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Die Sünder 1. Die Sünder

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Orestis Petalas, ein untersetzter Mann, Mitte vierzig, mit Halbglatze, aber einem jugendlich wirkenden Gesicht, öffnete wie jeden Morgen seinen kleinen Laden im Altstadtviertel Monastiráki, das eigentlich zum Stadtteil Plaka, dem größten Touristenviertel Athens, gehörte. Im Monastiráki Viertel mit eigener Metrostation, das mitunter auch als „Türkisches Athen“ bezeichnet wurde, gab es einen riesigen Flohmarkt, eher ein Basar mit vielen kleinen Geschäften, der sich nur sonntags zum Flohmarkt ausweitete, wenn auch die privaten Leute zum Teil auf Decken ihre überflüssigen Dinge anboten.

Einer der beständigen Läden gehörte Orestis. Dort bot er mehr Antiquitäten als Trödel an, und das mit großer Leidenschaft. Das Handeln und Feilschen lag ihm sozusagen im Blut, denn durch seinen Vater hatte auch er türkische Wurzeln. Deshalb empfand er sich als türkischer Grieche und bedauerte sehr, dass die nahegelegene, restaurierte Moschee inzwischen als keramisches Museum diente.

Orestis hoffte insgeheim, dass sich an diesem Tag wieder die geheimnisvolle Fremde zeigen würde. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn. Leider verschwand die Schöne immer wieder für längere Zeit, um dann ganz urplötzlich wieder aufzutauchen.

Er hätte nicht sagen können, wie die Farbe ihrer Augen war, denn mal erschienen sie ihm grün, fast gelblich, wie bei einer Katze, ein andermal eher braun. Aber das spielte im Grunde genommen keine Rolle. Ihre Ausstrahlung war derart überwältigend, dass sie alle Frauen in den Schatten stellte, die er jemals gekannt hatte. Verzeih mir, Maria, dachte er in diesen Momenten. Seine vor zwei Jahren verstorbene Frau war ein herzensguter Mensch gewesen, doch weder auffallend schön noch geheimnisvoll. Er hätte gerne wieder eine Gefährtin an seiner Seite gehabt, nur war er nach Marias Tod von tiefer Trauer erfüllt gewesen und hatte keinen Blick für andere Frauen gehabt. Seine melancholische Ausstrahlung hatte diese auch eher abgeschreckt, doch in den letzten Monaten ging es ihm deutlich besser, was seine Lebensgeister, besonders in erotischer Hinsicht, erwachen ließ.

Als die Türglocke erklang und eine Frau den Laden betrat, war seine Enttäuschung grenzenlos, denn für einen Moment hatte er geglaubt, es sei die schöne Fremde. Aber der Tag war ja noch jung. Und wenn sie heute nicht kam, dann vielleicht morgen.

Er musste nicht bis zum nächsten Tag warten, denn am frühen Nachmittag kam die Angebetete. Wieder war er von ihrer Schönheit und ihrer ganz eigentümlichen Ausstrahlung wie geblendet. Die alterslos wirkende Frau mit der Haut wie aus Porzellan und schwarzen Haaren, die an poliertes Ebenholz erinnerten, schritt wie eine Königin durch den Raum. Sich ihrer Wirkung voll bewusst, sah sie ihn dabei nicht an. Diesmal wollte er sich trauen, sie anzusprechen und in ein kurzes Gespräch zu verwickeln, um etwas mehr über sie zu erfahren.

»Wie schön, dass Sie wieder den Weg zu mir gefunden haben«, sagte er zweideutig.

»Nun, das war nicht allzu schwer«, antwortete sie mit einer verführerisch rauchigen Stimme, »Ihr Laden ist ja nicht zu übersehen, weil er sich deutlich von den anderen abhebt.«

»Gnädigste interessieren sich für kostbare, ausgefallene Stücke?«

»Ja, sonst wäre ich doch nicht hier, nicht wahr? Ich muss sagen, Ihr Angebot gefällt mir außerordentlich. Wenn meine Wohnung nicht schon mit antiken Schätzen überladen wäre, würde ich kaum widerstehen können, Ihnen das eine oder andere abzukaufen.«

»Vielleicht könnte ich etwas davon in Zahlung nehmen oder von Ihnen erwerben, damit Platz für Neues entsteht. Dürfte ich Sie einmal aufsuchen?«

»Das wird schwer möglich sein. Ich lebe auf Zypern und besuche nur hin und wieder meine Verwandten hier.«

»Schade, allerdings wäre mir für Sie kein Weg zu weit …«

»Wir werden sehen … Was wird wohl Ihre Frau sagen, wenn Sie mich in meiner Wohnung aufsuchen?«

»Oh, ich lebe allein, seitdem ich vor zwei Jahren Witwer geworden bin. Außerdem ist es in meinem Gewerbe durchaus üblich, Besichtigungen in Privaträumen vorzunehmen.«

Ihre heute wieder grün schimmernden Augen zeigten einen Ausdruck, als habe er ihr nichts Neues erzählt. Und das bezog sich weniger auf sein Gewerbe, als auf seinen privaten Status.

»Das tut mir leid mit Ihrer Frau. Ich lebe auch allein und weiß, wie einsam man mitunter sein kann.«

»Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber keiner würde auf den Gedanken kommen, dass eine so attraktive Frau wie Sie ohne Partner ist.«

»In der heutigen Zeit ist das wahrlich nichts Besonderes. Man wundert sich, dass es überhaupt noch Familien gibt. Ich heiße übrigens Azila.«

Er hätte sich nie gewagt, sie nach ihrem Namen zu fragen, und war umso erfreuter, dass sie ihn von sich aus nannte. Azila war ein Name, der indirekt im Koran vorkam. Ein Grund mehr für ihn, Gefallen an der fleischgewordenen Versuchung zu finden.

»Sehr angenehm, ich bin Orestis«, sagte er mit trockener Kehle.

Azila nickte ihm freundlich zu und wendete sich dann wieder der Glasvitrine zu, in der schöner alter Schmuck ausgestellt wurde. Scheinbar außerordentlich interessiert, ließ sie ihren Blick über die Auslage schweifen, bis sie plötzlich innehielt.

»Die Brosche ist ja wundervoll. Ist das ein echter Stein?«, fragte sie fast beiläufig.

»Aber natürlich. Wo denken Sie hin? Sie gehörte einer adligen Dame, die ich persönlich kannte. Ihr außergewöhnlich sicherer Geschmack ließ sie nur die kostbarsten Stücke erwerben. Ihre Erben hatten nicht viel Sinn für den Schmuck und boten mir das eine oder andere an. Das Juwel würde hervorragend zu Ihnen passen.«

»Davon bin ich überzeugt. Aber bevor ich eine weitere Anschaffung tätige, werde ich noch einmal in mich gehen. Wenn sie mir bestimmt ist, wird sich kein anderer Käufer finden.«

Sie machten noch etwas Smalltalk, wobei sich Azila deutlich zurückhielt, als habe sie schon zu viel von sich preisgegeben. Doch als sie den Laden verließ, trug sie die Brosche in einer kleinen Schatulle bei sich. Orestis hatte sie ihr geschenkt, ohne lange nachzudenken.

Azila hatte sich nicht lange geziert und Floskeln benutzt wie: das könne sie nicht annehmen. Andererseits gehörte sie nicht zu den Frauen, die Forderungen stellten. Das hatte er schnell erkannt. Vielmehr hatte sie eine Art, ihr Gegenüber zum Erfüllen ihrer Wünsche zu bringen, dass dieser glaubte, von selbst auf den Gedanken gekommen zu sein. Bei gründlicher Überlegung hätte ihm dieser Umstand mehr als unheimlich sein müssen, wenn nicht gar suspekt, doch er brannte viel zu sehr für die fremde Schönheit, die in ihm ein Feuer entfachte, das er schon verloren geglaubt hatte. Er hatte vom ersten Moment an das Gefühl, für diese Frau alles zu tun, vielleicht sogar zu morden.

In Kolonaki, dem ehemaligen Botschaftsviertel von Athen, machte sich gerade eine junge Frau, Ende zwanzig, zum Ausgehen zurecht. Ihre edle Garderobe ließ darauf schließen, dass sie zur gehobenen Gesellschaftsschicht von Athen gehörte. Ihr schönes Gesicht war nur wenig geschminkt und ihr seidig schimmerndes Haar akkurat frisiert. Anders als an den meisten Tagen wollte sie nicht eines der zahlreichen Juweliergeschäfte oder eine der Nobelboutiquen, bis hin zu einer Filiale der vielen Labels der internationalen Haute Couture, aufsuchen. Auch nicht den Galerien, Cafés und Bars, in denen man die sogenannten Schönen und Reichen antreffen konnte, galt ihr Interesse. Nein, Eudokia Angelis wollte sich mit ihrem Geliebten, Dimitrios Bouglas treffen. Doch es sollte kein Schäferstündchen geben, sondern vielmehr eine Aussprache beziehungsweise Trennung.

Eudokia kämpfte schon lange mit diesem Entschluss. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich eingestehen konnte, dass die Affäre mit Dimitrios rein sexueller Natur war. Ihr Herz oder ihre Seele wurden davon nicht berührt. Denn so seltsam es klingen mochte, ihre Liebe gehörte einzig und allein ihrem Mann Orfeas, der mit seinen welligen, braunen Haaren und seinen gütigen Augen ein gänzlich anderer Typ als Dimitrios war. Nur hatte der berühmte Opernsänger kaum Zeit für sie, weil er entweder auf Reisen oder vor Ort mit Proben beschäftigt war.

Eudokia würde nie vergessen, wie sie ihn kennengelernt hatte. Die Einladung in die Oper war von ihrer Freundin Anastasia erfolgt. Hinterher hatten sie wie Schulmädchen vor dem berühmten Künstler gestanden. Nicht um ein Autogramm zu erbitten, sondern um ihn aus nächster Nähe zu sehen. Der knapp zehn Jahre ältere Mann hatte sie von Anfang an fasziniert. Und das nicht nur wegen seiner warmen, einschmeichelnden Stimme. Seine Augen hatten ihren Blick gesucht, und ihr waren kleine Schauer über den Rücken gelaufen, als sie erkannte, dass er offensichtlich Interesse an ihr zeigte. Fortan hatten sie öfter telefoniert oder waren zusammen essen gegangen. Nach weniger als zwei Monaten hatte er sie gebeten, seine Frau zu werden. Und Eudokia hatte ihr Glück nicht fassen können, dass ein Mann, der auf der ganzen Welt von Verehrerinnen umringt wurde, ausgerechnet sie erwählte.

Dimitrios war so etwas wie ein Womanizer, groß, muskulös, mit dunklen, kurzgelockten Haaren und stets einem leicht arroganten Gesichtsausdruck. Männer hassten ihn aufgrund seiner Erfolge bei Frauen, doch das weibliche Geschlecht lag ihm zu Füßen, was er reichlich ausnutzte. In Eudokias Leben war er zu einem Zeitpunkt getreten, als diese sich wieder einmal grenzenlos vernachlässigt fühlte, denn sie hatte den Umstand, mit einem berühmten Künstler verheiratet zu sein, weitgehend unterschätzt. Orfeas trug sie zwar auf Händen und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, wenn, ja wenn, er zugegen war. Und das war selten der Fall. Jenes Mal war er auf einer längeren Konzerttour gewesen und hatte sich nur des Öfteren telefonisch gemeldet. Ihn auf seinen Gastspielen zu begleiten hatte Eudokia schnell aufgegeben, weil er dabei kaum mehr Zeit für sie aufbringen konnte, als zu Hause in Athen. Und wenn sie sich schon langweilte, dann lieber in ihrer vertrauten Umgebung, als an einem fremden Ort.

Der junge, feurige Dimitrios überrollte sie förmlich mit seiner Heißblütigkeit. Sie hatte es eine Weile genossen, derart begehrt zu werden, doch ihr schlechtes Gewissen gegenüber Orfeas sollte schneller als gedacht die Oberhand gewinnen. Ihr Mann verdiente es einfach nicht, hintergangen zu werden. Im Gegensatz zu ihr war er nämlich treu. Davon war Eudokia überzeugt, obwohl sich ihm die weiblichen Bewunderer förmlich anboten, weil sich keine dem Schmelz seiner Stimme entziehen konnte. Doch seine Liebe galt ausschließlich seiner Frau, die nicht nur seine Kunst verehrte, sondern auch die Privatperson, die dahinter stand. Das spürte er ganz deutlich. Und an flüchtigen sexuellen Abenteuern war er in seinem leicht fortgeschrittenen Alter nicht interessiert.

»Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass wir uns heute das letzte Mal sehen«, sagte Eudokia zu Dimitrios, als sie sich in einem kleinen, von Touristen kaum frequentierten, Café gegenübersaßen.

»Und du glaubst, ich nehme das einfach so hin? Mich legt man nicht wie ein gebrauchtes Kleidungsstück ab.«

»Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich meinen Mann liebe und ihn niemals verlassen werde.«

»Das verlangt auch niemand von dir. Dem Lebensstandard, den dir der große Opernsänger bietet, könnte ich ohnehin nicht gerecht werden. Darüber mache ich mir keine Illusionen. Aber auf den Spaß, den wir gemeinsam im Bett haben, möchte ich nicht verzichten.«

»Dimi sei doch vernünftig. Wir hatten eine schöne Zeit, doch die ist jetzt vorbei.«

»Sagst du. Was ist der Grund für deinen Sinneswandel? Ist er dir dahinter gekommen und verlangt die Trennung?«

»Nein, zum Glück nicht. Und ich möchte, dass das so bleibt, um ihm den Kummer zu ersparen.«

»Mich interessiert der Kummer des feinen Herrn einen Dreck. Er wird in so manchem Hotelzimmer auch sehen, wo er bleibt.«

»Du irrst. Orfeas ist nicht so triebgesteuert wie du. Er …«

»Und du, hast du vergessen zu sagen. Wenn er dir sexuell das bieten könnte, was du brauchst, hättest du dich bestimmt nicht mit mir eingelassen.«

»Das war ein Fehler, gebe ich zu. Ich habe meine körperlichen Bedürfnisse einfach überschätzt.«

»Das ist ja wohl die billigste Ausrede, die ich jemals gehört habe. Gib doch zu, dass du mich satt hast. Wahrscheinlich wartet schon der nächste Galan um die Ecke.«

Dimitrios’ Stimme war vor Erregung schrill geworden.

»Würdest du bitte aufhören, so zu schreien? Wir ziehen schon alle Blicke auf uns.«

»Das ist mir egal. Jetzt weiß ich auch, warum du partout nicht in mein Apartment kommen wolltest. Weil du dort mit Sicherheit wieder schwach geworden wärest.«

»Mag sein. Aber eben das will ich nicht mehr. Die Gründe habe ich dir genannt. Ich bin deiner nicht überdrüssig, sondern will nicht länger ein doppeltes Spiel spielen. Ich fühle mich schlecht dabei. Und das negative Gefühl überwiegt die Lust.«

»Das werden wir sehen. Lass erst deinen Hormonpegel wieder ansteigen, dann wirst du vor meiner Tür stehen. Davon bin ich überzeugt.«

»Warum könnt ihr Männer eine Niederlage nicht mit Anstand wegstecken? Euer Ego ist so groß, dass ihr reihenweise Frauen abservieren könnt, aber wehe, es ist umgekehrt der Fall.«

»Blah, blah. Ich weiß, was du für mich empfindest, auch wenn du es dir nicht eingestehen willst. Sonst hättest du niemals das Risiko der Entdeckung in Kauf genommen.«

»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ja, du bist ein sehr guter Liebhaber, und ich möchte die Stunden mit dir nicht missen. Aber ich bin es leid, die untreue Ehefrau zu sein, und möchte nicht länger die Liebe meines Mannes aufs Spiel setzen. Für mich ist das Gespräch jetzt beendet. Es ist alles gesagt worden.«

Eudokia stand auf und steuerte dem Ausgang zu.

»Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!«, rief ihr Dimitrios, weiß vor Zorn, hinterher, »mir entkommst du nicht so leicht. Damit du Bescheid weißt.«

Im Nordwesten Athens lag das Stadtviertel Akadimia Platonos, das nach der Platonischen Akademie benannt wurde. In der heutigen Zeit prägten Hochhäuser mit acht bis zehn Stockwerken das Viertel. Es hatte keinen besonders guten Ruf, da es als heruntergekommen galt. Das hohe Aufkommen von Immigranten verunsichere die Einwohner, hieß es unter anderem.

Traianos Nimpitis lebte von Sozialhilfe und schlug sich mehr schlecht als recht durch. Hin und wieder besserte er mit kleinen Diebstählen seine Haushaltskasse auf. Die Beute nahm ihm ein Hehler zum Bruchteil des tatsächlichen Wertes ab. Trotzdem blieb noch genug übrig, um wieder eine Weile damit auszukommen.

An diesem Morgen war der unscheinbare, etwas ungepflegte Dreiunddreißigjährige, der weder einen Beruf noch eine Freundin hatte, schon früh auf den Beinen, für seine Verhältnisse jedenfalls, denn nicht selten schlief er bis mittags. Sein Ziel war die Agia Aikaterini oder auch Ayia Ekaterina Kirche am östlichen Rand des Plaka Viertels. Die kleine Kirche aus dem 11. Jahrhundert stand inmitten moderner Wohnhäuser. Ganz in der Nähe befanden sich der Hadriansbogen und das Denkmal des Lysikratus. Doch das fand ebenso wenig Traianos’ Interesse wie die kleine, aber feine Kuppel, die Fresken und Altäre der Kirche. Bei seinen Erkundungszügen waren ihm zwei vergoldete, dreiarmige Kerzenleuchter aufgefallen, die bestimmt ein hübsches Sümmchen bringen würden.

Der Bezirk Akadimia Platonos verfügte zwar auch über einige Kirchen, doch Traianos war nicht so dumm, in seinem Wohnviertel auf Beutezug zu gehen, dort, wo man ihn womöglich erkannte und bis in seine Wohnung verfolgen könnte.

Traianos kam gegen halb neun vor der Kirche an. Eine Stunde nach der offiziellen Öffnungszeit. Der Wettergott war ihm gewogen, denn die wenigen Fußgänger, die an diesem regnerischen Tag unterwegs waren, beachteten ihn nicht weiter, was ihm nur recht sein konnte. Zusätzlichen Schutz bot ihm sein altersschwacher, aber durchaus noch brauchbarer Regenschirm.

Am Eingang stellte er den nassen Schirm artig in den dafür vorgesehenen Ständer und nahm nur seine große Reisetasche mit, in der etwas Werkzeug leise klapperte. Wie nicht anders erwartet, befanden sich keine Besucher im Innenraum. Zielstrebig ging er auf den rechten Kerzenleuchter zu und bemerkte mit fachkundigem Blick, dass das große Prachtstück, das ihm bis zur Brust reichte, aus drei Teilen bestand, die man mit wenig Kraftaufwand auseinanderschrauben konnte. Andernfalls hätte er auch ein Problem gehabt, denn man konnte nicht einfach so unbemerkt am helllichten Tag mit einem vergoldeten Leuchter aus der Kirche spazieren.

Sich ängstlich mehrmals umsehend, begann er sogleich mit der Arbeit. Erstaunlicher Weise ließ sich niemand sehen, der ihn von dem Raub abhalten konnte. So ging er nach kaum einer Viertelstunde mit einer prall gefüllten Tasche zum Ausgang und sah zu, dass er fortkam. Erst mehrere Querstraßen weiter hielt er erschöpft inne und rief den Hehler zwecks Übergabe an.

In einer ärmlich ausgestatteten Wohnung eines der heruntergekommenen Hochhäuser von Akadimia Platonos spielte sich derweil ein familiäres Drama ab. Danaë Samara war sehr dünn und hatte herbe Gesichtszüge. Sie wirkte wesentlich älter als Mitte zwanzig, kleidete sich nachlässig und hatte fettige, aschblonde Haare. Ihrer Tochter servierte sie das Essen im Bett. Eleni, ein hohlwangiges, leichenblasses Mädchen von knapp sechs Jahren mit rabenschwarzen, glanzlosen Haaren, weigerte sich jedoch strikt, die Suppe zu essen, die ihm seine Mutter gekocht hatte.

Die Kleine lag schon mehrere Tage und wurde von Brechdurchfällen gequält. Der Arzt vermutete eine Magenverstimmung und riet zu leichter Kost, doch Eleni wurde immer elender und schwächer.

»Komm, nimm wenigstens zwei, drei Löffel, damit du wieder zu Kräften kommst«, sagte Danaë, »mein kleiner Schatz muss schnell wieder gesund werden, damit er wieder draußen mit den anderen spielen kann.«

»Die Suppe schmeckt so komisch …«

»Das haben Dinge, die gesund sind, nun mal so an sich. Gestern ging es dir doch schon etwas besser. Das lag bestimmt daran, dass du brav gegessen hast.«

»Nein, nachdem du mich gefüttert hast, musste ich wieder brechen, und die Bauchschmerzen wurden auch schlimmer.«

»Das kam dir nur so vor, weil dein Magen etwas gereizt ist. Wenn du nicht isst, musst du wieder ins Krankenhaus. Willst du das?«

Eleni schüttelte energisch den Kopf.

»Na, siehst du, mein Liebling. Mamá wischt dir jetzt den Schweiß von der Stirn und dann bist du ein braves Mädchen. Was soll ich denn ohne dich machen? Du willst mich doch nicht ganz allein lassen? Wir haben nun mal keinen bampás (Papa), weil der nichts von uns wissen wollte und bald nach deiner Geburt das Weite gesucht hat. Aber wir beide schaffen das schon. Nur wenn du jetzt auch noch gehst … «

»Ich will ja nicht gehen. Wo soll ich denn hin?«

»Gehen heißt auch, dass jemand stirbt. Aber das darfst du nicht, hörst du? Sonst will ich auch nicht mehr leben.«

»Ich will ja nicht sterben, mamá, aber mir ist immer so schlecht, und ich habe solche Schmerzen.«

»Ich weiß, mein Schätzchen. Bald wird es dir wieder besser gehen. Komm, probier mal, bevor die Suppe kalt wird.«

Eleni nahm artig zwei Löffel, verzog aber angewidert das Gesicht.

Nach kaum einer Stunde brachte sie alles wieder heraus. Danaë Samara rief erneut den Doktor, doch der ließ vorerst auf sich warten.

Sotirios Fafalis war Eudokia Angelis noch nie begegnet, obwohl sie im selben Stadtviertel wohnten. Das mochte daran liegen, dass Sotorios sich entweder in seinem noblen Maklerbüro in Kolonaki aufhielt oder ein neues Objekt in Augenschein nahm, das er für lukrativ genug hielt, es nach wenigen Schönheitsreparaturen überteuert wieder zu veräußern.

Fafalis, der nicht unattraktiv war mit seiner schlanken Figur, den kurzen blonden Haaren und eisgrauen Augen, ging bei seinen Geschäften außerordentlich skrupellos vor. In die Jahre gekommene Häuser oder Eigentumswohnungen ließ er mittels Homestaging aufbereiten, indem er die nötigsten Reparaturen veranlasste und durch Leihmöbel einen gefälligeren Eindruck der Immobilie vermittelte. Er hatte keine Hemmungen, andere übers Ohr zu hauen, und schreckte auch nicht davor zurück, seine Kunden ins Unglück zu stürzen. Als Atheist glaubte er nicht an eine höhere Macht und hatte für gläubige Menschen nur ein verächtliches Lächeln übrig.

Eudokia war tagelang nicht aus dem Haus gegangen und hatte immer gleich aufgelegt, wenn Dimitrios anrief. So langsam müsste er begriffen haben, dass es ihr ernst war, dachte sie. Bei einem Bummel durch die Straßen von Kolonaki kam sie in der Patriarchou Ioakeim an Sotirios Fafalis’ Geschäftsräumen vorbei, als sie in der Ferne Dimitrios zu erkennen glaubte. Scheinbar interessiert betrachtete sie die Exposés teurer Immobilien, um aus dem Augenwinkel zu beobachten, ob ihr Exgeliebter sich ihr näherte. Kurz entschlossen betrat sie das Maklerbüro und wurde sogleich von einem Mitarbeiter in Empfang genommen.

»Gnädige Frau suchen eine luxuriöse Immobilie, die Ihrer Erscheinung gerecht wird?«, fragte der schnöselige Typ mit falschem Lächeln.

»Ja, ich wollte mir mal einen Überblick verschaffen, was so im Angebot ist.«

»Bitte nehmen Sie doch Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein Glas Champagner?«

»Danke, im Moment möchte ich nichts.«

Eudokia setzte sich so hin, dass sie durch das Schaufenster zwar die Straße beobachten konnte, aber selbst nicht gleich ins Auge fiel.

»Woran haben Sie gedacht? Eine große Wohnung oder eine Villa? Und in welchem Stadtteil sollte beides liegen?«

»Ach, mein Mann und ich fühlen uns hier in Kolonaki eigentlich ganz wohl. Die Wohnung in einem repräsentativen Altbau ist auch ganz schön, aber ein oder zwei Zimmer mehr dürfte sie schon haben. Also in der Größenordnung sechs bis acht Zimmer.«

»Wenn Sie preislich nicht gebunden sind, wird sich da bestimmt etwas finden lassen.«

Der Mitarbeiter starrte auf den Bildschirm, um den Bestand zu durchsuchen, als im Hintergrund Stimmen laut wurden. Ein älterer Herr ereiferte sich derart, dass jegliche Beschwichtigungsversuche von Sotirios Fafalis vergeblich waren.

»Sie haben uns um unsere gesamten Ersparnisse gebracht«, schrie er, »in unserem Alter werden wir keine Gelegenheit mehr haben, uns finanziell zu erholen.«

»Das tut mir außerordentlich leid, aber es war nicht abzusehen, dass das Projekt letztendlich nicht realisiert werden konnte. Unvorhersehbare Ereignisse …«

»Ach, faseln Sie doch nicht. Ich möchte nicht wissen, wie viele andere Leute Sie noch unglücklich gemacht haben. Aber damit kommen Sie nicht durch. Ich werde Sie vor Gericht bringen. Von wegen Anteilscheine eines Immobilienfonds … Wahrscheinlich hat es das Projekt nie gegeben. Die Fotos und Pläne – alles Makulatur … Für uns eine Katastrophe. Es sollte unser Altersruhesitz sein.«

»Ein gewisses Risiko besteht immer. Darüber habe ich Sie nicht im Unklaren gelassen.«

»Ach was, zugeredet haben Sie mir. In den buntesten Farben alles ausgeschmückt. Dafür werden Sie in der Hölle schmoren. Wenn es keine irdische Gerechtigkeit gibt, dann bestimmt eine übergeordnete.«

Der alte Herr sprang auf und warf dabei seinen Stuhl um. Dann lief er zum Ausgang, hielt aber kurz bei Eudokia an.

»Lassen Sie sich von dem Betrüger nicht einwickeln. Sie werden es bitter bereuen«, sagte er und verließ das Ladengeschäft.

Der Mitarbeiter tat, als wäre nichts geschehen und legte ihr einige Ausdrucke vor. Eudokia warf keinen Blick darauf.

»Ich denke, ich habe genug gehört«, sagte sie energisch und ging hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten.

Draußen blickte sie sich ängstlich um, doch von Dimitrios gab es keine Spur. Ein fataler Irrtum, wie sie wenig später bemerkte. Im Zickzackkurs lief sie zur Metrostation Evangelismos und stieg in den Zug der Linie 3, der gerade ankam. Von der Tür aus sah sie, dass Dimitrios in letzter Sekunde den Nebenwaggon bestieg. An der nächsten Station Syntagma reihte sie sich in den Strom der Fahrgäste ein und stieg in die Linie 2 um. Doch schon nach einer Station bemerkte sie Dimitrios wiederum im Nebenabteil. Sie machte noch einen letzten Versuch, ihrem Verfolger zu entkommen, indem sie an der Station Omonia in die Linie 1 umstieg. Als sie zu ihrem Schrecken feststellte, dass Dimitrios nicht aufgab, verließ sie an der Station Victoria die Metro, um im Schutz der ebenfalls Aussteigenden wenig später die Straße zu erreichen.

In ihrer Panik hatte sie nicht einmal bemerkt, wo sie ausgestiegen war. In einer Gegend, die sie normalerweise mied. Der Viktoriaplatz gehörte zum Viertel Agios Panteleimon, das von heruntergekommenen Häusern mit überfüllten Wohnungen mit Einwanderern und Asylbewerbern aus Afghanistan, Asien allgemein oder Afrika geprägt wurde. Die Migranten hielten sich bevorzugt im Bereich des U-Bahnhofs Victoria auf oder lagerten auf den Stufen der gleichnamigen Kirche beziehungsweise auf dem davor gelegenen Spielplatz.

So kam es immer wieder zu Ausschreitungen zwischen Einwanderern und Einheimischen wie schon im November 2008 und im Frühjahr 2009. Es gab auch Demonstrationen, bei denen Rechtsradikale Migranten angriffen, die wiederum von Autonomen in Schutz genommen wurden. Die Polizei beendete die gewalttätigen Aktionen stets mit Tränengas, doch es gab auch immer wieder Verletzte.

Schnellen Schrittes lief Eudokia in eine Nebenstraße und landete kurz darauf in der Straße Acharnon. Angesichts der Villa Amalia, die jahrelang immer wieder von Anarchisten besetzt worden war und inzwischen restauriert als Schule diente, musste Eudokia eingestehen, dass es scheinbar auch positive Veränderungen in dem Viertel gab.

Sie wusste nicht, ob sie immer noch verfolgt wurde, wagte aber nicht, sich umzusehen. Zwischenzeitlich hatte sie in Betracht gezogen, anzuhalten und Dimitrios zur Rede zu stellen. Doch sein Starrsinn und seine Drohungen ließen sie diesen Plan verwerfen.

Die wenig Vertrauen erweckenden Häuser, die allesamt in einem erbärmlichen Zustand waren, ließen sie erkennen, sich verlaufen zu haben, als plötzlich ein Straßenhund wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Das verwahrloste Tier mit Schaum vor der Schnauze fühlte sich offensichtlich bedroht oder fürchtete, um seine Beute – ein paar schmutzige Knochen – gebracht zu werden und ging unmittelbar zum Angriff über. Eudokia verspürte einen brennenden Schmerz in der Wade und sah Blut an ihrem Bein entlang rinnen. Da half nur die Flucht. Zum Glück waren dem Hund die Knochen lieber, sodass er nicht die Verfolgung aufnahm.

In einem Hauseingang verband Eudokia die Wunde mit einem Taschentuch, um anschließend den Weg zurück zur Metrostation zu erfragen. Als ihr unerwartet ein Taxi begegnete, überlegte sie nicht lange. Erschöpft ließ sie sich auf das Sitzpolster fallen und nannte ihre Adresse. Von Dimitrios gab es keine Spur.

Plaka war nicht nur ein Touristenmagnet mit seinen schön restaurierten Altbauten, sondern beherbergte auch zahlreiche Etablissements des Vergnügungsgewerbes. Dazu gehörten, wie nicht anders zu erwarten, Bordelle. Eines davon besaß Theofanis Xenakis, ein grobschlächtiger Kerl, dessen Maßanzüge im Gegensatz zu seinen schlechten Manieren standen. Sein breites Gesicht glänzte stets etwas fettig, und seine Vokuhilafrisur wirkte für sein Alter fast lächerlich. Dass er erst Mitte vierzig war, sah man ihm nämlich nicht an, so verlebt, wie er wirkte. Skrupellos machte er sich die Flüchtlingsproblematik im heutigen Griechenland zunutze, indem er zum Beispiel syrische Frauen aufgriff und zur Prostitution zwang.

Denn rund um den Omonia-Platz wimmelte es nur so von syrischen Flüchtlingen, die es übers Mittelmeer geschafft hatten. Der einstmals attraktive Platz im Zentrum Athens mit Springbrunnen wurde inzwischen von Betonflächen geprägt. Die angrenzenden Häuser standen meist leer. Es hatte etwas Tragikkomisches, wenn Hostessen einer Mobilfunkfirma versuchten, den Flüchtlingen, die in Plastiktüten ihre gesamte Habe mit sich führten, Handy Prepaid Karten anzubieten. Auch einheimische Rentner verdienten sich ein Zubrot, indem sie Waren wie Trikots oder Schuhe feilboten. Selbst Taschen mit bekannten Labels waren darunter. Doch konnte es sich bei den Preisen nur um Fälschungen handeln. Die Drogenabhängigen, die keine Hemmungen gehabt hatten, sich mitten auf dem Platz einen Schuss zu setzen, waren inzwischen einige Straßen weiter gezogen. Insgesamt stand der Platz für all das, was im heutigen Griechenland verkehrt lief.

Xenakis war sehr zufrieden mit der hübschen, jungen Frau, die ihm seine Schergen in eines seiner Apartments geliefert hatten. Mit Kennerblick erkannte er, dass diese ihm viel Geld in die Kasse bringen würde.

»Wie heißt du?«, fragte er die vor Angst zitternde Frau.

»Ich heißen Charda«, antwortete sie in gebrochenem Griechisch.

»Na, das passt ja. Charda bedeutet „Ausreißerin“, soviel ich weiß. Warum bist du nicht in deiner Heimat geblieben?«

»Das nicht gehen. Man hat verfolgt Familie.«

»Bei mir bist du sicher, haha. Und wenn du schön fleißig bist, wird es dir recht gut gehen.«

»Ich können putzen.«

»Das wäre doch die reinste Verschwendung bei deinem Aussehen. Die Männer werden verrückt nach dir sein.«

»Ich nicht verstehen.«

»Oh doch, ich glaube schon, dass du verstehst. Einige deiner Landsmänninnen bieten sich schließlich rund um den Omonia-Platz an. Für ein Trinkgeld. Das bleibt dir erspart. Bei mir verdient man gutes Geld und lebt im Luxus. So, genug gequasselt. Jetzt werden wir mal sehen, was du so zu bieten hast.«

Theofanis ging auf sie zu und riss ihr das Kleid aus billigem Stoff auf. Charda versuchte so gut es ging, ihre Blöße zu bedecken.

»Jetzt stell dich nicht so an. Normalerweise reiten meine Jungs die neuen Pferdchen zu. Und die fackeln nicht lange. Du gefällst mir, deshalb werde ich sanfter mit dir umgehen. Nun komm schon! Je weniger du dich zierst, desto schneller ist es vorbei.«

Er warf sie auf das breite Polsterbett und fiel über sie her. Charda wehrte sich aus Leibeskräften, hatte aber keine Chance gegen den bulligen Mann.

»Nicht, bitte! Ich nicht kann hierbleiben. Meine Brüder und Schwestern ganz allein.«

»Wenn du nicht mit dem Theater aufhörst, finde ich für die auch noch ein Betätigungsfeld. In Alimos gibt es einen Straßenstrich für Minderjährige.«

Charda verstand nicht genau, worum es ging, aber sie fühlte, dass es etwas ganz Furchtbares sein musste, was er ihren Geschwistern androhte. Deshalb fügte sie sich ihrem Schicksal und weinte nur still vor sich hin.

Das Blaue Apartmenthaus im Athener Stadtteil Exarchia hatte eine wechselvolle Geschichte. In den 30er Jahren im Bauhausstil erbaut, fiel es besonders durch die damals für Häuser ungewöhnliche blaue Farbe auf. Im Laufe der Zeit galt es als Meisterwerk der klassischen Moderne. Der hohe Komfort wie Aufzug, Concierge, hohe Decken und Balkone – selbst ein Schwimmbad war geplant, wurde jedoch nie verwirklicht – zog Schauspieler und Schriftsteller als Mieter an. Unter den neununddreißig Wohneinheiten gab es sechzehn verschiedene Typen von Apartments. Doch der allmähliche Verfall des Stadtteils machte auch vor dem Gebäude nicht halt. Eine Weißung der Fassade, die einmalig blieb und bald in ein bräunliches Grau überging, nahm dem Haus schließlich seinen typischen Charakter.

Während der Ära Metaxas, dessen Tochter auch dort wohnte, war es Sitz der Spionageabwehr gewesen und hatte drei Anschlägen getrotzt. Exarchia als Treffpunkt der Alternativszene hatte bald darauf seine Beliebtheit eingebüßt, was womöglich zur Schließung der Konditorei Café Floral im Erdgeschoss führte. Die Wiedereröffnung im Juni 2009 offenbarte eine veränderte Nutzung als Bar und Buchhandlung.

In neuerer Zeit präsentierte sich Exarchia als Studentenviertel mit Buch- und Schreibwarenhandlungen, Copy-Shops, zahlreichen Cafés, Tavernen, Kneipen und Imbissständen. Auch mit Graffiti bemalte Hauswände prägten das Straßenbild.

Ioannis Tsakiris, Sohn aus reichem Hause, der gerne in den Tag hineinlebte, nahm es mit seinem Architekturstudium nicht so genau. Die nächtlichen Streifzüge durch die Alternativszene waren viel zu verlockend und vor allem kräftezehrend. Schon bald war er mit Drogen in Berührung gekommen, die jetzt einen Großteil seiner finanziellen Unterstützung von zu Hause verbrauchten. Sein ausschweifendes Leben sah man ihm auf den ersten Blick an. Er war überschlank, ständig nervös und seine Haut wirkte unrein und farblos.

Sein Vater Aristoteles, der in der alten Familienvilla lebte, war zwar ein Ausbund an Geduld, doch er hatte schon mehrmals angedroht, dem Sprössling den Geldhahn abzudrehen. Statt in sich zu gehen und sich zu bessern, erging Ioannis sich in Rachefantasien. Durch den frühen Tod der Mutter waren er und sein Bruder Costa Alleinerben. Nun, Aristoteles Tsakiris hatte im Laufe seines Lebens so viel Geld verdient, dass es für die Brüder mehr als reichen würde.

Im Gegensatz zu Costa, der seinen Vater aufrichtig liebte, hatte Ioannis nur Verachtung für ihn übrig. Insgeheim machte er sogar Aristoteles für den Krebstod der Mutter verantwortlich. Die liebenswerte, sanfte Frau hatte all die Jahre die erotischen Eskapaden und die Kaltherzigkeit ihres Mannes erdulden müssen. Selbst als sie schon klaglos litt, waren ihm seine Geschäfte und irgendwelche Liebschaften wichtiger gewesen. Es wurde Zeit, dass er sein Leben beendete und seinen Söhnen sein Vermögen hinterließ, dachte Ioannis.

Nur, wie konnte man es am besten anstellen, den Alten zu beseitigen, ohne selber in Verdacht zu geraten? Eine Frage, die Ioannis mittlerweile Tag und Nacht bewegte. Zu schade, dass er mit Costa nicht darüber reden konnte. Der Bruder wäre mit seinem wachen Verstand eine große Hilfe gewesen. Den Plan, einen professionellen Killer anzuheuern, hatte Ioannis längst verworfen, weil er dadurch erpressbar werden würde. Nein, er musste selber die Drecksarbeit erledigen. Daran führte kein Weg vorbei.

Aus dem Totenreich

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