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Tür an Tür… oder: Wer ist Alice?

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Gregor Wollwinkel hatte ein Mauseloch in der Wand hinter seiner Lieblingskommode entdeckt.

Der gerechte Zorn, der ihn daraufhin überkam war von derart makellos reiner Gerechtigkeit, dass er sich ohne Mühe über alle anderen profanen, irdischen Gefühle erhob. Selbst über den Schmerz in seinem großen Zeh, der durch einen unbedachten Tritt gegen die Fußbodenleiste an eben der Stelle, an der sich das Loch befand verursacht worden war. Unbedacht aus dem Grunde, dass ihm offenbar für einen kurzen Moment entfallen war, dass er Strumpfsocken trug. Keine Schuhe. Eine Angewohnheit, die schon vor langer Zeit zu einem integralen Bestandteil seines Selbst geworden war: Gregor trug in seinem Schlafzimmer niemals Schuhe.

Möglicherweise war der Zeh gebrochen. Man würde ihn röntgen müssen. Und vorher der Nachbarin, die gerade an der Tür klingelte erklären, dass trotz der Schmerzensschreie, der Flüche, der von Wut, Pein und Scham geröteten Augen und des Speichels, der ihm vom Kinn tropfte alles in Ordnung war. Eben nur ein Mauseloch.

Warum er die Lieblingskommode von der Wand weggerückt hatte? Nun, das tat er gelegentlich. Um die Briefe einzusammeln und im Waschbecken in seiner Küche zu verbrennen. Jene Briefe, die er Abend für Abend an Alice schrieb, in denen er seine unsterbliche Liebe zu ihr gestand, die abzuschicken er sich aber niemals traute. Statt sie in den Schlitz eines Briefkastens zu werfen, steckte er sie in den schmalen Zwischenraum zwischen seiner Kommode und der dahinter liegenden Wand. So lange bis dieser verstopft war. Dann war es wieder an der Zeit für eine rituelle Verbrennung. Seine Papiergewordenen Gefühle verwandelten sich zunächst noch einmal in gleißendes Licht, dann in Rauch, und schließlich in Nichts. Und Alles begann von vorne.

Das Mauseloch war beim letzten Mal noch nicht da gewesen. Vielleicht war es aber auch und er hatte es einfach nur übersehen. Blind vor Liebe.

„Oh, hallo Alice!“

„Alles in Ordnung bei Dir? Ich habe durch die Wand Schreie gehört.“

„Nein, nein. Alles in Butter. Ich habe mir bloß den Zeh gestoßen. Tut asig weh!“

„Kann ich irgendetwas für dich tun?“

Wie gerne wäre er in der Lage gewesen ihr in die Augen zu schauen und einfach „Ja!“ zu sagen. Stattdessen starrte er linkisch ihre Knie an, fühlte das Blut in seinen von Verlegenheit geröteten Ohrmuscheln pulsieren und stammelte: „All… alles roger! Aber danke, dass du fragst. Ich komme klar. Du hast nicht zufällig eine Mausefalle dabei?“

„Eine Mausefalle? Nein, natürlich nicht!“

„Nein, natürlich nicht. Wie dumm von mir. Also dann, gute Nacht!“

„Mach’s gut!“

Eine weitere verpasste Chance.

In dem Moment, da er die Tür schloss, einen letzten sehnsüchtigen Blick auf Alice’ langes, glattes Haar, die schmale Taille, ihren anbetungswürdigen Po, wurde ihm schlagartig bewusst wie erbärmlich und heruntergekommen er eigentlich wirken musste. Schlabberige Jogginghose, verwaschenes Sweatshirt, darüber eine Strickjacke mit ausgefranstem Ärmelsaum. Zu Hause fühlte er sich so am wohlsten. Das Herz seiner Angebeteten gewann man auf diese Weise aber wohl eher nicht. Er spürte, wie ihm erneut die Schamesröte ins Gesicht schoss. Wenn er sich schon den Zeh brach, warum konnte er sich vorher nicht wenigstens anständig anziehen?

Nur ein weiterer Eintrag in der langen Kladde, die seine Unzulänglichkeiten dokumentierte.

Alice war fett! Unbestreitbar. Jeder Spiegel in jedem Zimmer fand sie fett. Ihr Schatten an der Wand war fett. Zu jeder Tageszeit. Gegen Abend, wenn die Sonne am Himmel sank wurden die Schatten anderer Leute länger und dünner. Ihr Schatten blieb fett.

Alice hatte einen dicken Arsch, unförmige Oberschenkel, schwabbelige Arme und einen Hängebauch. Nur Titten hatte sie nicht.

Und ihre Waage log!

Die Neue sogar noch mehr als die Alte. Die alte Waage hatte sie aus Wut über deren Illoyalität auf die Gleise der Bahnstrecke gelegt. Sollte sie doch mal einem ICE erzählen was er wiegt!

Danach hatte sie das tagelang bereut und beinahe stündlich auf ihrem Smartphone gecheckt, ob nicht irgendwo ein Zug entgleist war. Erst langsam war sie wieder ein bisschen zur Ruhe gekommen.

Sie würde sich keinesfalls noch einmal eine Waage anschaffen.

Die neue Waage war deshalb eines Tages auch einfach so da und stand neben der Badewanne. Weder eingeladen noch erwünscht. Genau an der Stelle, an der die alte schon gestanden hatte. Außerhalb des Blickfeldes jedes der zahlreich in der Wohnung verteilten Spiegel. Ein gleichzeitiger Blick in einen solchen und auf das Display der Waage hätte diese nur als noch größere Lügnerin entlarvt und den Alice umhüllenden Hass auf die Welt ins Unerträgliche gesteigert.

Sogar Gregor, ihr Nachbar, schüchtern und wahrscheinlich nicht all zu helle, selbst fürwahr kein Adonis aber irgendwie süß in seiner unbeholfenen Tapsigkeit, fand Alice fett und hässlich. Er hatte sich ihr gegenüber zwar nie in diese Richtung geäußert, überhaupt sprachen sie nur selten, und wenn dann kurz, aber sie spürte es jedes Mal wenn sie sich im Treppenhaus begegneten.

Liebe Alice,

ist Dir eigentlich bewusst, ich meine genauso schmerzlich bewusst wie mir, dass wir schon lange nicht mehr gemeinsam draußen an den Teichen waren? Tretboot fahren, den Sommernachmittag müßig auf der Wiese in der Sonne sitzend einfach verplaudern?

Wie sehr ich es vermisse Deiner Stimme zu lauschen, während sie Deine Träume vor unseren nackt im kühlen Gras ruhenden Füßen wie bunte Tücher ausbreitet. Dein helles Lachen, wenn ich mal wieder einen faden Witz reiße.

Wir könnten dort auch Minigolf spielen. Haben wir das überhaupt schon einmal getan? Nun, da ich meine Erinnerung befrage, befallen mich Zweifel. Obwohl ich ein klares, konkretes Bild vor meinem geistigen Auge erscheinen lassen kann. Weit mehr als eine Erinnerung: Du, Alice, in einem leichten, hellen Sommerkleid, blau, nein fast schon ein wenig ins Türkis spielend. Ein weißer Gürtel mit einer Schnalle in Form eines Notenschlüssels. Der silberne Metallschläger senkrecht vor deinem Körper, ein die Sonnenstrahlen reflektierendes, gleißendes Lot, leicht pendelnd, vor und zurück. Dein konzentrierter Blick auf den garstigen, pockennarbigen kleinen Ball gerichtet, der nie genau dort hinrollt wo Du es eigentlich willst.

Nein, wir haben noch nie gemeinsam Minigolf gespielt. Aber wir könnten!

Genauso, wie wir vielleicht eines Tages einmal Tretboot fahren, oder auf einer Wiese in der Sonne sitzen könnten. Draußen an den Teichen. Wenn der Winter erst einmal vorbei ist.

In Liebe,

Gregor

Es war Zeit für seinen Tee.

Ein heißer, ungesüßter schwarzer Tee war an manchen Tagen das Beste um ihn mit dem Leben zu versöhnen. Auch wenn der angeblich die Zähne fleckig macht. Er putzte sie daher nach jeder Tasse. Was gut zum Tee passte waren Salzcracker. Und manchmal ein Stück Käse. Gregor war eher der deftige Typ. Süßigkeiten waren sein Ding nicht.

Sorgsam schnitt er ein kleines Eckchen von seinem Käsestück ab, zerbröselte einen Cracker in seiner Handfläche und ließ alles in den Spalt zwischen der Lieblingskommode und der Wand rieseln. Er hatte sie nicht wieder bis ganz zurück geschoben. Das hatte zwei Gründe: So bot sich mehr Raum für seine Briefe, denn er hatte sich vorgenommen Alice noch intensiver zu umwerben. Nach dem Vorfall neulich Abend hatte er beschlossen sein Leben völlig umzukrempeln. Keine verpassten Chancen mehr!

Außerdem hatte die Maus es so bequemer.

Das Mauseloch befand sich in der Trennwand zwischen seinem Schlafzimmer und der dahinterliegenden Nachbarwohnung. Alice’ Wohnung. Welches ihrer Zimmer sich dort befand wusste er nicht. Er hatte noch nie die Gelegenheit gehabt sie zu besuchen. Dass es sich möglicherweise ebenfalls um ihr Schlafzimmer handeln könnte, wagte er kaum zu träumen.

Jedenfalls stellte dieses Loch eine Verbindung dar, die weit über alles Metaphorische, die reine Idee der sphärischen Konjunktion zweier einander liebender Seelen, hinausging. Sie war physisch!

Das war ihm klar geworden nachdem der Schmerz in seinem Zeh ein wenig nachgelassen hatte. Vielleicht hatte die Maus sich einen zweiten Ausgang auf der anderen Seite der Wand genagt. Dann atmete er jetzt dieselbe Luft, die Alice dort atmete. Wären sie erst einmal ein Liebespaar, könnten sie sich jeden Abend durch den Durchbruch in der Wand hindurch „Gute Nacht!“ sagen. Auch wenn er dafür die Kommode beiseite rücken, und Alice möglicherweise unter ihr Bett krabbeln musste.

„Du hast es gut!“ Alice saß schwer atmend auf der Armlehne des Sofas und rieb sich den schmerzenden Knöchel. Vor ihren Füßen lagen kreuz und quer verstreut mehrere Bücher. Teils neben-, teils aufeinander, aufgeschlagen auf dem Rücken, das eine oder andere mit den Seiten nach unten. Zum Glück stand das Regal noch. Auch Alice selbst hatte einen Sturz gerade so vermeiden können. Aber sie war heftig mit dem Fuß umgeknickt und hatte sich obendrein das Knie an der Ecke des Couchtisches angeschlagen.

„Du hast es wirklich gut!“ Der automatische Bodenstaubsauger, mit dem sie sprach antwortete nicht sondern ging, unbeirrt vor sich hin summend, seiner Arbeit nach. Allerdings machte er um die auf dem Teppich verteilten Bücher einen respektvollen Bogen. Sie und ihr kleiner Saugrobotter arbeiteten immer gemeinsam. Er übernahm die Fußböden während sie sich um die Fenster, die Flächen außerhalb seiner Reichweite und alles wozu man Wasser und Putzmittel benötigt kümmerte. Sie waren ein richtiges Team.

Beim Abwischen der Regalbretter war Alice in einer der oberen, hinteren Ecken einer Spinne gewahr geworden. Vor Schreck hatte sie einen hastigen Hüpfer rückwärts getan, an eben jene Stelle, an der ihr kleiner elektronischer Mitstreiter gerade mit ein paar besonders renitenten Staubfusseln beschäftigt war. Da dieser, ob des plötzlich von oben auf ihn einwirkenden physikalischen Impulses ebenfalls verschreckt, einen veritablen Satz zur Seite tat, verloren Beide für einen Moment das Gleichgewicht. Und das Bücherregal, nach Alice’ verzweifeltem Griff auf der Suche nach Halt, beinahe mit ihnen.

Der Staubsauger hatte die Sache offenbar von allen Dreien am schnellsten wieder weggesteckt und nahm nach einer kleinen irritierten Pause, in der er vermutlich die Funktionsfähigkeit seiner elektronischen Schaltkreise überprüfte unverdrossen seine Tätigkeit wieder auf.

„Du kennst keinen Schmerz, fühlst dich nie einsam, ratterst hier einfach so rum und hast keine Probleme.“

„Keine Probleme? Was ist mit meiner Hausstauballergie?“

„Weißt du was? Ich könnte ein Bier vertragen. Willst du auch eins?“

„Danke. Aber ich habe noch zu arbeiten. Außerdem trinke ich vormittags keinen Alkohol.“

Wie verzweifelt musste man sein um sich von einer elektronischen Haushaltshilfe ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen? Bier machte dick. Aber es war auch gut gegen den Hunger. Und es kam viel einfacher wieder hoch als feste Nahrung.

Alice’ Entscheidung stand felsenfest! Sie würde in eine andere Stadt ziehen. Ein neues Leben. Hier hielt sie nichts mehr.

Seit vierundzwanzig Jahren lebte sie in diesem Scheißkaff. Und was war aus ihr geworden? Sie kam sich vor wie ein von Rost zerfressenes Kinderdreirad, entsorgt am Ende einer öden Sackgasse.

Sie würde nichts von all’ dem hier vermissen. Außer ihren Nachbarn vielleicht.

Er war weder attraktiv noch sportlich noch in irgendeiner Weise eloquent. Ihn charmant zu nennen wäre deutlich an der Realität vorbeigegangen. Eigentlich erinnerte er sie immer ein wenig an einen zerzausten, durchnässten Stoffteddybär, dem eines seiner schwarzen Knopfaugen fehlt. An seiner Stelle ein loser, brauner Faden. Der Bär Gregor lag ganz zu oberst auf dem Hausmüll unter dem schwarzen Deckel der Abfalltonne, die schon für den Abtransport am nächsten Morgen bereitstand. Auch ihn hatte irgendein verwöhntes Gör, das längst neues Spielzeug besaß, achtlos aussortiert und kurzerhand dort deponiert.

Diesen Nachbarn würde sie möglicherweise ein wenig vermissen.

Vormittag, Mittag, Abend?

Die Angewohnheit die moralische Qualität des Alkoholkonsums anhand der Uhrzeit zu kategorisieren war kleinkariert, vorurteilsgeprägt und dumm. Genau die Art von Algorithmus, die ein durchschnittlich begabter Elektroingenieur dem Prozessor eines Wesens einprogrammierte, dessen primäre Fähigkeit, und dessen existenzielle Bestimmung, sich darin erschöpft, mehr oder weniger planvoll in einem gegebenen Raum zu operieren, seinen Rüssel in den Dreck anderer Leute zu stecken und, sobald es irgendwo aneckt, einen Rückzieher zu machen um die Flucht in eine zufällig gewählte Richtung zu ergreifen. Das dort aber dann gerade so weiter macht wie bisher, ohne irgendetwas von dem was es tut auch nur ansatzweise kritisch zu hinterfragen.

Gegen ein weiteres Bier war also vom rationalen Standpunkt aus nichts einzuwenden. Alice hatte inzwischen die Bücher wieder eingesammelt und zurück an ihre Plätze gestellt. Das ganze Malheur hatte ihr zumindest einen Teil der Arbeit erspart. Das Abstauben von Büchern in einem Regal war ihr schon immer als besonders sinnlos erschienen. Eine Metapher auf das Leben. Benutzte man ein trockenes Tuch oder einen Wedel, wirbelte man bloß ein bisschen Staub auf, der sich nach kurzer Zeit an mehr oder weniger exakt der Stelle wieder niederlegte, an der er vorher gelegen hatte. Eine Alternative wäre ein feuchter Lappen. Papier verträgt aber keine Feuchtigkeit!

So hingegen tanzten die letzten Partikel der gewaltsam in den Raum geschleuderten Staubmasse noch ein wenig träge in der Luft umher, hübsch angestrahlt von der schräg einfallenden, frühen Sonne, bevor sie sich dank der Kraft der Gravitation mit ihren bereits abgesunkenen Brüdern und Schwestern auf dem Teppichboden zu Materiehaufen vereinigten, wo sich schließlich der kleine Vakuumheini ihrer annehmen würde. Der ging, inzwischen wieder schweigend, stur seiner Tätigkeit nach. Er wusste, wann er eine Diskussion verloren hatte.

Auch Alice’ Knöchel war inzwischen notdürftig medizinisch versorgt. Eine kleine Rötung, eine leichte Schwellung. Nichts Ernstes. Ein bisschen schmerzhaft noch, aber auch hier begann der Alkohol, zusammen mit den Pillen, bereits seine wohltuende Wirkung zu entfalten.

Man musste natürlich aufpassen, dass man nicht zu schnell zu viel Alkohol nachschüttete, wenn man die Pillen genommen hatte. Sonst kotzte man sie ja gemeinsam mit dem anderen Zeug wieder aus. Und das war nicht Sinn der Sache. Die Pillen machten ja nicht fett! Im Gegenteil.

Alice und er hatten Tür an Tür gewohnt solange er zurück denken konnte. Bereits als kleiner Bub’ hatte er sie geliebt. Sie war wohl ein oder zwei Jahre älter als er. Und einen ganzen Kopf größer. Schon damals hatte er ein Faible für große, schlanke Frauen mit langem, glattem Haar. Und Alice konnte Fahrrad fahren! Wenn er sich auf seinem quietschenden, rostigen Dreirad ihre Straße hinauf quälte, bis diese in dem sandigen Feldweg endete, wo er nicht weiterkam, sauste sie mit wehendem Zopf an ihm vorbei. Geradeaus in den Sonnenuntergang. Frei und ungebunden.

Von ihm und seinen bewundernden Blicken nahm sie dabei natürlich keinerlei Notiz.

So sind Kinder nun einmal.

Bei allem Hochgefühl war Demut das Gebot der Stunde. Die Existenz des Mauselochs war die sichtbare Manifestation eines ihm gewogenen Schicksals. Die Öffnung nach der anderen Seite hin aber nur eine Hypothese.

Luft holen, Tee trinken, Zähne putzen. Geduld. Und Demut.

Die Einheit zweier liebender Seelen ließ sich nicht forcieren. Man muss dem Lauf der Dinge seine Zeit lassen. Rom wurde auch nicht…, schlechtes Beispiel. Zu wenig Romantik. Streichen!

Keinesfalls wollte er ihre gegenseitige Liebe gefährden indem er sie unter Druck setzte. Sie waren noch jung. Und vierundzwanzig vergeudete Jahre waren nicht die Ewigkeit! Die lag noch vor ihnen. Ein in allen Farben schillernder Teppich, ein Flies, der von ihren Füßen bis an den Himmel reicht. Und darüber hinaus. Ja, das war das Bild! So würde er beginnen.

Liebe Alice, …

Sie hatte sich verändert. Die Angst die Portion Leben, die sie auf ihrem Teller hatte könne sie vielleicht nicht satt machen hatte Alice fressen lassen. Immer gieriger. Sie hatte genommen was sie bekommen konnte: Kurzes Glück wo es zu haben war, Sex wo er sich nicht vermeiden ließ und manchmal auch dort wo sie ihn gerne vermieden hätte ihr aber die Kraft dazu fehlte. Manchmal ein wenig Liebe, Freundschaft nie.

Heute war sie das Fressen leid. Und satt geworden war sie tatsächlich nicht. Sie war aufgedunsen und fett. Und müde.

Jeder Hunger war ihr abhanden gekommen.

Ihr schien als schabte da irgendetwas in der Wand oder dahinter auf der anderen Seite. Jetzt, da das monotone Summen des Staubsaugers aufgehört hatte, konnte sie durch die Stille hindurch deutlich ein leises Kratzgeräusch hören. Entweder schob ihr Nachbar in seiner Wohnung wieder irgendwelche Möbel hin und her, oder es war ein Fall für den Kammerjäger.

Der Sauger hatte sich von alleine abgeschaltet, nachdem sie ihn einer puren Laune folgend kurzerhand auf den Rücken gelegt hatte. In dieser Position zappelte er noch ein wenig mit seiner beweglichen Achse und den kleinen Plastikrollen, bevor er vorschriftsmäßig in den programmierten ‚Akku-Schon-Modus’ herunterfuhr. Ein bisschen wie ein toter Käfer lag er da. Alice konnte sich ein leises Triumphgefühl nicht verkneifen.

Gregor war Optimist. Mit Sinn für die Realität. Er vertrat vehement den Standpunkt, dass man den Tag auch schon vor dem Abend loben solle, wenn es einen Grund dafür gibt. Wer garantierte einem denn, dass man abends noch Gelegenheit dazu hat?

Heute war ein guter Tag.

Er hatte mit Alice gesprochen! Und sie mit ihm.

„Hallo Alice.“, hatte er gesagt.

Sie waren sich im Treppenhaus begegnet. Alice stand am weit geöffneten Fenster, den Blick auf einen Punkt irgendwo in der Ferne gerichtet. Ein leeres Glas in der einen, einen Briefumschlag in der anderen Hand. Sie erschrak ein bisschen als er sie ansprach. Er hatte sie wohl aus irgendwelchen Gedanken gerissen.

„Oh, hallo Gregor.“

Und dann, als sie bemerkte, dass sein Blick sich an das leere Glas geheftet hatte – eines Tages würde er ihr in die Augen schauen: „Eine Spinne. Ziemlich groß. Sie saß in meinem Bücherregal. Ich habe sie hiermit“, sie hob das Glas und den Umschlag ein wenig an „eingefangen und ihr die Freiheit geschenkt.“

„Prima. Dann bis bald mal wieder.“

„Ja, bis bald.“

Eine edle Tat. Alice war die Güte selbst. Niemals hätte sie einem lebenden Wesen ein Leid zugefügt.

Allerdings ist ein Sturz aus dem Fenster des sechsten Stockes auf die darunterliegende Asphaltfläche ziemlich tief. Berechnet auf die Körpergröße einer Spinne. Egal wie groß.

Aber wahrscheinlich sind Spinnen so etwas gewohnt.

Dennoch schlich Gregor sich lange nach Einbruch der Dunkelheit, als er sich sicher war, dass Alice inzwischen schlief, noch einmal hinunter und suchte die Parkplatzflächen unterhalb des besagten Fensters mit Hilfe seiner Stabtaschenlampe gründlich nach einem Spinnenkadaver ab. Er fand nichts. Nichts was ein Gewissen belasten musste.

Gelobt sei der Tag!

Die falsche Dosenmilch. Diese hatte zwölf Prozent Fett. Richtig wären Acht gewesen. Das einzige, was er in seinem Tee gelegentlich duldete war ein kleiner Tropfen Kondensmilch. Das machte den auch bekömmlicher. Außerdem gab es Gregor seinen persönlichen Stil. British. Ein Gentleman.

Das Blau des Etiketts war eine Nuance dunkler als gewöhnlich. Wie hatte ihm das beim Einkauf entgehen können? Es war seiner Erinnerung nach das erste Mal in vierundzwanzig Jahren, dass ihm so etwas passierte.

Hätte er als Haustier eine Katze gehabt, nicht eine Maus, wäre alles kein Problem gewesen. Er würde zum Laden hinunter gehen, eine richtige Dosenmilch kaufen und diese hier an seine Katze verfüttern.

Zuviel Fett war ungesund und machte dick. Da er, seit er sein Kinderdreirad irgendwo am Straßenrand vergessen hatte, keinen Sport mehr trieb, musste Gregor auf seine Ernährung achten. Übergewichtige Männer kamen beim anderen Geschlecht nicht gut an. Die Milch war bezahlt. Sie einfach in den Ausguss zu schütten wäre eine sündhafte Verschwendung. Eine Möglichkeit bestünde darin statt eines Ganzen nur einen Zweidritteltropfen in die Tasse zu geben. Dann wäre er wieder bei acht Prozent. Das war aber nur schwer in die Praxis umzusetzen.

Über der Lösung dieses Problems brütete Gregor, als ihn von der anderen Seite der Mauer her ein zunächst unterdrückter, sich dann zu einem ansteigenden Tremolo aufschwingender und schließlich in einem Crescendofortissimo gipfelnder Wutschrei aus seinen tiefen Gedanken riss. Danach ein, zwei harte Schläge gegen die Wand und ein metallisches Scheppern. Die darauf folgende absolute Stille wurde nur von einem kurzatmigen, nervösen Trippeln hinter seiner Kommode durchbrochen. Auch vermeinte er das leise Vibrieren von Schnurrbarthaaren zu vernehmen.

Alice hatte sich wohl mal wieder über irgendetwas geärgert.

Um die Waage war es nicht schade. Die taugte sowieso nichts. Die Delle in der Wand ließ sich mit etwas Spachtelmasse und ein wenig Farbe wieder reparieren. Oder man stellte einfach einen Sessel oder eine Kommode davor. Aber Mäuse in der Wohnung? Das brachte das Fass wirklich zum überlaufen! Die kackten und pissten überall hin und verbreiteten Krankheiten und Seuchen.

Na ja, sie würde sowieso bald nicht mehr hier sein. Sollten sich doch die nächsten Bewohner dieses Lochs damit rumschlagen.

Immerhin fühlte sie sich jetzt besser. Der wutbedingte Adrenalinschub hatte ihren Kopf wieder klar werden lassen. Was noch ein bisschen störte waren der säuerliche Geschmack auf der Zunge und das leichte Brennen der Magensäure in Rachen und Kehle. Aber wie immer nach dem Kotzen fühlte sie sich erleichtert. Von einer Last befreit. Der Geschmack und das Brennen würden nach den nächsten zwei, drei Schluck Bier nur noch der Nachhall einer schalen Erinnerung sein. Auch die sanfte Mattigkeit und Antriebslosigkeit, die auf einen solchen Schub fast immer folgten waren beinahe schon wieder angenehm. Ein bisschen Mäusescheiße mehr in ihrem beschissenen Leben, was soll’s?

Deshalb brauchte sie im Augenblick auch keine Tabletten. Wieder ein paar mehr, die sie für den Tag aufsparen konnte, an dem sie von hier verschwinden würde. Proviant für die Reise.

„I was born one morning when the sun didn’t shine… I picked up my shovel and walked to the mine… I load sixteen tons… dadidadadi…”

Mit einem Lied auf den Lippen ging die Arbeit leichter von der Hand. Alice war bester Laune. Es war Sonntag. Die bleiche Frühlingssonne schickte ihre schräg fallenden Strahlen in die Schlacht gegen die auf dem letzten Knopfloch pfeifende Winterkälte. Alice stand am offenen Fenster des frisch geputzten Treppenhauses und atmete tief.

Eigentlich sah der Hausordnungsplan, der unten an der Kellertür hing auch noch vor, dass sie die Mülltonnen zur morgendlichen Leerung rausstellte und den Gehweg kehrte. In diesem spießerverseuchten Scheißkaff war die Hausordnung so etwas wie das Gesetz. Seit vierundzwanzig Jahren hatte niemand das je in Frage gestellt.

Heute aber würde Alice die Regeln leichten Herzens brechen. Sie würde dem Undenkbaren, dem Leviathan, das Tor ins Innere des Hauses öffnen. Die Konsequenzen einer solchen Tat würden dessen Fundament in den Grundfesten erschüttern. Es wird Nachahmer geben. Niemand wäre mehr sicher vor Ungehorsam und Rebellion. Und hinter den verriegelten Gutbürger-Wohnungstüren regierte künftig die blanke Angst.

Das Raffinierteste an dem Plan war: Bevor irgendjemand sich bei Alice beschweren konnte, würde sie gar nicht mehr da sein. Seit sie ihren endgültigen Entschluss gefasst hatte war alles leicht. Sie ging fort. Irgendwohin. Und sie wusste, sie ging nach Hause.

„Hallo Alice.“, sie erschrak ein wenig.

„Oh, hallo Gregor. Geht’s gut.“

„Alles bestens. Na dann, bis demnächst mal wieder.“

„Ja, bis demnächst.“

Liebe Alice,

verzeih’, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen! Der gestrige Tag war derart reich an unerwarteten Ereignissen, dass ich es versäumt habe dem Brief, den ich Dir am Vormittag schrieb am Abend einen weiteren folgen zu lassen. Ich möchte dich natürlich nicht mit den belanglosen kleinen Problemen langweilen, die meinen Alltag belasten. Nur soviel: Ich hatte ein ernstes Versorgungsproblem ein lebensnotwendiges Nahrungsmittel betreffend. Und später musste ich einem Freund in einer schweren Notlage seelischen Beistand leisten. Eigentlich einer Freundin. Aber es ist nicht das, was Du jetzt denkst. Sie saß hinter meiner Kommode. Die Zusammenhänge im Detail zu erklären würde den Rahmen dieses Briefes sprengen. Jedenfalls war der Tag vorüber bevor ich es auch nur bemerkt hatte.

Sei dennoch um nichts weniger versichert: Meine ganze Liebe gehört Dir allein.

Mit aufrichtiger Reue,

Gregor

Ps.: Da die ersten wärmenden Strahlen der neu erwachten Frühlingssonne mich, wie jeden vom Taumel der Liebe ergriffenen Narr, heute Morgen hinaus in die Natur riefen, habe ich die Gelegenheit genutzt Dich von jener Last zu befreien, die die Hausordnung und der danach festgelegte Wochenplan Dir auferlegt hatten. Ich habe die Mülltonnen für die morgige Leerung an die Straße gestellt und den Gehsteig vor dem Haus gefegt. Es hat mein Herz mit Freude erfüllt.

Vor den Lohn haben die Götter den Schweiß gesetzt. Der Tee musste also noch ein wenig warten. Zunächst einmal schob Gregor die Lieblingskommode herum bis sie in einem rechten Winkel zur Wand zum stehen kam. Dann bohrte er mit einem kleinen Handdrillbohrer ein Loch in die Wand. Direkt neben dem Eingang zum Mäusereich. Das Metallgewinde mit der bloßen Kraft seiner Hände in den massiven Stein zu treiben war mühsam. Aber schließlich gelang es ihm. Er hätte natürlich auch die elektrische Bohrmaschine nehmen können, aber das hätte die Maus nur unnötig verschreckt. Zum Entfernen des aus dem Loch heraus gerieselten Putzes und Zementstaubes benutzte er Handfeger und Schaufel. Auch ein Staubsauger würde nur störenden Lärm verursacht haben. Bei der Gelegenheit entfernte er auch die überall über die Fläche, auf der normalerweise die Kommode stand verteilten Mäuseköttel. Anschließend befestigte Gregor mit Hilfe eines Dübels in der gebohrten Öffnung und einer Schraube die kugelgelagerte Achse des Laufrades, das er in der Zoohandlung gekauft hatte an der Wand. Ein Stups mit dem Finger und das Rad drehte sich mit einem zufriedenen Summen auf der Stelle. Nager liebten diese Art von Fortbewegungsmittel.

Voller Empathie, und nicht ohne einen gewissen Stolz, begutachtete er sein Werk.

Zuletzt sammelte Gregor die überall verstreuten Briefe ein, fegte auch von diesen die Mäusescheiße herunter und schob die Kommode zurück an ihren Platz. Natürlich ließ er genügend Raum zur Wand, dass die Maus bequem in das Rad hineinklettern, und dieses sich frei drehen konnte.

Dann ging er in die Küche um ein Feuer im Waschbecken zu entfachen und darüber sein Teewasser zu kochen.

Das monotone Brummen eines Automotors ließ Gregor langsam aus seinem Halbschlafdämmer in die Wirklichkeit auftauchen. Zweifellos ein Möbelwagen. Oder hatte er den geträumt?

Irgendjemand Neues zog in das Haus ein.

Oder Jemand zog aus. Aber wer? Nicht Alice!

Er stürzte ans Fenster und zog die Gardinen beiseite. Seine Brille hatte er in der Eile auf dem Nachttisch neben seinem Bett, wo diese während der Stunden des Schlafes ihren festen Platz hatte, liegen lassen. Trotz seiner Kurzsichtigkeit konnte er den Möbelwagen klar erkennen. Von oben sah der recht klein aus. Und sehr schwarz. Eher eine Art Kombi mit Überlänge. Viel bekam man darin mit Sicherheit nicht unter. Wenn es, was aber völlig ausgeschlossen war, tatsächlich Alice sein sollte, die da heute auszog, reiste sie mit leichtem Gepäck. Ihm würde es das Herz brechen.

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