Читать книгу Motel der Geister - Norman Dark - Страница 5
1. Kapitel
ОглавлениеCoralie Williams fuhr mit gespannter Erwartung den Highway 95 entlang, auf dem man bequem von Las Vegas bis nach Reno gelangen konnte. Sie wollte einen Neuanfang wagen, ganz ohne Yoda mit seiner besitzergreifenden Art, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Zwischen ihnen hatte es schon lange nicht mehr gestimmt. Hatte sie ihn überhaupt jemals geliebt oder nur körperlich anziehend gefunden? Erotik und Sex waren etwas Wunderbares, aber leider oft eine flüchtige Angelegenheit, die sich schnell in Gleichgültigkeit oder gar Ekel umkehren konnte. Als sie das Inserat gelesen hatte, war ihr sofort klar geworden, das war die Chance, den Absprung zu schaffen. In einem kleinen Motel in der Wüste Nevadas würde sie Yoda bestimmt nicht suchen, weil er sie für ein Luxusgeschöpf hielt, das ohne ein gewisses Flair gar nicht existieren konnte.
Sie hatte noch etwas Zeit bis zu ihrem Vorstellungstermin, deshalb kehrte sie kurz in eines der typischen Diner ein. Es war nicht besonders gut besucht, so kam die Bedienung gleich auf sie zu. Eine dralle Blondine, die ihren Kaugummi kurzzeitig in den hintersten Winkel ihres rot geschminkten Mundes schob. Auf ihrem Namensschild stand: „Maddy“, ein Name, den Coralie durchaus passend fand.
»Hi, Kaffee?«, fragte sie lächelnd.
»Ja gern, den kann ich jetzt gebrauchen.«
»Auch etwas zu essen? Einen Burger oder unser Tagesgericht?«
»Ein Donut mit Schoko würde mir reichen.«
»Bitte, kommt sofort.«
»Ist es noch weit bis zum Sunrise Motel?«
»Was wollen Sie denn da? Doch nicht etwa übernachten?«
»Nein, arbeiten. Die suchen jemanden für den Empfang.«
»Das kann ich mir denken. Da hält es doch keiner lange aus. Ich kann Sie nur warnen. Dort ist es nicht geheuer. Es soll nur so wimmeln von Geistern. Da sind Menschen spurlos verschwunden, und Morde hat es auch schon gegeben.«
»Danke für die Warnung, aber ich bin nicht ängstlich, und an Übersinnliches glaube ich schon gleich gar nicht.«
»Sie müssen ja wissen, was Sie tun. Mich würden dort keine zehn Pferde hinkriegen, weil mir mein Leben lieb ist.«
»Okay, Maddy. Falls man mich einstellt, halte ich Sie auf dem Laufenden.«
»Sofern Sie noch dazu in der Lage sind. Sorry. Eigentlich geht es mich ja nichts an. Jeder ist seines Glückes Schmied. So heißt es doch?«
Coralie lachte, genoss ihren Donut und den Kaffee und machte sich dann auf den Weg. Es sollte kaum eine Viertelstunde bis zum Motel sein.
Das Sunrise Motel war ein doppelstöckiger Bau, der in Weiß und Hellblau gestrichen war. Die Türen in hellem Türkis passten gut dazu. Trotzdem wirkte das Gebäude nicht heiter. Vielmehr ging eine gewisse Schwermut von ihm aus. Doch das konnte auch Einbildung sein, dachte Coralie. Sie parkte ihren weinroten Studebaker Commander von 1958, der ihr ganzer Stolz war, vor dem Haus und stieg aus. Zu ihrer Überraschung wurde sie schon vor der Lobby erwartet. Eine ältere Lady, die im Rollstuhl saß und ihr dünnes Haar unter einem Turban verbarg, und ein jüngerer, gutaussehender Mann mit ein wenig verhangen wirkenden Augen, der ihn schob.
»Hello, Sie müssen Ms Williams sein. Ich bin Florentina Ramirez, und das ist mein Sohn, Laron. Finden Sie nicht, dass Sie etwas zu hübsch sind für den Job?«
»Danke für das Kompliment, aber muss man am Empfang hässlich sein?«
»Das nicht gerade, doch man sollte den Männerfantasien keinen Vorschub leisten. Unsere Gäste sind mitunter raue Kerle, für die eine Frau Freiwild ist.«
»Ich denke, ich werde mit ihnen fertig. Und was meinen Appetit auf Männer betrifft, bin ich gerade auf Diät, um nicht zu sagen: abstinent.«
»Da hat wohl jemand schlechte Erfahrungen gemacht?«, fragte Ramirez junior und verströmte dabei eine Wolke seines aufdringlichen Aftershaves.
»Laron, das geht uns wirklich nichts an«, fuhr ihm seine Mutter über den Mund. »Wir haben uns weitgehend aus dem Geschäft zurückgezogen, damit mein Sohn ganz für mich da sein kann. Der Geschäftsführer, Mr. Brewster, den Sie gleich kennenlernen werden, vertritt uns. Sie können ihm sagen, dass wir mit Ihnen einverstanden sind. Oder was meinst du, Laron?«
»Doch, ich finde, sie passt ganz gut.«
»Danke, ich freue mich.«
»Fine, dann lassen Sie ihn nicht länger warten.«
Syrell Brewster war ein dunkelhaariger Mann in den besten Jahren, dessen auffälligstes Merkmal seine Brille mit dicken Gläsern war. Dahinter konnte man wache, hellblaue Augen erkennen, die durchdringend blickten. Er trug einen Businessanzug, der ihm sehr gut stand und ihm etwas Würdevolles verlieh.
»So, Sie möchten bei uns arbeiten?«, sagte er mit angenehmer Stimme, aber mit etwas distanzierter Klangfärbung.
»Ganz recht. Und ich soll Ihnen von Mrs. Ramirez ausrichten, dass sie einverstanden ist. Ebenso wie ihr Sohn übrigens.«
»Und wann wollen Sie das erfahren haben?«
»Gerade eben vor der Tür.«
Syrell sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht an, wies aber mit der Hand in Richtung Bar.
»Dann passen Sie ganz gut hierher.«
»Das meinte Ramirez junior auch schon.«
»Dort arbeitet Ihr Kollege, Rhett Collister«, sagte Syrell, ohne auf ihre Äußerung einzugehen. »Doch seine Schicht beginnt erst am frühen Nachmittag. Wen Sie gleich kennenlernen können, sind die Zimmermädchen, Grace und Judy. Kommt mal bitte, ihr beiden!«
Aus einem Nebenraum kamen zwei junge Frauen sehr unterschiedlichen Typs. Die eine brünett mit halblangen Haaren, schlanker Figur und unergründlicher Miene. Mr. Brewster stellte sie als Grace Mason vor, die andere rothaarig, mit weiblichen Rundungen und kokettem Lächeln, deren Name Judy Black war.
»Das ist Ihre neue Kollegin, Coralie Williams. Sie wird ab heute am Empfang tätig sein und sich mit Mr. Smith abwechseln, damit ich mich wieder voll und ganz der Büroarbeit widmen kann.«
Grace nickte zur Begrüßung, und Judy deutete sogar so etwas wie einen Knicks an.
»Auf gute Zusammenarbeit«, sagte Coralie, worauf beide wiederum nickten.
»So, damit ist die Vorstellungsrunde beendet. Grace, Sie vertreten mich bitte am Empfang, derweil ich Ms Williams ihre Unterkunft zeige, und Judy, Sie können sich wieder um die Zimmer kümmern«, sagte Syrell. »Kommen Sie, ich führe Sie kurz herum.«
Brewsters Rede ließ keinen Widerspruch zu. Man musste ihm einfach folgen, was auch Grace und Judy beherzigten. Irgendetwas hatte dieser Mann, dachte Coralie, geißelte sich aber im nächsten Augenblick für ihre Gedanken. Vor kaum einer Viertelstunde hatte sie schließlich noch behauptet, an Männern nicht interessiert zu sein.
»Einen Blick in die einzelnen Apartments können Sie ohne mich werfen. Ich zeige Ihnen jetzt den Bereich, der Ihnen zur Verfügung steht. Sofern Sie darauf zurückgreifen und nicht außerhalb wohnen wollen.«
»Ach, ich finde es ganz praktisch, auf dem Gelände zu wohnen. Falls es sich nicht gerade um eine Bruchbude handelt.«
»Das trauen Sie mir hoffentlich nicht zu, Ihnen etwas derartiges zuzumuten?«
»Weiß man’s? Die Einschätzungen gehen da mitunter sehr auseinander.«
»Ich kann Sie beruhigen. Es ist ein sehr hübsches Apartment, in dem Sie ungestört sind.«
Sie liefen auf einen flachen Bau zu, der sich an das Motel und ein etwas größeres Gebäude schmiegte.
»Wer wohnt dort?«, fragte Coralie interessiert.
»Dort haben Mrs. Ramirez und ihr Sohn gewohnt, bevor … bevor sie sich aus dem Geschäft zurückgezogen haben.«
Coralie wagte nicht nachzufragen, warum sie dort nicht wohnen geblieben waren. Aber vielleicht brauchten sie den Abstand.
Das Apartment, das man ihr zuwies, war ziemlich groß, zweckmäßig eingerichtet, aber nicht ungemütlich. Es verfügte über einen Essplatz am Fenster, ein Bad und sogar eine Pantry.
»Na, zufrieden?«, fragte Brewster.
»Durchaus. Ich hätte es schlechter treffen können.«
»Ein Lob auszusprechen, ist nicht so Ihr Ding, wie?«
»Doch, ich bin nur nicht der Typ, der gleich in Begeisterungsschreie ausbricht.«
»Verstehe. Somit sind wir seelenverwandt. Ich bin in dieser Hinsicht auch eher zurückhaltend. Jetzt können Sie in Ruhe auspacken, und wenn Sie mögen, könnten Sie um 16:00 Uhr Ihre erste Schicht beginnen, die dann bis 23:00 Uhr dauert. Danach ist der Empfang nicht mehr besetzt. Morgen lösen Sie dann Mr. Smith ab. Mal sehen, ob er da ist.«
Brewster klopfte zwei Türen weiter an, und sofort erschien ein etwas jüngerer Dunkelblonder mit durchtrainierter Figur.
»Ah, Tyson, schön, dass Sie da sind. Ich möchte Ihnen Ihre neue Kollegin, Ms Williams vorstellen. Sie übernimmt heute gleich die Spätschicht. Das bleibt dann für den Rest der Woche so, und nächste Woche tauscht ihr dann.«
»Welcome, welch Glanz in unserer Hütte.«
»Halten Sie sich bitte zurück, Tyson. Ms Williams mag wie ein Vamp aussehen, aber sie steht weder dem Personal noch den Gästen erotisch zur Verfügung.«
»Besser hätte ich es nicht ausdrücken können«, sagte Coralie.
»Was habt ihr denn? Ich wollte nur freundlich sein.«
»Hi, ich bin Coralie.«
»Angenehm. Meinen Vornamen hat man Ihnen ja schon verraten.«
»Dann bis morgen Nachmittag.«
»Yep. Ich freue mich.«
Tyson schloss die Tür, und Syrell sah Coralie an. »Ich schlage vor, Sie kommen nachher eine halbe Stunde früher, damit ich Sie am Empfang einweisen kann. Haben Sie schon mal in einem Motel gearbeitet?«
»Nein, bisher nicht. Aber ich bin lernfähig und habe eine schnelle Auffassungsgabe.«
»Okay, dann bis später!«
Syrell Brewster lief über den Hof zurück zur Lobby. Coralie sah ihm nach. Ja, das wäre ein Mann nach meinem Geschmack, dachte sie. Nur leider kommt er nicht zur rechten Zeit.
Nachdem sie ausgepackt und ihre Kleidung aufgehängt hatte, sah sie sich intensiv um, wo sie etwas deponieren konnte, das von anderen nicht gleich entdeckt werden würde. Aber erst, als sie den Teppich zurückschlug, fand sie, was sie suchte. Ein knarrendes Dielenbrett deutete auf einen Hohlraum hin. Coralie legte das in eine Plastiktüte gewickelte, dicke Geldbündel hinein, setzte das Brett wieder ordentlich ein und zog den Teppich glatt. Scheinbar hatte schon jemand vor ihr ein Versteck gebraucht, dachte sie. Nachdem sie anschließend einige Einkäufe in einem etwas entfernter gelegenen Supermarkt getätigt hatte, musste Coralie sich beeilen, um pünktlich ihren Dienst anzutreten. Sie wollte schon eine Stunde früher da sein, um sich in Ruhe einweisen zu lassen. Doch überraschender Weise stellten das Kreditkarten-Lesegerät, die Telefonanlage und der PC, auf dem die Buchungen erfasst wurden, keine große Herausforderung dar. Sie trug ein Kleid von zeitloser Eleganz und hatte ihre langen, goldblonden Haare kunstvoll aufgesteckt. Ein bewundernder Blick von Syrell Brewster war der Dank dafür.
Gegen halb fünf traf der Barmann Rhett Collister ein. Er war das ganze Gegenteil von Syrell. Auf Coralie wirkte er ziemlich gewöhnlich, und sein anzügliches Grinsen fand sie mehr als unangebracht. Sie fand ihn auf Anhieb äußerst unsympathisch und war froh, nicht allzu viel mit ihm in Berührung zu kommen.
»Hello, schöne Frau. Na, wenn das keine Augenweide hinter dem Tresen ist«, sagte er mit quäkender Stimme und reichte ihr seine feuchte Hand. Seine roten Haare trug er mit viel Gel zurückgestriegelt und sah damit aus wie ein Gigolo aus einem drittklassigen Film. »Ich bin Rhett, und wie werden Sie genannt?«
»Coralie, aber sie dürfen gern Ms Williams zu mir sagen.«
»Warum denn so förmlich? Wir sitzen doch alle im selben Boot. Ich werde Sie Cora nennen, wenn es Ihnen recht ist.«
Coralie zuckte mit den Schultern. »Öfter mal was Neues. So hat mich noch niemand genannt. Aber ich will kein Spielverderber sein.« Was geht es dich an, dass meine Eltern und auch Yoda mich so gerufen haben, dachte sie.
»Okay, dann werde ich mich mal um meine Gläser kümmern. Wenn Ihnen einer komisch kommt, brauchen Sie nur zu rufen.«
Das werde ich bestimmt nicht tun, du Westentaschencasanova, dachte Coralie, sagte aber: »Gut zu wissen. Ich hoffe aber, die Gäste wissen sich zu benehmen. Heute scheint es allerdings ohnehin sehr ruhig zu sein.«
»Das kann sich ganz plötzlich ändern. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Bus ankommt und der Trubel losgeht. Auch habe ich einige Stammgäste, die abends auf einen Drink vorbeikommen.«
»Wie schön für Sie. Dann wird es nie langweilig.«
»Ich sehe, wir verstehen uns.«
Täusch dich mal nicht, dachte Coralie. Lächelte aber wie die Sphinx persönlich.
Im Laufe des Abends kamen dann tatsächlich noch vier Gäste, die alle nicht gebucht hatten, doch das Kontingent an leeren Zimmern war noch lange nicht verbraucht. Zuerst traf eine Mutter mit Tochter ein, danach zwei einzelne Herren und zum Schluss ein junges Pärchen, mit dem es zunächst einige Probleme gab, denn das Mädchen wollte nicht bleiben.
»Nein, hier gefällt’s mir nicht, Burt. Komm lass uns weiterfahren.«
»Jetzt mach kein Theater, Cybil. Das ist schon das dritte Motel, das du ablehnst.«
»Ja, das erste war völlig verkommen, das zweite glühte nur so vor Hitze, aber keines war so unheimlich wie dieses hier. Spürst du nicht auch die seltsame Atmosphäre? Hier kriege ich Albträume, garantiert.«
»Du bist hysterisch, Baby. Die nette Lady muss ja denken, du hast nicht alle Latten am Zaun. Wir schieben nachher ein schönes Nümmerchen, und danach schläfst du in meinem Arm ein, wie immer.«
»Ach, Burt. Ich fange gleich an zu heulen.«
»Nein, das nicht auch noch. Komm, wir nehmen drüben an der Bar noch einen Drink, dann geht es dir gleich besser.«
»Ich weiß nicht.«
»Hören sie nicht auf sie, Lady. Manchmal kann sie eine echte Dramaqueen sein.«
»Ich würde die Bedenken Ihrer Braut nicht auf die leichte Schulter nehmen«, sagte Coralie. »Wir Frauen haben oft eine sensiblere Wahrnehmung. Und unsere Gäste sollen sich vor allem wohlfühlen.«
»Siehst du, da hörst du es.«
»Ja, ich werde schon dafür sorgen, dass du dich wohlfühlst. Und jetzt Ende der Diskussion. Wir haben eine lange Fahrt hinter uns, und ich bin müde. Den Schlüssel, bitte.«
»Wie Sie wollen. Zahlen Sie mit Kreditkarte?«
»Ja, was denn sonst? Wer zahlt schließlich heute noch bar?«
Coralie reichte den Schlüssel herüber. »Zimmer 24. Das ist gleich hier unten neben der Treppe.«
»Danke, ich hatte schon Sorge, Sie geben uns eins in der oberen Etage. Da ist es noch heißer, sagte Cybil kläglich.
»Keine Sorge, die Apartments haben alle einen Decken-Ventilator.«
»Dafür riskiert man unten, dass einem jemand auf dem Kopf herumtrampelt«, gab Cybil nicht auf.
»Auch in dieser Hinsicht kann ich Sie beruhigen, Das Apartment darüber ist zurzeit nicht vermietet.«
»Na also. Und jetzt brauche ich auch einen Drink«, meinte Burt.
Die junge Frau schien sich schnell beruhigt zu haben, denn schon bald erklang ein silberhelles Lachen von der Bar her, vermischt mit der quäkenden Stimme von Rhett.
Coralie war froh, als ihre Schicht vorbei war. Die Männer an der Bar wollten sie noch zu einem Drink einladen, doch sie winkte ab. Sie war zu müde und wollte nur noch ins Bett. Als sie sich im Bad abschminkte, sah sie im Spiegel, wie auf der Wand hinter ihr etwas blitzte. Sie tat so, als würde sie etwas aus dem Zimmer holen müssen, schlich auf Knien zurück und richtete sich dort auf, wo sie zuvor etwas bemerkt hatte. Es war ein Loch in der Wand, gut getarnt durch das Muster der Tapete über den Fliesen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und schaute hindurch. Dabei blickte sie direkt in ein fremdes Auge.
Coralie erschrak heftig und wäre um ein Haar nach hinten über gefallen. Doch dann griff sie beherzt nach der Rolle Toilettenpapier, riss ein paar Blätter ab und stopfte das Loch blitzschnell zu. Sie wartete noch etwa eine Viertelstunde, ob das Papierknäuel von der anderen Seite herausgestoßen wurde. Als das nicht geschah, wusch sie sich, putzte die Zähne – immer mit dem Blick auf das Loch – und fiel schließlich todmüde ins Bett.
Als sie mitten in der Nacht wach wurde, wusste sie nicht gleich, was sie geweckt hatte. Doch sie spürte, nicht mehr allein im Zimmer zu sein. Auch nahm sie den intensiven Duft eines Aftershaves wahr, das ihr sehr bekannt vorkam. Genau diese Marke hatte Ramirez junior benutzt, war sie sich sicher. Vorsichtig blinzelte sie leicht und sah durch einen Spalt zwischen ihren dichten Wimpern hindurch. Neben ihrem Bett stand Laron Ramirez völlig unbeweglich und starrte sie nur an. Das bläuliche Licht, dass durch die Vorhänge fiel, gab ihm ein bizarres Aussehen.
Nachdem sie minutenlang wie erstarrt dagelegen hatte, gab sie sich einen Ruck und ließ sich seitlich aus dem Bett fallen. Anschließend hangelte sie nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipste diese an. Ihr gingen tausend Gedanken durch den Kopf, was sie dem Juniorchef sagen wollte. Zum Beispiel dass es sich nicht gehörte, nachts in ihr Zimmer einzudringen und dass sie so ein Verhalten keinesfalls billigen würde. Doch das Zimmer war leer. Wohin konnte er so schnell verschwunden sein? Ob es eine geheime Tapetentür in der Wand gab? Aber so sehr sie auch suchte, sie konnte nichts finden.
Du hast nur geträumt, altes Mädchen, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch woher kam der Duft, der noch immer im Zimmer schwebte? Coralie konnte lange nicht einschlafen und ließ vorsichtshalber die Lampe eingeschaltet. Nur des Rätsels Lösung fiel ihr nicht ein.
Am nächsten Morgen stand sie wie zerschlagen auf, und ihr erster Blick fiel im Bad auf die Wand. Die Papierfüllung war noch immer vorhanden. Sie machte sich fertig und verließ das Apartment. Ihr Weg führte sie in das Büro von Syrell Brewster.
»Nanu, Ms Williams, so früh schon auf den Beinen?«, fragte er, und seine Augen blitzten schelmisch hinter seinen dicken Brillengläsern. »Sie wissen schon, dass Ihre Schicht erst am Nachmittag beginnt?«
»Ja, aber es brennt mir etwas auf den Nägeln. Sagten Sie nicht, das Haus neben meinem Apartment sei unbewohnt?«
»Ganz recht. Was veranlasst Sie, meine Aussage in Zweifel zu ziehen?«
»Das will ich Ihnen sagen. In meinem Badezimmer befindet sich ein Loch in der Wand, durch das man mich beobachtet hat.«
»Das erinnert mich an den Film von Hitchcock „Psycho“, wo der Sohn der Inhaberin des Motels die weiblichen Gäste heimlich beobachtet.«
»Ich kenne den Film. Er gehört ja zu den Klassikern. Und mit dem Junior liegen Sie gar nicht so verkehrt. Wenn ich mich nicht sehr täusche, hat er mich heute Nacht in meinem Zimmer besucht.«
»Das halte ich für ganz unmöglich. Wie kommen Sie darauf, dass es Laron Ramirez war? Haben Sie ihn erkannt?«
»Nicht nur das, ich habe auch sein etwas aufdringliches Aftershave gerochen.«
»Nun, das werden noch andere Männer benutzen. Haben Sie ihn zur Rede gestellt?«
»Das war leider nicht möglich. Er war von einer Sekunde zur anderen verschwunden.«
»Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber für mich hört sich das nach einem Albtraum an.«
»Die Erklärung habe ich mir auch schon gegeben. Aber was ist mit dem Duft?«
»Eine Sinnestäuschung, wenn Sie mich fragen. Sie haben bemerkt, dass der junge Mann sich auffällig parfümiert und haben das mit in Ihren Traum genommen.«
»So könnte es gewesen sein. Bleibt noch das Loch in der Wand.«
»Davon würde ich mich gern selbst überzeugen.«
»Bitte, kommen Sie!«
Coralie war fast erleichtert, als das ausgestopfte Loch noch immer vorhanden war und Syrell sie nicht für gänzlich hysterisch hielt.
»Tatsächlich«, sagte er, als er das Papier herausgenommen hatte. »Dem Geruch nach führt es wirklich ins Nachbarhaus. Eigentlich ein Unding, da niemand einen Schlüssel besitzt, nicht einmal ich.«
»Irgendjemand offensichtlich schon. Ich habe mir das nicht eingebildet und sogar ein Auge gesehen.«
»Ich werde das sofort reparieren lassen. Wir haben hier einen Handwerker, der für kleinere Ausbesserungsarbeiten zur Verfügung steht. Ich rufe ihn gleich an.« Syrell nahm sein Handy und tippte eine Nummer. »Hello, Mr. Torres, ich habe einen kleinen Auftrag für Sie. Könnten Sie gleich vorbeikommen …? Fine, und bringen Sie etwas Spachtelmasse, einen Dietrich und ein Vorhängeschloss mit … In einer Stunde? Okay.«
»Wollen Sie irgendwo einbrechen? Ich meine, wegen dem Dietrich.«
»Ja, ich möchte mir das verlassene Haus mal von innen ansehen.«
»Wäre es nicht besser, die Eigentümerin zu fragen?«
»Mrs. Ramirez ist oft nicht zu erreichen. Danke, dass Sie so um meinen Ruf besorgt sind. Aber ich kann das schon verantworten. Vandalismus ist hier leider ein weit verbreitetes Phänomen. Könnten Sie in einer Stunde in Ihrem Apartment sein? Oder mir den Schlüssel geben?«
»Beides. Wie viel Schlüssel existieren eigentlich noch zu meinem Apartment?«
»Sie besitzen den einzigen. Deshalb frage ich ja.«
»Gut, ich hatte ohnehin nicht vor, heute Vormittag aus dem Haus zu gehen.«
»Bestens.«