Читать книгу Garten ohne Leben - Norbert Zagler - Страница 3
1.
ОглавлениеAn diesem Sonntag erwachte Karl gegen neun Uhr, ging ins Badezimmer und war, wie in den Tagen zuvor, erstaunt über die neue Umgebung, an die er sich erst gewöhnen musste. Der Spiegel zeigte ihm aber das alte Gesicht, Nase und Wangen durchzogen von dünnen roten Linien, die Spuren des Weines. Gemein, dachte Karl, manche Leute saufen genauso viel und es ist ihnen nicht anzumerken. Als er sich über das Waschbecken beugte, um mit kaltem Wasser das dumpfe Gefühl in seinem Kopf zu vertreiben, sah er im Augenwinkel einen schwarzen Streifen in der Badewanne. Ameisen!
Vom kleinen Fenster im Badezimmer, das er am gestrigen Abend gekippt hatte, zogen sie wie in einem Strom quer über die Wand in die Wanne hinunter und verschwanden im Abfluss. Eine Ameisenstraße – mehr schon eine Autobahn, oder doch die überfüllte Fußgängerzone einer Großstadt, aus der Luft betrachtet. Es war ein Gewusel, die Ameisen liefen rauf und runter, begegneten einander, drehten sich hin und her, um dann weiterzulaufen, scheinbar sinnlos, ohne Plan und Ziel, jedoch hielten sie eine strenge Grenze ein, der Streifen war an keiner Stelle breiter als drei Zentimeter. Karl stand minutenlang vor der Wanne und beobachtete das Schauspiel, konnte aber keinen klaren Gedanken fassen, nur das eine war notwendig, diese unerwünschten Zeugen zu beseitigen. Er schloss das Lüftungsfenster, um die Reservetruppen abzuhalten. Mit dem scharfen Strahl der Handbrause spülte er die Ameisen in den Abfluss und stellte das Wasser nicht eher ab, bevor nicht alle Emsen in diesem schwarzen Loch verschwunden waren. Er blieb noch einige Minuten stehen, um zu kontrollieren, ob sich noch ein Insekt auf diese gefährliche Straße wagen würde, Ameisen waren zäh, die kröchen womöglich aus dem Abfluss wieder hinauf in die Wanne und dann weiter in das Haus hinein, vom Fußboden aus die Wände hinauf, alles abfressend, bis sie sich dann auf ihn stürzen würden, Karl sah sich schon von ihnen überwältigt, zerfressen, bis nur mehr sein Gerippe übrig bleiben würde.
Karl beeilte sich, das Badezimmer zu verlassen, nach dem, was geschehen war, würde er es nicht wirklich benützen können, vor allem die Wanne nicht! Er schlurfte zurück ins Schlafzimmer, das ihm in dieser Situation als der geeignete Zufluchtsort erschien. Aber auch hier ließ ihm das benützte Bett neben dem seinen keine Ruhe, so dass er nochmals aufstand, das Bettzeug der zweiten Liege zusammenraffte, verknotete und das Bündel ins Vorzimmer schmiss, später würde er sich darum kümmern.
Erst gegen Mittag war er fähig, sich aus dem Bett zu erheben. Er kochte eine Gemüsesuppe aus der Packung, so ferne man das als Kochen bezeichnen kann, und löffelte die Suppe aus dem Topf, weil er zu faul war, einen Teller zu holen. Die warme Suppe beruhigte seinen Magen. Der physische Aspekt seines Daseins war für die nächste Zeit zufriedengestellt, nun konnte er sich allem anderen zuwenden. Er ging in den Garten, um zu kontrollieren, ob die Arbeit der Nacht dem Tageslicht standhalten konnte. Das, was wirklich vorgefallen war, verdrängte er, so als ob es ihn nicht beträfe, sondern einen anderen, mit dem Karl nichts zu tun hatte.
Einen idealeren Platz, als dieses Haus neben dem Friedhof, hätte er nicht finden können.
Etwa vor einem Jahr hatte Karl begonnen, ein Haus in ruhiger, möglichst einsamer Lage zu suchen, nicht zu groß, nicht zu teuer, denn seine Mittel waren knapp bemessen. Viele Häuser hatte er besichtigt und sich aber nie entscheiden können, weil immer irgendwas nicht gepasst hatte. Durch einen Zufall hatte er dann dieses Haus in Rodaun entdeckt.
Am Weg von seinem Büro zur damaligen Wohnung in Kaltenleutgeben war die übliche Route, die er täglich benützte, wegen eines Einsatzes der Feuerwehr gesperrt gewesen. Karl vertraute seinem Orientierungssinn und nahm einen Schleichweg. Ein Navi hatte er nicht und würde sich auch keines anschaffen. Mit Freude erinnerte er sich des Rüffels, den ein jüngerer Kollege vom Chef der Kanzlei einstecken musste, weil er sich zu einem besonders wichtigen Termin verspätet hatte, statt in Kirchberg am Walde war der Kollege in Traismauer gelandet, weil sein Navi die neue Donaubrücke bei Tulln noch nicht gespeichert hatte. Landkarten und Hinweisschilder lesen war offensichtlich nicht die Stärke der jüngeren Generation, die blind dem Computer vertraute, ohne das eigene Hirn einzuschalten.
Karl war damals in eine der stillen Nebengassen Rodauns ausgewichen und hätte fast ein simples Schild an einem Gartentor übersehen. Ohne zu überlegen hatte er sein Auto angehalten und war ausgestiegen.
Eine hohe Hecke wild wachsender Thujen, hinter dem rostigen Gitterzaun, der einmal dunkelgrün gestrichen gewesen war, bildete die Front zur Gasse. Dort, wo das Schild angehängt war, befand sich ein schmales Einfahrtstor, davor stehend konnte Karl einen Blick auf das zum Verkauf angebotene Haus werfen. Es war ein unscheinbarer Bau, ein Einfamilienhaus mit einem flachen Anbau. Es erinnerte an die Siedlungshäuser der Zwischenkriegszeit, so quasi – Vorbau, Zimmer, Zimmer, steiles Giebeldach. Der Anbau war vielleicht nach dem Krieg errichtet worden, um mehr Wohnraum zu schaffen.
Neugierig war Karl entlang der Straßenfront hin- und hergegangen. Das Haus mit der winzigen Garage stand in der äußersten Ecke des Grundstückes, alles andere war ein riesiger Garten mit zahlreichen Bäumen und Büschen. Karl konnte das von außen erkennen, wo ihm einige Stellen in der Hecke einen Durchblick gewährten. Auf dem rechts angrenzenden Grundstück stand ein Haus ähnlicher Bauart, das unbewohnt wirkte. An der linken Grenze war ein weiteres großes Areal und durch den dünnen Bewuchs am Zaun war ein altes Holzhäuschen zu sehen, also kein Platz, der das ganze Jahr über bewohnt war.
So wenig Nachbarschaft hatte sich Karl immer gewünscht!
Er war zurück zum Tor gegangen und hatte alles noch einmal in Augenschein genommen, lang und gründlich, verschiedenen Blickwinkel suchend, und je mehr er gesehen hatte, desto besser hatte ihm alles gefallen. Das Haus war unscheinbar, grau, düster, das hatte Karl aber nicht abgestoßen, im Gegenteil, dieses Haus war genau das, was er so lange gesucht hatte. Stille und Einsamkeit, aber genau das würde er nicht finden können, wenn er hier an diesem Platz nicht allein lebte.
Jetzt, an diesem ersten frühlingshaften Tag im März, stand Karl unter dem großen Nussbaum in der Mitte des Gartens und dachte zurück an jenen Tag im Februar, als er das Haus und den Garten zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ihm, als hätte das Haus auf ihn gewartet, als hätte alles so ablaufen sollen, wie es sich ereignet hatte.
Der Kauf war einfach abzuwickeln gewesen. Karl hatte alle seine Reserven flüssig gemacht und für den Großteil des Kaufpreises einen Bausparvertrag abgeschlossen, mit seinem guten Gehalt als Bilanzbuchhalter kein Problem bei der Bank.
Um drei Uhr läuteten die Glocken einer nahen Kirche, danach herrschte wieder die Stille, wie er sie immer gesucht hatte. Das alte Haus mit dem großen Garten rundherum schützte ihn vor dem, was von außen eindringen mochte, vor den belästigenden Absonderungen minderwertiger Existenzen, die nicht wichtiger als Ameisen sein konnten. Karl holte aus der Garage einen Liegestuhl, so ein richtiges altes Modell, ein Holzrahmen, mit gestreiftem Stoff bespannt, und ließ sich im Garten nieder, obwohl es dafür noch zu kühl war.
Von seinem Platz aus konnte er jene Stelle in der Wiese sehen, wo die Sträucher eine kleine Lichtung bildeten, und darin das längliche Beet mit der frischen schwarzen Erde, so wie er es in der vergangenen Nacht zurückgelassen hatte. Aber das machte ihn nicht unruhig, alles schien so weit weg, als hätte es sich vor vielen Jahren ereignet und mit ihm nichts zu tun. Seltsam, dass gerade ein Friedhof, mit einer alten Steinmauer, den Garten nach hinten abgrenzte. Alles passte zusammen, als hätte es jemand anderer für ihn entschieden. Das Haus bestimmte, was zu geschehen habe. Noch müde vom Vortag nickte er ein.
Als er erwachte, fröstelte ihn. Der Garten lag im Dunkeln und die Sonne war längst untergegangen. Eigentlich wollte er rasch ins Haus, aber etwas zwang ihn, zu dem Fleck Erde zu gehen, der noch so frisch dalag, als hätte eben ein emsiger Gärtner seine Arbeit beendet. Hier würde nichts wachsen, nichts Geplantes, mit Absicht Gesätes. Die Natur würde Sorge tragen, der Wind würde Samen herbeischaffen, Gras und Unkraut würde wachsen, und spätestens im Sommer würde die Fläche kaum von einer anderen im Garten zu unterscheiden sein. Als sei er erst jetzt wirklich wach geworden, überfiel ihn ein Unbehagen, die Bilder des Abends drehten sich in seinem Kopf, es war, als würde er erst beim Anblick dieses Grabes sich bewusst werden, dass er gestern eine Handlung gesetzt hatte, die einen Trennstich zwischen seinem bisherigen und seinem weiteren Leben bedeutete.
Karl ging ins Haus und öffnete eine Flasche Bordeaux, die er zu einem Betrag erstanden hatte, den er in seinem bisherigen Leben für Wein noch nie ausgegeben hatte. Vergessen würde ihm für alle Zukunft unmöglich sein, auch wenn er zwei oder drei Flaschen Wein trinken würde, ein kurzes Auslöschen für einige Stunden, aber je mehr er tränke, desto unerbittlicher würde die Erinnerung nach Abflauen der Betäubung zurückkehren.
Den Montag in der Firma brachte Karl nur mit großer Mühe hinter sich. Es fehlte ihm die Konzentration auf die Arbeit, er musste sich zwingen, einige Routinearbeiten zu erledigen. Seine Kollegin, mit der er das Zimmer teilte, hatte den Montag freigenommen, was Karl sehr gelegen kam. Zum ehest möglichen Zeitpunkt verließ er das Büro, was dank der in der Kanzlei geltenden Gleitzeitvereinbarung möglich war und wofür Karl, als leitender Angestellter, auch keiner besonderen Genehmigung bedurfte.
Kaum zu Hause angekommen, ging er in den Garten. Karl musste das Beet besichtigen, es war ein Grab und so sah es auch aus. Karl schien es, als hätte sich der Hügel sogar noch ein wenig gewölbt, vielleicht würde er das alles noch einmal ändern müssen. Mit diesem Gedanken kehrte er ins Haus zurück und sichtete den Stapel an Prospekten von Möbelhäusern und Supermärkten. Dazwischen fand er auch einen Brief des Bürgermeisters, der Karl und Ehefrau als neue Bürger der Stadt Wien sehr herzlich begrüßte. Karl musste lachen. Im Datennetz der Stadt lebte eine Frau Eva Stadler noch, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nicht mehr gut roch. Karl ging in die Küche, füllte ein Glas Rotwein und leerte es in einem Zug. Karl horchte, aber es erklang kein ´trinkst du schon wieder´ - alles blieb ruhig, nur der Wind fuhr durch die Bäume im Garten.
Karl ging hinaus auf die Straße. Er spazierte an dem Zaun entlang, aber an keiner Stelle konnte er durch die Hecke das Grab sehen, er hatte das so gut gewählt, dass es in jeder Richtung von Büschen, niedrigstämmigen Obstbäumen und allerlei wildwachsenden Pflanzen, die er nicht kannte, verdeckt war.
Zurück im Garten stand er lange vor dem Fleck Erde, er konnte keine Reue aufbringen, weil er auch keine Schuld empfinden konnte, das Vergessen war eine andere Sache. Der Wind wurde kühler, Karl fröstelte und ging zurück ins Haus, um sein neues Leben zu ordnen. Den Brief des Bürgermeisters und die gesamte übrige Werbepost warf er in den Abfallkübel. Von ihm aus sollte sie weiterleben in den Akten, nur belästigen sollte sie ihn nie mehr. Eigentlich trug ja nur sie allein Schuld an der ganzen Affäre. Wäre sie nicht so unsagbar blöd gewesen, hätte sie ja alles vermeiden können. Dieser Gedanke festigte sich in ihm, er konnte das abschließen und sich den neuen Herausforderungen eines allein stehenden Mannes widmen. Da sah er genug Probleme auf sich zukommen, aber die würde er auch ohne Frau meistern können.
Der nächste Tag kam strahlend daher, voller Frühlingsduft und Sonne. Karl begann seinen Tag wie immer, aber es war ein mechanischer Ablauf, irgendwie war es ihm, als stünde er neben sich selbst. Auf einmal hatte sich alles verändert. Früher waren Arbeit, das Büro, sein Kontakt mit Kollegen und Klienten, so wichtig gewesen. Jeder neue Tag in der Firma bedeutete Erfüllung und Bestätigung, Anerkennung, die er zu Hause nicht bekommen konnte. Das Leben im Büro war sein wahres Leben, wo er Karl Stadler jene Position einnahm, die ihm im Privaten verweigert wurde. Und die Fahrt zum Arbeitsplatz war oft ähnlich einer Flucht gewesen, gegen die seine Frau nichts hatte einwenden können.
Pünktlich um 9 Uhr saß Karl an seinem Arbeitsplatz in der Wirtschaftstreuhänder- und Steuerberatungskanzlei L&B&Partners im 9.Bezirk, die zu den führenden Unternehmen in Wien zählte.
Seine Kollegin, ihm nicht ganz gleichrangig und erst seit vier Jahren in der Firma, war heute da, sie beide teilten sich ein Büro, getrennt von den Angestellten im wesentlich größeren Nachbarraum, wo sechs Damen mit den Buchungen für die Klienten der Kanzlei beschäftigt waren.
„Guten Morgen, Karl“, Stefanie Hruska schwirrte herein wie jeden Morgen, und sofort verbreitete sich der Duft ihres Parfüms im Raum, sehr exotisch, eigentlich für den Arbeitsmorgen in einer Steuerberatungsfirma zu aufdringlich.
„Guten Morgen, Steffi, alles okay?“
„Ja, ja, wie war dein Wochenende?“
Eine Standardfrage zwischen ihnen, die Karl mit den üblichen Floskeln abwehrte, weil er an sein Wochenende nicht erinnert werden wollte.
Früher einmal war Steffi ein Ziel seiner Begierde gewesen, obwohl sie im Hinblick auf Karls unterdurchschnittliche Größe von 1,65 nicht zusammenpassten, denn Steffi überragte ihn um mindestens 10 Zentimeter. Dabei war sie nicht dick, nicht einmal mollig, sie hatte lange, schlanke Beine und einen fantastischen Busen, der Karl schon einige unruhige Momente bereitet hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er versucht hatte, mit ihr eine Affäre anzufangen. Karl war zwar nicht groß, aber mit seinem markanten Gesicht und seinem männlichen Auftreten hatte er viele Chancen beim weiblichen Geschlecht, die er manchmal verschmäht, gelegentlich aber auch genützt hatte. Oft verschmäht, was ihm leicht in den Schoß gefallen wäre – buchstäblich. Einfach, weil es zu simpel und langweilig gewesen wäre, ein kurzer Akt der Befriedigung, darauf folgend eine lange und womöglich mühsame Anstrengung der Abwehr, das Ganze nicht wert einer momentanen Aufregung. Bei Steffi hatte er nicht landen können und nachdem Karl die Vergeblichkeit seiner Bemühungen verarbeitet hatte, war aus der anfangs etwas schwierigen Situation ein durchaus angenehmes Arbeitsverhältnis entstanden. Karl war manchmal sogar zu einer Art Seelentröster für Steffi geworden. Der gemeinsame Arbeitsplatz brachte es mit sich, dass Karl die Beziehungskrisen seiner Kollegin mitverfolgen musste und ihr manchmal auch Rat spenden durfte. Eine kleine Genugtuung blieb ihm, Steffi war nicht fähig, eine dauerhafte Verbindung zu einem Mann einzugehen, immer geriet sie an Männer, von denen sie in den ersten Wochen mit Begeisterung erzählte, um einige Zeit später abfällige Äußerungen von sich zu geben, wenn Karl sie ein wenig ausfragte. Allmählich machte ihm der Ablauf Spaß, besonders wenn Steffi während der Bürozeit ein ´End-Telefonat´ – so nannte Karl das bei sich – führte, und es schien, als müsse er sie davor bewahren, sich aus dem Fenster im zweiten Stock auf die Straße zu stürzen. So schlimm kam es dann doch nicht. Diese Episoden übertrugen Karl eine gewisse Überlegenheit, denn er war sicher, dass diese nach außen hin so attraktive Frau einen oder mehrere Mängel haben musste, die sie so beziehungsunfähig machte. Und damit konnte er sie so kategorisieren, wie er alle Frauen in ein Schema presste, sich auf diese Weise eine Überlegenheit beschaffend, die allerdings nicht wirklich vorhanden war.
Karl beschäftigte sich mit dem File, dem er in den letzten Wochen die meiste Zeit des Arbeitstages widmen hatte müssen. Es drehte sich um die Bilanz einer Immobilienfirma, die sowohl als Bauträger als auch als Makler tätig war. Die Firma hatte auch Tochtergesellschaften und ausländische Beteiligungen, alles in allem eine kompliziertes Geflecht, nicht einfach zu durchschauen, aber das war ja wohl die Absicht hinter der Konstruktion. Je genauer sich Karl in die Materie eingelesen hatte, desto mehr Unklarheiten hatte er entdeckt. Darüber hatte er auch schon Dr. Josipvic, dem Seniorchef der Kanzlei, berichtet. Der aller dings hatte das als in der Baubranche usuelle Geschäftsfälle abgetan und hatte den Rat seines erfahrensten Bilanzbuchhalters, die Mandantschaft für dieses Unternehmen abzulehnen, entrüstet zurückgewiesen. Die Firma brauchte Geld, die Konkurrenz war groß, die Kanzlei würde die Bilanz erstellen und sich ansonsten die Hände in Unschuld waschen. Also ging Karl weiter seiner Arbeit nach, wenn auch ohne jede Sympathie für diesen Klienten, in seinen Augen ein Unternehmen, um das man einen Bogen machen sollte.
Gegen Mittag rief ihn die Chefsekretärin an und bat ihn zu einer Besprechung zu Dr. Josipvic. Karl war überrascht, vielleicht war es jetzt soweit an einen weiteren Schritt auf der Karriereleiter zu denken, hatte doch der Chef bei der Weihnachtsfeier so Andeutungen ge- macht. Allerdings – Stellen in der Hierarchie gab es keine mehr, eventuell die Verantwortung über eine weitere Gruppe, was aber auf alle Fälle ein deutliches Plus am Gehaltszettel ausmachen würde.
Also positiv gestimmt beeilte er sich zum Chefbüro im zweiten Stock. Im Stiegenhaus kam ihm von oben Frau Hebewein entgegen, die sich mit einem Taschentuch die Augen trocknete.
„Frau Hebewein, was ist denn los?“
„Ich bin gekündigt worden!“
„Warum denn das?“
„Einsparungen, meine Stelle wird wegrationalisiert, oder so...“
„Das tut mir aber Leid für Sie. Bestimmt finden Sie schnell was Neues.“
„Hoffentlich, schließlich habe ich auch noch eine minderjährige Tochter zu versorgen.“
„Ich wünsche Ihnen schon jetzt alles Gute!“
Etwas irritiert betrat Karl das Büro des Chefs, das er nach kaum zehn Minuten wieder verließ, weil er zu stolz war, sich mit dem Inhaber der Kanzlei auf eine endlose, zu nichts führende Diskussion einzulassen. Sparzwang, Umsatzrückgang, Outsourcing – die Fallbeile des modernen, gewinnorientierten Managements waren auf Karls Kopf niedergefallen. Unter anderen Voraussetzungen hätte Karl vieles einwenden können, aber das vergangene Wochen- ende hatte viel Kraft gekostet, es stellte auch eine Zäsur dar, einer neuerliche Herausforderung in diesem Moment war er nicht gewachsen. Sein Rückzugsgebiet, die Arbeit, war ihm genommen worden. In allen Bereichen seines Lebens war ihm der Boden entzogen worden, in diesem Moment konnte er nur resignieren und so versuchte er das Büro des Chefs so schnell wie möglich zu verlassen, in dem er ohne Gegenrede allem zustimmte, was sein Vorgesetzter wortreich zu begründen versuchte, um sich derart als selbst Getriebener darzustellen, nicht verantwortlich eigentlich, der Markt, die Wirtschaft als nicht belangbare über der Kanzlei schwebende Dämonen darstellend, denen sogar der Chef keinen Widerstand zu leisten vermochte.
Karl kehrte zurück an seinen Schreibtisch und begann die darauf liegenden Papiere zu schlichten. Seine Kollegin war gerade nicht im Zimmer. Karl legte die wenigen privaten Gegenstände in seinen Aktenkoffer, Fotos hatte er nie aufgestellt, wie er es überhaupt vermieden hatte, zu viel aus seinem Privatleben verlauten zu lassen. Zuletzt nahm er noch einige Papiere aus dem File, aktivierte den Bildschirm, suchte eine Datei, die er auf einen USB-Stick lud, bevor er den Computer ausschaltete, ohne eine Datensicherung zu veranlassen.
Steffi betrat das Büro und ging zu ihrem Schreibtisch. Erst als sie sich dort niedergelassen hatte, registrierte sie Karls seltsame Aktivitäten.
„Was ist denn los, was wollte denn der Chef von dir?“
„Ich bin gekündigt worden.“
„Aber wieso denn, das gibt´s doch nicht?“ Sie war fassungslos, oder tat zumindest so. Es hatte schon ein Rumoren in der Firma gegeben, seit das operative Ergebnis für das vergangene Jahr nicht so positiv wie in Vorperioden ausgefallen war.
„Alles gibt´s, und ich gehe jetzt, mit meinem Guthaben an Stunden und dem Jahresurlaub kann ich gleich verschwinden“, Karl räumte hastig noch die Laden seines Schreibtisches aus, „das File der Bauträger GmbH lass´ ich da liegen, wirst du dich halt drüberstürzen müssen.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“
„Am besten gar nichts, so ist die moderne Berufswelt, die Hebewein ist auch gekündigt worden, wer weiß, was da noch alles kommt.“
Steffi war sichtlich konsterniert, “ Aber wir bleiben doch in Kontakt?“
„Ja, auf alle Fälle, könnte auch sein, das du was brauchst von mir, bei der Bilanz gibt´s noch viel Arbeit.“
„Puh, weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll. Ich habe eh noch einen Stoß Akten da liegen...“
„Dann gib dem Alten Druck, lass dir nichts gefallen, also dann...“
Sie gaben sich die Hand zum Abschied und Steffi küsste ihn auf die Wange. Aus einem nicht ersichtlichen Grund, hatte sich eine Verlegenheit eingeschlichen, so als müsste Steffi für Karls Auszug Verantwortung tragen.
Zu Hause angekommen, ging er ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen und schielte dabei zur Badewanne, ein Objekt, dessen Vorhandensein in diesem Raum Karl Unbehagen bereitete. Ein unangenehmer, nicht zu beschreibender Geruch hing in der Luft, aber Ameisen waren nicht zu entdecken. Minutenlang hielt Karl seine Hände unter den Strahl des Wassers, in seinem Kopf lief der Abend des Samstags wie ein Film ab, dann erst erinnerte er sich, wieso er an einem Arbeitstag zu früher Stunde schon zu Hause war und das ließ die Bilder in seinem Kopf verschwinden. Als er sein Gesicht trocknete, stieg eine momentan eine Welle von Hitze in ihm auf, die ihm den Atem raubte. Nach Luft ringend, presste er sich das feuchte Handtuch auf die Stirn, atmete hektisch aus und ein, wartete darauf, im nächsten Moment einen Herzanfall zu bekommen. Dann war es vorbei und es blieb nur sein Gesicht im alten Spiegel und die Tatsache, dass er heute gekündigt worden war.
Es überkam ihn eine Wut, er nahm die unter dem Waschbecken liegende Rohrzange und schlug auf den Spiegel über dem Waschbecken, der in zahllose spitze Stücke zerbrach. Es war ihm, als könne dieser Akt der Zerstörung alles auslöschen, was vorher gewesen war. In Wirklichkeit bedeutete es nur einen lächerlichen Vandalen Akt, ein Ventil für seine Wut über die Firma, seine Frau und über sich selbst.
Karl hielt inne, jetzt war ihm leichter, er ließ die Zange fallen, die Splitter des Spiegels zerlegten Karls Gesicht in hundert Teile, ein Mosaik, in dem er sich nicht wiederfinden konnte, aber das war ihm jetzt auch egal. Er ging in die Küche und füllte ein Glas mit Rotwein. Das Badezimmer würde er so rasch wie möglich renovieren, jetzt hatte er Zeit genug dafür.
Er wusste, er war heute gekündigt worden, ihm war von einer Stunde auf die andere der Boden entzogen worden. Sechsundzwanzig Jahre lang hatte er der Firma gedient, die Kündigung bedeutete eine Vernichtung seines bisherigen Lebensinhaltes, denn die Ehe war nur der Rahmen für das gewesen, was ihn ausgefüllt, bestätigt und befriedigt hatte – seine Arbeit am Schreibtisch, die Fertigstellung eines komplizierten Jahresabschlusses, perfekt bis zur zweiten Kommastelle, ein Kunstwerk von Zahlen, ein logisches Gebilde, dessen Schöpfer er gewesen war.
Um fünf Uhr nachmittags öffnete Karl die zweite Flasche Wein, weil es ihm nicht gelingen wollte, einen Zustand der Trunkenheit zu erzielen, der zumindest für den Rest des heutigen Tages die Gnade des Nichtmehrdenkenmüssens über ihn ausbreiten sollte. Also trank Karl weiter, wanderte mit der Flasche in der Hand durch den Garten, blieb hier stehen, dann dort, umkreiste immer wieder das schwarze Beet zwischen den Büschen, bis ihn endlich ein einsetzender Regen zurück ins Haus trieb.
In dieser Nacht schlief Karl sehr schlecht. Als er am nächsten Morgen zur gewohnten Stunde erwachte, erinnerte sich nicht an den gestrigen Tag und die Tatsache, dass er heute nicht ins Büro fahren musste, wollte schon mühsam den Tag beginnen, bis ihm nach einigen Minuten alles wieder einfiel. Also kroch Karl wieder zurück ins Bett, einen Hang-over hatte er von der gestrigen Sauferei sowieso. Nach zehn saß er dann beim Frühstück und nach zwei Tassen Kaffee war er in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Woche früher – und er hätte sich die Plage des Samstags sparen können, denn jetzt war alles egal. Sein bisheriges Leben Makulatur, sein untadeliger Lebenswandel, die für seine Anstellung wichtige persönliche Integrität, alles hinfällig und bedeutungslos! Eine Ironie des Schicksals, die ihn vom trauernden Gatten zum heimtückischen Mörder machte.
Karl tat sich selber leid und aus dieser Verzweiflung heraus trank er ein Glas Wein, schon jetzt am Vormittag, das hätte es in seinem früheren Leben nicht gegeben. Aber schon nach dem ersten Schluck spürte er eine Erleichterung, ja Befriedigung, dass es ihm seine neuen Lebensumstände ermöglichten, an diesem Vormittag eines normalen Werktages tatenlos herumzusitzen und Wein zu trinken. Auf einmal überkam ihn ein Gefühl der Freiheit, so wie er es schon lange nicht empfunden hatte. Er, der sonst immer wirklichen oder eingebildeten Zwängen unterlegen war, konnte nun tun und lassen, ganz wie es ihm beliebte. Die Kontrollinstanzen waren verschwunden, die alten wie Elternhaus und Schule seit langem, die der letzten Jahre seit Samstag und seit gestern. Erst zu diesem Zeitpunkt öffnete sich ihm eine neue Perspektive, die das eben noch beklagte Geschehnis gänzlich anders erscheinen ließ. Nun war Karl endlich wirklich frei, das erkannte er erst jetzt und es überkam ihn eine Euphorie, der er sich dem Rest des Tages hingab, Pläne wälzend, wie er sein neues Leben in Zukunft gestalten würde.
Am selben Tag, nur einige Stunden früher war Martina Gruber damit beschäftigt, sich so wie an jedem Morgen für die Arbeit zu recht zu machen. Da ihr Dienst um sieben Uhr dreißig begann und sie großen Wert auf ihr Äußeres legte, stand sie jeden Tag schon zwei Stunden früher auf, eine Gewohnheit, die ihr keine Mühe machte. So konnte sie in Ruhe frühstücken und sich dann ihrem Outfit widmen, einer Prozedur, die die sorgfältigste Abstimmung von Kleidung, Schuhen und allen anderen Accessoires erforderte. Mitunter wechselte sie in letzter Minute die Schuhe, was dann auch entsprechende Änderungen bei der Handtasche, Schal oder Jacke nach sich zog.
Es musste alles perfekt zusammenpassen, das umso mehr, weil sich in ihrem Privat- leben nichts fügen wollte. Martina war nicht reich, aber ihr B-Posten im AMS war gut dotiert und da sie seit Jahren nur für sich alleine sorgen musste, konnte sie sich alles leisten, was einer Frau wichtig ist. In den stillen Stunden voller Depression grübelte sie, warum gerade sie nicht fähig sei, ein normales Leben an der Seite eines Mannes zu führen. Selbst die einfältigste Arbeitssuchende im Amt hatte einen Partner, zumindest schien es Martina so zu sein. Sie suchte den Fehler bei sich selbst, fragte sich, ob sie zu anspruchsvoll sei, aber wenn sie an ihre gar nicht wenigen kurzen Beziehungen zum männlichen Geschlecht dachte, konnte sie keinen Fehler bei ihrem eigenen Verhalten oder an ihrem Charakter entdecken. Fast immer war sie es gewesen, von der die Trennung ausging. Einfach darum, weil der Mann störte, auf irgendeiner Ebene nicht dem entsprach, was sie in ihm gesehen oder von ihm erwartet hatte. Das waren Affären mit leidenschaftlichem Sex oder politischen Debatten, Theaterbesuchen, aber immer hatte das eine oder andere gefehlt. Da waren Männer gewesen, die nach zwei oder drei Wochen eines scheinbar neuen Glücks begannen, die Körperpflege zu vernachlässigen und am Abend mehr Interesse fürs Essen und Fernsehen zeigten als für Martina. Nie war einer so gewesen, wie sie es sich gewünscht hätte. Also musste es doch an ihr liegen und wenn sie nicht bereit war, ihre Ansprüche herunterzuschrauben, dann würde sie für den Rest ihres Lebens allein bleiben, viel Zeit hatte sie nicht mehr.
Soweit es möglich war, kompensierte sie diese Lücke ihres Daseins mit dem Kauf teurer Kleidungsstücke. Es verging kaum eine Woche ohne das Aufsuchen eines Schuhge- schäftes, im Badezimmer stapelten sich die Cremen, für jeden Quadratzentimeter der Haut eine besondere, eine teurer als die andere. Aber doch fehlte in Martinas Leben etwas, das sie durch Kleider und Kosmetika nicht ausgleichen konnte. Aber sie gab auch nicht auf, an keinem Morgen und an keinem Abend. Der Dienst an sich selbst bildete einen Teil ihres Lebens. Wenn der einzig Richtige absolut nicht erscheinen wollte, hatte Martina doch zu- mindest zeitweise Spaß an ihrer Wirkung auf die Männerwelt. So im Rückblick, den sie mit zunehmendem Lebensalter immer öfter mit sich selbst hielt, waren die Männer eigentlich alle blöd und deppert gewesen. Gestört in der einen oder anderen Weise, bei keinem der Frösche war es ihr gelungen, ihn zum Prinzen zu küssen, egal wie ambitioniert sie das in allen Ebenen versucht hatte. Der Trost des geordneten Lebens ohne finanzielle Sorgen beruhigte ihren Alltag und die Anregungen der Einkaufstempel konnte sie immer genießen.
Am Montag der auf die Kündigung folgenden Woche traf der Brief mit der Abrechnung ein. Die Firma legte zu der ihm gesetzlich zustehenden Abfertigung noch einen ansehnlichen Betrag drauf, das war der Bonus für Karls Einverständnis mit dem Termin 30. Juni, den von Rechts wegen hätte eine Kündigung im 26. Dienstjahr nur zum 31. August erfolgen können. Der Chef war jedoch anderer Meinung, weil die Gesellschaftsform vor 10 Jahren geändert worden war, darüber wäre eine womöglich endlose Streiterei entstanden, die Karl nicht wollte. Natürlich waren auch der Urlaubsanspruch und die offenen Überstunden abgegolten, so dass die Summe gut fünfzigtausend Euro ausmachte, eine Zahl, die Karl ein wohliges Gefühl vermittelte. So schöne Zahlen hatte er schon immer gerne gesehen. Dem Brief war auch ein Zeugnis beigefügt, in dem Karls Arbeitsleistung in höchsten Tönen gelobt und die Kündigung mit wirtschaftlichen Zwängen begründet wurde.
Karl begann zu rechnen.
Die Anmeldung beim Arbeitsmarktservice musste er machen, aber ob die ihn mit seinen fünfeinhalb Lebensjahrzenten noch irgendwo unterbringen konnten, war fraglich. Da er gut verdient hatte, würde auch Vater Staat tief in die Tasche greifen müssen. Von dieser Zuwendung würde Karl seinen täglichen Bedarf bestreiten können. Der Polster der Abfertigung garantierte ein sorgenfreies Leben. Das staatliche Theater mit den älteren Arbeitslosen, die keiner mehr wollte, würde er halt mitspielen müssen. Die Obrigkeit würde ihn zwingen, nutzlose Kurse und Schulungen zu absolvieren, die es dem AMS ermöglichten, einerseits alle Statistiken zu schönen und andererseits auf diesem Umweg auch noch einige parteinahe Firmen zu finanzieren, denen diese Bla-bla-bla-Kurse mit hohen Beträgen pro Teilnehmer honoriert wurden. Karl war sicher, dass über diesen Umweg Mittel zurück zu den Parteien flossen, Andeutungen und Vermutungen hatte man in den Zeitungen schon oft lesen können.
Ihm war nicht danach, in Kürze einer geordneten Beschäftigung nachzugehen. Je verborgener er ab nun leben konnte, desto besser für ihn. Vielleicht würde er als erfahrener Buchhalter doch bald eine neue Stelle finden, aber das widerstrebte ihm, denn er brauchte jetzt die Zurückgezogenheit im neuen Haus, er musste alles verarbeiten und sich darauf vorbereiten, was in den nächsten Wochen noch auf ihn zukommen würde. In einem Jahr würde er weitersehen.
So war Karl also zum gegenwärtigen Zeitpunkt zufrieden oder zumindest nicht beunruhigt über seine finanzielle Lage. Die Routine des Arbeitsplatzes würde ihm abgehen, die Kündigung empfand er als Kränkung, das musste er erst verdauen. Karls Ego war verletzt. Wieso war gerade er entlassen worden? Er, der immer loyal zur Kanzlei gestanden und jederzeit zu Mehrarbeit bereit gewesen war. Aber wahrscheinlich war das so im Leben, dass es die traf, die nicht das große Mundwerk hatten, jene, von denen die Chefs den geringsten Wider-stand erwarteten. Karls Gefühle ähnelten jenen eines betrogenen Ehemannes, das würde noch lange anhalten.
Fürs erste fuhr er in den nahegelegenen Sparmarkt, wo er den Einkaufswagen mit großen Vorräten füllte, Tiefkühlkost, Konserven, Fertiggerichten und Wein. Karl wollte nicht gezwungen sein, täglich einkaufen gehen zu müssen und so auf diese Weise ein Profil für die Umgebung zu liefern. Er wollte anonym bleiben, unbekannt als Nachbar, kein Mensch sein, den andere an Hand regelmäßiger Bewegungsmuster würden einordnen können. Am Land war das nicht so einfach, aber hier in der Großstadt wollte er existieren, ohne vorhanden zu sein. Jetzt – ohne fixe Anstellung war das noch einfacher.
Zurück vom Einkauf trug er die Vorräte ins Haus und fuhr dann mit seinem VW Golf in die Garage, die aber so schmal war, dass er gerade noch die Fahrertür öffnen und aussteigen konnte. Der Erbauer dieser Garage hatte sichtlich nicht den Weitblick besessen, dass außer dem Puch 500 oder dem Renault 4 einmal noch größere Autos gebaut würden. Aber die Mühe beim Aussteigen störte Karl nicht. Sein Auto war nach dem Schließen des hölzernen Tores nicht mehr sichtbar, das war das Wichtigste. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm ein, dass er das Küchenfenster und das kleine vom Klo - die einzigen zur Straße hin – noch gut gegen Einblicke von außen abschirmen musste, darum würde er sich bald kümmern.
Mit dieser und anderen Fragen des nun von ihm allein zu bewältigenden Haushaltes beschäftigte sich Karl in den folgenden Tagen. Ein möglicher Besucher würde im Haus etliche Anzeichen eines weiblichen Wesens entdecken. Obwohl sie ja das Haus erst vor zwei Wochen bezogen hatten, lieferten alle Räume Hinweise darauf, dass hier auch eine Frau lebte.
Bei einem Glas Zweigelt dachte Karl nach, ob er alles wegräumen oder so lassen sollte, wie es war. Nach dem zweiten Glas war ihm klar, dass es besser sein würde, den derzeitigen Zustand des Haushaltes so zu belassen. Offiziell und staatlich registriert, war Karl ein Mann mit einem Weib an seiner Seite, ein Paar aus Kaltenleutgeben, das vor kurzem nach Wien übersiedelt war. Das Badezimmer würde Karl natürlich komplett und großzügig renovieren müssen, die weiblichen Utensilien könnte er dann wieder dort platzieren.
Die scheinbare Existenz einer Ehefrau war ganz wichtig für den weiteren ungestörten Lauf von Karls Leben! Schuhe im Vorzimmer, Kleider im Schrank und Parfüm im Badezimmer – kein Mensch würde daran denken, dass in diesem Hause keine Frau lebte. Sollte doch jemand ernsthaft nachfragen, konnte sie ja verreist oder auf Kur sein, Karl würde sich dann was einfallen lassen.
Er trank weiter und war zufrieden, arbeitslos zwar und auch keine Frau im Haus, Ereignisse, an denen er keine Schuld, zumindest redete er sich das ein, wobei ihm der Wein sehr behilflich sein musste. Denn – natürlich hätte er sie warnen können oder sonst irgendwie Vorsorge treffen können. Aber es hatte alle so kommen müssen. Zufall oder Fügung, Kismet oder sonst was. Zu ändern gab es jetzt nichts mehr.
Die nächsten Tage verbrachte Karl in einem vom Alkohol durchzogenen Zustand schwankender Gefühle. Ab einem gewissen Grad der Alkoholisierung hasste er sie und freute sich über ihren Tod. Diese Stimmung konnte aber eine Stunde später umschlagen, in eine sentimentalen Aufwallung bei der Erinnerung, wie es damals begonnen hatte, als sie sich kennengelernt hatten. Spätestens dann war Karl aber so betrunken, dass er bei der Musik von ´Bilder einer Ausstellung` oder Tschaikowskys 1. Symphonie vom Rausch dem Wachzustand entzogen wurde.
Da er aber die monetären Aspekte seines weiteren Lebens nicht außer Acht lassen konnte, musste er sich an einem Montag aufraffen, um die für seinen Wohnbezirk zuständige Dienststelle des AMS zu besuchen. Geld wollte er dem Staat nicht schenken, schließlich hatte er jahrelang eingezahlt, davon wollte er sich einen Teil zurückholen.
Der Besuch im Amt der Sklavenverwaltung war grauenvoll.
Eine Ansammlung gescheiterter Existenzen, viele offensichtlich schuldig an der eigenen Misere und dazwischen etliche Unglücksraben beiderlei Geschlechts, mit denen es das Schicksal nicht gut gemeint hatte. Ameisenleben, zusammengeworfen an einem Ort der Resignation für viele, für manche nur eine Verzögerung der Rückkehr ins Stammbeisl.
Karl fühlte sich deplatziert und war des Öfteren nahe daran, in einer Art Trotzreaktion diesen Ort der üblen olfaktorischen und seelischen Ausdünstungen zu verlassen. Nur die Aussicht auf das in Zukunft zu erwartende Geld hielt ihn zurück. Nach zwei Stunden war alles amtlich registriert und Karl für die Hilfe des Staates vorgemerkt. Die würde allerdings erst dann wirksam werden, sobald sein am 30.Juni auslaufender Dienstvertrag, ihn mit dem ersten Tag des Monats Juli von einer Statistik in die andere beförderte.
Am Heimweg tätigte Karl wieder einen größeren Einkauf, um sich wieder für eine Woche in seinem Domizil vergraben zu können. Das Haus war nicht schlecht gewählt, aber ein Einschichthof im nördlichen Waldviertel wäre ihm noch lieber gewesen. Ein Vierkanter mit einem mächtigen Holztor, wie eine Burg gesichert nach allen Seiten. Solche Höfe wurden fallweise in den Immobilienteilen der Tageszeitungen angeboten, aber Karl hatte wegen seines Arbeitsplatzes in Wien an so einen Ortswechsel nicht denken können. Eine Kündigung ein halbes Jahr früher, hätte vielleicht zu anderen Entschlüssen geführt. Aber dieses Haus nun war auch nicht schlecht, vorausgesetzt die Umgebung und Nachbarschaft würde sich nicht stark verändern. Bei dem an der südlichen Rückseite des Gartens angrenzenden Friedhof war das eher auszuschließen.
An einem Vormittag machte sich Karl auf den Weg, um den Friedhof in Augenschein zu nehmen. Durch ein schmiedeeisernes Tor betrat er den Gottesacker, der in seiner Aus-dehnung nur etwa doppelt so groß wie Karls Grundstück war. Ein kleiner Friedhof in einem Dorf, das vor zweihundert Jahren von der Residenzstadt Wien nur in einem mehr stündigem Fußmarsch erreichbar gewesen war. Zwei alte Frauen begegneten Karl, er grüßte höflich. Dann ging er weiter durch die Reihen, so als sei er auf der Suche nach einem bestimmten Grab. Er spürte, dass ihn die Frauen beobachteten, wahrscheinlich misstrauisch, denn es gab ja immer Menschen, die Blumen oder Kerzen von einem Grab entwendeten, um mit diesem Diebesgut die Stätte der eigenen Verblichenen zu schmücken, dies ohne jeden Gedanken, welche Schändung sie dadurch begingen.
Karl ging weiter zur letzten Reihe entlang der Mauer, die die Grenze zu seinem Grundstück bildete. Hier fand er die Grabstätten der Reichen. Stelen, weinende Engel und Grüfte mit Marmorplatten zeigten, dass selbst im Tode nicht alle Menschen gleich sind. Karl ging langsam an den Monumenten der erhofften Unsterblichkeit entlang und las die Namen von Freiherren, Hausbesitzern, Kanzleioberoffizialen und deren Gattinnen, sie alle wollten in Stein gemeißelt eine Ewigkeit erringen, die es nicht gab. Die Rangordnungen des Lebens sollten auch im Himmel noch gelten, wie es in der Hölle damit stünde, war eine andere Frage.
Vor der größten Gruft blieb Karl stehen. Sie glich mehr einer Kapelle als einer Grabstätte, etwa vier mal vier Meter im Quadrat. Zwei Säulen links und rechts stützten ein vorspringendes Dach mit Giebel. An einer Seite konnte er sogar eine schmale eiserne Tür sehen. Die Namen auf dem schwarzen Marmor waren kaum mehr leserlich, Freiherren samt Anhang, einstmals ganz wichtige Persönlichkeiten, denn diese Gruft war die größte und seinerzeit auch die schönste des gesamten Friedhofs gewesen. Nun war sie verfallen, die niedrigen schmiedeeisernen Gitter zum Teil verrostet, in einer Metallvase steckten verdorrte Blumen, keiner war mehr da, um den Toten eine Verehrung zu erweisen. So vergeht alles, dachte Karl, und wunderte sich, warum er das Leben nicht leichter schultern konnte. In der nahen Ketzergasse brauste der Verkehr und für jene, die da an diesem Gottesacker vorbei fuhren, war im Moment nichts wichtiger, als ein bestimmtes Ziel zu erreichen, aber vielleicht war auch schon einer oder eine dabei, sich heute noch das eigene Grab zu schaufeln. Karl wusste nicht, was ihn hier her geführt hatte. Vielleicht war es nur der Versuch, eine Entschuldigung für das zu finden, was sich vor mehr als zwei Wochen ereignet hatte. Der Tod für alle war gewiss, früher oder später, ein Schicksal, dem kein Lebewesen auf dieser Erde entrinnen konnte. Somit im konkreten Fall nur eine Vorverlegung dieser Tatsache, bewirkt durch eine Verkettung von Umständen, für die sich Karl zum Teil schuldig fühlte. Aber hier im Friedhof mit den vielen Toten, war es nicht mehr so schlimm, daran zu denken, was er hätte tun oder unterlassen sollen, um den Dingen einen anderen Verlauf zu geben. Karl verließ den Ort der Trauer, nicht ohne die Frauen noch einmal zu grüßen, mit der ernsten Miene eines Hinterbliebenen, der er in einer Weise auch war, jedoch nicht so, wie es sich die alten Damen vorstellten. Wenn die wüssten, dass auch jenseits der Mauer eine Tote lag, würden sie mit Entsetzen vor ihm flüchten.
Martina Gruber begann ihr Tagwerk im Amt langsam und ohne Übereilung, so wie es in der Beamtenschaft halt üblich war. Zuerst wurde Kaffee gekocht, ein wenig in der Zeitung geblättert, und mit der Kollegin getratscht. Martina und Christine, die das Zimmer mit ihr teilte und ihr als Sachbearbeiterin untergeordnet war, gaben sich gerne diesem morgendlichen Ritual hin, schließlich würde es mit Beginn der Amtsstunden sowieso hektisch werden, bei den vielen Arbeitslosen kein Wunder. Dann widmete sich Martina dem Stapel von Akten auf ihrem Schreibtisch. Die glücklosen Kulis, die von Rationalisierung, Computerisierung, Glo- balisierung und sonstigen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts aus den klimatisierten Büros in die raue Wirklichkeit der Stellenlosigkeit geschleudert worden waren, landeten auf ihrem Schreibtisch, zumindest jene, für die das Arbeitsamt Liesing zuständig war.
Pünktlich um 9 Uhr 30 erschien Karl in Martinas Büro, so wie es eine Mitteilung des Amtes gefordert hatte, die ihm vor zehn Tagen zugestellt worden war. Für diesen Termin hatte sich Karl nach der Verwahrlosung der letzten Zeit wieder in einen seriösen Mann verwandelt, was ihm zur Abwechslung nicht unangenehm war.
Martina Gruber begrüßte ihn wie jeden ihrer Klienten und widmete sich seinem Akt, der noch sehr dünn war. Von Anfang an war sie verwirrt gewesen, als sie in Karls blaue Augen geblickt und seine sonore Stimme gehört hatte. Sein markantes Gesicht, das sie an ihren Lieblingsschauspieler Marlon Brando erinnerte, verstärkte noch den Eindruck einer Persönlichkeit, die hier in diesem Büro eigentlich fehl am Platze war. Groß war er nicht, dieser Karl Stadler, aber das war auch nicht wichtig. Von einer Minute zur anderen war eine Veränderung vorgegangen. Martina hatte nur den einen Wunsch, diesem Mann zu helfen, welches Problem er auch immer haben möge.
„Ich verstehe nicht, warum man Sie gekündigt hat?“
„Zu teuer und zu alt“, erwiderte Karl, „heutzutage werden Erfahrung und Alter nicht mehr geschätzt, jüngere sind billiger, vielleicht auch williger und leichter zu dirigieren.“ Noch während er das aussprach, empfand Karl wie hohl das klang, er selbst glaubte ja auch nicht daran, in seinem Beruf konnten Alter und Erfahrung kein Nachteil sein.
„Hatten Sie Probleme mit Ihrem Chef?“
„Nein, absolut nicht. Es war alles in Ordnung. Ich hatte viele Spezialfälle, schwierige Bilanzen zu bearbeiten, der Chef war immer zufrieden mir meiner Tätigkeit. Aber im Vorjahr begann es, da hat die Firma einige große Kunden verloren, die eine Kostenersparnis suchten, indem sie alle Routine Arbeiten an kleinere Firmen vergaben, das sind oft One-Man, pardon, One-Woman Firmen, die halt viel billiger arbeiten und die man ja auch noch im Preis drücken kann.“
„Das glaube ich gerne“, Martina wollte ihn nur reden hören, “haben Sie sich schon Gedanken gemacht, was Sie zur Lösung Ihres Problems beitragen können?“
„Noch nicht wirklich, bis Ende Juni bin ich ja eigentlich nicht arbeitslos, ich muss das alles erst verdauen, was da auf mich zukommt.“
„Und hilft Ihnen Ihre Frau dabei?“
Martina konnte aus dem Akt ersehen, dass es eine Frau im Leben dieses Mannes gab.
Karl bemühte sich eine Miene der Resignation aufzusetzen.
„Die ist praktisch nie daheim. Außerdem ist sie der Meinung, dass nur ich allein schuld an der Misere sei“, er machte eine Pause und ließ den Kopf sinken, “es ist nicht leicht mit ihr!“
„Ist sie beschäftigt?“
„Nein, sie war immer nur Hausfrau, verstehen Sie mich jetzt nicht falsch, ich weiß, dass die Hausarbeit und alles drum herum viel Arbeit macht, aber trotzdem…“ er hielt inne, wie um nach den richtigen Worten zu suchen, „es ist nicht leicht mit ihr.“
Martina Gruber vermeinte die Erregung, die ihn gepackt hatte, zu spüren.
„Es geht mich zwar nichts an, aber was tut sie denn den ganzen Tag?“ Eine müßige Frage, da Martina als Single wissen musste, womit man in einem Haushalt beschäftigt war. Es war auch eine Frage außerhalb ihrer Kompetenz, aber sie wollte mehr wissen über das Leben dieses Mannes.
„Die hat Verwandte in Vorarlberg, dort ist sie öfters als zu Hause.“
„Das tut mir aber Leid für Sie.“
„Aber nein, ich bin froh, wenn ich meine Ruhe habe.“
„Naja“, sie wollte da nicht weiter forschen, obwohl es sie brennend interessierte, “ich habe alle Unterlagen von Ihnen, ich werde einmal in den Computer schauen, was es da für Sie gäbe. Ich schlage vor, dass ich Sie anrufe, sobald ich Neuigkeiten für Sie habe.“
Martina wusste nicht, was sie da so redete, ein derartiges Vorgehen war im AMS nicht üblich, es war ihr so entschlüpft, aus einem Verlangen heraus, diesen Mann so bald wie möglich wieder in ihrem Büro zu haben.
Aber Karl war´s zufrieden. Er verließ Martinas Büro, nicht ohne für ihre Bemühungen sehr herzlich zu danken. Ihm war nicht entgangen, dass er dieser Dame sehr sympathisch war, er registrierte es, ohne weiter darüber nachzudenken. Es war ein positiver Aspekt des Tages, er hätte auch an einen grantigen Beamten kommen können, der jeden Arbeitssuchenden von vornherein als untüchtig und belastend für die Gesellschaft einstufte. Zufrieden war Karl auch, dass alle weiteren Beschwerlichkeiten der Suche erst im Juli erfolgen sollten. Das sicherte ihm zwei, drei ruhige Monate, in denen er sich ganz dem Haus würde widmen können.
„Ja, sag´ einmal, was ist denn mit dir los“, meldete sich Martinas Kollegin, als Karl das Büro verlassen hatte.
„Gar nichts, der tut mir halt leid.“
„Irgendwas knistert da!“
„Blödsinn, ein Fall wie viele andere“, aber sie konnte eine gewisse Unruhe nicht verbergen und hatte Mühe, sich auf den nächsten zu bearbeitenden Akt zu konzentrieren.