Читать книгу Elduria - Runa oder das Erwachen - Norbert Wibben - Страница 6
Überfall!
ОглавлениеEin Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an
Runa ist ein fast normales Mädchen. Sie hat ihre Eltern nie kennengelernt. Das ist für ein zwölfjähriges Kind in Homarket schon ungewöhnlich. Deshalb träumt sie vermutlich manchmal davon, zusammen mit Vater und Mutter zu leben.
Sie schüttelt unwillkürlich den Kopf. Es ist nicht so, dass sie meint, eine besonders schwere Kindheit gehabt zu haben. Wenn sie sich mit anderen Kindern vergleicht, hat sie es eigentlich ganz gut getroffen, na ja, fast zumindest.
An ihre frühen Lebensjahre erinnert sie sich so gut wie gar nicht. Doch ein Ereignis ist ihr aus dieser Zeit wie ins Gedächtnis gebrannt.
Die erste Person, die sich liebevoll um sie kümmerte, war Atropaia. Sie nannte Runa manchmal »Winterkind«, auch wenn diese nicht verstand, weshalb. Dabei ist das so einfach wie logisch, das Mädchen wurde in einer kalten Winternacht geboren und deshalb so genannt. Atropaia wirkte an einem Nachmittag geheimnisvoller als sonst. Gleichzeitig war sie von einer großen Unruhe erfasst, was an ihren ungewöhnlich hastigen Bewegungen erkennbar war. Runa erinnert sich daran, als wäre es heute gewesen. Die gütig blickende alte Frau forderte sie auf, ihre derzeitige Tätigkeit zu unterbrechen und zu ihr zu kommen.
»Paia«, so nannte das damals fünfjährige Kind sie, »ich muss doch zuerst die Kaninchen füttern. Und Puschel sieht krank aus. Kannst du ihn untersuchen und gesund machen?« Das Mädchen wendete den Kopf Richtung Atropaia und warf ihr einen bittenden Blick zu. Dieses Mal konnte die Amme dem Anblick der dunkelblauen Augen widerstehen.
»Es ist sehr, sehr wichtig. Du musst unbedingt etwas erfahren!« Die Frau klopfte mit einer Hand neben sich auf das Sofa. Dorthin sollte sich das Kind setzen.
»Aber, wenn Puschel krank ist, stirbt er vielleicht!« Es ist offensichtlich, was für Runa dringender war.
»Ich untersuche das Kaninchen gleich, versprochen. Doch das, was ich dir sagen muss, ist wichtiger! Wirklich!« Der ernste Blick ließ das Mädchen erschauern. Es streichelte das weiße Tier. Es hatte schwarze Ohren und einen dunklen, herzförmigen Fleck auf der linken Seite.
»Wir kümmern uns gleich um dich.« Nach diesen Worten erhob es sich und rannte zum Sofa hinüber. Runa wollte schnellstmöglich erfahren, was Atropaia zu sagen hatte. Danach könnten sie gemeinsam Puschel untersuchen. Das Kind saß neben der Frau und blickte erwartungsvoll zu ihr auf. Doch wider Erwarten sprach diese nicht sofort. Sie erhob sich, eilte zur Haustür und öffnete sie. Sie lauschte angestrengt und verriegelte dann die wieder geschlossene Eichentür, bevor sie zum Sofa zurückkehrte. Runa wunderte sich. Was hatte das zu bedeuten? Der Riegel wurde sonst nie vorgelegt. Erst recht nicht am Nachmittag. Das Haus lag verborgen in einem Buchenwald und wurde nur selten von anderen Menschen besucht. Vor den Tieren des Waldes mussten sie sich nicht derart schützen.
»Du weißt seit längerer Zeit, dass ich deine Amme bin.« Das Kind nickte zur Bestätigung. Das war ihm egal, denn es liebte die Frau genauso, als wäre sie die leibliche Mutter. Atropaia fuhr gehetzt fort. »Das wurde ich, weil Raika, so lautet der Name deiner Mom, gestorben ist, als du gerade geboren warst. Ich habe versucht, dich bestmöglich zu umsorgen.« Das war dem Mädchen alles bekannt. Was sollte daran wichtig sein? Die nächsten Sätze bekam es nicht mit, da seine Gedanken darum kreisten, was womöglich der Grund für Puschels plötzliches Unwohlsein sein würde. Runa hatte zu dem Kaninchen geschaut und wurde von Atropaia geschüttelt. »Du hast nicht aufgepasst, mein Winterkind. Wie solltest du auch wissen …« Die Frau unterbrach sich und horchte Richtung Tür.
Lauter werdender Hufschlag drang ins Innere. Da der Waldboden derartige Geräusche dämpft, mussten die Reiter bereits dicht bei dem Häuschen sein. Runa sah, wie die Amme zusammenzuckte. Doch die in ihren Augen steinalte Frau reagierte unheimlich schnell. Sie konnte die Bewegungen kaum verfolgen. Sie fühlt noch heute, wie diese liebevoll die Hände auf ihren Kopf legte. Dabei murmelte sie die unverständlichen Worte »Muto speciem«. Runa spürte ein feines Kribbeln und die Umgebung wuchs gleichzeitig zu riesigen Ausmaßen heran.
»Rette dich! Such dir ein Versteck!«, forderte Atropaia hastig, dann barst die Tür mit einem blendend hellen Blitz und lautem Getöse.
Grimmig blickende Männer drängten in die Wohnstube. Einige hielten lange Messer, andere aber gespannte Bogen in Händen.
Runa erinnert sich, wie ihr Herz aufgeregt und rasend schnell schlug. Trotzdem meinte sie, die Ereignisse genau verfolgen zu können, nur aus einer anderen Perspektive. Einer der Eindringlinge hatte im ersten Moment ein silbern schimmerndes Netz über Atropaia geworfen. Das Mädchen verstand nicht, was gerade passierte, doch es wollte und musste der Amme helfen.
»Lasst meine Paia los, ihr Feiglinge«, versuchte sie zu brüllen, vernahm aber lediglich ein feines Piepsen. Sie erstarrte vor Schreck. Was war mit ihrer Stimme geschehen?
Sie sah, wie ihre Amme vom Sofa zu Boden gerissen, und komplett in das Netz gewickelt wurde. Sie kämpfte verzweifelt, um sich aus den Maschen zu befreien. Durch die heftigen Schwingungen der Sitzfläche wurde Runa von dem Möbel geschleudert und verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Sie schüttelte sich, um wieder klar sehen zu können. Zuerst erschienen dem Mädchen seine Bewegungen seltsam langsam, so, als würde es im Traum versuchen, zu laufen, ohne von der Stelle zu kommen. Das Kind wusste nicht, was es gegen die Eindringlinge hätte tun können, doch aufgeben, war keine Option. Es musste Atropaia retten, koste es, was es wolle. Die Amme hatte Runa schließlich liebevoll aufgezogen und verdiente im Gegenzug ihre Unterstützung.
Einige der Bewaffneten hatten Atropaia inzwischen gefesselt und waren mit ihr schon aus dem Häuschen, bevor das Mädchen ihr beistehen konnte. Sie rannte zum Ausgang, wo die halb herausgerissene Tür schief in den Angeln hing. Doch nicht alle Männer waren nach draußen gegangen. Fünf von ihnen polterten durchs Haus und schlitzten mit den Messern Kissen und die Polsterung des Sofas auf. Sie warfen Schränke um und kletterten sogar in der Küche mit Fackeln in den Kellerraum hinab. Urplötzlich fühlte Runa einen heftigen Stoß gegen die Seite und flog quer durch den Raum. Wie war das möglich? Während sie darüber grübelte, führte die Flugbahn sie an einem Spiegel vorbei. Ein schneller Blick hinein verwirrte das Mädchen noch mehr. Es sah darin eine Haselmaus, die durch die Luft flog. Sollte es das Tierchen sein? Dann war das nicht Realität, sondern ein Traum, hoffte es.
Wie Runa heute weiß, war es das nicht. Sie landete unsanft auf dem Holzboden und musste immer wieder großen Füßen ausweichen, die sie zu zerquetschen versuchten. Einer der Männer hatte genau das offenbar zu seiner Aufgabe gemacht.
»Habt ihr das Balg gefunden?«, klang eine befehlsgewohnte Stimme von draußen herein.
»Nein, Owain. Wir haben alles durchsucht. Bis auf zwei Kaninchen und eine Maus gibt es hier kein Lebewesen.«
Runa wartete nicht, was der Mann antworten würde. Sie musste versuchen, den Tritten zu entkommen und gleichzeitig Atropaia zu retten. Doch wie sollte sie das schaffen, als Maus gegen schwerbewaffnete Soldaten? Sie schlüpfte zwischen den Füßen hindurch, gelangte durch die Tür und bekam einen weiteren Tritt in die Seite. Dieses Mal flog sie in hohem Bogen in einen der umstehenden Büsche. Die Rippen schmerzten derart heftig, dass sie meinte, sie müssten gebrochen sein. Sie hat bis heute nicht verstanden, weshalb das nicht so war. Sie schüttelte sich trotz der massiven Schmerzen. Sie wollte klar im Kopf werden!
»Das Kind muss hier sein. Die alte Frau hatte doch keine Zeit, ihre Magie zu nutzen. Das Silbernetz hat das zuverlässig verhindert! Oder habt ihr gesehen, wie sie einen Zauber wirkte? Hm. – Die Kaninchen könnt ihr schlachten, dann haben wir heute Abend einen kleinen Imbiss. Aber sucht und bringt mir die Maus. Die Gestalt ist verdächtig, deshalb nehmen wir das Tierchen mit nach Grimgard. – Sollen doch Creulon oder Drakonia das Rätsel lösen.« Das war erneut die Stimme des Mannes, den sie stolz und herrisch reden hörte. Runa erstarrte kurzzeitig. Konnte sie richtig gehört haben? Trotz ihrer geringen Größe wollte sie ihn attackieren. Was fiel ihm ein, den Befehl zu geben, Puschel zu töten!
Sie war schnell aus dem Haselgebüsch heraus und konnte Atropaia sehen. Sollte sie versuchen, die Fäden des Netzes durchzubeißen? Runa zögerte nicht lange, sondern rannte los. Ihren Blick richtete sie auf die Frau, die vor den Hufen eines Pferdes auf dem Boden lag. Sie bemerkte, wie ihre Amme sie fixierte und dann erneut etwas murmelte. Verstehen konnte das Mädchen nichts davon. Dieses Mal blieb das feine Kribbeln aber aus. Sie hatte Atropaia fast erreicht, als eines der Pferde ausschlug. Dessen Huf musste sie getroffen haben, denn ab dem Zeitpunkt weiß Runa nicht, was weiter geschehen war.
Sie hatte das Bewusstsein verloren und erwachte hinter einem anderen Gebüsch auf einem Haufen aus trockenem Laub. Der Pferdtritt hatte sie an dem Tag zum dritten Mal durch die Luft geschleudert. Das Gesträuch wirkte kleiner als das Vorherige. Konnte das alles nur ein Traum gewesen sein?
Nein, das war es nicht, musste das Mädchen schnell feststellen. Es rannte zum Häuschen und erstarrte beim Anblick des Chaos‘. Die gesamte Inneneinrichtung des Hauses war zertrümmert worden. Es stieg über zerstörte Möbel oder zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Doch Atropaia konnte sie nirgends finden. Auch die ängstlichen Rufe blieben unbeantwortet. Dafür bemerkte Runa Blut auf der Türschwelle, sobald sie entmutigt und hoffnungslos wieder nach draußen eilte. Sie bückte sich und entdeckte kleine Flocken von einem weißen Fell, die in die Erde getreten waren. An dieser Stelle waren offenbar Puschel und Trixi, das andere Kaninchen, geschlachtet worden. Mit Tränen in den Augen sank Runa zu Boden. Sie gab sich jedoch nicht lange ihrem Schmerz hin. Sie richtete sich auf, biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sie schüttelte sie in die Richtung, wohin die Pferdespuren wiesen. Ihr fiel dabei nicht einmal auf, dass sie ihre ursprüngliche Menschengestalt wieder angenommen hatte. Sie wusste nur eines, sie musste Atropaia finden und befreien.
Wie ihr das gelingen könnte, war unwichtig. Sobald sie die Amme im ersten Schritt gefunden hätte, würde ihr der nächste schon einfallen, überlegte sie mit dem Verstand einer Fünfjährigen. Sie schaute sich nicht zu ihrem bisherigen Heim um, sondern folgte voller Zuversicht der Spur.
Gegen Abend wurde sie von einem heftigen Unwetter mit Regen heimgesucht. Die Äste der großen Bäume ächzten unheimlich. Manchmal meinte sie, sie würden mit den nach unten fegenden Zweigen versuchen, sie festzuhalten. Mit schrillen Schreien wich sie jedes Mal aus. Obwohl sie unter dem Blätterdach des Waldes zuerst gegen die Wassertropfen geschützt war, wurde das bald anders. Der Wind schüttelte das Nass von den Ästen und immer mehr der schweren Tropfen fielen durch die Blätter hindurch zum Waldboden. Bereits nach kurzer Zeit war sie bis auf die Haut durchnässt. Sie blickte erschrocken zu Boden. Wie lange würde sie die Pferdespuren noch erkennen können? In dieser Richtung war sie erst zweimal durch den Wald gewandert. Da sie dabei von Atropaia begleitet worden war, hatte sie sich nicht vor den unbekannten Geräuschen geängstigt. Sie hatte auch nicht darauf geachtet, ob sich der Weg an manchen Stellen verzweigte. Diese Möglichkeit fiel ihr siedend heiß ein. Ob sie den Waldrand erreichen würde, bevor Dunkelheit sie umgab? Sie hastete ohne einmal zu rasten weiter. Es dauerte nicht lange, bis die Dämmerung Runa die Sicht nahm. Sie blieb stehen. Könnte sie hier übernachten? Der Boden musste so durchnässt wie sie selbst sein, überlegte sie. Deshalb verspürte sie kein Verlangen danach. Außerdem war sie unsicher, ob die Geräusche und Töne, die zu ihr herüberdrangen, nicht von gefährlichen Tieren verursacht wurden. Hatte Paia ihr nicht einmal von einem Drachen erzählt, der der Feind aller Kinder war? Das heftige Rauschen des Windes konnte gut von dessen mächtigen Schwingen stammen. Blieb sie an dem Ort, war sie vielleicht in kürzester Zeit ein Opfer dieses Untiers. Diese Gedanken drängten Runa weiterzulaufen. Sie war sich bewusst, dass sie versuchen musste, die bisherige Richtung beizubehalten. Sollten die Reiter auf einen anderen Weg abgebogen sein, würde sie das nicht mitbekommen. Sie betete stumm, dass das nicht so sein möge, und lief weiter. Da der Regen inzwischen aufgehört hatte, wurde ihr dadurch zumindest wieder etwas warm.
Nach zwei Stunden vergeblicher Suche kam sie ans Ende des Waldes. Ab hier führte ein schmaler Schotterweg weiter. Die dunklen Wolken wurden vom Wind fortgeblasen. Im hellen Mondlicht konnte sie keine Abdrücke der Pferdehufe entdecken. Runa war dem Verzweifeln nahe. Sollte sie Atropaia jetzt noch finden können? Sie hoffte, bisher keinen Richtungswechsel der Reiter verpasst zu haben. Die Straße würde dagegen sicher schon bald zu einem Abzweig führen, eventuell sogar zu einer Kreuzung! Wie könnte sie dort erkennen, welche der möglichen Richtungen die richtige wäre. Runa wusste, das würde sie vor eine wichtige Entscheidung stellen.
Sie zuckte mit den Schultern. Sie konnte das nicht ändern und musste auf das Beste hoffen. Bis es so weit war, hätte sie die Reiter möglicherweise eingeholt. Das hoffte sie inständig, obwohl sie auch nach einer Stunde keine Hufabdrücke auf dem harten Untergrund erkennen konnte.
Runa weiß genau, wie zuversichtlich sie zu dem Zeitpunkt war, als schließlich der Morgen graute und eine wärmende Sonne in den hellblauen Himmel aufstieg. Ihr Bauch knurrte vor Hunger und sie vermochte kaum noch zu laufen. Die Füße waren inzwischen wund und zu Essen hatte sie nichts mitgenommen. Sie hatte sich nicht getraut, Zeit mit der Suche nach Essbarem zu vergeuden und deshalb lediglich etwas Wasser aus einem kleinen Bachlauf getrunken. Der hatte ihren Weg am Rande des Waldes gekreuzt.
Als der Pfad auf eine abknickende Straße stieß, entschied sich Runa, geradeaus auf der nun breiteren Straße weiterzulaufen. Spuren der Pferde waren nirgends zu erkennen, also meinte sie, besser die bisherige Richtung beizubehalten. Zwei weitere Stunden vergingen, in denen die Schritte des Mädchens immer kürzer und langsamer wurden. Runa verspürte neuen Antrieb, sobald sie von weitem eine Ortschaft erkennen konnte. Der von windzerzausten Büschen gesäumte Weg schlängelte sich eine kleine Anhöhe hinab. Sie wollte losrennen, um dort endlich die Reiter einzuholen. Was sie zustande brachte, war inzwischen nur noch ein Stolpern. Sie zwang sich aber mit eisernem Willen, weiterzugehen. Sie konnte jetzt keine Pause einlegen. Vielleicht vergab sie damit die letzte Chance, ihre Amme wiederzufinden.
Doch bevor sie den Ort Homarket erreichte, wurde sie von einer zerlumpten Bande gefangen genommen, die sie, wie aus dem Nichts, plötzlich umringte. Die Gruppe bestand aus vier Jugendlichen, zwei Jungen und zwei Mädchen, die davon lebten, Reisende auszurauben. So geschwächt wie Runa war, konnte sie weder weglaufen noch Widerstand leisten. Trotzdem schien sie Glück zu haben. Mit fünf Jahren war sie mehr als halb so jung, wie die, die sie auf den Boden geworfen hatten. Deshalb passten das Oberteil und die Hose keinem von ihnen und wurden ihr nicht genommen. Sie trug zwar nur einfache Kleidungsstücke, aber diese waren sauber und nicht geflickt.
»Bei der Göre ist nichts zu holen«, stellte der Junge fest, nachdem Runa durchsucht worden war. Er war offenbar der Anführer der Bande. »Sie besitzt weder Geld noch Schmuck. Lasst sie laufen.«
»Kommt nicht infrage!«, widersprach eine Rothaarige. Die Augen in ihrem recht hübschen Gesicht glänzten. »Wir könnten sie mit in den nächsten Ort nehmen, um dort einige Kupferstücke, möglicherweise sogar Silber herauszuschlagen. – Sie sieht mir ähnlich, oder etwa nicht?« Die anderen brummelten lediglich als Antwort. Nicht so der Anführer.
»Welche Gedanken ziehen durch deinen schönen Kopf, Katie? Du hast eine Idee, wie wir doch noch etwas Gewinn herausschlagen können, stimmt’s? – Und wenn ich mir das Kind genau anschaue, hast du nicht Unrecht. Die rotblonden Haare sprechen fast für sich. – Ja, ich bin sicher, es ist dein Schwesterchen!«
»Richtig, aber von meinem Plan muss die Kleine ja nichts wissen. Sie sträubt sich sonst mehr als nötig.« Das rothaarige Mädchen und der schwarz gelockte Junge traten etwas zur Seite und tuschelten miteinander. Runa glaubte, sich verhört zu haben. Weshalb sollte es wichtig sein, dass sie mit Katie verwandt ist. Und was hatte das damit zu tun, dass sie »verkaufen« gehört zu haben meinte? Menschenkinder werden doch nicht verkauft, oder bezog sich das vielleicht auf ihre Kleidung?
Wie sie heute und im Nachhinein weiß, hatte diese Bande von Wegelagerern tatsächlich vor, sie als Dienerin in dem Örtchen an eine reiche Familie zu verschachern.
Der Weg in den kleinen Ort dauerte länger als von den Strauchdieben erwartet. Die Füße des Mädchens waren derart wund gescheuert, dass es sich kaum noch zu bewegen traute. Zuerst trieb Katie es mit Schlägen weiter, bis es sich vor Schmerz auf den Boden setzte und die Prügel unter Tränen ertrug. Immer zwei von den Jugendlichen bildeten daraufhin abwechselnd mit ihren ineinander verschränkten Händen einen Sitz, auf den sich Runa setzen musste. Auch wenn das nicht aus Mitgefühl geschah, war sie den Vieren dankbar. Deren Absicht war lediglich, schneller von der Straße zu verschwinden. Je länger sie sich dort aufhielten, desto eher liefen sie Gefahr, als Landstreicher festgenommen zu werden.
Der Mittag war nahe, als sie die ersten Häuser erreichten. Die Wege füllten sich mit Menschen, die fragend zu den Jugendlichen blickten. Doch keiner traute sich, die zerlumpte Bande aufzuhalten. Denen erschien es offenbar zu gewagt, mit ihrer menschlichen Ware durch Homarket zu wandern und sie an verschiedenen Stellen anzubieten. Deshalb versuchten sie ihr Glück in dem ersten großen Haus auf dieser Seite des Örtchens. Das ist das Wirtshaus »Fuchs und Gans« gewesen. Der Anführer der Bande klopfte an und betrat zusammen mit Katie, die Runa hinter sich herzog, den Gastraum. Durch das Klingeln eines Glöckchens an der Tür wurde die Wirtin auf den Besuch aufmerksam. Es war bald Mittagszeit und sie hatte soeben erst den Riegel zurückgezogen.
»Wen haben wir denn da? Drei junge Menschlein! Was macht ihr in meinem Wirtshaus?« Sie blickte nicht abweisend, eher vorsichtig.
»Wir wollen nichts von eurem sicher köstlichen Bier«, begann der Junge. »Aber wir möchten euch ein Geschäft vorschlagen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass hier oft viel zu tun ist«, fuhr Katie gekonnt fort. »Wäre es da nicht angebracht, eine zuverlässige Hilfskraft zu haben?« Sie blickte die Wirtin fragend an und deutete dann auf Runa. Die hatte sich bisher zu wehren versucht und erstarrte augenblicklich, als sie das hörte. Sie vermutete, »verkaufen« könnte sich tatsächlich auf sie beziehen! Um die Kleidungsstücke ging es jedenfalls nicht! Die Wirtsfrau kam hinter dem Tresen hervor und schlug sich das Tuch über die Schulter, mit dem sie bis soeben die Platte saubergewischt hatte. Sie stemmte beide Fäuste in die Seiten und blickte wirklich grimmig.
»Ich weiß nicht, worauf ihr hinauswollt. Ich beschäftige eine Köchin, die fürs Essen zuständig ist. Und hier im Gastraum gibt es bereits genug Helfer. – Es ist hoffentlich nicht das, was ich vermute!«
Sofort war Katie verunsichert.
»Es könnte sein, dass wir uns missverständlich ausgedrückt haben. Wir wissen natürlich, was die Gesetzestexte in Merion sagen. – Verschiedenster Handel ist erlaubt, aber Menschenhandel wird mit vielen Jahren Haft im Verlies bestraft.«
»Richtig!«, sprang ihr der Junge bei. »Doch darum geht es nicht. Wir stammen wie unsere kleine Schwester aus Elduria. Dort sind derartige Gesetze unbekannt.«
»Wir befinden uns aber nicht in eurem Landesteil. Für jeden, der sich hier aufhält, gelten diese Vorschriften. Also auch für euch.«
»Wir verstehen uns immer noch nicht richtig«, begann Katie mit zitternder Stimme. Sie fürchtete sich vor der resoluten Wirtin. »Wir suchen in Merion Arbeit, da unsere Eltern gestorben sind und wir daheim keine passende Stelle finden. Das ist insbesondere für junge Kinder, wie das Schwesterchen hier, schwierig. Wir hatten gehofft, dass es hier gebraucht werden würde. Das hat nichts mit Menschenhandel zu tun. Sie ist im Moment von der Reise geschwächt, sonst aber sehr kräftig. Ich will sagen, sobald sie etwas zu futtern kriegt …« Weiter kam Katie nicht, da die Wirtin einen Schritt auf sie zugemacht hatte. Sie ließ sofort die erschrockene Runa los und war bis zur Eingangstür zurückgewichen. Ihr Freund wollte dagegen noch nicht kampflos aufgeben.
»Wir lassen sie hier und kommen in zwei Wochen wieder. Solltet ihr dann mit ihr zufrieden sein …«
»RAUS!«, brüllte die Wirtin, was sofort befolgt wurde. Sollte das auch für Runa gelten? Offenbar schon, denn die Frau herrschte anschließend auch sie an. »Hast du mich nicht verstanden? Los, sieh zu, dass du deinen Geschwistern hinterherkommst. Ich sehe nicht ein, dich durchzufüttern!«
Runa konnte es nicht fassen, stand aber trotzig an der Stelle, wo Katie sie stehengelassen hatte. Außerdem schmerzten die Füße derart, dass sie meinte, bei der kleinsten Bewegung aufschreien zu müssen.
»Das … sind nicht … Sie haben mich überfallen … und mitgeschleppt«, stotterte das Mädchen mit kaum hörbarem Stimmchen. Es räusperte sich und fuhr dann etwas fester fort. »Ich suche Paia, meine Amme. Wir wohnen im Wald. Sie wurde gestern von Männern verschleppt.« Sofort flossen die Tränen erneut über das inzwischen schmutzige, kleine Gesicht. Die riesigen, dunkelblauen Augen richtete es auf die Wirtin, zitterte heftig und kippte plötzlich um.
Runa wachte in einem Bett auf. Es war kein richtiges mit Holzgestell und Federbett, wie sie es aus dem Haus im Wald kannte. Nein, es war lediglich ein mit duftigem Heu gefüllter Leinensack. Aber nach der vergeblichen Suche und der langen Wanderung kam es dem Kind wie das Paradies vor.
»Ich heiße Kaytlin und bin die Wirtin vom »Fuchs und Gans««, stellte sich die Frau vor, die offenbar an ihrem Lager gewacht hatte. »Und wer bist du?«
»Hör auf zu träumen«, wird Runa durch den Knecht des Gasthauses aus ihren Gedanken gerissen. »Wenn du nicht willst, dass du heute kein Abendessen bekommst, solltest du zusehen, mit dem Kartoffelschälen fertig zu werden.«
Erschrocken fährt das für sein Alter kleine Mädchen zu dem Sprecher herum. Es weiß nicht, wie es den Jungen einordnen soll. Er wirkt oft mürrisch, manchmal aber auch freundlich. Er ist etwa gleichalt, heißt Dragon und hilft überall im Wirtshaus. Manches Mal springt er an ihre Seite, um beim Tragen schwerer Dinge zu helfen. Das führt hin und wieder dazu, dass er sie in seiner Hast anrempelt. Das wirkt so, als ob er nicht genau abschätzen könne, wie schnell er agieren sollte. Woher er stammt, hat sie bisher nicht erfahren können. Sein Lächeln erstarrt zu einer Grimasse, sobald sie ihn in dieser Richtung auszufragen beginnt. Sofort läuft ihr dann ein Schauer über den Rücken. Welches Geheimnis umgibt ihn? Sie vermutet, er könne wie sie durch irgendeinen seltsamen Zufall in dem Wirtshaus gelandet sein.
Dragon war bereits hier, als das Mädchen verkauft werden sollte. Runas rechte Hand wandert unbewusst zu ihrem linken Unterarm. Sie spürt dort ein Gefühl der Wärme und ein feines Kribbeln, sobald der Junge sie mit seinen hellbraunen Augen fixiert. Deshalb umfasst sie jetzt den Arm mit ihrer anderen Hand.
Runa besitzt dort eine Art Brandmal, das unter dem Ärmel verborgen ist. Es ähnelt einem großen S, könnte aber auch eine Schlange sein. Sie überlegt, seit wann sie sich an das Mal erinnert. Wie konnte es dorthin gelangt sein? Sollte sie sich an einer Pfanne oder einem Topfrand verbrannt haben? Doch dann wäre sicher kein »S« das Ergebnis gewesen. Ein Halbmond oder ein gerader Strich sind eher zu erwarten, aber ein derart zweifach gebogenes Mal?
In einem Alter von zehn Jahren beginnt für die Kinder in Merion die Zeit der Ausbildung. Je nachdem, welchen Beruf sie lernen, haben sie unterschiedlich schwere Zeiträume vor sich. Runa befindet sich im dritten Lehrjahr zur Hilfsköchin. Sie hat sich soeben noch erinnert, wie sie in das Gasthaus »Fuchs und Gans« gekommen war, bis sie aus ihren Erinnerungen gerissen wurde. Warum diese Szenen heute in ihr Bewusstsein drängen, versteht sie nicht. Sie hat seit ihrer Ankunft in dem Gasthaus nur wenig an ihr voriges Leben und die Amme gedacht.
Seitdem sind mittlerweile sieben Jahre vergangen. Weshalb hat sie damals die Suche nach Paia aufgegeben? Dass das der verkürzte Name ihrer Amme gewesen ist, ist ihr inzwischen klar. Manchmal grübelt sie darüber, warum Atropaia sie hin und wieder Runa S genannt hat. In diesem Land haben die Kinder nur einen Vornamen. Lediglich diejenigen von höher gestellten Familien tragen zusätzlich einen Familiennamen. Doch »S« kann kaum eine Bezeichnung …
»RUNA!« Die Stimme von Pulmoria ruft sie zur Ordnung. »Die Kartoffeln schälen sich nicht von allein.« Mehr braucht die dicke Köchin nicht zu sagen. Das Mädchen schimpft gedanklich mit sich selbst.
»Du dumme Göre! Der Korb ist noch voll und die ersten Gäste werden bald nach dem weithin gepriesenen, guten Essen verlangen.«
Das Wirtshaus »Fuchs und Gans« wird von vielen Landarbeitern besucht. Jedenfalls von denen, die sicherstellen wollen, etwas Genießbares zwischen die Zähne zu bekommen. Es ist nicht so, dass deren Frauen nicht mit den Kochkünsten Pulmorias mithalten könnten, sie sind einfach noch nicht verheiratet.
Runa hat in den vergangenen zwei Lehrjahren vieles bei der Köchin abgeschaut, trotzdem glaubt sie nicht, jemals derart gut schmeckende Speisen zubereiten zu können. Kartoffelschälen, Gemüse putzen und andere vorbereitende Arbeiten gelingen ihr inzwischen recht ordentlich und schnell, wenn sie nicht träumt. Zu den Aufgaben einer Hilfsköchin gehört es auch, die benötigten Zutaten aus der Vorratskammer oder dem Keller zu holen. Das ist eine Tätigkeit, vor der sie stets zurückscheut. Das in dem dumpfen Gewölbe herumkrabbelnde Getier ruft heftigen Ekel in ihr hervor. Aber nicht nur diese Tiere, ob mit Fell und langem Schwanz, oder achtbeinig mit traubenförmigen Augen, leben dort. Manches Mal meint sie ein lautes Fauchen zu hören und gleich darauf schlägt ihr warme Luft entgegen. Sollte im Keller ein Drache auf sie warten? Gesehen hat sie ihn noch nie, aber was besagt das schon?