Schinken und Rotwein zu uns. Hier war die Stimmung besser als vorhin bei uns. Olé brüllten die Leute im Lokal jedes Mal, wenn der Matador mit seinem roten Tuch vor den Augen des armen Tieres herumfuchtelte, und wenn der Lärm verebbte, erzählte Fritz von seinen Orchesterreisen nach Japan und Amerika und wie wundervoll das alles gewesen war. Ich beneidete ihn und ärgerte mich darüber, nichts Ordentliches gelernt zu haben. Wenigstens Klarinette oder so. Aber für einen wie mich, der gar nicht Musiker sein und werden wollte, war das alles recht witzig.
Die kommenden Tage verbrachten wir, inklusive den freien Tag in Salamanca, entweder im Zugabteil oder in eisigkalten Kirchen, teils mit Proben teils konzertierend, bis man schließlich Bilbao, das vorläufige Endziel der Tournee, erreicht hatte. Die Bank von Bilbao hatte dieses letzte Konzert finanziert und Fritz hatte das eingefädelt, und wir waren hervorragend untergebracht. Mein Verhältnis zu Franz und Eva bröckelte mit jedem Abend mehr, den ich mit Fritz verbrachte. Aber es war mir irgendwie egal, denn schließlich hingen Willi, Karl und Peter ja auch nicht andauernd am Rockzipfel Evaleins. Schließlich bestiegen wir wieder einmal das Flugzeug und jetteten die stürmische Atlantikküste entlang Richtung Paris. Von oben konnte man die weißen Schaumkronen der Gischt auf den wahrscheinlich hohen und dunkelblau scheinenden Wellen gut erkennen.
Der erste Abend bescherte uns ein Willkommensdiner beim Botschafter, der uns in seiner Residenz an einer riesigen übervoll gedeckten Tafel herzlich willkommen hieß. Da gab es allerlei zu sehen: Terrinen mit Soßen und verschiedenen Spezialitäten, Silbertabletts mit Fasanen und Hummer drauf, Beilagen- und Obstschüsseln, randvoll mit den herrlichsten Sachen, dass einem die Augen übergingen und der Mund beim bloßen Hinsehen wässrig wurde. Ich dachte an ein mittelalterliches Fest und ob ich womöglich in einem Film wäre und bat Fritz, mich zu zwicken, der dazu nur lachte. Bezaubernd, flüsterte Franz ganz aus dem Häuschen in einem und Evalein schmatzte aufgeregt wie eine Gans zu Martini ein „entzückend“ Franz, und findest du nicht und so. Und diesmal fragte er erst gar nicht, ob er rauchen dürfe, sondern tat es ganz einfach, denn der Botschafter persönlich reichte ihm Feuer, und da konnte selbst Evalein nichts mehr sagen als - darüber sprechen wir noch, Franz, und sie lächelte gezwungen, um gleich darauf wieder grantig dreinzuschauen.
Aber Franz ließ sich die Zigarette von ihr nicht vermiesen und erzählte von seinen eigenen Reisen und wie es dazu gekommen sei, dass man nun hier säße. Ja ja, sagte der Botschafter mit dem vornehmsten Lächeln, das ich je beobachtet habe, man muss in Paris leben und sich das Geld von zu Hause hier her schicken lassen, und dabei lachte er ganz distingiert und sah auf uns Hampelmänner- und Frauen so von oben herab, wie es sein Stand offenbar erforderlich machte. Eva würdigte mich mit keinem Blick mehr und machte dem Botschafter schöne Augen. Ich hielt mich lieber an Fritz und Schwanzera, pardon, ich habe ihn auch einmal ohne nachzudenken in der Eile so genannt, während dieser mit dem weiblichen Servierpersonal scherzte und lachte. Was ich immer sag, grinste Karl und deutete auf Stefan. Nomen est omen. Nur wenige kriegten es mit, aber die grinsten vielsagend.
Vis á vis der Kathedrale Notre Dame gibt es ein kleines, graues unscheinbares barockes, nein, es ist bei näherem Hinsehen ein gotisches Kirchlein. Dorthin hatte es uns verschlagen, vorerst, um in diesem Eiskasten zu proben. Ich hatte sämtliche meiner Instrumente wie Fieberthermometer unter die Achseln geklemmt, damit sie durch die Kälte wenigstens nicht noch tiefer gestimmt würden, als sie es ohnehin schon waren und hielt sie dort bei Temperatur. Mein Finger waren klamm und wollten sich beim Trillern so gar nicht bewegen. Auch die Streicher kämpften mit der Kälte und Fritz blieb beinahe am Mundstück seiner Posaune kleben und schmierte Labello bis zum Geht-nicht-mehr. Tags darauf gaben wir ein eineinhalb-stündiges Konzert in dieser Eishalle und waren heilfroh, uns danach wie gewohnt in ein geheiztes Restaurant zurückziehen zu können. Und so gediegen es hier drinnen auch schien, es roch teuflisch nach billigem Zigarettenrauch der Gauloise und Gitane, die die meisten Pariser und auch Pariserinnen zwischen die Lippen geklemmt hatten und heftig daran zogen.
Dann war der Tag, an dem Französischer Rundfunk geplant war. Ein ziemlich trockener, hoher überdimensionaler Raum in einem äußerst nüchternen Gebäude. Droben, auf der Galerie, ein verglaster Balkon, dahinter der Regieraum. Ein Schiebefenster ging auf, ob wir bereit wären, fragte einer? Ja, wir waren. Und los ging´s. Irgendwas Einfaches, zweihalbe Takt. Ich schwitzte wie ein Firmling, nur bloß nichts falsch machen, sonst schmeißt du die ganze Partie!, fieberte es in mir, dem Benjamin. Der Professor wiegte sich wohlwollend im Bogenstrich und war ganz in seinem Element, das war doch ein Klacks für ihn. Und zack, hatte er die Zeile verloren und aus war´s! Das Fenster ging wieder auf. Nochmal!, schallte eine akzentuierte Stimme von oben. Also bitte. Franz!, Evalein sah unwirsch auf ihren Hasen herab. Der schwitzte auf der Glatze und war ganz rot im Gesicht.
Die anderen Streicher kicherten. Die Vierte. Diesmal schmiss Evalein um. Zu spät, der Einsatz, rief eine Stimme von der Höhe herab! Nochmal sil vous plait! Verdammt! Fehlstart! Nochmal! die Achte! Also, irgendwann war die Aufnahme dann endlich im Kasten und wir total erschöpft. An diesem Abend kam irgendwie keine Stimmung mehr auf, auch zwischen Fritz und mir nicht, während wir die Avenue du Champs-Élisée entlang schlenderten. Beinahe wortlos folgten unsere Augen den endlosen Lichterketten der Autos und Zweiräder auf der regennassen Prachtstraße. Ja, morgen ging es nach Hause, und das bedrückte mich etwas. Ich hatte mich bereits zu sehr an das gute Leben gewöhnt, mehr, als ich es zulassen wollte und hatte etwas Angst vorm Alltag und dem Leben, das ich nun wieder allein in die Hand nehmen musste.
Im Flieger Richtung Heimat wurde wenig gesprochen. Alle dösten in ihren Sitzen und sahen etwas mitgenommen aus. Ich blätterte lieblos in einem Journal mit Duty-free-Produkten obwohl ich genau wusste, ich würde ohnehin nichts kaufen, trotz prall gefüllter Brieftasche. Ein zum ersten Mal in meinem Leben empfundenes ungewohntes aber sehr beruhigendes Gefühl, welches allerdings nicht allzu lange währen sollte. Am nächsten Tag kam ein Anruf. Der Professor war in der Leitung. Ich möge doch vorbeikommen und die Instrumente mitbringen. Wieso? Hat er nicht gesagt. Nächste Woche stand doch ein Konzert auf dem Programm, dachte ich? Na, wie auch immer. Aber ich hatte ja im Vorfeld bereits schon so ein mulmiges Gefühl gehabt. Irgendwie verunsichert suchte ich die Wohnung auf und – wurde diesmal äußerst kühl empfangen.
Eva prüfte gleich die geborgten Flöten auf ihren Zustand und brachte sie sofort weg. Meine Blicke fielen auf die zahlreichen Instrumente an den Wänden, allesamt Originale aus vorigen Jahrhunderten und oft auf Dachböden in Italien oder sonst wo gefunden und für ein Butterbrot von den Hauseigen-tümern ohne deren Kenntnis, dass es sich dabei um äußerst seltene und beinahe unbezahlbare Stücke handelt, erworben, wie der Professor einmal erzählt hatte. Franz bot mir sachlich einen Platz auf dem Sofa an und setzte sich gegenüber. Eva blieb ganz einfach stehen. Ja, nun, wir möchten dir nur mitteilen, dass wir dich nicht mehr in unserem Ensemble haben möchten, begann Franz schließlich ohne Umschweife. Evalein nickte ernst dazu. Ich war sehr aufgeregt.
Mir fiel der Satz ein, den der Professor in der Ensemblestunde damals zu mir gesagt hatte: „Wenn Sie möchten, lade ich Sie gerne ein bei uns mitzuspielen, wir suchen einen Substituten für – für einen, der - in gewisser Weise - verhindert ist. Sie verstehen? Mit anderen Worten, wir haben uns von ihm getrennt. Meine Frau findet, er passt nicht zu uns“. Wieso – ich mein – was ist – aus welchem Grund?, stotterte ich. Du harmonierst ganz einfach nicht mit uns, so, wie wir uns das vorgestellt hatten, sagte Eva barsch. Genau, fügte Franz an und er sah Evalein dabei von unten her an wie ein treuer Hund und nickte beipflichtend. Ich saß eine Weile starr und stumm auf der Couch. Dann stand der Professor auf und sagte, das war´s dann, nicht? Also, alles Gute und auf Wiedersehen. Ich erhob mich langsam, ganz durcheinander, was ich denn nun dem Herrn Vater erzählen sollte und so. Nicht einmal die Hand haben sie mir gegeben, als ich, den Kopf gesenkt, auf den Flur hinaus trat.