Читать книгу »Aus euch wird nie was« - Norbert Mayer - Страница 10
KINDHEIT
ОглавлениеIch erinnere mich, wie ich zum ersten Mal in die Volksschule ging, mitten im Krieg im Jahre 1942 in Wien. Man musste mich zwingen zu frühstücken, sowohl die Lehrerin als auch die Mutter, weil ich anscheinend so aufgeregt war, dass ich das Essen vor der Schule abgelehnt habe. Es sei doch ganz ungesund, mit leerem Magen in die Schule zu gehen, ich solle wenigstens ein bisschen was essen. Ich hab es dann mit Müh und Not gemacht, damit sie Ruhe geben. Der erhobene Zeigefinger, sowohl zu Hause als auch in der Schule, langweilte mich, also habe ich danach schon aus Bestemm gefrühstückt, bevor ich in die Schule in der Mannagettagasse 1 in Grinzing ging.
Sie hat immer ganz leicht nach einer Mischung aus Klo und Bohnerwachs gerochen. Diesen Geruch würde ich wieder erkennen, wenn es ihn noch gäbe, er ist für mich eine Art vertrauter Anstrengung. Es gibt ihn natürlich nicht mehr, in dieser Schule schon gar nicht mehr.
Die dort, die Lehrerschaft, wollte immer etwas von mir. Auf dem Prüfstand: Ich werde abgefragt, ich fühle mich nicht wohl, also mache ich dann lieber Dinge, die mir Wohlgefühl bringen. Die Volksschule, das ist für mich der Oberlehrer in schwarzem Arbeitsmantel und mit Ärmelschonern bis über die Ellbogen hinauf. Er war ein Batzen von einem Nazi und trug auch tatsächlich ein Hitlerbärtchen. Dass er damit den deutschen Diktator nachahmte, sahen wir, denn wir hatten auch ein »Führer«-Bild in der Klasse hängen. Wir Kinder wussten aber nicht wirklich, wer der Herr da an der Wand war. Ich erinnere mich deutlich daran, wie uns dieser schwarz gekleidete Lehrer forsch den Hitlergruß üben ließ. Wir mussten die rechte Hand hinaufstrecken und oben lassen. Was wir dazu gesprochen oder gesungen haben, dass wir unserem Führer danken oder irgendetwas Ver blödetes, weiß ich nicht mehr im Detail, aber ganz genau erinnere ich mich daran, dass mir der Arm eingeschlafen ist. Dieser simple Streckgruß dauerte einfach zu lang für meine Kräfte. Es tat mir weh, also habe ich den Arm heruntergenommen und dachte mir, das sehe der Lehrer sowieso nicht, weil ich nicht in der ersten Reihe stand. Da hatte ich mich aber getäuscht. Ich musste nach vorne, um ganz allein den Hitlergruß vorzuexerzieren. Dann kriegte ich eine Verwarnung.
Baby Elisabeth
Mutter und Tochter – Paula Wessely und Elisabeth
Kleinkind Elisabeth
Die Eltern mit Elisabeth und Bekannten vor dem Jagdhaus in Klingfurth
Meine Schulzeit begann mitten im Krieg, im Jahr 1942, also bereits nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Davon hatte ich damals natürlich gar keine Ahnung. Ich wusste nur, es ist Krieg. Was das wirklich bedeutet, haben wir erst kapiert, als meine Eltern unseren alten Weinkeller für die Nachbarn aufmachten, für den Luftschutz. Ich erinnere mich daran, wie ich mit meiner Schwester Christiane im Hof des Elternhauses in Grinzing stand, in der Himmelstraße. Wir konnten damals schon die englischen Bomber von den deutschen unterscheiden, am Motorengeräusch, so sehr gehörte das damals zum Alltag. Dieses bedrohliche Brummen hörten wir auch im Jagdhaus meines Vaters in Klingfurth in der Buckligen Welt, das er fast allein gebaut hatte. Dort am Fuß des Rosaliengebirges waren wir als Kinder immer im Sommer. Auf einem Hügel oben stand das Blockhaus, Vater hatte eine Jagd gepachtet.
Ich sehe es noch wie heute, dass am Ende des Tals plötzlich ein Feuerstreifen rot aufleuchtete. Es war die Munitionsfabrik von Wiener Neustadt, die bombardiert worden war. Zum ersten Mal habe ich damals das Wort Krieg kapiert. Der Krieg war für mich ein roter Horizont in der Ferne, ein Donnern ganz weit weg, und mir wird erklärt, das sind die Bomben, die gerade in Wiener Neustadt eingeschlagen haben.
Im Herbst 1944 sind wir dann nach Sölden im Ötztal geflüchtet. Dort in Tirol war ich gerne, denn wir hatten eine sehr gute Lehrerin, die alles andere war als eine »Nazisse«. So nannte man damals Frauen, die besonders stark von Hitler begeistert waren. An Sölden kann ich mich sonst nur dunkel erinnern, es war damals ein kleines Bauerndorf, nicht zu vergleichen mit dem Skibetrieb von heute. Höher als Sölden lagen nur noch Gurgl und Vent, am Fuße der Wildspitze.
Die Lehrerin hat es verstanden, mit mir und meiner um zwei Jahre jüngeren Schwester Christiane umzugehen, mit zwei Wiener Mädchen, die der Krieg in eine rustikale Gegend verschlagen hatte. Die Buben dort waren bereits werdende Machos, schon mit sechs Jahren, und die Mädchen waren riegelsame Bauerntöchter. Die meisten dieser Kinder hatten einen weiten Schulweg und kamen von in den Bergen verstreuten Weilern. Die Schüler mussten in der Früh selbst noch im Frühling durch den Schnee stapfen. Auch wir trugen, was mich fasziniert, aber auch abgestoßen hat, weil die Wolle so kratzte, selbst gestrickte Stutzen. Der Schnee klebte in dicken Klumpen an ihnen. Den haben wir vor dem Eintritt in die Klasse so gut wie möglich abgeribbelt. Drinnen gab es einen kleinen Ofen, der hat den Rest besorgt. Die meisten von uns Kindern saßen für die Dauer des Unterrichts in einer kleinen Lacke. Ich sehe noch heute diese Lacken, ich spüre die kratzende Wolle. Das mag ich bis heute nicht. Fremd war mir all das. Außerdem habe ich die Tiroler zuerst gar nicht verstanden, und sie mich auch nicht. Für mich klang diese raue Sprache so fremd wie Chinesisch oder Kirgisisch.
Mein Vater hat dort im Ötztal einen Film gedreht, die Romanze »Ulli und Marei«. Es geht darin um einen Berghofbauern, um Naturburschen. Beim Dreh hat mein Vater mit einem Hotelier Freundschaft geschlossen, mit Isidor Riml aus einer alten Tiroler Gastwirtsfamilie. Es gab damals in Sölden nur zwei Hotels – das zur Sonne und das zur Post. Sie existieren noch heute. Damals war der Ort wirklich überschaubar: Kirche, Schule, die zwei Hotels und ein einziger Arzt, Dr. Praxmarer, der über der Ache drüben wohnte, einem schnellen, wilden Bach, und mit der Beiwagenmaschine die Weiler abfuhr, die Kinder auf die Welt bringen half, die beim Bergsteigen Gestürzten versorgte – der einzige Arzt weit und breit.
Für uns Mädchen fing der Ernst des Lebens mit der Schule an. Meine Mutter hatte ursprünglich Lehrerin werden wollen, sie schwärmte von der guten Glöckel-Schule, in die sie gegangen war. Otto Glöckel war jener sozialdemokratische Wiener Kommunalpolitiker, der nach dem Ersten Weltkrieg in Wien Schulreformen eingeführt hatte. Das Reformpägdagogische brach auch ein bisschen bei unserer Erziehung durch. Wenn wir zum Beispiel in den Wald gingen, um Preiselbeeren zu brocken, hat meine Mutter mich das kleine Einmaleins abgefragt. Ich empfand das als grauslich, weil ich es wirklich nicht konnte. Wie ungerecht dachte ich, es wäre doch eigentlich Freizeit, wenn man zum Beerenbrocken geht. Aber meine Mutter, die beruflich sehr beschäftigt war, hatte dann eben gerade Zeit dafür. Sie hat diese Art des Lernens im Wald gegen meinen Protest, dass hier in der Natur doch keine blöde Schule sei, konsequent durchgedrückt. Ich tat mir schwer bei dieser Rechenarbeit – nicht auszudenken, sie hätte sich ans große Einmaleins getraut, da wäre es überhaupt zappenduster gewesen. Solche Exkursionen waren also für mich kein Honiglecken, und bei Preiselbeeren denke ich immer an Zahlen. Meine Mutter konnte hervorragend Kopfrechnen, wie das von einem Kind aus einem Geschäftshaushalt zu erwarten war. Ich hingegen habe auf diesem Feld eine Antibegabung, schon damals bereitete mir das Rechnen Magenbeschwerden.
Damals war meine Mutter schon mit meiner jüngsten Schwester Maresa schwanger. Christiane und ich wussten das natürlich nicht, Mami war eben ein bisschen dick geworden. Maresa wurde nicht in Sölden, sondern in Seefeld auf die Welt gebracht, in einem SS-Lazarett, das sei die beste Möglichkeit gewesen, hat meine Mutter später gesagt und die Situation so geschildert: An ihrem Bett standen eine Nazi-Krankenschwester und eine katholische. Die haben sich irgendwie nicht ganz über der gerade entbunden Habenden gefunden, aber Maresa ist gesund auf die Welt gekommen. Sie wurde aus dem mütterlichen Bauch durch einen Militärarzt hervorgeholt, der nur mehr mit leichtem Alkoholspiegel seinen Beruf ausüben konnte. Es ging aber alles gut, vor allem auch mithilfe der zwei sehr unterschiedlichen Schwestern.
Wir Kinder lebten zu dieser Zeit in Sölden im Hotel und wussten noch gar nichts vom neuen Nachwuchs. Dann aber hat uns Vater, der angezogen zum Weggehen auf dem Ehebett lag, ins Zimmer gerufen, uns beide genommen, neben sich gelegt und gesagt: »Ihr habt jetzt ein kleines Schwesterlein!« Da haben wir »Iiihh« gemacht und konnten es gar nicht fassen. Ich weiß noch, dass ich auf der Leitung stand und dachte: Wieso bringt sie jetzt ein Baby nach Hause? Wir brauchen doch kein Baby hier. Ich sehe noch heute, wie dieses kleine Bündel an einem sonnigen, noch immer kalten Frühlingstag 1945 in das Hotel gebracht wird, in dem Bündel ein krebsrotes Wesen, das nach Herzenslust brüllt. Das war eine Riesenfreude. Später haben wir Maresa oft gesagt: »Du hast schon als Baby einen solchen Krach geschlagen!«
Oben im Zimmer war schon ein Stubenwagen hergerichtet, aus Stroh und Holz, mit Rädern und einem Dach. Mit großer Vorfreude waren für das Baby auch weiße Schleier darübergehängt worden. Sie blähten sich im Frühlingswind. Die Kinderschwester mit dem schreienden Baby im Arm betritt das Zimmer, sieht diese Pracht und sagt: »Das ist ganz ungesund, bitte all die Schleier weg, das sind nur Staubfänger.« Da hat sie recht gehabt. Das schreiende Bündel landete im Korb, und wir durften es nicht berühren. Wir durften von weit her hineingucken auf unser jüngstes Schwesterchen.
Dieses Gefühl kannte ich bereits aus Wien, als ich ungefähr drei Jahre alt war. Christiane, die mittlere Tochter meiner Eltern, stand als Kleinstkind in einer Gehschule oben in unserem Grinzinger Haus im Kinderzimmer. Man hatte mir eingeschärft, ja nicht zu nah an die Schwester heranzugehen. »Du hältst dich bitte weg!«, hieß es streng. Christiane aber spielte besonders gern mit einem Holzspielzeug. Das Schwesterchen schmeißt also ein hellblaues Rundhölzchen heraus aus der Gehschule, es rollt auf mich zu. Was jetzt? Ich darf doch nicht hin. Aus drei Metern Abstand, so nah glaubte ich mich nähern zu dürfen, warf ich das Ding in Richtung Gehschule. Es klirrte – ich hatte die Fensterscheibe getroffen. Als mich die Kinderfrau tadelte, habe ich aufbegehrt: »Nein, ich musste doch weit weg bleiben. Und Christiane wollte doch das Hölzchen wiederhaben.« Meine Logik hat mich vor noch mehr Tadel bewahrt.
Später haben Christiane und ich uns als Kinder auch furchtbar gestritten, es gab Zeter und Mordio. Einmal habe ich ihr sogar eine kleine Ecke eines Zahns ausgeschlagen – wir hauten uns damals richtig. Meist aber spielten wir in Eintracht, am liebsten »Vater-Mutter-Kind«. Maresa war natürlich das Kind, aber da weit und breit kein gleichaltriges männliches Wesen verfügbar war, musste ich fast immer den Vater spielen. Denn Christiane bestand auf der Mutterrolle. Auch beim Krippenspiel in der Schule fiel mir immer die Rolle des Josef zu. Nie durfte ich die Maria sein, dass fand ich irgendwie ungerecht. Die Jüngste war also unser Kind. Wir nahmen dieses sich schon wehrende Wesen und stopften es in den Puppenwagen – nicht in den Kinderwagen, der war schon weg.
Mit Puppenspielen hingegen haben wir es eigentlich nie so gehabt. Maresa hat sich dieses Spiel eine Zeit lang gefallen lassen, weil sie mitspielen wollte und durfte. Und ich ließ mir eine Zeit lang gefallen, dass ich immer den Vater spielen musste. Ich fand Christiane damals immer raffinierter, und sie ist es bis heute. Sie war viel besser als ich im Durchschlängeln durch die Unbill, die ein Kind den Erwachsenen gegenüber immer hat, weil sie sehr schnell herausfand, dass man nicht immer mit der Tür ins Haus fallen muss. Wenn ich als die Älteste fragte, warum, dann blieb die Frage immer im Raum. Ich habe stets darauf bestanden, eine Antwort zu erhalten, war frech genug, nachzufragen. Christiane hat mit dieser hartnäckigen Direktheit gar nicht erst angefangen, das war ihr viel zu mühsam und auch zu dumm. Sie musste als Mittlere zwischen dem Benjaminkindlein und der älteren Schwester austarieren und hat das wunderbar geschafft.
Ein Beispiel aus unserer Teenagerzeit: Mit dem Taschengeld war es immer ein bisschen schwierig. Viel haben wir nicht bekommen, und das unregelmäßig. Aber man brauchte ja auch Geld für Schulutensilien. Häufig kam also der berühmte Satz von Christiane: »Ich brauche wieder einmal neun Schilling für Hefte.« Sie bekam selbstverständlich das Geld, eine ganz schöne Summe für damals. Neun Schilling kostete aber auch ein Platz im Kino in der Sieveringer Straße, wo auch das Geschäft für Schulartikel war. Meine Schwester ging unheimlich gern ins Kino. Sie fuhr mit der Straßenbahn zu diesem Geschäft, um angeblich die Hefte zu kaufen Ein paar Meter daneben war das Kino, und dort landeten diese neun Schilling des Öfteren in der Kasse. Das war schwer verboten, aber meine Eltern blieben, glaube ich, ahnungslos.
Man könnte auch sagen, die Christiane hat schon für ihre Kino-Karriere geübt. Sie wollte schon immer ein Star werden, eine wie Rita Hayworth oder Bette Davis. Bei einem Spaziergang von uns zwei Schwestern schleppte Christiane einmal einen riesigen Föhrenast aus dem Garten mit. Irgendwann zeigte sie zurück auf diesen Ast, der für sie in diesem Moment eine Kutsche war und sagte kühl: »Da hinten sitzt mein Personal.« Sie sagte: »Pirsonal«.
Am liebsten spielten wir drei in Wien dann unter dem Mietklavier im Kinderzimmer oben »Flucht«. Das Wort müssen wir aus dem Radio aufgeschnappt haben. Wir mussten erst einmal zusammenpacken – Hausschuhe und Spielzeug kamen in den Polsterüberzug. Dann wurde mit eingezogenen Köpfen gerannt, von unterm Tisch bis unters Klavier, das waren ungefähr zwei Meter. So lang war unsere Flucht.
Ich habe mich bald darauf zurückgezogen von den Spielen mit den Schwestern, da ging es schon ans Lesen. Dabei wollte ich als Große von den Kleinen keinesfalls gestört werden.
Zurück nach Sölden: Maresa wurde in der Pfarrkirche getauft. Nach altem Brauch musste man an das Kirchentor klopfen, um Einlass für das Ungetaufte zu erbitten. Ich weiß, dass wir in Eiseskälte vor der Kirche standen. Damals kam auch Doris zu uns nach Sölden, genannt Goschi, die Nichte meiner Mutter. Doris war noch ein Teenager, sie wurde aus dem Arbeitsdienst geholt und zur Tante Paula geschickt, um ihr mit dem Kind zu helfen. Es kam aber noch eine Krankenschwester dazu, Wilma. Die war so wie der Lehrer in Wien ein Nazi durch und durch, so wie auch die Direktorin der Volksschule in Sölden. Unsere Lehrerin hingegen, eine heitere Frau, war diskret gegen das Regime, das ging dort oben sogar. Die Leute im Dorf arrangierten sich. Bei meiner Lehrerin habe ich immer das Gefühl gehabt, falls es mir einmal zu viel mit dem Einmaleins würde, könnte ich mich bei ihr noch anhalten. Die würde sicher sagen: »Geh, gnädige Frau, lassen Sie das Kind, das kommt schon.« So habe ich mir jedenfalls eine Krisensituation vorgestellt – die Lehrerin unterstützt mich gegen die strenge Mutter.
In Sölden wohnten wir auf zwei Zimmern im Hotel Post. Dort waren auch SS-Offiziere und an die 100 KLV-Buben untergebracht, von der Kinderlandverschickung. Es handelte sich um Berliner Buben. Aus diesen rekrutierte sich mein allererster Verehrer. Er hieß, zum Gaudium meiner Familie, Hasemann, und hat mir irgendwann, irgendwo dort oben im Ötztal gesagt, wenn wir größer seien, könnten wir heiraten. Er hat sich unsere gemeinsame Zukunft ausgemalt. Man muss dann eben heiraten, sagte er. Das leuchtete mir ein. Eines Tages brachte er mir einen Ring mit, ein verbeultes Etwas, auf das die Mariazeller Muttergottes gemalt war. Dieses Ding hatte er wohl dort auf dem Wäscheplatz, wo wir uns trafen, ausgegraben, es dürfte von irgendeinem Wäschestück heruntergefallen sein. Meine Familie höhnte über diesen Ring, den ich trotzdem oder gerade deshalb lange Zeit sehr in Ehren hielt. Es war mir egal, dass Hasemann für die anderen dann nur mehr eine Lachnummer war, für viele Jahre. Mariazell half da gar nichts dagegen. Ich aber finde noch immer, dass ich als Frau damals früh angekommen war.
Diese acht- oder neunjährigen Buben wurden von einem LAMA kommandiert, einem Lagermannschaftsführer. Der war bereits 17, ein schöner blonder Knabe. Sämtliche Damen, von den Bauernmadeln bis zu den Putzfrauen, waren in den verknallt. Ich nicht. Meine Schwester und ich fanden den irgendwie nicht so toll. Das Stichwort lautete immer: »Es ist Krieg.« Beim Frühstück mussten die Buben »Wir danken unserem Führer« skandieren, diesen Chor habe ich noch immer im Ohr. Aber damals wusste ich weder, was ein LAMA, noch, was ein Führer war. Der erschien doch nie bei uns in Sölden, der war höchstens ein Bild an der Wand in der Schule. Man sagte uns nur, dass es in Hitlers Berlin, der Reichshauptstadt, sehr gefährlich sei, dass dort noch mehr Bomben als in Wien fielen und die Buben deshalb hierher nach Sölden gekommen seien. Wir hatten kaum Kontakt zu ihnen, sahen nur, wie sie an einem Wäscheplatz des Hotels Ball spielten. Was sie sonst gemacht haben, blieb uns verborgen. Ruckzuck marschierten sie in Zweierreihen durch die Dorfstraße, und weg waren sie. Bald waren sie ganz in Richtung Vent verschwunden.
Da oben in Sölden wussten wir kaum über die Vorkommnisse in Wien Bescheid, nur, dass ein Teil der Familie ausgebombt war. Dann aber kam plötzlich ein Cousin von uns um die Ecke gebogen. Otto war ein Neffe meiner Mutter, in voller Kriegsmontur der Wehrmacht tauchte er in den letzten Kriegstagen bei uns auf. Irgendwie hatte er erfahren, wo sich Onkel und Tante aufhielten. Er hat sich nach Sölden durchgeschlagen. Wir Mädchen flogen auf diesen nicht einmal 20-Jährigen zu, den einzigen greifbaren männlichen Verwandten in jüngerem Alter. Unser »Burschi«, der einzige Mann in der Familie Wessely, musste dann aber wieder weg. Immerhin konnte er uns etwas Beruhigendes sagen: Er müsse jetzt nicht mehr an die Front. Otto hat überlebt und wurde Buchhändler. Er hat noch bei Prachner gelernt. Später wurde er sogar Chef des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels.
Als Neunjähriger sagten mir der Krieg und seine Geschichte fast gar nichts. Es gab kein Kino, das war für uns Kinder schwer verboten, Fernsehen gab es noch überhaupt nicht, auch Radio hörten wir zuerst in Sölden fast gar nicht. Erst langsam begannen mich die Nachrichten zu interessieren, verstanden habe ich sie aber nicht. Die großen Radioerlebnisse fingen für mich erst einige Zeit später in Wien an. Aber selbst da war Zeitunglesen für uns Kinder bei den Eltern noch immer schwer verpönt.
Dass der Krieg vorbei sei, erfuhr ich Mitte Mai 1945 in Sölden, die konkrete Situation ist für mich eine bleibende Erinnerung. Von der Volksschule ging ich zum Hotel, meine Mutter saß davor. Mit stolzgeschwellter Brust, als ob ich einen Römischen Einser erhalten hätte, bin ich zu ihr und habe gesagt: »Mami, der Krieg ist aus!« Es hat mich peinlich berührt, dass sie sofort in Tränen ausgebrochen ist, mich genommen und wirklich geschluchzt hat. Meine Mutter, die in der Öffentlichkeit weint!
Sie war natürlich aus vielen Gründen erleichtert. Einer der wichtigsten: Nachdem mein Onkel Paul verhaftet und zum Verhör zur Gestapo auf den Morzinplatz gebracht worden war, haben sie meinen Vater Attila, der zuvor vom Militär »uk« (unabkömmlich) gestellt worden war, in den letzten Kriegswochen in den Volkssturm gesteckt, wohl aus Sippenhaft, ins letzte Aufgebot vor dem Untergang der Nazi-Diktatur. Er musste hinauf in die Berge, um irgendeinen Pass zu verteidigen.
Die Reaktion meiner Mutter war interessant: »Stellt euch vor, der Vater war doch immerhin Leutnant«, sagte sie, und meinte natürlich: im Ersten Weltkrieg. »Und jetzt muss er als Gemeiner dem Dienstmädel den Kasten runtertragen.« Das sah meine Mutter als Degradierung erster Klasse.
Vater hatte am 21. April Geburtstag, und er kriegte tatsächlich Urlaub. Als er im Hotel dort oben in Sölden erschien, wurde er vor allem von den reiferen Damen umschwärmt. Frau von Rossi, eine Verwandte des Hotelbesitzers Riml, hatte auf meinen Vater ein leises Flugerl. Raffiniert, wie er war, nährte er diese Gefühle. Und schon erklärte sie bei seiner Ankunft: »Der Hörbiger kriegt eine Torte!« In diesen letzten Kriegstagen war die gar nicht so leicht zu besorgen. Doch Frau Rossi zauberte ein enormes, fettreiches Ding hervor, aus bester Bauernbutter vor allem, mit Schokolade gefärbt, sogar Kerzen drauf. Vater war nicht nur hingerissen, sondern auch ausgehungert. Er schlang diese Torte runter und hatte prompt einen Gallenanfall. Der Herr Doktor Praxmarer wurde gerufen. Er kam mit seiner Beiwagenmaschine herbei wie ein rettender Engel und verordnete: »Attila, du gehst mir nimmer mehr aufi und bleibst do, es is eh bald aus.« Da lag Vater mit seinem Gallenanfall tatsächlich bis Kriegsende, weil Herr Dr. Praxmarer ihn einfach nicht mehr gesundschrieb.
Kurz danach hieß es bereits: »Die Akrimaner kommen.« Jedenfalls haben wir Kinder das so verstanden. Wir hatten keine Ahnung, ob das jetzt ein wilder Stamm aus Neuguinea oder sonst wo war. In Geografie und Heimatkunde waren wir noch lange nicht über Tirol hinaus, das höchste der Gefühle war, wenn man das Wipptal zeichnen konnte. Wichtig war der Lehrerin, wo in der Umgebung von Innsbruck Urgestein, wo Kalkgestein lag, das musste man immer wissen. Dass aber jenseits des Atlantiks die Amerikaner lebten, wusste ich noch nicht.
Jetzt waren sie da und brachten die Befreiung. Die Szene in Sölden ist mir in meine innere Netzhaut eingebrannt. Ich sitze im ersten Stock am Fenster und schaue auf den Dorfplatz hinunter. Der Schwiegervater des Hotelbesitzers, der alte Herr Weilguni, der sich schon ein bisschen schwertut, geht von der Hoteltür, es war nicht weit, bis ans Ufer der Ache, die im Mai voller Schmelzwasser und sehr wild ist. Herr Weilguni hat etwas unterm Arm, schaut links und schaut rechts, es ist niemand da, holt aus und schmeißt dieses Etwas, das er da hinübergetragen hat, in hohem Bogen in die Ache. Es ist ein Hitlerbild, aus dem Hotel. Dort sah man dann nur noch blass ein Viereck, wo zuvor ein Bild vom Führer gehangen hatte. Es wurde sehr rasch durch ein Kreuz ersetzt. Das haben wir selbst als Volksschulkinder mitbekommen: Hitler ging baden, jetzt konnte es wieder sein wie früher. Auch in der Schule hing wieder das Kreuz, als wäre es nie weg gewesen, beinahe jedenfalls, denn umrahmt war es von der blassen Lücke, die Hitler hinterlassen hatte.
Damit war die Sache auch für die Kinder klar, sie sollten wissen, wo es langgeht, wenn die »Akrimaner« kamen. Wir Gäste aus Wien mischten uns mit Vergnügen unter die Dorfjugend, denn das war viel lustiger, als im Hotelzimmer die Aufgaben zu machen. Und schon kamen sie an. Die »Akrimaner« waren in Tirol, angeblich nur deshalb, weil General Patton den Plan verwechselt hatte. Er sollte eigentlich nach Stuttgart, ist aber ganz woanders hin geraten, in die Berge, und irgendwie haben sie sich alle nicht so deutlich vorstellen können, wie hoch unsere Alpen sind. Sie zogen etwas später weiter, weil Innsbruck schon von den Franzosen erobert worden war. Marokkaner haben wir sie genannt, weil viele ihrer Truppen aus Nordafrika kamen.
In Sölden fuhr zuerst jedoch die US-Army mit dem Jeep ein. Vorne stand ein Sergeant im offenen Fahrzeug, vor sich am rechten Kotflügel eine Hitlerbüste. Die küsste er, dann schmiss er sie vor der Dorfjugend in die Ache. Noch einmal ging Hitler baden. Wir Kinder fanden das natürlich toll. Das ist mein bleibender Eindruck von der Befreiung.
Diese Amerikaner in ihrer Montur waren plötzlich für uns nicht mehr Wesen von einem anderen Stern. Wir haben zwar nicht verstanden, was sie sprachen, aber sie haben uns auch nicht verstanden. Sie deuteten, gaben Klapse, neckten uns. Kurz: keine Verständigungsschwierigkeiten. Dann stellten sie einen großen, beheizbaren Kessel auf und warfen Schokoladebarren hinein, die sie kistenweise mitgebracht hatten. Da staunten die Kinder über die brodelnde, blasenwerfende, geschmolzene Schokolade. Der Sergeant rührte in dem Topf, ließ dann die Dorfjugend sich in einer Reihe anstellen und gab jedem Kind einen Löffel voll. Eintauchen, das nächste Kind. Alle waren hingerissen, auch meine Schwester und ich. Wann kriegte man damals schon gratis einen Löffel Schokolade!
Ich war voll des Glücks und dachte, diese Akrimaner müssen ein tolles Volk sein, wenn die solche Sachen haben. Zu Hause berichtete ich strahlend meiner Mutter, was wir eben erlebt hatten. Von der Mutter kam keine Reaktion. Was hat sie denn?, dachte ich mir.
»Moment«, sagte Mutter dann, »alle Kinder haben von einem Löffel gegessen?«
Wir nickten und wurden daraufhin von ihr vergattert, das nie wieder zu tun. Es wäre überhaupt das Ansteckendste, wenn alle Dorfkinder von einem Löffel essen, das sei unvorstellbar. Was für Krankheiten könne man sich dabei holen! Wir waren natürlich richtig sauer, denn die nächste Schokolade wurde nämlich ohne uns verteilt.
Ich erinnere mich auch noch daran, wie die Amerikaner eine Gruppe deutscher Offiziere abführten, die auch im Hotel logiert hatte. Vater hatte uns das gesagt; wir Kinder hatten keine Ahnung, was das für Leute waren. Für uns war zum Beispiel ein Kürzel wie SS so fremd wie »Akrimaner«. Die Offiziere hatten diese langen Ledermäntel an, in einem blassen, stählernen Blau. Das sah wahnsinnig militärisch und bedrohlich aus und hat mich doch irgendwie fasziniert. Nun wurden sie von den US-Soldaten auf einen Lastwagen verfrachtet, waren gezwungen, dort zu stehen, was den Herren wirklich contre cœur ging.
Ich sehe noch, dass mein Vater dem Chef der Truppe, die aus fünf Mann und einem Major bestand, die Hand schüttelte und sagte, es sei halt so und alles Gute oder so ähnlich. Und dann waren die weg.
Bald waren auch wir weg aus Sölden, wurden in Innsbruck einquartiert, am Hofgraben Nummer 5, im fünften Stock ohne Lift, wenn mich nicht alles täuscht. Die Familie Weigand hatte uns aufgenommen. Mutti Weigand besaß eine Parfümerie, sie hatte drei Töchter, ihr Mann lebte nicht mehr. Diese Frau war eine große Verehrerin meiner Mutter und nahm unsere ganze Familie bereitwillig auf, weil sie wegen der Größe der Wohnung ohnehin Einquartierungen annehmen musste. Wir hatten eineinhalb oder zwei Zimmer, waren aber im Haushalt integriert.
Damals waren meine Eltern als Schauspieler noch nicht gesperrt und konnten am Innsbrucker Landestheater in Arthur Schnitzlers »Liebelei« spielen, meine Mutter die Christine, mein Vater den Fremden Herrn. Die Premiere war am 30. August 1945 und für Innsbruck eine Sensation. Erst danach erhielten meine Eltern für einige Monate Berufsverbot, weil sie in einem Nazi-Film mitgespielt hatten, in dem unseligen Propagandafilm »Heimkehr«. Das Verbot wurde aber erst nach der Rückkehr nach Wien erlassen. Noch wussten meine Eltern nicht, wer, wo, wie, wann, wofür und wie lange gesperrt werden würde, denn im Westen Österreichs waren Schauspieler, die in die Nazi-Propaganda involviert waren, noch nicht davon betroffen.
Das Verbot stürzte meine Mutter in eine schwere Nervenkrise. Die Eltern litten tatsächlich Existenzängste. Meine Mutter hat später öfter gesagt: »Der Vater war ja viel länger gesperrt, ich war es nur ein Dreivierteljahr.«
Über diese Aussage habe ich mich gewundert. Als ob das etwas zum Aufrechnen sei!
Vom Beruf der Eltern wussten wir damals, wie gesagt, eigentlich noch gar nichts aus eigener Anschauung. Sie haben immer sehr darauf geachtet, dass wir mit dem Theater in keiner Weise in Berührung kommen, als ob es anrüchig wäre. Wir sahen nur Aufführungen wie Engelbert Humperdincks »Hänsel und Gretel« im Landestheater in Innsbruck. Da gab es eine Balletteinlage mit Tänzerinnen in Strumpfhosen – sie spielten Käfer, die auf dem Rücken lagen und strampelten, aber nicht alle im Rhythmus.
In Innsbruck ging ich noch in die vierte Volksschulklasse; das Lernen dort war lustig für mich, denn jetzt fing das Lesen richtig an, in einer großen Stadt und bei Klosterschwestern, bei den Ursulinen am Innrain. Zu Weihnachten, als Bundeskanzler Leopold Figl nach dem verheerenden Krieg seine berührende Radioansprache an die Österreicher hielt, bekam ich Felix Saltens »Bambi« und ein abenteuerliches französisches Buch mit dem Titel »Marcel«, in das ich mich richtig einlebte, von dem ich auch träumte.
Bei den Ursulinen gab es die erste Schwester Mechthild meiner Schulzeit, die zweite kam dann in Wien. In Innsbruck hatte diese Schwester Mechthild auch das Fach Handarbeiten, und das war unvergesslich. Wir mussten diese berühmten runden Deckerln häkeln. Bis heute häkle ich sehr gerne, wenn ich Zeit habe, und ich habe dies auch schon auf der Bühne getan, zuletzt in »Onkel Wanja« am Burgtheater. Anton Tschechow gibt die Anweisung: »Sie sitzt und strickt an ihrem Strumpf.« Da habe ich dem Regisseur Matthias Hartmann gesagt, das mache ich nicht, Stricken liegt mir nicht. Ich häkle. Ich glaube, er hat den Unterschied gar nicht gemerkt, aber irgendwie fand er das halt sehr professionell, was ich da hinten getan habe. Damit war ich aus dem Schneider, denn Schwester Mechthild hat es mir in Innsbruck wirklich gut beigebracht. Ich weiß es noch genau: weißes Häkelgarn, in Kinderhänden, die selten ganz sauber waren, weil Handarbeiten in der letzten Unterrichtsstunde stattfand. So wurde das gehäkelte Stück immer schwärzer.
Die Mutti Weigand hat dieses geschwärzte Deckerl gesehen und gesagt, das mache gar nichts. Die Parfümeriechefin hat mir ein Packerl Seifen gegeben, die ich den Schwestern brachte. Mutti Weigand hat uns auch gezeigt, wie man das »Gwirks« wieder sauber kriegt, wenn man es kurz ins Wasser steckt. Das hatte ich mich ja zuvor nicht getraut: eine Schularbeit zu waschen. Am nächsten Morgen war das Ding trocken und sauber.
Frau Weigand war wirklich eine Mutti für uns alle. Sie sorgte fürs leibliche Wohl von einem Baby, zwei Volksschulkindern, deren Cousine und zwei Schauspielern, die bald gesperrt sein würden.
Grauenvoll ist mir in Innsbruck die Fortsetzung von allem in Erinnerung, was mit Mathematik zusammenhängt. Auch bei den Ursulinen blieb sie mir fremd. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mit mir am Nachmittag intensiv übte, so wie zuvor im Wald beim Beerenpflücken. Meine Schwester Christiane war ein bisschen besser als ich im Rechnen, aber eben auch nicht berühmt. Sie hat mich in dieser Hinsicht überhaupt nicht angestachelt.
Meine Erfolgserlebnisse holte ich mir damals beim Schulaufsatz. In Deutsch fing es schon an mit dem Gut-Sein, früh entwickelte ich meine Leidenschaft fürs Lesen. Ich schnappte mir, was ich erwischen konnte, aber leider war in der Wohnung der Mutti Weigand am Innsbrucker Hofgarten hoch oben im fünften Stock die Literatur nicht besonders prominent vertreten.
Kurz nach dem Krieg trat ein »Leutnant Gustl« in mein Leben. Er ist inzwischen leider auch schon tot, wie so viele aus dieser Zeit. Ich nannte ihn erst viel später nach der Figur von Arthur Schnitzler. Er hieß Gustav Breuer und stammte aus der großen Familie des Konrad Mautner. Der Gustl war nach New York emigriert, meldete sich im Krieg selbstverständlich zur US-Armee und kam zu jenen Truppen, die dann auch nach Österreich gelangten.
Vater lehrt Mutter Radfahren.
Eines Tages hält vor dem Haustor am Hofgraben in Innsbruck ein Jeep mit zwei Amerikanern. Der Beifahrer steigt aus und fragt, ob die Frau Wessely hier wohne und der Herr Hörbiger. Auf jeden Fall erschien bei uns im fünften Stock ein GI, ein österreichischer Jude in voller Uniform mit einem Jeep und einem Fahrer. Wir kriegten Kaugummi und fanden das toll. Gustav hat wienerisch geredet, obwohl er wie ein »Akrimaner« angezogen war. Dieser Gustl hat meine Schwester und mich in den Jeep hineingepackt und ist mit uns durch Innsbruck gefahren. Was Besseres gab es gar nicht.
Ich erinnere mich auch noch daran, dass viele marokkanische Soldaten auf den Parkbänken des Hofgartens mehr lagen als saßen, mit ihren Damen im Arm, ihren Bekanntschaften. Das nannte man Fraternisieren, wie ich später erfuhr. Für uns aber gab es Vorhaltungen von der Mutter: »Müsst ihr denn durch den Park gehen?«
Also, was gefährlich oder interessant war, wurde weggeschoben, genauso wie das Theater. Erklärungen gab es dazu nicht, nur den erhobenen Zeigefinger, der uns beschied, wie leicht man ins Unglück oder sonst wohin geführt werden könnte.
Meinem Leutnant Gustl bin ich dann einige Jahre später in den USA wieder begegnet, als ich für ein Jahr ein Stipendium für eine Schule für höhere Töchter in Washington D.C. erhalten hatte.
»Gustl, was machst du eigentlich?«, fragte ich ihn dort drüben beim ersten Treffen, weil ich zuvor in Wien tatsächlich noch nicht herausgefunden hatte, welchem Beruf er nachging.
Er hatte anscheinend immer Zeit. Leise lächelnd antwortete er: »Weißt du, ich verstehe es, mit den richtigen Leuten am richtigen Platz zusammenkommen.«
Ich habe ihn damals nicht verstanden. Das Wort Netzwerk kannte ich nicht, aber selbst wenn es so etwas damals vielleicht noch gar nicht gegeben hat – der Gustl war ein begnadeter Netzwerker. Dadurch hat er wohl auch für uns beide Karten für »Die Macht des Schicksals« in der alten Met in New York besorgt. Erstmals hörte ich eine Oper im Original auf Italienisch, umringt von Auswanderern, die wieder einmal ihre Sprache gesungen hören wollten. Die Inszenierung muss Dutzende Jahre alt gewesen sein. Die Geschichte habe ich überhaupt nicht verstanden, obwohl mein Begleiter versucht hat, sie mir zu erklären – aber mich haben dann andere Sachen interessiert.
Danach habe ich den Gustl nie wieder gesehen, wir hielten nur telefonisch und über die Verwandten Kontakt. Später schrieb mir seine Cousine Mariandl, die auch aus der Mautner-Familie kam, dass der Gustl gestorben sei und sie es nach vielen bürokratischen Hürden geschafft habe, dass die Urne mit seiner Asche aus den USA nach Wien komme. Sie solle in das Familiengrab auf dem Friedhof in Neuwaldegg. Ich machte mich auf, kam aber einen Tag zu spät zum Begräbnis. Das war das Ende meines »Leutnant Gustl«. Ich hatte mich um einen Tag vertan.
Zurück in Wien begann für mich 1946 die Gymnasialzeit. Wir waren die erste Klasse der »Schwestern vom armen Kinde Jesu« in Döbling nach dem Krieg. Die größte Sensation für meine Familie war, dass wir in unser Haus in Grinzing zurückkehren konnten, nachdem zuvor die Russen und die Amerikaner drin gewesen waren. Die Soldaten der Roten Armee wussten offenbar nicht, was Einbauschränke sind. Meine Mutter besaß ein sogenanntes Ankleidezimmer, wo eben die Kleider hingen. Viele Kleider – bis unter die Decke waren Schränke eingebaut. Man musste eine kleine Leiter hinaufsteigen, um dorthin zu kommen. Die Wände waren mit Chintz überzogen, nur die obere Reihe nicht, die war normal tapeziert. Genau dort gab es ein Fach zum Hängen für die Pelzmäntel, wegen der Motten war es aus Metall. Das war den Russen nicht geheuer. Einer der Soldaten legte mit der MP an und schoss die ganze Reihe durch. Wir haben noch die Einschüsse gesehen, den Pelzmantel hatte meine Mutter selbstverständlich in Tirol mit gehabt, als werdende Mutter wollte sie nicht frieren.
In dieser zweiten Wiener Zeit nach dem Krieg wurde ich als älteste Tochter schon des Öfteren von meiner Mutter ins Vertrauen gezogen, als ob ich schon fast erwachsen wäre. An diese Stunden erinnere ich mich besonders gerne. Deshalb will ich jetzt, bevor ich das Elternhaus verlasse, ein wenig über Paula Wessely erzählen, nicht so sehr als Star der Bühne und des Films, sondern als Frau, die das Kunststück zuwege brachte, Beruf und Familie zu vereinen. Und über ihren Mann, Attila Hörbiger, den Hahn im Korb dieses Viermäderlhauses.
Über meine Eltern habe ich bereits zu deren Lebzeiten, als sie noch auf der Bühne standen, ein Buch geschrieben: »Märchen ihres Lebens«, im Jahre 1975 wurde es veröffentlicht.
»Fast ein Poet«, 1967. Tournee. Tochter und Mutter (Sarah und Nora Melody)