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2. Baki – Baku:
Flame Towers im Land des Feuers

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Fliegt man schnurstracks, etwa per Passagiermaschine, von Land’s End aus bis zum westlichen Ufer des Kaspischen Meeres, legt man 4365 Kilometer zurück. Hier ist ein Ende des europäischen Kontinents erreicht, genau wie Land’s End ein anderes markiert. Die direkte Luftlinie geht über den Ärmelkanal, Paris, Bayern, Österreich, Ungarn, Rumänien, das Schwarze Meer, Georgien und Aserbaidschan.

Die elegante, halbmondförmige Stadt Baku ist der Ort, an dem Europa endet – oder eben beginnt, wenn man gen Westen reist. Sie ist wunderbar am Ufer des Kaspischen Meeres gelegen und blickt in Richtung Sonnenaufgang. Im Norden, nun links, liegen Russland und die Mündung der mächtigen Wolga. Im Süden, oder rechts, ist der Iran. Im Westen, im Rücken des Betrachters, finden sich die Kaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Und im Osten, jenseits des schimmernden Wassers, liegen auf der alten Seidenstraße die zentralasiatischen Republiken. Die Aserbaidschaner nennen ihre Stadt Baki. Die später eintreffenden Russen haben ihr dann jenen Namen gegeben, unter dem sie heute der Rest der Welt kennt.

Das Kaspische Meer ist der größte See der Erde; es gilt als See, nicht als Meer und hat eine etwa fünf Mal größere Oberfläche als der Lake Superior in Amerika oder der Viktoriasee in Afrika. Zwar fließen Kura, Wolga und Ural in das Kaspische Meer, doch es hat keinen Abfluss, und Baku liegt knapp unter dem Meeresspiegel. Auch wenn es weniger zurückgegangen ist als sein Nachbar, der kleinere, schon fast völlig ausgetrocknete Aralsee, so ist auch das Kaspische Meer von Umweltverschmutzung und Verdunstung bedroht. „Kaspisch“ nannten die alten Griechen das Meer nach einem ortsansässigen Volk. Die Türken, die Turkmenen und die Aserbaidschaner nennen es Hazar Denizi, „das Meer der Chasaren“, die hier zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert herrschten.

Wer nicht glaubt, dass Baku zu Europa gehört, wird behaupten, es sei ein Teil Asiens. Doch meist ist man sich einig, dass die Stadt genau dort liegt, wo Europa und Asien sich überlappen. Die Tourismus-Industrie spricht von „europäischem Charme in orientalischem Setting“. Die Geografen, die Ende des 18. Jahrhunderts eine interkontinentale Linie zwischen Europa und Asien zogen, legten die eurasische Grenze allerdings auf den Kamm des Ural, von wo aus sich die gedachte Linie weiter Richtung Süden durch den Kaukasus und den Bosporus zieht, dem Ural-Fluss und der Nordwestküste des Kaspischen Meeres folgt, um schließlich im Becken der Kura zu enden. Nach dieser Betrachtung liegen Baku und das nördliche Aserbaidschan in Europa, alles unterhalb der Kura in Asien.1


Heute ist Baku die Hauptstadt der unabhängigen Republik Aserbaidschan, einem Mitglied der Vereinten Nationen und nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrats. Mit 86.000 Quadratkilometern und 9,5 Millionen Einwohnern ist Aserbaidschan größer als ein Dutzend Staaten der Europäischen Union: Seine Fläche entspricht etwa der Portugals oder Tschechiens. Früher gehörte das Land zur Sowjetunion. Die Bewohner Aserbaidschans, die Aserbaidschaner, sprechen Aserbaidschanisch, eine Turksprache. Fünf Schlagworte charakterisieren das Land: „Ex-Sowjetunion“, „Turkvolk“, „Muslime“, „Kaukasier“ und „Ölreichtum“.

Es gibt Orte, zu denen gelangt man leichter als nach Baku. Die postsowjetische Bürokratie Aserbaidschans konfrontiert den potenziellen Reisenden mit Hindernissen, die an die Zeiten des Kalten Krieges erinnern. Laut der offiziellen Webseite kann man ein Express-Visum in drei Tagen erhalten.

„Ich bekomme ein Express-Visum in drei Tagen?“, erkundige ich mich beim Konsulat in London.

„Ja“, erklärt man mir am Telefon, „sofern Sie eine Einladung des Ministeriums in Baku haben.“

Meine Einladung stammt nicht vom Ministerium. „Was kann ich da machen?“

Tödliches Schweigen am anderen Ende der Leitung. Nach einigen Wendungen und Umwegen erreicht mich mein Visum schließlich nach 17 Tagen. Zwei Tage bevor mein Flug von Frankfurt aus startet. Nachdem ich das Konsulat verlassen habe, erkenne ich jedoch den Haken an der Sache. Obwohl die offiziellen Stellen meine Flugbuchung für den 21. bestätigt haben, stellten sie mir ein Visum für den 22. aus.

Alle Visum-Antragsteller werden zudem auf ein weiteres Problem hingewiesen:

Da mit Armenien Kriegszustand herrscht, untersagt die Regierung Aserbaidschans allen armenischen Staatsbürgern sowie Menschen mit armenischer Abstammung die Einreise. … Ohne vorherige Zustimmung … untersagt die Regierung Aserbaidschans jeglichen Besuch der Separatistenregion Bergkarabach … und der umliegenden Territorien … die de jure Teil Aserbaidschans sind, aber von Armenien kontrolliert werden. Ausländer, die diese besetzten Gebiete betreten, werden dauerhaft aus Aserbaidschan ausgewiesen und auf die Liste der Persona non grata gesetzt.2

Besucher in Aserbaidschan können daher keinen Abstecher in die oben erwähnte „Separatistenregion“ unternehmen. Sie können allerdings darüber lesen und versuchen, die komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Die der Welt auch unter dem russischen Namen Nagorny Karabach bekannte Region heißt in Aserbaidschan schlicht Karabach, „der schwarze Garten“, und bei den armenischen Bewohnern Arzach. David Lang, ein ehemaliger Kollege an der London University, erklärte, dieser Name stamme von König Artaxis I. (etwa 190 bis 160 v. Chr.).3 Heute hat sich hier die Republik Arzach, beziehungsweise die Republik Bergkarabach, gegründet, die eng mit Armenien verbunden ist. Wie mir noch deutlicher werden sollte, reicht dieser Konflikt bis ins Jahr 1918 zurück.4

Im Frankfurter Flughafen fordert mich der Automat am Check-in auf zu bestätigen, dass ich ein Visum besitze. Dann muss ich das Ablaufdatum meines Visums eingeben, nicht aber den Gültigkeitsbeginn. Ich setze einen Haken vor die Box, mit dem ich alle furchtbaren finanziellen Konsequenzen auf mich nehme, sollte ich Lufthansa mit falschen Angaben versorgt haben – und erhalte augenblicklich meine Bordkarte. Doch ich zögere. Mein Flug landet um 21:00 Uhr. Mein Visum wird erst um Mitternacht gültig. Ist das ein Vergehen?

Meine Mitreisenden lassen sich in drei Gruppen einteilen. Zur ersten gehören die Standard-Europäer: Geschäftsleute, Touristen, Ex-Pats, Studierende. Die zweite Gruppe bilden offensichtliche Ausländer: Chinesen, Japaner und Inder. Doch die dritte Gruppe, die Mehrheit, ist erstaunlich einheitlich im Erscheinungsbild: rabenschwarze Haare, rabenschwarze Augen, rabenschwarze Augenbrauen, Adlernasen und blasse Haut. Ich denke: So sehen also echte Kaukasier aus. Sie wirken völlig anders als das, was die US-Regierung als Bild der Kaukasier vermitteln möchte.* Unter den Frauen finden sich einige mit Kopftuch, es trägt jedoch keine eine Abaya oder Burka.

Mein Reiseführer listet für Aserbaidschan eine ganze Reihe von Verboten auf. Man sollte kein Kaugummi kauen. Nicht laut reden. „Einen dummen Menschen“, heißt es in einem düsteren aserbaidschanischen Sprichwort, „erkennt man an seinem Lachen.“ Nicht mit den Fingern auf etwas zeigen. Keine Menschen anfassen. Nicht die Füße so heben, dass man die Schuhsohle erkennen kann. Und vor allem: nicht Armenien erwähnen. Und keine Kommentare über den herrschenden Alijew-Clan. Ein falsches Wort und man sitzt schnell wieder im Flieger nach Hause.5

Als ich das Flugzeug im „Heydar Aliyev International Airport“ verlasse, erwarten mich ein Schwall warmer Luft, der Anblick eines goldenen Mondes und große Zweifel. Drei Stunden trennen mich noch von der Sicherheit. Soll ich nun noch drei Stunden in der Ankunftshalle warten oder es spontan entscheiden?

Ich bin der Letzte in der Schlange. Der abgekämpfte Grenzkontrolleur schaut mir träge ins Gesicht, erblickt mein abgelaufenes Russland-Visum, fordert mich auf, in die Kamera zu blicken und drückt einen Einreisestempel in meinen Pass. Doch gerade als er ihn mir zurückgeben will, fällt sein Blick auf die Zahl 22. Plötzlich ist er hellwach.

„Ihr Visum ist für heute nicht gültig, Sir. Heute ist der 21.“

„Wirklich? Aber es wurde mir doch von der aserbaidschanischen Botschaft ausgestellt.“

„Ihr Visum ist erst morgen gültig, nicht heute. Warten Sie hier.“

Der Polizist nimmt meinen Reisepass und verschwindet. Ich schaue mich ängstlich um, ob womöglich jemand von der Botschaft gekommen ist, mich abzuholen, was ja manchmal passiert, und werfe einen Blick auf die Tafel mit den Abflügen. Geht noch ein Flieger vor Mitternacht? Ein letzter Flug nach Aşgabat in Turkmenistan ist für 22:30 Uhr angekündigt. Da taucht der Vorgesetzte auf:

„Ihr Visum ist heute noch nicht gültig, Sir.“

„Das verstehe ich nicht. Ihre Visa-Abteilung hatte doch meine Flugtickets vorliegen.“

„Ihr Visum gilt erst morgen, nicht heute. Warten Sie hier.“

„Ja, ich weiß. Aber es wurde doch bereits abgestempelt.“

Die Beamten rücken enger zusammen und schauen sich konsterniert an. Einer zeigt auf mich, ein anderer Richtung Ausgang. Meine Augen folgen seiner Geste, und meine Hoffnung bekommt neue Nahrung. Einige Diplomaten verabschieden einen meiner Kollegen und warten an der Schranke. Ich habe das Glück, dass ich auf meinen Auslandsreisen auf diplomatische Unterstützung zählen kann, wofür ich in der Regel mit einer „Triff den Autor“-Veranstaltung bezahle. Und da ich gleich zwei Pässe besitze, kann ich mir sogar aussuchen, auf wessen Hilfe ich Anspruch erhebe. Ich hoffe, das dort könnte das Begrüßungskomitee sein, das mir in Aussicht gestellt wurde.

Die Beamten spazieren gerade heran, um ihr Urteil zu sprechen, als zu meinem Erstaunen der Botschafter persönlich herbeieilt.

„Guten Abend, meine Herren. Dieser Passagier ist mein Gast. Kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Abend, Exzellenz. Das Visum dieses Herrn ist erst ab morgen gültig.“

„Sie haben recht, Officer. Sehr vorbildlich, dass Sie das bemerkt haben. Würden Sie womöglich meine persönliche Garantie annehmen, dass dieser Herr sich in den nächsten Stunden tadellos verhalten wird?“

Die Tür öffnet sich für mich. Genauso gut hätte ich nach Turkmenistan abgeschoben werden können.

Der Botschafter teilt mir wenig später mit, dass ein Treffen mit dem Präsidenten zwar unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen ist.

„Falls es dazu kommt“, fährt er fort, „ruft Sie jemand an, und wir melden uns innerhalb einer Stunde beim Palast.“

Mein erster nächtlicher Eindruck aus einer Airport-Limousine heraus: Baku scheint eine altmodische orientalische Stadt zu sein, die sich in den Geburtswehen einer ungemein beschleunigten Modernisierung befindet. Es sind mehr neue SUVs auf der Straße als alte Ladas, die auf baumbestandenen Boulevards an schicken Boutiquen vorbeiziehen und sich an nicht recht ins Bild passenden Londoner Cabs vorbeidrängeln. Bauten aus der russischen Zarenzeit reihen sich an islamische Fassaden, Minarette, Metrostationen und Hochhäuser. Die drei brandneuen, auf Hügeln platzierten, neonbeleuchteten Wolkenkratzer aus Glas, die kurvenreichen „Flame Towers“, prägen die Skyline. Ich kann sie vom Balkon meines Innenstadthotels aus sehen. Hier bin ich in einem komfortablen Raum mit Perserteppichen auf dem Boden und einer reich bestickten Überdecke auf dem Bett untergekommen. Über dem Waschbecken informiert ein großes blaues Schild: DAS WASSER KANN OHNE BEDENKEN GETRUNKEN WERDEN.

Am nächsten Morgen begebe ich mich auf einen Orientierungsrundgang. Die steilen Straßen der Innenstadt, der İçəri Şəhər, werden noch immer von Festungsmauern bewacht, die einen Irrgarten aus Kopfsteinpflasterstraßen, überhängenden Balkonen, Moscheen, Märkten und Museen umgeben. Der robuste, runde Jungfrauenturm Qiz Qalasi aus dem 12. Jahrhundert, erbaut aus perfekt aufeinanderpassenden Kalksteinen, überragt die Bucht. Der nahe gelegene Palast der Schirwanschahs hingegen wurde nur durch Reparaturen vor dem Verfall bewahrt. Der Herrschaftssitz einer Dynastie vom 15. bis ins 18. Jahrhundert würde in einer Tabelle islamischer Architektur nicht sonderlich weit oben rangieren. Unter den religiösen Gebäuden ist die Dschuma-Moschee die schönste, die Mohammed-Moschee aus dem 11. Jahrhundert die älteste. Letztere wurde 1723 durch eine russische Kanonenkugel zur Hälfte zerstört. Wie das Faltblatt zur Moschee aber ergänzt, ging die angreifende Flotte kurz darauf in einem Sturm unter.

Souvenirstände und Antiquitätenhändler gibt es an jeder Ecke. Käufer finden sich hingegen nur wenige; die Händler dösen in ihren Stühlen, und ihre Waren wirken verloren. Flitterkram und Postkarten hängen an Schnüren herab; Teppiche sind zu Stapeln aufgetürmt; seidene Schals bauschen sich im Windhauch auf und handgemachte Kupfertabletts bedecken das Pflaster. Mützen, Helme, Epauletten und Orden der Roten Armee sind billig zu haben; Repliken der spitz zulaufenden „Tatarenmütze“, wie sie auch die Soldaten der Bolschewiki getragen haben, gibt es an jeder Ecke. Mein einziger Fund war eine gerahmte Papieraktie aus dem Jahr 1919, säuberlich auf grün-weißes Papier gedruckt. Das in London ausgestellte Zertifikat dürfte siebzig Jahre oder noch länger auf irgendeinem Dachboden herumgelegen haben.

Steigt man den Hügel über die Treppen hinab, stößt man auf Bakus größte Durchgangsstraße, den Neftçilar Prospekti, also den „Boulevard der Ölmänner“. Die acht Spuren mit heranrasendem und hupendem Verkehr überwindet man durch eine marmorne Unterführung, die an der Küstenpromenade endet. 1910 als Domäne der russischen Adelselite fertiggestellt, ist der Bulvar heute Nationalpark und beliebter Spazierweg für jedermann. Drei parallel verlaufende Gartenanlagen erstrecken sich über Dutzende Kilometer entlang der Bucht, von einem riesigen Fahnenmast bis zu den weit entfernten Hafenkränen. Die Parkanlagen sind vollgestopft mit subtropischen Blumenbeeten, Kakteenanlagen und importierten, seltenen Bäumen: Kirsche, Magnolie, Palmen und Baobabs, in deren Schatten die Menschen promenieren und sich vom Ozon aufweichen lassen. Wir entdecken Wasserspiele zu Musik, kommen am Fähranleger vorbei, dem Puppentheater und dem Teppichmuseum, bis wir das zentral gelegene aserbaidschanische Regierungsgebäude erreichen. Das in der Stalin-Zeit zwischen 1936 und 1952 im pseudo-marokkanischen Stil erbaute, überdimensionierte Gebäude war früher das Dom Sowjetski, die sowjetische Machtzentrale, gekrönt von einer schon lange verschwundenen Lenin-Statue. Das 2012 fertiggestellte Kulturzentrum Heydər Əliyev Merkezi der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid liegt etwas hinter der Uferpromenade. Die blendend weiße Keramik- und Glashülle der fließenden Gebäudeformen ist ein Wunder der „extremen Architektur“. Zusammen mit den Flame Towers, der Eurovision Crystal Hall und dem Olympia-Stadion gehört das Kulturzentrum zu den beeindruckenden Gebäuden, die die Stadt innerhalb eines Jahres hinzugewonnen hat.


Mich führt eine junge Universitätsabsolventin mit Namen Nazaket, was sich mit „Freude“ übersetzen lässt. Sie hat rabenschwarzes Haar, rabenschwarze Augenbrauen, rabenschwarze Augen, rabenschwarze Wimpern, gute Englischkenntnisse und eine beunruhigend unterwürfige Haltung.

„Ich habe Ihren Bruder im Flugzeug getroffen“, versuche ich einen unangebrachten Witz, der keinerlei Wirkung zeigt.

„Was möchten Sie sehen?“, erkundigt sie sich wiederholt, als sei ich derjenige mit der Ortskenntnis. Etwa gegen Mittag antworte ich schließlich „ein Restaurant“. Wir setzen uns in einen offenen, achteckigen Innenhof, und von unserem Tisch in einer schattigen Ecke aus blicken wir auf den Springbrunnen in der Mitte.

„Was möchten Sie essen?“, möchte Nazaket wissen.

„Alles, außer Fleisch.“ Ich bekomme einen ganzen, gefüllten, kalten Hecht serviert, dessen Kopf und Schwanz über den Tisch hinausragen. Nazaket möchte nichts abhaben, also mache ich mich alleine über etwa ein Viertel des Fisches her.

Ein abendlicher Spaziergang ohne Begleitung stellt sich als weniger anstrengend heraus. Der goldene Mond taucht wieder auf und erhellt die kurvenreichen Straßen der Kasbah. Streunende Katzen wimmern, Großmütter schauen von Balkonen herab, und die Wäsche schaukelt über ihnen. Man dreht Runde um Runde, auf und ab, bis sich die Festungsmauer abzeichnet. Durch einen engen Durchgang betritt man das 21. Jahrhundert. Im Philharmonischen Garten wird bei einem Open Air-Kino ein russischer Liebesfilm gezeigt. Junge Pärchen trotzen den Regeln und sitzen Händchen haltend nebeneinander. Andere lehnen sich an Bäume, nippen an Obstsäften und betrachten die wirbelnden, farbigen Lichter der Flame Towers in der Skyline. Es ist warm, aber auch windig; und zwar nicht wie bei einer übers Meer aufkommenden Brise, sondern es ist ein kräftiger, drückender Wind, dessen Böen die Äste schaukeln lassen. Mein Reiseführer schreibt dazu, der mittelalterlich-persische Name der Stadt sei Badkube gewesen, „Windhieb“.

Der „Springbrunnen-Platz“ am Rande der Innenstadt ist tagsüber Bakus beliebtester Treffpunkt und nachts als bester Ort für ein Rendezvous bekannt. Der früher Parapet genannte Platz wird abends von flanierenden Grüppchen und Einzelgängern bevölkert, die die von Dutzenden Wasserfontänen verteilte kühle Luft suchen:

Für einen männlichen Besucher, der zum ersten Mal in Baku ist, kann es überraschend sein, eine Viertelstunde auf dem Springbrunnen-Platz zu sitzen. Nicht nur, weil aserbaidschanische Frauen unglaublich schön sind, sondern auch weil viele junge Frauen so gekleidet spazieren gehen, wie es auch in Europa üblich wäre. Sogar die Präsidenten-Gattin, Mehriban Alijew, liebt es, sich als Femme fatale der 1960er-Jahre zu zeigen. …

In Aserbaidschan sind die traditionellen Werte nicht vollständig verschwunden. … Viele Frauen leben bei ihren Eltern und müssen beim abendlichen Ausgang strenge Regeln beachten. … [Außerhalb der Städte] stößt man auf deutlich konservativere Lebensformen und womöglich sogar auf einige Formen islamischer Tradition. … Hochzeiten werden meist von den Familien arrangiert, und in ländlichen Gegenden ist das Kidnapping von heiratsfähigen Frauen nicht unüblich.6

Das Nachtleben konzentriert sich auf die nahe gelegene Ali-Zadeh-Straße, und die Reiseführer warnen eindringlich vor im Untergeschoss gelegenen, euphemistisch „Disco Clubs“ genannten Etablissements. Die Chevalier Bar im Grand Europe Hotel ist ein höherpreisiges Äquivalent.

Die aktuelle Ausgabe der Wochenzeitung Azernews – „Aserbaidschans führende Zeitung“ – macht mit abgedroschenen Phrasen des präsidentschaftlichen Engagements und des Krieges mit Armenien auf:

Präsident Iham Alijew und seine Frau Mehriban Alijew … nahmen an der Einweihung der Genozid-Gedenkstätte in der Stadt Quba teil, um die in diesem Gebiet 1918 bei von armenischen und bolschewistischen Einheiten verübten Massakern getöteten Opfer zu ehren.

Die Aserbaidschaner lassen sich keinesfalls von den lauten armenischen Anklagen des Genozids übertönen:

Zehntausende Muslime und einige ortsansässige Juden wurden zwischen März und September 1918 … in Baku und anderen Gebieten, darunter Quba, Şamaxı, Göyçay, Karabach und Lənkəran getötet. Rund 167 Dörfer wurden allein in der Region um Quba zerstört.

Der Denkmalkomplex wurde in der Nähe eines Massengrabs errichtet … das während der Baumaßnahmen für ein Stadion 2007 entdeckt worden war. … Präsident Alijew und seine Frau pflanzten Apfelbäume an der Gedenkstätte. … Präsident Alijew erklärte, dass die Armenier vor nur zwanzig Jahren erneut ähnliche Verbrechen begangen haben. Sie zerstörten während des Krieges von 1991 bis 1994 alles, darunter Moscheen und andere historische Gebäude. „Diejenigen, die damals diese Verbrechen begingen, stellen sich heute als zivilisierte Menschen dar“, fuhr der Präsident fort. Er warnte davor, dass Aserbaidschan Gewalt einsetzen werde, um die Kontrolle über sein Territorium zurückzuerlangen, sollte Armenien die Besetzung fortsetzen. „Heute sind wir stark genug.“ … „Heute verfügt Aserbaidschan über die schlagkräftigste Armee im gesamten Kaukasus. … Aserbaidschans Militärausgaben übersteigen den armenischen Gesamthaushalt um 30 bis 50 Prozent.“7

Ein zweiter Artikel beschreibt die Vorbereitungen für den „Ölarbeiter-Tag“ am 20. September. An diesem Tag wird der Unterzeichnung des „Deal des Jahrhunderts“ 1994 gedacht, mit dem ein Konsortium aus 13 internationalen Ölfirmen insgesamt 57 Milliarden US-Dollar in Aserbaidschans Offshore-Öl- und -Gasfelder investierte. Offizielle Quellen erwähnen allerdings nicht, dass „der Deal“ eng mit der Einstellung der Kämpfe mit Armenien um Bergkarabach verknüpft war: Das Konsortium hatte sich geweigert zu investieren, solange die Kämpfe andauerten. Daher stimmte Aserbaidschan, obwohl es sich in einer nachteiligen militärischen Lage befand, einem Waffenstillstand zu, um das Geschäft zu retten. Zwanzig Jahre später kann der Präsident damit prahlen, dass die staatlichen Öleinkünfte für die ehemals fehlende militärische Überlegenheit gesorgt haben; das BIP hat sich mehr als verdreifacht.8 Außerdem hat sich Aserbaidschan Zugang zu internationalen Pipelines gesichert, um seine Produkte zu Terminals an See-Häfen zu transportieren. Die eine, die 2006 eröffnete BTC (Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline), bringt Öl zu einem Mittelmeerhafen in der Türkei. Die in Bau befindliche TAP (Trans-Adria-Pipeline) soll Gas auf dem Südlichen Gaskorridor über Griechenland, Albanien und Italien in die Europäische Union transportieren. Seit der Unabhängigkeit hat die staatliche Ölgesellschaft SOCAR rund 60 Milliarden US-Dollar investiert.

Ein dritter Zeitungsartikel feiert die Errungenschaften des aserbaidschanischen Dichters Seyyed Mohammad Hossein Behjat-Tabrizi (1906–1988), auch bekannt unter dem Namen Schahriar. Sein bekanntestes Gedicht, Heydar Babaya Salam („Sei gegrüßt, Heydar Baba“) erzählt von seiner idyllischen Kindheit auf dem Lande in der Nähe des iranischen Täbris. Möchte man es für werbliche Zwecke nutzen, kann man es auch als vorteilhafte Referenz auf den starken Mann in der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik lesen, Geidar Alijewitsch Alijew. Nach der Veröffentlichung des Epos 1954 wurde es schnell auf beiden Seiten der Grenze populär. „Schahriar“ war iranischer Aserbaidschaner, der auch auf Farsi schrieb, und dass er noch immer derart bei der offiziellen Bürokratie beliebt ist, zeigt, wie sehr das postsowjetische Aserbaidschan die kulturellen Bezüge zu Irans starker aserbaidschanischen Bevölkerung wertschätzte. Auf eine mögliche Vereinigung mit dem (iranischen) „Südlichen Aserbaidschan“ wird immer wieder angespielt.

Angemessen skeptisch vor der dubiosen Natur der offiziellen Information, führte mich mein nächster Ausflug auf die Landspitze, auf der die Flame Towers errichtet wurden und die einen Panoramablick über die Bucht bietet. Mein Londoner Taxi fuhr mich röhrend die Haarnadelkurven nach oben und setzte mich, oben angekommen, für die exorbitante Summe von 2 Aserbaidschan-Manat und 54 Qäpik (etwa 1,30 Euro) neben einer neu gebauten Moschee ab. Hier konzentrieren sich Bakus heilige Stätten. Auf der einen Seite, hinter dem Parlament, befindet sich der Shehidler Khiyabani Friedhof, zu dem eine im Sowjetstil gehaltene Ehrenstraße mit dem Mausoleum für den verstorbenen Präsidenten Geidar Alijew gehört. Weiter unten am Hang hat man drei lange Alleen erbaut – eine für die Toten des Massakers der Roten Armee 1990, eine zweite für die gefallenen Soldaten im Armenien-Krieg 1987–1994 und eine dritte für die Gefallenen der Islamischen Armee aus dem Jahr 1918. Blumenschmuck und Porträts der Gestorbenen wohin man blickt. Es findet sich sogar ein neues britisches Denkmal für die Toten des Ersten Weltkriegs. Ein schlanker islamischer Turm erhebt sich über der Ewigen Flamme des Gedenkens.

Nichts erinnert mehr an das, was vor zwanzig Jahren hier noch stand. Nämlich eine überlebensgroße Heldenstatue von Sergei Mironowitsch Kirow, jenem Bolschewisten, der zwischen 1921 und 1926 die kommunistische Partei Aserbaidschans leitete und später nach Leningrad befördert wurde. Die Ermordung von Kirow war der Auslöser für Stalins Säuberungsaktionen 1934. Um sein Verbrechen zu verschleiern, förderte Stalin schamlos den Kult um Kirwos keineswegs sehr appetitliche Persönlichkeit.9 In ähnlicher Weise deutet nichts auf den Verbleib des Denkmals für die „Sechsundzwanzig Kommissare“ hin, die Gründungsmärtyrer des sowjetischen Aserbaidschans, das bis zu seiner Zerstörung 2006 einen prominenten Platz eingenommen hatte. Die Technik des selektiven Gedenkens, das die Sowjets perfektioniert hatten, wird heutzutage gegen sie verwendet. Dennoch lassen sich immer Spuren der Vergangenheit finden. Denn auch wenn das Kirow-Denkmal verschwunden ist, so sind einige der begleitenden Statuen übrig geblieben. Klettert man einen Felsvorsprung über einen schmalen Pfad neben der Ewigen Flamme hinab, stößt man auf eine Sandsteinbüste Lenins. Entstellt, aber intakt.

Da ich mit jedem Ausflug immer besser gerüstet war zu verstehen, was mich umgab, war ich nun bereit, die 10 Manat für eine Führung durch das Milli Azerbaycan Tarixi Muzeyi (Nationales Geschichtsmuseum) auszugeben. Untergebracht in der Taghiyev-Villa aus dem 19. Jahrhundert, ist die Ausstellung eine modifizierte Version ihres sowjetischen Vorgängers und führt den Besucher auf einer unbarmherzigen Tour von den Dinosauriern bis in die Gegenwart. Dieses Mal war Ilaha meine Führerin, und sie war auf den vollen Marathon der gesamten Geschichte ihres Heimatlands vorbereitet. Ihrem Gesicht war die Enttäuschung abzulesen, als ich ihre schwärmerische Beschreibung von Aserbaidschans ältestem Baumfossil unterbrach und mich erkundigte, ob wir uns nicht schneller in Richtung moderner Zeiten bewegen könnten. Taktvoll verlagerte sie die Führung und ließ mir damit genügend Energie, um die zwanzig Räume im Obergeschoss zu genießen, die sich der schriftlich festgehaltenen Geschichte widmen. Der Schwerpunkt liegt auf der klassischen Epoche des sogenannten kaukasischen Albanien (mehr dazu später), dem örtlichen mittelalterlichen Khanat und dem Ölboom gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Einige Räume von Taghiyevs opulenter Villa sind im Originalzustand belassen worden, um die kapitalistische Dekadenz anschaulich zu machen, auch wenn die Philanthropie der Familie nicht verschwiegen wird. In der schwierig zu durchschauenden Zeit nach dem Zusammenbruch des zaristischen Russlands wird die erste demokratische Republik Aserbaidschan herausgestellt, im Gegensatz zur bolschewistischen Republik oder den britischen Gegnern. Es findet sich in der Ausstellung kein Bild von Bakus Bolschewiki wie Stalin oder Kirow.10

Als Nächstes auf der Liste: Das staatliche Nezami-Museum für aserbaidschanische Literatur, der selbst ernannte „Tempel der Welt“, bietet eine surreale Erfahrung. Für den Preis von 10 Manat und einem verpflichtenden Paar Gummischuhe unternimmt man einen personalisierten Rundgang durch einen exotisch-orientalischen Palast ohne jeglichen weiteren Besucher. Während man von Saal zu Saal spaziert, setzen sich weibliche Aufpasserinnen in Gang und schalten das Licht ein, sobald man den Raum betritt, und das Licht wieder aus, sobald man ihn verlässt: eine Reise von der Dunkelheit ins Licht und retour, und zwar 50 Mal. Der Palast wurde in Vorbereitung auf den 800. Geburtstag des großen aserbaidschanischen Dichters Nezami von Gandscha (1141–1209) gebaut und 1945 zeitgleich mit der sowjetischen Siegesparade eröffnet. Aserbaidschans literarische Geschichte reicht zurück bis zur Avesta, dem heiligen Buch der zoroastrischen Religion, und im Zeitraum von dreitausend Jahren lebten viertausend Dichter, von denen jeder einzelne Belobigungen wie „groß“, „berühmt“ oder „außergewöhnlich“ verdient zu haben scheint. Originalkunstwerke im heroischen Sowjetstil wurden in Auftrag gegeben, um jeden dieser Schritte zu illustrieren. Eines davon zeigt Nezami in Begleitung seiner Kollegen – Virgil, Dante, Shakespeare, Goethe, Victor Hugo, Puschkin, Tolstoi und Gorki. Das Handbuch erläutert: „Dies ist ein heiliger Ort. Alle Unsterblichen, auf die wir stolz sind, sind hier versammelt.“11 Die Tatsache, dass Nezami auf Persisch schrieb, wird übergangen. Und man sollte aufpassen, ihn nicht mit seinem berühmten Landsmann, Sayyid Imad ad-Din Nasimi (1369–1417) zu verwechseln, der in Aleppo bei lebendigem Leib gehäutet wurde, weil er der falschen Doktrin des Hurufismus folgte.

Den Umständen entsprechend ist auch der Museumsführer aus Sowjetzeiten noch erhältlich. Hier ist zu lesen: „Die Sammlung des Museums spiegelt Lenins Worte wider und erzählt uns in bunten Farben vom jahrhundertelangen Weg des aserbaidschanischen Volks hin zu seiner Hochkultur der Gegenwart.“ Hat Lenin jemals etwas über Aserbaidschan gesagt?12 Aber keine Sorge. Der Museumsführer liefert dafür ausführliche Informationen über verschiedene Autoren wie etwa den herausragenden J. Jabarli (1899–1934), der in der Zwischenzeit in Ungnade gefallen ist. Wahrscheinlich haben sie ihn im Keller untergebracht.

Nach drei Tagen in Baku fühlte ich mich dann ausreichend vorbereitet auf einen Abend in Begleitung von vier aserbaidschanischen Hochschullehrern, die von der Botschaft eingeladen worden waren. Wir trafen uns in einem Dachgarten-Restaurant in der Nähe des Jungfrauenturms, hinter den dicken Fensterscheiben glitzerte der See. Dr. Gulshan Pashayeva war Berater des Präsidenten in strategischen Fragen. Sie hatte Belfast besucht, um Ideen für eine Lösung der Bergkarabach-Frage zu finden. „Funktioniert das St-Andrews-Abkommen wirklich?“, lautete ihre erste Testfrage. Professor Farda Asadov war Mediävist an der Chazar Universität und fungierte, wo nötig, als brillanter Übersetzer und Mediator bei unserem dreisprachigen Austausch. Dr. Arum Bati war Rechtsanwalt mit britisch-indischen Wurzeln und nun in Baku ansässig.

Doch der Star des Abends war zweifellos Professor Jamil Hasanli – nach russischer Schreibweise Dzhamil Gassanly –, der führende Historiker des Landes für das 21. Jahrhundert. Er kam geradewegs von einer TV-Debatte über die anstehenden Präsidentschaftswahlen und sprach am liebsten Russisch – ein überzeugender Redner und geübter Legenden-Zerstörer. Ihm gelang es, in nur einer halben Stunde sowohl ein deftiges Abendessen zu verspeisen als auch mir die komplexen Machtverschiebungen in Baku zwischen dem Sturz des Zaren im März 1917 und dem Einmarsch der Sowjets 1920 zu entflechten. Es sei ziemlich falsch, erklärte Hasanli ungefragt, dass die 26 Kommissare von den Briten ermordet worden seien. Der tapfere Professor hielt sich keineswegs zurück. Kurz zuvor hatte er bei einer Rede im Londoner Chatham House das Versagen des Präsidenten bei der Einlösung von Versprechungen kritisiert und ihn in aller Öffentlichkeit der Korruption bezichtigt. Das Volk wolle keine spektakulären Flame Towers und Kulturzentren, sondern „Gerechtigkeit, ein besseres Gesundheitssystem und eine gerechtere Verteilung des Einkommens“. Als Hasanli uns verlassen hatte, erklärte mir der Botschafter:

„Er hat sich für die Präsidentschaftswahlen aufstellen lassen, als Anti-Korruptions-Kandidat.“

Einer der anderen Gäste fügte hinzu: „Er ist ein mutiger Mann.“

Am nächsten Tag suchte ich in einer Universitätsbuchhandlung nach Hasanlis Büchern. Ich fand eines über die sowjetisch-türkischen Beziehungen, eines über die sowjetisch-iranischen Bezeichnungen, ein drittes über die Politik der aserbaidschanischen Sowjetrepublik und ein viertes über die sowjetische Iran-Politik zwischen 1941 und 1946.13 Seine Bibliografie umfasst 28 Bücher – auf Aserbaidschanisch, Russisch, Farsi, Türkisch und Englisch.

Porträts der beiden Alijew-Präsidenten, von Vater und Sohn, finden sich überall. Genau wie ihre Maxime: „Bildung, Bildung, Bildung“. Ich war überrascht, an der brandneuen ADA Universität, der ehemaligen Diplomaten-Akademie, an der ausschließlich auf Englisch unterrichtet wird, zahlreiche Oxbridge-Absolventen anzutreffen, die in ihrem Heimatland eine Stelle angetreten hatten. An der Universität für Slawische Sprachen durfte ich zu meiner großen Freude mit hundert Polnisch-Studierenden sprechen. Und an der Universität für Fremdsprachen, dem wichtigsten Trainingsplatz des Landes für internationale Beziehungen, hielt mir der Rektor bei einer Tasse Kaffee einen ausführlichen Vortrag über die strategischen Schwierigkeiten Aserbaidschans.

„Wir stehen unter enormem Druck“, sagte er, ohne Namen zu nennen. „Und zwar sowohl aus dem Süden wie auch aus dem Norden.“

„Süden“ meint Iran, „Norden“ meint Russland.

Nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen stehen auch die Aserbaidschaner selbst unter enormem Druck. Die US-Organisation Freedom House stuft Aserbaidschan, genau wie Russland, als „nicht frei“ ein, wohingegen die Nachbarländer Armenien und Georgien als „teilweise frei“ gelten.14 Nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangiert Aserbaidschan auf Platz 152 von 180 Ländern – und befindet sich damit zum Beispiel deutlich hinter Russland und Weißrussland.15 2011 verlieh Amnesty International einen Preis an den aserbaidschanischen Journalisten Eynulla Fatullayev, der von seinem Kampf für Redefreiheit in einem Land berichtete, in dem die Presse immer wieder geknebelt wird.16 Demonstranten, die 2012 während des Eurovision Song Contest auf die Straße gingen, wurden gewaltsam auseinandergetrieben, und über die Wahl Bakus zum Gastgeber für ein Internet Freedom Forum wurde gespottet. „Aserbaidschans herrschende Elite hat ihren Reichtum genutzt, um ein repressives Regime zu installieren, bei dem die Polizei unablässig das Volk überwacht … und friedliche Proteste gewaltsam unterdrückt werden“, schrieb der Guardian.17

Vor nicht allzu langer Zeit machte ein grotesker Vorfall deutlich, welche Zustände hier herrschen: Ein aserbaidschanischer Soldat, Leutnant Ramil Safirev, der zu einer NATO-Konferenz nach Ungarn delegiert worden war, erhielt dort eine lebenslange Haftstrafe, nachdem er einen armenischen Kollegen mit einer Axt ermordet hatte. Er wurde nach Aserbaidschan ausgeliefert, um hier seine Freiheitsstrafe abzusitzen. Doch seine Rückkehr wurde zu einer Gelegenheit für eine nationale Feierlichkeit: Der Präsident begnadigte und beförderte ihn, Safirev wurden acht Jahre Lohnnachzahlung gewährt und eine Wohnung zugeteilt. Das Gerücht machte die Runde, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán habe der Auslieferung nur gegen die Zahlung von mehreren Millionen Dollar zugestimmt.18

All das spielte eine Rolle bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen. Beobachter hatten eine sonderbare Situation festgestellt: Keiner der beiden führenden Kandidaten machte Wahlkampf. Ein Sprecher des amtierenden Präsidenten erklärte: „Der Präsident muss keinen Wahlkampf führen; er bewirbt sich mit seinen Leistungen.“ Der Chef der oppositionellen REALPartei, Ilgar Mammadov, war kurz zuvor wegen des Vorwurfs der Aufstachlung zur Gewalt ins Gefängnis geworfen worden, und einem anderen Oppositionskandidaten wurde die Zulassung verweigert, da er sowohl die aserbaidschanische als auch die russische Staatsbürgerschaft besaß. Daher hatte Professor Hasanli seinen Hut in den Ring geworfen. Er sei, so der Botschafter, „ein Wal in all dem Plankton“. Um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, sorgte der „Präsidentenapparat“ für eine Fülle von Pseudo-Oppositionskandidaten im Wahlkampf und überzeugte das Gremium der kaukasischen Muslime, sich von Hasanli zu trennen.19

Ich habe immer wieder vom „Präsidentenapparat“ reden hören. Gemeint ist damit die allumfassende Maschinerie politischer Kontrolle. Die Partei des Präsidenten etwa, die Partei Neues Aserbaidschan, verfügt derzeit über 69 der 125 Sitze im Parlament, stets über die Mehrheit sowie den Würgegriff über die Legislative. Verwandte und Freunde des Präsidenten haben ein fast völliges Monopol über die Aufsichtsratsposten und deren Besetzung – genau wie zur Zeit der kommunistischen Nomenklatura. Alle Behörden der öffentlichen Hand – Armee, Polizei und Sicherheitsdienste – operieren auf Geheiß des Präsidenten. Wie in der früheren UdSSR verbirgt eine demokratische Fassade eine brutale Diktatur. Kein heute lebender Aserbaidschaner hat je etwas anderes kennengelernt.

Als bloßer Besucher rechnete ich nicht damit, mit dem „Präsidentenapparat“ Bekanntschaft zu machen. Doch eines Tages, ich verließ gerade das Literaturmuseum, lief ich durch eine völlig verstopfte Einbahnstraße. Ein großer schwarzer SUV mit Zivilfahndern erzwang sich seinen Weg in der falschen Richtung durch die Straße. Offenbar wollte jemand zeigen, wer hier der Boss ist.

Das Standardwerk zur Geschichte Aserbaidschans, auf Russisch von der Aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben, ist eindeutig eine bearbeitete Version einer früheren sowjetischen Veröffentlichung. Es umfasst den ganzen Schwung, von der Steinzeit bis zum Anbruch des Sowjetzeitalters, greift auf das gegenwärtige Staatsterritorium als Bühne für alle Ereignisse zurück und hat einen Großteil des marxistischen Vokabulars übernommen. So beginnt Teil III über die „Feudale Gesellschaft“ genau mit dem Jahr 226 n. Chr. und der Ankunft der persischen Sassaniden-Dynastie und endet mit der russischen Machtübernahme 1828. Aber man hat auch deutliche Eingriffe in den Text vorgenommen: Obwohl die Februarrevolution im März 1917 noch immer als „bürgerlich-demokratische Revolution“ bezeichnet wird, wurden die Ereignisse im Oktober 1917 zu einem perevorot, einem „politischen Coup“, herabgestuft. Es mag ein Zufall sein, aber der allgemeine Herausgeber der Reihe ist der Wissenschaftler Igrar Alijew.20 (Anscheinend heißt halb Aserbaidschan Alijew, beziehungsweise „Verwandter von Ali“, des Schwiegersohns des Propheten und wichtigsten Heiligen für die Schiiten.)

Nur nebenbei wird eine römische Inschrift erwähnt, die 1948 bei Qobustan (Gobustan), ungefähr 65 Kilometer südlich von Baku, gefunden wurde:

IMPDOMITIANO CAESARE AUG[USTO] GERMANIC[O] L-IULIUS MAXIMUS LEG XII FUL

Als Domitianus Caesar Aug[ustus] Germani[cus] herrschte, [stellte] L[ucius] Julius Maximus, [Zenturio der] XII. Fulminata Legion, [dieses Denkmal auf].21

In einer nationalistischen Denkweise sind ausländische Inschriften in der Geschichte eines Landes nur nebensächlich. Und dennoch dient diese römische Inschrift, die weiter östlich gefunden wurde als jede andere bekannte, als wichtiger Wegweiser in Raum und Zeit. Was auch immer der Auftrag des Zenturio gewesen sein mag, er wurde ihm zur Zeit der persischen Kriege des Kaisers Domitian zwischen 84 und 96 n. Chr. erteilt. Aus dem Lager der XII. Legion in Phasis, heute Poti, am Schwarzen Meer kommend, hatte Julius Maximus rund 720 Kilometer zurückgelegt, um das damals „Albania“ genannte Gebiet zu erreichen. Vermutlich sollte er Erkundungen machen oder war als Verbindungsoffizier zu den örtlichen Herrschern entsandt worden. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er die Feuertempel des Zoroastrismus kennengelernt, sicher aber weder Aserbaidschaner noch Muslime. Die frühe Geschichte der Region ist eng verbunden mit dem Kommen und Gehen der Meder, Perser, Parther und der alten Griechen. Die Eroberung durch Alexander den Großen 33 v. Chr. gilt dabei als Schlüsselmoment. Einer der von Alexander Besiegten in der Schlacht von Gaugamela (der mit Darius verbündete Perser Atropates, übersetzt „der von Feuer Beschützte“) herrschte wenig später über ein als Media Atropatene bekanntes Reich. Die hellenistische Zivilisation dürfte noch vorherrschend gewesen sein, als der Zenturio sich dort aufhielt.

Zoroaster oder „Zarathustra“ war ein Philosoph des 2. oder 1. Jahrtausends v. Chr. (seine Lebensdaten sind unbekannt) und Gründer jener Religion, die in Persien bis zur Ankunft des Islam dominierte. Seine Lehre geht von einem dualistischen Weltbild aus, in dem Licht gegen die Dunkelheit kämpft, und das sowohl eine etablierte Staatskirche ins Leben rief als auch eine Reihe von Feuertempeln.22 Dank des natürlichen Vorkommens von Erdgas hat die Gegend rund ums Kaspische Meer schon immer Feuer-Anbeter angezogen. Die Etymologie des Wortes Aserbaidschan geht dann ebenfalls auf „das Land des Feuers“ zurück.

Das antike kaukasische Königreich Albania erstreckte sich westlich des Kaspischen Meeres und war im 1. Jahrtausend n. Chr. ein Vasallenstaat des Perserreichs. Im Altpersischen war es auch als Arran bekannt – ein Name, der auch nach dem Untergang des Königreichs weitergetragen wurde. Die Staatssprache gehörte zu den lesgischen Sprachen und besaß ein eigenes Alphabet, ähnlich dem Georgischen. Seine Herrscher nahmen früh das aus Armenien herüberkommende Christentum an, und die albanischorthodoxe Kirche konnte ihren autokephalen Status zwischen 313 und 705 n. Chr. bewahren.23 Eine Handvoll Kirchen aus dem 6. oder 7. Jahrhundert sind bis in unsere Tage erhalten geblieben. Das Gebiet Albanias umfasste Teile des heutigen armenischen Staatsgebiets; die Hauptstadt war Partaw (Barda), und vor allem die Chasaren übten Einfluss auf das Reich aus.24 Heutige aserbaidschanische Nationalisten bezeichnen das kaukasische Albania als Vorläufer ihres modernen Staates, ohne dies historisch überzeugend zu begründen.

Die Bewohner von kaukasisch Albania lebten in einer Zeit, in der zahlreiche Regionalmächte aufstiegen und untergingen – die Sassaniden, die Araber und die Seldschuken –, und gelten als die wahren Gründer jener Siedlung, die später Baku heißen sollte. Von seinem Ursprung, dem Iran im 3. Jahrhundert, breitete sich das Sassanidenreich – manchmal auch als „Neupersisches Reich“ bezeichnet – so weit aus, bis es einen großen Teil des modernen Nahen und Mittleren Ostens eingenommen hatte, vom Mittelmeer bis nach Afghanistan. Die arabischen Armeen des Propheten, die 633 n. Chr. die Sassaniden besiegten, führten den Islam dann in genau denselben Gebieten ein und schufen damit das erste Kalifat. Es dürfte wenig überraschen, dass sowohl die Christen als auch die Anhänger Zarathustras Widerstand leisteten und der Islam sich folglich nur nach und nach durchsetzte. (Die Muslime kamen zur gleichen Zeit wie die halbnomadischen türkischen Chasaren, deren ähnlich großes Reich sich nördlich des Kaspischen Meeres erstreckte.) Was die Seldschuken angeht, so geht diese Dynastie zurück auf einen türkischen Kriegsführer mit Namen Seldschuk (gestorben 1036), der seine Laufbahn als chasarischer Gouverneur begann und dessen Nachfolger an der Spitze der Oghusen die östliche arabische Welt überrannten und sich zur Schutzmacht des Kalifats von Bagdad machten. Das Reich der Großseldschuken blühte unter 18 aufeinanderfolgenden Sultanen, bevor es um 1300 zerbrach.

Die Herausbildung einer aserbaidschanisch sprechenden Gemeinschaft bekam während dieser seldschukischen Phase ihren entscheidenden Schub, als Turkstämme aus der Altai-Region in Zentralasien nach Westen zogen und ihre westliche beziehungsweise oghusische Version der Turksprachen-Familie mitbrachten. Die Turkifizierung zog sich hin, genau wie die Islamisierung. Genetisch haben die modernen Aserbaidschaner mehr mit ihren Nachbarn in Georgien und Armenien gemein als mit den Türken oder Iranern; doch in religiöser Hinsicht wurden sie durch die arabische Invasion in die muslimische Welt gezogen. Die etwas später stattfindenden Wanderungsbewegungen brachten sie dann in Kontakt mit der linguistischen Welt der Turksprachen. Diese komplexe Nationenbildung war schon weit vorangeschritten, als das Land in der Moderne zwischen Persien und Russland aufgeteilt wurde.


Die kurze, aber dafür umso heftigere Erschütterung durch den Einfall der Mongolen im 13. Jahrhundert beschleunigte den Zerfall des Seldschukenreichs, das in zahlreiche kleine Khanate zerbrach. Baku wurde zum Mittelpunkt des Khanats von Schirwan. Dem wirtschaftlichen Aufschwung tat dies keinen Abbruch. Das mittelalterliche Baku war eine befestigte Stadt von etwa 1,5 Quadratkilometern Fläche, die von zwei Reihen Stadtmauer umgeben war. Der am Hügel gelegene Palast des Schirwan-Schahs, des „Herrscher von Schirwan“, und der Jungfrauenturm überragten einen Hafen mit vielen vor Anker liegenden Schiffen. Es dürfte sich wenig geändert haben bis zu der Zeit, in der der deutsche Reisende (und Absolvent der Jagiellonen-Universität von Krakau) Engelbert Kaempfer Ende des 17. Jahrhunderts seinen berühmten Stich „Panorama von Baku“ anfertigte.25

Mit der Safawiden-Dynastie und ihrer Herrschaft über das wiederbelebte Perserreich zwischen 1501 und 1736 kehrte eine Phase relativer politischer Stabilität zurück. Die Safawiden stammten aus Ardabil im Nordwestiran, leiteten einen Sufi-Orden und erlangten die Herrschaft über das gesamte Reich. Sie waren Schiiten und verantwortlich für die erzwungene Bekehrung ihrer Untertanen zu diesem Zweig des Islam, dem sie bis heute angehören. Die Sprache an ihrem Hof war Aserbaidschanisch; sie machten Isfahan zu ihrer Hauptstadt; ihr architektonisches Erbe gilt als unübertroffen. „Isfahan ist die Hälfte der Welt“, sagt noch heute ein Sprichwort.26

Der Schatten einer russischen Invasion hatte über der Region am Kaspischen Meer gelegen, seit Iwan der Schreckliche Mitte des 16. Jahrhunderts Astrachan, die frühere Hauptstadt des Chasarenreichs, erobert hatte. Doch es war dann Peter der Große, der die russische Flotte im Kaspischen Meer gründete und 1722–23 den ersten russisch-persischen Krieg begann. Peters Angriff wurde jedoch abgewehrt und zurückgeschlagen, und erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der nächste Versuch gestartet. Im Frieden von Turkmantschai zwang Russland Persien 1828, die nördlichsten Territorien, darunter Baku, abzutreten. Die Benennung der Provinzen war immer fließend, aber mit der Zeit etablierten die russischen Behörden drei Gouvernements: das von Schirwan oder Baku, das von Jelisawetpol für das Inland Karabach und das westlich gelegene Gouvernement Jerewan. Den Namen Aserbaidschan behielt man sich für die persische Provinz rund um Täbris südlich der neuen Grenze vor.

Die Provinz Baku spielte im Zarenreich vor der Entdeckung der Ölvorkommen eine eher unbedeutende Rolle. Sie war Teil der kaiserlichen Transkaukasus-Region, und die unterschiedlichen Nationen lebten hier wesentlich stärker vermischt als heutzutage. Zum Zeitpunkt der russischen Machtübernahme besaß Jerewan, die spätere Hauptstadt Armeniens, vor allem eine muslimisch-aserbaidschanische Bevölkerung, wohingegen die Einwohner Bakus zum Großteil christliche Armenier und Taten waren beziehungsweise „transkaukasische Perser“.

Ein seit 1847 betriebenes Erdölbohrloch bei Bibi-Heybat in der Nähe von Baku gibt an, das älteste weltweit zu sein. 1872 herausgegebene Anordnungen boten durch Auktionen zu erstehende staatliche Landzuteilungen an und stellten steuerfreie Investitionen in Aussicht. Ein Ölrausch brach aus, der die Ölfelder bei Baku zum Ende des Jahrhunderts zum weltgrößten Erdölproduzenten beförderte.27

Die „Ära der Ölbarone“ wurde von Herrschaften angeführt, die dabei ein Vermögen machten. Einige von ihnen, wie Azadullajew oder Mejlamow, stammten aus der Umgebung und gehörten zu den Ersten, die ihre muslimischen Familiennamen russifizierten. Andere, wie die schwedischen Nobel-Brüder Robert und Ludwig oder die französischen de Rothschilds, Edmond und Alphonse, stammten aus dem Ausland. 1876 gegründet, als man die Ölfässer noch mit Eselskarren zum Hafen fuhr, wählte die Firma Branobel – ein Akronym für „Nobel-Brüder“ – einen Feuertempel als Firmenlogo. Und zwei Jahre später fuhr der weltweit erste Öltanker, die SS Zoroaster, im Dienste der Branobel zwischen Baku und dem Bahnanschluss Astrachan. Als die Moskauer Handelskammer zu Emanuel Nobels Geburtstag im Jahr 1909 ihm eine silberne und diamantenverzierte Fabergé-Uhr schenkte, hatte das Unternehmen bereits Filialen und Lager in ganz Russland. Die Familie lebte in ihrer großen Villa Petrolea, ihre Arbeiter waren in dem Modelldorf Petrolea untergebracht.28


Keiner der Baku-Barone war jedoch annähernd so berühmt wie Hadschi Zeynalabdin Taghiyev (1823–1924). Als Sohn eines armen Schuhmachers in der Altstadt von Baku geboren, machte er nie einen Schulabschluss und verdiente als Beinahe-Analphabet sein Geld mit Maurerarbeiten. 1873 kaufte er als Teilhaber ein Grundstück auf der Abşeron-Halbinsel. Nach anfänglichen Misserfolgen verkauften seine Geschäftspartner ihm ihre Anteile. Kurz darauf war er alleiniger Besitzer eines der größten Erdölfelder am Kaspischen Meer und stieg zu einem Magnaten à la John D. Rockefeller oder Clint Murchison Senior auf. Doch Taghiyevs Ruhm basiert weniger auf der Art und Weise, wie er sein Vermögen machte, sondern vor allem darauf, wie er es ausgab. Er wurde zu Bakus größtem Philanthropen. Er ließ die Straße zwischen Baku und Bibi-Heybat befestigen und das Theater- und Opernhaus der Stadt bauen. Er gründete die städtische Straßenbahn, die Wasserwerke, die Feuerwehr, Firmen, eine Druckerei und die führende Zeitung mit Namen Kaspy. Auch in die Erziehung und Bildung investierte er: Hunderte junger Menschen wurden zum Studium an Russlands beste Universitäten geschickt; er legte den Grundstein für die erste muslimische Mädchenschule und ließ, trotz des Widerstands des Klerus, den Koran ins Aserbaidschanische übersetzen.29 Aber Taghiyevs Großzügigkeit blieb nicht auf sein Heimatland beschränkt. Seine größte Spende ging an die Madreseh-Schule in Teheran. Er gab Geld für armenische Waisenhäuser, orthodoxe Kirchen, die muslimische Wohlfahrtsgesellschaft in St. Petersburg und die Reparatur der Moschee von Astrachan. „Meine ganze Arbeit hatte ausschließlich das Ziel“, erklärte Taghiyev, „dass meine Nation glücklich wird.“30

Es sprossen zahlreiche Legenden um Taghiyev. Eine erzählt davon, wie Fischer durch das Ausbleiben von Fischen vor dem Aus standen. Taghiyev ging hinunter zum Hafen, zog einen wertvollen Ring vom Finger, legte ihn auf den Schwanz eines Fisches und warf ihn dann ins Meer. Am nächsten Tag waren die Gewässer vor Baku überreich mit Fischen gefüllt.

Baku war zu seiner Hochphase, wie etwa San Francisco nach dem Goldrausch, eine boomende Stadt, die Unternehmer, Fachleute und Glückssucher aus allen Ecken und Enden des Reiches anzog. Die Stadt verfügte über eine ausgezeichnete Anbindung über die Schiene und zu Wasser und konnte neben Ölraffinerien auch Tabak-, Chemie- und Textilfabriken vorweisen. Russische Beamte wachten über eine kosmopolitische Bevölkerung aus Aserbaidschanern, Armeniern, Polen, Juden, Taten und Georgiern sowie über eine winzige Plutokratie, eine wachsende Bourgeoisie und ein großes, unruhiges Proletariat. Großindustrielle saßen an der Spitze der sozialen Pyramide. Polen, wie etwa der Ingenieur Zrębicki, ein Pionier der Offshore-Förderung, oder der Architekt Józef Gosławski gehörten zu den bekanntesten Fachleuten ihres Gebiets. Die Ölarbeiter selbst waren großteils lose beschäftigte Wanderarbeiter aus dem gesamten Transkaukasus. 1904–05 brachen Unruhen aus, und Raffinerien wurden in Brand gesteckt; Muslime und Christen bekämpften sich, und Kosakentruppen stellten die öffentliche Ordnung mit großer Brutalität wieder her. Wegen des erheblichen Industrieproletariats war Baku einer der wenigen Orte im zaristischen Russland, in dem der revolutionäre Sozialismus Sinn ergab. Nach 1905 wurde es immer brenzliger, und die im Geheimen operierenden Bolschewiki waren eine der Gruppen, die die Lage weiter anheizten. Das sogenannte „Kaukasus-Trio“, Anastas Mikojan, Stalin und Grigori Ordschonikidse, war ebenfalls hier aktiv. In Baku starb Stalins erste Frau, Ketewan Swanidse, vergiftet durch Umweltverschmutzung, so hieß es. „Baku war der Ort“, sollte Stalin später zugeben, „an dem ich alle meine menschlichen Regungen verlor.“31

Während des Ersten Weltkriegs befand sich Baku im Hinterland der russisch-osmanischen Feldzüge im Kaukasus, doch als sich 1917 die russische Armee auflöste, geriet die Stadt in den Fokus mehrerer konkurrierender Truppen, die es auf ihren Reichtum abgesehen hatten. Es standen nun loyale Anhänger des Zaren, die „Weißen“, den Bolschewiki und anderen sozialistischen „Roten“ gegenüber, außerdem bekriegten sich Türken, islamische Fundamentalisten, aserbaidschanische Unabhängigkeitskämpfer, sozialistische Daschnaken, also Anhänger der Armenischen Revolutionären Föderation, und Briten, die aus Mesopotamien heranrückten. Das Ergebnis war ein langwieriges politisches Bäumchen-wechsel-dich-Spiel.

Populärwissenschaftliche Geschichtsbücher erwecken oft den falschen Eindruck, dass die Bolschewiki den Zar abgesetzt hätten oder die Sowjetunion durch die Oktoberrevolution 1917 entstanden wäre. Tatsächlich war die Lage deutlich komplexer. Zum einen wurde das Zarentum im Februar 1917 von einem Zusammenschluss politischer Gegner abgeschafft, die anschließend eine konstitutionelle, republikanische und mit den Alliierten verbündete Regierung unter dem demokratischen Sozialisten Alexander Kerenski schufen. Zum anderen begannen im selben Sommer, die gegen die Deutschen im Westen und die Osmanen im Osten kämpfenden russischen Armeen auseinanderzubrechen, was eine gefährliche Lage erzeugte. Zuletzt setzten im Oktober 1917 die Bolschewiki Kerenskis Regierung in Petrograd ab und gründeten die RSFSR, die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, oder kurz: „Sowjetrussland“. Da Sowjetrussland aber von einem Großteil des untergegangenen Reichs nicht anerkannt wurde, entstand eine Reihe regionaler und nationaler Republiken. Um ihre Macht zu sichern, waren die Bolschewiki daher bald gezwungen, eine lange Serie von Feldzügen gegen die sich abwendenden Staaten zu führen, anfangs im sogenannten Russischen Bürgerkrieg von 1918–19, anschließend von 1919 bis 1923 in jeder der ehemaligen nicht russischen Regionen des Zarenreichs. In einigen dieser Fälle – so in Finnland, Polen und den Baltischen Staaten – wurden sie geschlagen. Überall sonst – in der Ukraine, Zentralasien und im Kaukasus – errangen sie Siege. Doch vor der zweiten Hälfte des Jahres 1922 war nicht an die Gründung einer Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (der UdSSR) zu denken, die offiziell erst am 1. Januar 1923 ins Leben gerufen wurde. Diese sechs turbulenten Jahre zwischen 1917 und 1922 zu verstehen, ist entscheidend für eine umfassende Einsicht in die frühe Sowjet-Geschichte.

Die Ereignisse in Aserbaidschan illustrieren auf ihre Weise die politischen Verwicklungen dieser Zeit. 1917 gehörte die Provinz Baku seit fast 100 Jahren zum Zarenreich, und alle, die nach dem Zaren an die Macht strebten, schielten auf ihren Ölreichtum. Nicht nur die Bolschewiki sahen sie als Preis von unschätzbarem Wert. „Ohne das Öl Bakus kann der sowjetische Staat nicht überleben“, sagte Lenin. Und doch zeigten nur wenig Aserbaidschaner Engagement für die bolschewistische Sache oder schlossen sich der kommunistisch dominierten Baku-Kommune an, dem Bak-Sow, der im Herbst 1917 gegründet wurde.32 Die politische Macht wurde von zahlreichen Interessenten beansprucht, darunter kaukasische Föderalisten, aserbaidschanische Nationalisten, islamische Fundamentalisten, konservative armenische Christen, pan-türkische Idealisten, reaktionäre Ex-Generäle des Zaren, einige nicht marxistische Sozialisten und Gewerkschaftler sowie die kleine britische „Dunsterforce“ des Generals Lionel Dunsterville (1865–1946), der sich aus Bagdad aufgemacht hatte, um Baku vor den „Deutsch-Türken“ zu schützen. Der charismatische Dunsterville, ein persönlicher Freund Rudyard Kiplings, war das Vorbild für dessen Roman Stalky & Co. In Dunstervilles Augen waren alle Russen und prorussisch eingestellten Menschen, mit Ausnahme der Bolschewiki, als Freunde anzusehen.33

Die provisorische Regierung Kerenskis in Petrograd hatte im März 1917 für die Region Autonomie vorgesehen und ein Transkaukasisches Spezialkomitee eingerichtet. Aber Kerenski verfolgte auch die unbeliebte Idee, Russland weiter im Weltkrieg zu halten. Deshalb wurde später im Jahr das Spezialkomitee von einem sogenannten Transkaukasischen Kommissariat abgelöst, das in Tbilissi/Tiflis saß und georgische, armenische und aserbaidschanische Vertreter umfasste, die sich alle von russischer Kontrolle zu distanzieren suchten. Im Dezember bestätigte das Kommissariat einen Waffenstillstand mit dem Osmanischen Reich und erklärte am 24. Februar 1918 seine Unabhängigkeit durch die Bildung der Transkaukasischen Demokratisch-Föderativen Republik (TDFR). Mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk endeten kurz darauf die Kämpfe sowohl an der europäischen Ostfront als auch im Kaukasus. Der Vertrag übertrug zahlreiche Städte, darunter das georgische Batumi, an das Osmanische Reich. Er veranlasste zudem eine Friedenskonferenz in Trabzon, an der ebenfalls eine Delegation der TDFR teilnahm. Das Chaos in Baku konnte allerdings auch sie nicht beenden.

Die Bolschewiki des Bak-Sow und ihre Regierung aus diktatorisch herrschenden Kommissaren wollten nichts mit der TDFR und noch weniger mit dem immer stärker werdenden osmanisch-muslimischen Einfluss zu tun haben. Sie strebten eine Einheit mit Sowjetrussland an, von dem sie inzwischen abgeschnitten waren.34 Doch die Ereignisse entwickelten sich für sie nicht wie erhofft, und in ihrer Verzweiflung begannen sie im März 1918 mit einer Welle des „roten Terrors“. Unterstützt von armenischen Nationalisten ermordeten sie mehr als 10.000 aserbaidschanische Muslime, bevor sie die kommunistisch geführte Bak-Sow-Kommune ausriefen. Das Blutvergießen der Opfer dieser „März-Ereignisse“ war der Auslöser für das, was heute als Aserbaidschans eigene Unabhängigkeitsbewegung angesehen wird.

Ende Mai 1918 fiel die Transkaukasische Föderation auseinander, die Interessen der drei teilnehmenden Länder waren unvereinbar miteinander gewesen. Die christlichen Georgier und Armenier verweigerten die Annäherung an das Osmanische Reich, wohingegen die Aserbaidschaner die Unterstützung der Osmanen gegen die Bak-Sow-Kommune suchten. Nachdem Georgien und Armenien sich abgespalten hatten, kündigte die aserbaidschanische Führung am 28. Mai 1918 die Gründung der Demokratischen Republik Aserbaidschan (ADR) an, zog von Tbilissi nach Jelisawetpol (Gandscha) und bereitete Pläne für einen Angriff auf Baku vor. Ein Freundschaftsvertrag zwischen der ADR und den Osmanen bereitete den Weg für die sogenannte Armee des Islam, die von Nuri Killigil kommandiert und in Gandscha durch den Zusammenschluss zweier osmanischer Divisionen, dem örtlichen muslimischen Corps und Freiwilligen aus Dagestan gebildet wurde.

Eines hatten alle Krieg führenden Parteien gemein, nicht zuletzt die Briten und US-Amerikaner: Sie hofften, Bakus Öl erobern zu können.35 Die Osmanen planten heimlich, einen Landstrich im südlichen Georgien zu übernehmen, um dann eine Eisenbahnlinie für den Öltransport bauen zu können; die Aserbaidschaner mussten sich weiterhin an die Osmanen halten, da Batumi, die beabsichtigte Endstation der neuen Eisenbahn, sich in osmanischen Händen befand. Die Bolschewiki in Baku versprachen ihren Meistern in Moskau, das Öl könne dauerhaft gesichert werden, wenn sie mehr Unterstützung bekämen. Die Sowjetregierung schlug Deutschland daher sogar ein Geschäft vor, bei dem 25 Prozent des Öls aus Baku Deutschland zukommen würde, sollte es dabei helfen, die Ölfelder für die Bolschewiki zu gewinnen. Doch das Lager der Bolschewiki war innerlich gespalten. Die Kameraden in Baku baten Stalin, inzwischen ihr Kommissar in Zarizyn (Wolgograd), um Nahrung und Truppen. Als er sich weigerte, protestierten sie bei Lenin persönlich – vergeblich.

Die Schlacht um Baku entwickelte sich zu einem Dreikampf. Bolschewistische Einheiten verließen Baku für Scharmützel in der Nähe von Gandscha und brannten unterwegs muslimische Dörfer nieder. Die Armee des Islam begann einen Gegenangriff. Und die Dunsterforce bewegte sich aus dem nördlichen Persien auf die Hafenstadt Bandar Anzali am Kaspischen Meer zu. Die Briten, die aus Bagdad aufgebrochen waren, bevor der Aufstieg des unabhängigen Aserbaidschan begonnen hatte, wussten, wie schnell sich die Dinge ändern können. Doch niemand hatte die nächste Wendung kommen sehen.

Am 26. Juli wurde der Bak-Sow von einer Gruppe Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Armeniern abgesetzt. Die sich nun stellende Frage war, ob man im Kampf gegen die Osmanen um britischen Beistand bitten sollte oder nicht. Die Bolschewiki, die nie die vollständige Kontrolle im Rat erlangt hatten, verloren die Diskussion und gaben auf. Ihre Nachfolger errichteten ein Regime mit Namen „Zentralkaspische Diktatur“. Die Führungsriege war neu, doch die Truppen, die ihr unter General Dokuchaev zur Verfügung standen, waren die alten. Sie bestanden aus 6000 Infanteristen der sogenannten Baku-Bataillone, vor allem Armeniern, einem Kosakenkontingent und einer Artillerieeinheit mit 40 Gewehren. Unglücklicherweise hatten sich die bolschewistischen Kommissare aus Angst vor der Verhaftung aus dem Staub gemacht und dabei den Großteil des städtischen Arsenals mitgenommen.

Das Verschwinden der Bolschewiki riss zugleich die letzten Barrieren ein, die den interreligiösen und interethnischen Streit verhinderten. Auch wenn die atheistischen Bolschewiki skrupellos und repressiv gehandelt hatten, so hatten sie doch dafür gesorgt, dass religiöse Konflikte auf ein Minimum beschränkt blieben. Doch nun war die Armee des Islam da, um die Opfer der „März-Ereignisse“ zu rächen. Und unter den Armeniern gab es nicht wenige militante Christen. So gesehen mag man die letzte Schlacht an der Kaukasusfront des Großen Kriegs als erste Salve im langwierigen aserbaidschanisch-armenischen Konflikt verstehen.

Die Armee des Islam positionierte sich auf den Hügeln rings um Baku, kaum war die Zentralkaspische Diktatur vier Tage alt. Allerdings hatte sie keine Eile, den entscheidenden Vorstoß zu beginnen, und in dieser Pause erreichten die ersten Schiffe mit britischen Soldaten aus Persien die Bucht. Die Ende August aufgestellte Dunsterforce verstärkte die Feuerkraft der Verteidiger – mit einer Batterie Feldartillerie, einer Maschinengewehr-Sektion, drei gepanzerten Fahrzeugen und zwei Martinsyde-Aufklärungsflugzeugen –, brachte allerdings nur zusätzliche 1000 Mann mit: zwei britische Infanterie-Bataillone (von den Warwicks und North Staffordshires), dazu einige Inder, Australier und Neuseeländer. Es dauerte zwei bis drei Wochen, bis man die Festung verstärkt hatte und irreguläre lokale Truppen trainiert waren. Die einsitzigen Doppeldecker der Royal Air Force, auch „Elephants“ genannt, kreisten unablässig über der Stadt.

Baku fiel in zwei Etappen. Ein massiver Angriff am 13. August konnte unter schweren Verlusten abgewehrt werden. Eine zweite Welle führte die Armee des Islam in der folgenden Nacht bis ins Stadtzentrum. Nachdem er fast 200 seiner Männer und Offiziere verloren hatte (deren Gräber sich nun auf dem Fexri Xiyaban Friedhof befinden), blies General Dunsterville zum Rückzug. Die Reste seiner Truppe kletterten auf die Boote und kehrten dorthin zurück, woher sie gekommen waren – Persien.36

Die örtliche armenische Bevölkerung hingegen konnte nicht fliehen. Voller Panik und ins Hafengebiet gedrängt, gerieten sie in die Hände der muslimischen Soldaten, denen man die traditionellen zwei Tage zur Plünderung gewährt hatte. Als die osmanischen Herrscher die Ordnung wiederhergestellt hatten, waren zwischen 10.000 und 20.000 Armenier tot. Die „September-Ereignisse“ hatten die „März-Ereignisse“ mehr als wettgemacht.

Die Einnahme von Baku besiegelte auch das Schicksal der geflüchteten Bolschewiki-Kommissare. Sie hatten ihr Ziel, das von Bolschewiki gehaltene Astrachan, nie erreicht. Ihr Schiff war von feindlichen Elementen beschlagnahmt und sie selbst waren der Gnade der russischen „Weißen“ in Port-Petrowsk ausgeliefert worden. Von hier aus wurden die Gefangenen über das Kaspische Meer zurück nach Krasnowodsk gebracht und alle, bis auf einen, auf Befehl eines antibolschewistischen Komitees zum Tode verurteilt. Am 20. September wurden die „26 Kommissare“ an einem Eisenbahndamm vor Krasnowodsk erschossen. Ihre Hinrichtung war der Ausgangspunkt für die bolschewistische Propaganda, die den britischen Offizier Captain Teague-Jones für die Ermordung verantwortlich machte.37

Nur eine der bolschewistischen Entscheidungen von 1918 blieb bestehen. Im Juli erklärte der Armenische Nationalrat in Bergkarabach seine Unabhängigkeit und wollte sich Armenien anschließen, was auch die Bolschewiki unterstützten. Die Entscheidung wurde sowohl vom Bak-Sow als auch von Stalin in seiner Funktion als Volkskommissar für Nationalitätenfragen genehmigt. In diesem Augenblick, der Hochphase der ADR, konnte sie nicht umgesetzt werden, sollte aber noch langfristige Nachwirkungen zeigen.38

Auf dem Papier war die Demokratische Republik Aserbaidschan, die ihre Hauptstadt Ende September 1918 nach Baku verlegte, einer der liberalsten und fortschrittlichsten Staaten der Erde. Sie sprach von sich selbst als erster Demokratie in der muslimischen Welt; man setze sich für eine allgemeine Bildung ein und war in Fragen des Frauenwahlrechts Ländern wie Großbritannien oder den Vereinigten Staaten ein gutes Stück voraus. Es gab ein breites Spektrum politischer Parteien, man strebte die Versöhnung der unterschiedlichen Ethnien an, hielt schon früh Parlamentswahlen ab und veröffentlichte eine Verfassung. Das Parlament trat im Dezember zusammen und bestätigte die erste verfassungsgemäße Regierung. Der Anwalt und ehemalige Abgeordnete der russischen Staatsduma Fatali Chan Choiski (1875–1920) war von 1918–19 der erste Premierminister des Landes.39

Choiskis Regierung unternahm große Anstrengungen, um international anerkannt zu werden. Das Land blieb im russischen Bürgerkrieg zwischen den „Roten“ und „Weißen“ neutral und entsandte eine Delegation zur Pariser Friedenskonferenz, wo es im Januar 1920 nachträglich de facto von den Entente-Mächten anerkannte wurde. Auch von mehreren post-russischen Staaten wie Polen, der Ukraine und Finnland wurde es de jure anerkannt. Um persische Widerstände gegen den Namen „Aserbaidschan“ auszuräumen, nannte sich die ADR auf internationalem Parkett „Kaukasus-Aserbaidschan“.40

Dennoch, und trotz aller Erfolge gerade im Bereich der Bildung, etwa durch die Gründung der Universität von Baku und zahlreicher neuer Schulen, hatte die ADR in den 23 Monaten ihrer Existenz schwer zu kämpfen. Zwischen der winzigen politischen Elite, die zum Großteil in Moskau oder St. Petersburg ausgebildet worden war, und den strenggläubigen Massen, zum Großteil Analphabeten, tat sich ein tiefer kultureller Spalt auf, und die „Idee eines aserbaidschanischen Nationalstaates schlug keine Wurzeln“.41 Gebietsstreitigkeiten mit Armenien über Bergkarabach und Nachitschewan und mit Georgien über Balakan und Zaqatala setzten sich fort. Der ins Stocken geratene Ölhandel kam nicht wieder richtig in Gang. Und gewalttätige soziale Unruhen brachen aus, vor allem im Süden in der Stadt Lənkəran/Länkäran. Doch am schlimmsten war, dass die beiden Großmächte Großbritannien und Russland ihre imperialistischen Finger nicht aus dem Spiel lassen konnten.

Keine zwei Monate nach General Dunstervilles hastigem Rückzug landete eine britische Streitmacht mit mehr als 5000 Soldaten der Indischen Armee unter dem Kommando von Lieutenant-General William Thomson in Baku. Die Truppen waren nach dem Waffenstillstand von Moudros entsandt worden, mit dem unter anderem die Feindseligkeiten zwischen dem Osmanischen Reich und Großbritannien in Mesopotamien beendet wurden oder auch vereinbart worden war, alle osmanischen Einheiten in der Armee des Islam aus Baku abzuziehen. General Thomson tat so, als gäbe es die ADR nicht, weder bekämpfte noch unterstützte er sie. Er ließ die aserbaidschanische Flagge einholen und den Union Jack aufziehen, nannte sich selbst Militärgouverneur und rief das Kriegsrecht aus. Hätte man die Briten gefragt, was sie hier taten, hätten sie wohl geantwortet, dass sie treuhänderisch für ihren Kriegsverbündeten Russland handelten. „Die Verbündeten können nicht nach Hause zurückkehren“, erklärte General Thomson, „ohne die Ordnung in Russland wiederhergestellt und es in die Lage [versetzt] zu haben, seinen Platz unter den Nationen der Erde erneut einzunehmen.“42 Der General war ganz offensichtlich der Meinung, sich in Russland zu befinden.

Diese zweite britische Expedition hatte zwei Ziele, einmal abgesehen davon, die Bolschewiki von Baku fernzuhalten. Zum einen sollte sie Verstärkung für die aserbaidschanischen Truppen in Bergkarabach entsenden, wo der Gouverneur und ADR-Verteidigungsminister, Major-General Kosrow Sultanow, von armenischen Separatisten unter Druck gesetzt wurde. Zum zweiten sollten die britischen Soldaten Anschluss an ihre Kameraden im georgischen Batumi suchen und damit die Eisenbahnverbindung zwischen Baku und Batumi sichern. General Cooke-Collis traf kurze Zeit nach General Thomsons Ankunft in Baku selbst in Batumi ein. Gemeinsam bemühten sie sich, den Ölhandel bis zum Ende des russischen Bürgerkriegs neu zu beleben und zu schützen.

General Thomsons Truppen – die in den allgemeinen Erzählungen zur Landesgeschichte nur selten auftauchen – blieben von November 1918 bis August 1919 in Baku. In dieser Zeit unterhielt er nur inoffizielle Kontakte zu ADR und musste bestürzt mitansehen, wie die „Roten“ im russischen Bürgerkrieg immer mehr die Oberhand gewannen. Trotzkis Rote Armee rückte immer weiter an den Kaukasus heran. Das unabhängige Armenien begann einen Krieg gegen die Türkei, das unabhängige und von Menschewiki regierte Georgien hatte vorsichtig den heiklen Weg der Neutralität zwischen Istanbul und Moskau eingeschlagen. Darüber hinaus entwickelte sich in den Ruinen des Osmanischen Reiches eine starke türkische Nationalbewegung. Der isolierte britische Außenposten im Kaukasus wurde zunehmend untragbar. General Thomsons Männer, die im unruhigen Irak dringend benötigt wurden, kehrten ordnungsgemäß nach Mesopotamien zurück.

Sobald die Briten Baku den Rücken zugekehrt hatten, geriet die ADR, in bestem Lenin’schen Stil, „von außen und von innen“ unter Druck. Anders als Georgien oder Armenien bestand hier immer die latente Gefahr einer Invasion von See aus – wie die Briten zwei Mal bewiesen hatten –, und die Bolschewiki gewannen im Norden des Kaspischen Meeres schnell an Stärke hinzu. 1919 setzten sich die roten Kämpfer in Zarizyn fest, wo sich Stalin einen Namen machte, und verschafften sich erneut Geltung über die untere Wolga. Sergei Kirow schlug einen Arbeiteraufstand in Astrachan nieder, dem Heimathafen der Kaspischen Flotte, und die „Weißen“ wurden aus Port-Petrowsk (Machatschkala) an der Küste Dagestans vertrieben. Ein dessant oder amphibische Landung aus dieser Richtung wurde immer wahrscheinlicher. Moskau rief die Führung der ADR immer wieder zur Zusammenarbeit auf und drohte bei Nichtbeachtung mit Vergeltung. Agitationen, Streiks und Proteste nahmen in Baku zu, da die aserbaidschanische Kommunistische Partei die demokratischen Überzeugungen der politischen Führung immer weiter unterminierte.

In den ersten Monaten des Jahres 1920 geriet die größere bolschewistische Sache in eine überschwängliche Euphorie. Lenin überzeugte sich selbst, dass die Zeit gekommen war, die Russische Revolution nach außen zu tragen und die europäischen Zentren des Kapitalismus zu erobern. Bolschewistische Theoretiker hatten schon lange die Meinung vertreten, die Revolution im rückschrittlichen Russland könne nicht überleben, wenn sie nicht von den Arbeitern in den fortschrittlicheren, industrialisierten Staaten Europas unterstützt würde; sie gingen schon immer davon aus, dass die Rote Armee gen Westen marschieren würde, sobald Russland einmal stabilisiert sei. Trotzki, der Volkskommissar für Kriegswesen, war sich der Mängel der Roten Armee sehr bewusst und entwickelte einen alternativen Plan. „Die Straße nach Berlin führt über Kalkutta“, erklärte er. Seine Einwände wurden von Lenin übergangen, und eine millionenstarke „Westliche Armee“ sollte sich in der Berezina konzentrieren. Der junge Michail Tuchatschewski, der begabteste Kommandeur der Roten Armee, wurde für die Übernahme dieser Aufgabe ausgewählt.43 Doch zuvor musste er noch für Trotzki eine Aufgabe übernehmen – die Eroberung von Baku.

Tuchatschewskis Operationen am Kaspischen Meer im April 1920 standen später im Schatten seiner sensationellen Feldzüge im Westen, doch auch sie wurden mit Umsicht und Erfolg durchgeführt. Drei Schritte wurden in Angriff genommen: Zuerst sprengte ein politischer Coup in Baku die Regierung der ADR; dann begann eine Invasion aus dem Norden über Land durch die 12. Rote Armee; und drittens führte er einen dessant durch, um die Ölfelder zu sichern. Der Plan wurde am 21. April fertiggestellt.

Die Führung der ADR war über den unmittelbar bevorstehenden Angriff entsetzt, der Herausforderung aber nicht gewachsen. Die wenigen Einheiten unter ihrem Kommando waren fast alle an der armenischen Grenze stationiert, und ihre Passivität wurde durch die Unfähigkeit verschlimmert, kommunistische Verschwörer in ihren eigenen Reihen aufzuhalten. Weder Mirsa Dawud Gusejnow (1894–1938), Vorsitzender des Sowjetischen Revolutionären Komitees und Schwiegersohn des früheren Premierministers Choiski, noch sein Kamerad Nariman Narimanow (1870–1925), von einem Stipendium Taghiyevs gefördert, galten ihr als gefährlich. Als das Parlament über die Frage diskutierte, ob die Rote Armee willkommen geheißen werden sollte oder nicht, verabschiedete es eine unsinnige Resolution, mit der die „völlige Unabhängigkeit Aserbaidschans unter sowjetischer Führung“ gefordert wurde. Ein unvoreingenommener Historiker bezeichnete dies als einen „Akt der Abdankung“. Der „Sturz der Republik war verblüffend einfach.“44

Die Konsequenzen zeigten sich schon rasch. Tuchatschewski traf am 28. April in einem gepanzerten Zug in Baku ein, ohne dass Gegenwehr geleistet wurde. Die Minister der Regierung wurden von der Tscheka eingesammelt. Man beschlagnahmte 4 Millionen Tonnen Öl, und alle führenden Beamten und Firmeneigentümer wurden verhaftet. Das wiedererrichtete Sowrevkom (Sowjetische Revolutionäre Komitee) lud die „Arbeiter“ dazu ein, die Häuser der „blutsaugenden Bourgeoisie“ zu plündern. Als die Bolschewiki 1918 schon einmal die Macht innegehabt hatten, wurden private Ölfirmen von sogenannten Arbeiterräten mehr schlecht als recht überwacht; dieses Mal wurden sie ganz geschlossen. Am 30. April 1920 ging die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik in Betrieb.

Eine Zeugin, die sich lebhaft an die sowjetische Machtübernahme erinnerte, war die 1914 geborene Zuleykha Asadullayeva, die Tochter eines Ölbarons, die bis dahin ein bequemes Leben mit Dienerschaft und Gouvernanten in ihrem Haus in der Samad-Vurgun-Straße verbrachte hatte (in dem heute die Irakische Botschaft untergebracht ist). Die Familie sprach Russisch, und nicht Aserbaidschanisch, und keine der Frauen trug einen Schleier oder Tschador:

Ich war sechs Jahre alt, als die Rote Armee in Baku einmarschierte. Nur wenige Leute wussten, dass [sie] kommt; alle gingen davon aus, dass es die Türken sein würden. … Die Regierungsführung wollte keine Panik auslösen. Das Parlament beriet sich drei Tage lang. … Dann haben sie sich schließlich ergeben, nachdem ihnen versprochen worden war, die Bolschewiki würden niemandem etwas antun. … Was für eine Fehleinschätzung!

Ich werde den Augenblick nie vergessen. … Meine Mutter und mein Vater [Khalef Meymalov] standen im Esszimmer und blickten aus dem Fenster. … Die Straßen waren voll mit groben, schmutzigen Soldaten der Roten Armee. Mein Vater drehte sich traurig zu meiner Mutter um. „Wir sind am Ende“, sagte er.

Wir bereiteten alles für einen sofortigen Aufbruch vor. Um sechs Uhr an diesem Nachmittag brachten uns zwei Wagen zu einem Freund, wo wir eine Woche blieben und dann zu unserem Landsitz fuhren. … Meine beiden Eltern wurden verhaftet. Meine Mutter wurde später wieder freigelassen, aber mein Vater blieb zwölf Monate in Haft. [Die Tscheka] erschoss jeden Tag 50 Menschen. … Er wurde vermutlich auch erschossen. Wir wissen aber nicht, was wirklich mit ihm geschah.45

Die Mutter und ihre Kinder konnten eines Tages fliehen, nachdem sie russische Funktionäre bestochen hatten. All ihrer Besitztümer an der Grenze beraubt, kamen sie in der Türkei unter. Zuleykha emigrierte später in die Vereinigten Staaten. Ihre Schwägerin Leyla, eine Taghiyev, beging Selbstmord. Ihr Ehemann, Ali Asadullayev, schlug sich auf die Seiten der russischen Faschisten.

Die Sowjetherrschaft dauerte in Aserbaidschan von April 1920 bis Dezember 1991 – fast 72 Jahre. Von Anfang an wurde ein russisch gesteuertes, diktatorisches System aufgebaut, ohne Aserbaidschan jedoch direkt in Sowjetrussland einzugliedern. Auch wenn die äußere Form der staatlichen Institutionen mehrfach umgestaltet wurde, blieb das Zentrum des gesamten Systems unangetastet, die sogenannte „Diktatur des Proletariats“, die Unterordnung aller politischen und administrativen Körperschaften unter die eiserne Kontrolle der herrschenden Kommunistischen Partei – der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) oder abgekürzt SDAPR(B). Jede Entscheidung über Aserbaidschan wurde auf Befehl des Kreml in Moskau getroffen.

Nach einer Anfangsphase, in der die Rote Armee nicht nur Aserbaidschan eroberte, sondern auch die benachbarten Länder Armenien und Georgien, verschmolzen die Bolschewiki die drei besiegten Staaten 1922 zur Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Sie übten ihre Macht durch das Kaukasische Büro aus, dessen wichtigster Mann Josef Stalin als Volkskommissar für Nationalitätenfragen agierte. Stalin verurteilte alle Gegner des föderativen Systems als „nationalistische Abweichler“ und unterdrückte sie gnadenlos. Konfrontiert mit andauernden ethnischen Auseinandersetzungen, war eine seiner wichtigsten Aufgaben die Durchsetzung einer Reihe von Siedlungsbeschlüssen. Bolschewistische Planer entwickelten zwei territoriale Enklaven in Aserbaidschan. Die eine, Nachitschewan, im Südwesten, war von armenischem Gebiet umschlossen, aber hauptsächlich von Aserbaidschanern bewohnt und stand daher auch unter aserbaidschanischer Kontrolle. Doch das mehrheitlich von Armenien bewohnte und geführte Bergkarabach/Arzach wurde zur Autonomen Oblast Bergkarabach, das offiziell ebenfalls nicht zu Armenien, sondern wiederum zu Aserbaidschan gehörte. Dieses bösartige Arrangement sorgte für anhaltende Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, bei denen sich Moskau als ewiger Schlichter gerieren konnte.46 Bei der politischen Namensgebung ging es mit den Verantwortlichen durch. Die Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik, die auf Aserbaidschanisch Xankändi und auf Armenisch Vararakn hieß, wurde offiziell in Stepanakert umbenannt – zu Ehren von Stepan Schahumjan, einem der ermordeten Kommissare.

1922, als Stalin Lenins Nachfolge als Generalsekretär der Kommunistischen Partei angetreten und ein Großteil des früheren Zarenreichs sich der bolschewistischen Herrschaft ergeben hatte, konnten die Vorbereitungen für die Gründung der Sowjetunion beginnen. Zusammen mit der Russischen, Ukrainischen und Weißrussischen Sowjetrepublik war die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik eines ihrer vier Gründungsmitglieder.

Aus gesundheitlichen Gründen hielt sich der beliebte russische Dichter Sergei Jessenin (1895–1925) in den 192oer-Jahren lange in Baku auf, zusammen mit seiner skandalträchtigen Frau, der amerikanischstämmigen Tänzerin Isadora Duncan, die 18 Jahre älter war als Jessenin. Sei es aus Überzeugung oder der Konformität halber, der Dichter schrieb die propagandistische und offiziell gelobte Ballade der Sechsundzwanzig:

Ich erinnere mich, wie die Briten unsere Männer aus Baku erschossen, Jene sechsundzwanzig tapferen und edlen Männer …47

Seitdem drängte man Frischvermählte und Schulkinder in Baku zur Lektüre dieses Gedichts und zu einer Fotosession neben dem monumentalen Denkmal für die toten Kommissare.

Von Anfang an, so erfährt man aus populärwissenschaftlichen Texten, „wurden alle privaten Ölfirmen verstaatlicht“ und die Ölindustrie des Landes geriet unter die Kontrolle des staatlich-sowjetischen Monopolisten, Azerineft. Es mag daher überraschen zu erfahren, dass mehrere der angeblich aufgelösten Unternehmen im Ausland noch jahrzehntelang Geschäfte machten und einige gar das Ende der Sowjetunion überlebten.

So operierte etwa BAKU CONSOLIDATED OILFIELDS LTD (BCO) – zu deren stolzen Besitzern einer wertlosen Papieraktie ich mich zählen durfte – seit 1908 in ihren Büros in 48, Canon Street, London EC4. Als die bolschewistische Gefahr immer größer wurde, verschmolz die Firma 1919 mit der Russian Imperial Petrol Ltd. Man schätzt, dass die BCO rund 85 Millionen Pfund in Baku investierte, und damit deutlich mehr als beispielsweise die Rothschild Bank mit ihren 25 Millionen Pfund oder Royal Dutch Shell mit 20 Millionen Pfund.

Wegen der politisch instabilen Lage konnten die Vorschriften der Bolschewiki in Baku erst nach der Ankunft von Tuchatschewski und seiner 12. Roten Armee durchgesetzt werden. Und selbst danach konnte man zwar die physischen Besitztümer der Firma – die Ölfelder, die Öllager, die Gebäude, Schiffe und Ausrüstung – konfiszieren, aber das Unternehmen selbst sowie sein immenses Finanzkapitel lagen weit außerhalb der Reichweite der Bolschewiki. Die BCO konnte jenseits der UdSSR ihren Geschäften weiter nachgehen und gab ihre Bemühungen um eine Kompensation der Verluste nie auf. Verblüffenderweise löste sich die Firma dann am 21. August 1997 auf. Aber damit hatte sie Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew und sogar Gorbatschow überlebt.

Auch Branobel führte ein postrevolutionäres Leben: Gegründet 1876, wurde die Firma erst 1959 abgewickelt – nach 83 Jahren. BCO hatte es sogar auf 89 Jahre gebracht. Man schätzt die Vermögenswerte von Branobel im Jahr 1914 auf 30 Millionen Rubel, und die Firma wurde vor dem drohenden Ruin Anfang Mai 1920 durch einen Deal zwischen Ludwig Nobel und J. R. Rockefeller Junior, dem Eigentümer der Standard Oil (New Jersey) gerettet, als Letzterer angeblich die Hälfte des Unternehmens kaufte. Der Verkäufer wollte seine Anteile möglichst schnell loswerden, bevor die bolschewistische Axt niedersauste; der Käufer wollte sie gern übernehmen, da er fälschlicherweise davon ausging, dass „antiimperialistische“ amerikanische Unternehmer bei den Bolschewiki willkommen sein würden. Der verbliebene Rest von Branobel bemühte sich 40 Jahre lang um eine Liquidation unter günstigen Umständen. Er wurde schließlich von seinem letzten Präsidenten, Ludwig Nobels Enkel Nils Nobel-Oleinikow, zur Zeit der Sputniks aufgelöst.48

Die Auswirkungen der bolschewistischen Beschlagnahmung des aserbaidschanischen Öls zeigten sich in mehreren Phasen – einige von ihnen positiv, andere eher negativ. So zielte beispielsweise das im April 1921 geschlossene englisch-sowjetische Handelsabkommen, eine Idee des Premierministers David Lloyd George, auf die Beendigung der Blockade Sowjetrusslands und die Wiederaufnahme normaler Beziehungen. Das Abkommen entstand zeitgleich mit Lenins Neuer Ökonomischer Politik, die einige seiner extremen ideologischen Doktrinen etwas zurücknahm, und basierte auf dem Missverständnis, dass die Bolschewiki, sobald man sie vernünftig behandelte, auch vernünftig reagieren würden. Bei dieser Gelegenheit wurde übrigens die Sowjetregierung zum ersten Mal von einer Großmacht offiziell anerkannt.49 Und doch konnte der Vertrag nicht ohne Klauseln zu vielversprechenden Verhandlungen über Rückzahlungen von Schulden durch die Sowjetunion unterzeichnet werden. Ein Teil dieser Schulden stammte aus Krediten, die der Regierung des Zaren gewährt worden waren; ein anderer aus der Beschlagnahmung von britischem Besitz, darunter die verstaatlichten Ölvermögenswerte. Die Bolschewiki waren zu jedem Gespräch bereit, allerdings nicht zur Rückzahlung auch nur eines einzigen Penny.

Die Geschichte der Verhandlungen über die sowjetischen Schulden ist eine der Intrigen und reinen Täuschungsmanöver; in über einem Dutzend Jahren führten die Gespräche nirgendwohin. Sobald sie begannen, erhob das sowjetische Verhandlungsteam astronomische Gegenforderungen für angebliche Kosten durch sogenannte „Interventionen der Alliierten“: also für die britische Unterstützung ihrer Kriegsverbündeten, die von den Bolschewiki beseitigt worden waren. Komplikationen entstanden durch Manöver amerikanischer Geschäftsleute wie etwa Harry Ford Sinclair, der, noch bevor er wegen Korruption verurteilt wurde, einen unilateralen Vertrag mit Stalin plante, zu dem auch große Investitionen in Baku gehörten.50 1923 dann drohten die Gespräche zu scheitern, da Lord Curzon die sofortige Freilassung von Pater Budkiewicz verlangte, einem inhaftierten katholischen Priester.51 Und 1927, nach einer Razzia in London, bei der die britische Polizei auf der Suche nach Beweisen für einen Umsturzversuch gegen die All-Russian Co-operative Society vorgegangen war, wurden die britisch-sowjetischen diplomatischen Beziehungen für zwei Jahre eingefroren.52 Im Dezember 1932 versuchte ein britischer Parlamentsabgeordneter noch immer herauszufinden, was in dieser Angelegenheit getan wurde, falls überhaupt etwas getan wurde:

SIR WILLIAM DAVISON erkundigte sich beim Außenminister, welche Maßnahmen vonseiten der Regierung Seiner Majestät ergriffen worden waren im Fall der kompensationslosen Beschlagnahmung durch die russisch-sowjetische Regierung von Grundstücken, Ausrüstung, der Fabrik und dem Erdöl, die dem britischen Unternehmen „Baku Consolidated Oil Ltd.“ gehört hatten und die auf 4.000.000 Pfund geschätzt werden.

MR. EDEN. Die Umstände, unter denen die britisch-sowjetischen Verhandlungen über Schulden und Forderungen am 27. Januar abgebrochen worden sind, wurden dem Parlament bereits dargelegt. … Darüber hinaus sind keine weiteren Maßnahmen ergriffen worden.53

Sowjetaserbaidschan blieb bis 1936 Teil der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik; von da an und bis 1991 war die Aserbaidschanische SSR eine der fünfzehn konstitutiven Republiken der UdSSR. Aber es war kein freies Land. Ende der 1930er-Jahre litt Aserbaidschan fürchterlich unter Stalins Säuberungen und dem Großen Terror, bei dem etwa 80.000 Aserbaidschaner, darunter Kommunisten, ermordet wurden. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde die Stadt Gandscha in Kirowabad umbenannt.

Das Öl Bakus war dann während des Zweiten Weltkriegs wieder heiß umkämpft. Dank des Hitler-Stalin-Pakts versorgte Öl aus Baku die deutsche Luftwaffe bei der Luftschlacht über England, und die RAF war kurz davor, kaspische Ölfelder zu bombardieren. Doch mit der Operation Barbarossa ab Juni 1941 änderte sich alles. 1942–43 galt Baku als wichtigstes Ziel der Wehrmacht im Osten. Einige Generale servierten Hitler zu seinem Geburtstag eine Eistorte, auf die man eine Karte des Nahen Ostens aufgebracht hatte: Der Mittelpunkt, an dem man das Messer für den ersten Schnitt ansetzte, war Baku. Nach der Schlacht um Stalingrad war diese Gefahr allerdings behoben. Dass es den Deutschen nicht gelungen war, die Ölfelder zu erobern, sollte sich als Katastrophe für sie erweisen.

Da er die Machenschaften eines pro-deutschen Schahs fürchtete, hatte Stalin sich im August 1941 zur Errichtung eines britisch-sowjetischen Protektorats über den Iran bereit erklärt, das die Rote Armee schließlich nach „Südaserbaidschan“ führte und den Amerikanern eine Route, einen „persischen Korridor“, eröffnete, über die sie große Mengen militärischer Hilfsgüter transportieren konnten. Stalin rief dann 1945–46 eine Schein-Volksrepublik Täbris aus, womöglich um einer Annexion zuvorzukommen, ließ die Idee dann aber fallen, womöglich auf amerikanischen Druck hin.54

Genau in dieser Zeit verdiente sich ein junger sowjetischer Sicherheitsoffizier aus Nachitschewan, Heydar Alijew (1923–2003), seine ersten Sporen in „Südaserbaidschan“. Er sollte später zum Chef des KGB in Baku, zum Vorsitzenden der aserbaidschanischen Kommunistischen Partei und von 1969 bis 1982 einer der sehr wenigen Muslime, beziehungsweise Ex-Muslime, werden, die es je in das sowjetische Politbüro brachten. (Damals wurde sein muslimischer Hintergrund verschwiegen oder verleugnet.) Zahlreiche Passagen seiner autorisierten Biografie, die derzeit verkauft wird, widmen sich Schuldzuweisungen an Präsident Gorbatschow, der ihn entlassen hatte.55

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu massivem Bevölkerungsaustausch, wie Stalin ihn auch in anderen Teilen der UdSSR befahl. Mindestens 100.000 Aserbaidschaner wurden von Armenien nach Aserbaidschan umgesiedelt und eine vergleichbare Zahl Armenier aus Aserbaidschan nach Armenien. Diese Zwangsmaßnahmen steigerten zwangsläufig die ethnischen Konflikte, die später ausbrechen sollten.

Trotz des wirtschaftlichen Missmanagements und Phasen der grausamen Unterdrückung, brachte die Sowjet-Herrschaft auch Fortschritt. Die allgemeine Schulpflicht für Jungen und Mädchen wurde eingeführt, ein säkularer Staat ausgerufen und die aserbaidschanische Sprache anerkannt, die nacheinander arabische, kyrillische und lateinische Buchstaben für die Schrift nutzte. Islamische Autoritäten wurden unterdrückt und eingeschüchtert, aber nicht wie der orthodoxe Klerus in Russland dezimiert. In einem beliebten Handbuch aus den 1960er-Jahren findet sich eine dieser typischen, öden Beschreibungen:

Aserbaidschan, ein Land, das das östliche Transkaukasien und Nordwestpersien umfasst … ist im Norden und Süden gebirgig, während sich in der Mitte die Kura-Niederung befindet. … Es finden sich große Lagerstätten mit Öl, aber auch Eisen, Kupfer, Blei und Zink. … Größe 86 600 Quadratkilometer; Bevölkerung (1959) 3 698.000 (48 Prozent davon in Städten), hauptsächlich turksprachige Aserbaidschaner (67 Prozent), Russen (14 Prozent) und Armenier (12 Prozent). Aserbaidschan verfügt über die drittgrößte Ölindustrie der UdSSR, aber auch über eine Textil- und Lebensmittelindustrie sowie Maschinenbau. Es wird Baumwolle angebaut; man betreibt Seidenraupenzucht, Garten- und Weinbau und zieht Schafe, Büffel und Pferde groß; auch alte Handwerksberufe (Seide und Teppiche) werden noch gepflegt. Wichtigste Städte: Baku (Hauptstadt), Kirowabad und Sumgait …56

Das Handbuch erwähnt keines der zahlreichen Verbrechen Stalins. Und ein Besucher im heutigen Baku dürfte sich wundern, warum so viele der unzähligen Gedenktafeln mit dem nicht weiter erklärten Datum 1938 enden.

Einer, der Aserbaidschans Fortschritt mit Interesse beobachtet haben dürfte, war Anastas Mikojan (1895–1978). In Armenien geboren, war er einer von Stalins ursprünglichen Vertrauten und gehörte jahrzehntelang zur obersten Führungsriege der Sowjetpolitiker; so war er 1964–65 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets das Staatsoberhaupt. (Sein jüngerer Bruder gehörte zu den Entwicklern der MiG-Kampfflugzeuge.) Er galt als hervorragender politischer Entfesselungskünstler: „Mikojan konnte mitten im Sturm über den Roten Platz spazieren und dabei allen Regentropfen ausweichen“, hieß es über ihn. Geheimnisvollerweise war er der einzige der Kommissare aus Baku, der nicht hingerichtet worden war, und er war es auch, der im April 1920 den gepanzerten Zug mit Tuchatschewski kommandierte. Als Außenhandelsminister in den 1930er-Jahren ließ er amerikanische Eiscreme nach Russland importieren; Stalin kommentierte dies unheilvoll: „Anastas Iwanowitsch liebt Eis inniger als den Kommunismus.“ Aber er ließ ihn in Frieden. Er und Mikojan sollen sich regelmäßig zugeprostet haben: „Zur Hölle mit all den Russen.“57

1987, also während Gorbatschows „Glasnost“-Phase, brach der sieben Jahrzehnte festgefrorene Konflikt in Bergkarabach wieder aus. Demonstranten in Stepanakert forderten die Vereinigung mit Armenien. Die Regierung in Baku bemühte sich, ihre unmittelbare Macht durchzusetzen, sah sich aber mit einem Referendum konfrontiert, das das autonome Gebiet von Bergkarabach in eine unabhängige, aber nicht anerkannte, von Armenien unterstützte Republik verwandelte. Moskaus Zögern war verhängnisvoll. Ein militärischer Konflikt war unausweichlich.58

Einige der schlimmsten Grausamkeiten wurden verübt, als die UdSSR noch existierte und Gorbatschow an der Macht war. Besonders vereinzelt liegende armenische Siedlungen waren gefährdet. Das „Pogrom in Sumgait“ vom Februar 1988 löste auch an anderen Orten Übergriffe aus,59 darunter das „Pogrom in Kirowabad“ im November und das „Pogrom in Baku“ vom Januar 1990, dem ein armenischer Exodus vorausgegangen war. In Kirowabad wurden aserbaidschanische Truppen dabei fotografiert, wie sie christliche Friedhöfe zerstörten, woraufhin Vorwürfe der kulturellen „Säuberung“ erhoben wurden.60

Die erneuten Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien bewiesen, dass das sowjetische System vor dem Zusammenbruch stand. Und genau wie die erste aserbaidschanische Republik durch den Kollaps des zaristischen Russland entstanden war, so entwickelte sich die zweite unabhängige Republik durch den Kollaps der Sowjetunion. Niemand war darauf vorbereitet. Zwischen 1989–90 stiegen die Spannungen immer weiter. Es bildete sich die Volksfront-Partei, die nach nationaler Unabhängigkeit und sogar der Vereinigung mit den Aserbaidschanern im Iran verlangte. Gleichzeitig verschlechterten sich die Zustände in Bergkarabach immer weiter. Präsident Gorbatschow, dessen Verständnis der Nationalitätenfrage nur schwach ausgebildet war, entsandte die Rote Armee und sah zu, wie sie am 19. Januar 1990 ein Massaker an Demonstranten verübte. Rückblickend gab er zu, der „Schwarze Januar“ sei sein „größter Fehler“ gewesen.

Im September 1991 erklärte Aserbaidschan seine Unabhängigkeit, zu einem Zeitpunkt also, an dem die UdSSR theoretisch noch existierte. Die Angelegenheiten Aserbaidschans stürzten daraufhin ins Chaos ab. Der erste Präsident, der ehemalige Vorsitzende des Ministerrats der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik Ajas Mutalibow, versuchte 1991–92 diktatorische Vollmachten zu erlangen, allerdings fehlte es ihm dazu an Unterstützung. In seine Präsidentschaft fiel der Ausbruch eines offenen Krieges mit Armenien. Sein Nachfolger, Abulfas Eltschibei, ein früherer Dissident und Chef der Volksfront, regierte von 1992 bis 1993 und konnte eine demokratische Anhängerschaft für sich gewinnen, doch dann handelte er sowohl in Wirtschaftsfragen als auch im Armenien-Krieg falsch, bis er vor rebellierenden Truppenteilen floh.

Die militärischen Operationen zwischen 1991 und 1994 können nur als „schmutziger Krieg“ bezeichnet werden. Der armenischen Seite wurde durch russische Panzer, Artillerie und Söldner der Rücken gestärkt. Die aserbaidschanischen Kräfte wiederum wurden durch afghanische und tschetschenische Mudschahedin unterstützt. Und beide Seiten griffen auf ethnische Säuberungen zurück, wie sie auch im Jugoslawien-Krieg vorgekommen waren. Die aserbaidschanische Bevölkerung verschwand aus Karabach, die armenische aus großen Teilen Aserbaidschans. Dörfer wurden in Brand gesteckt und Landminen vergraben. Zehntausende Menschen kamen ums Leben, rund eine halbe Million war auf der Flucht. Doch die Armenier siegten: Als im Mai 1994 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, kontrollierten sie ganz Bergkarabach und zudem sieben angrenzende Bezirke.61

In all den Jahren hatte Heydar Alijew sich bedeckt gehalten, und nun startete er mit perfektem Timing sein Comeback. Seit 1988 regierte er seinen Heimatbezirk Nachitschewan, jetzt kehrte er auf Einladung von Präsident Eltschibei nach Baku zurück, übernahm die Rolle des Parlamentssprechers und erklärte mit kühler, konstitutioneller Präzision, dass der abwesende Präsident Eltschibei sein Amt verwirkt habe. Dieses meisterhafte Manöver dürfte seine KGB-Kumpane mit größtem Stolz erfüllt haben, und er wurde durch ein landesweites Referendum bestätigt. 1993 gewann er bei den inszenierten Präsidentschaftswahlen 99 Prozent der Stimmen. In den folgenden zehn Jahren war er an allem beteiligt, was Aserbaidschan seitdem erreichte, darunter der „Deal des Jahrhunderts“, mit dem die Ölindustrie des Landes wieder in Schwung gebracht wurde.

Heydar Alijews offizielle Biografie legt großen Wert auf seinen kometenhaften Aufstieg beim KGB. Den Bildern seiner bescheidenen Herkunft aus Nachitschewan stehen Fotos gegenüber, auf denen er als KGB-Hauptmann, dann als Oberst und schließlich als Generalmajor zu sehen ist. Die Aufnahmen aus seiner Zeit als Präsident zeigen ihn mit dem Papst, George Bush Junior und Wladimir Putin. Die abschließenden Passagen überraschen dann allerdings doch bei einem Mann, der fünfzig Jahre lang dem atheistischen Kommunismus diente. „Er starb in der Überzeugung, dass er seine von Allah für ihn vorgesehene Mission erfüllt hatte“, heißt es da und weiter: „In seiner Freizeit las er liebend gern diese Zeilen von [dem aserbaidschanischen Sowjet-Dichter] Samed Wurgun“:

Der Tod hat keinen Grund zur Freude! Niemals wird er

Jene fassen, die ihr Heimatland so lieben.

Und die, die voller Liebe lebten und geliebt von andren starben,

Werden, wie es üblich ist, auch von der Welt geehrt.62

Heydar Alijews Sohn Ilham (geboren 1961) begann als Spieler, Playboy und Beamter des Sicherheitsapparats, übernahm dann aber recht geschmeidig die Amtsgeschäfte seines Vaters und polierte den allgegenwärtigen Personenkult um Heydars Person auf. Der Personenkult um Ilhalm selbst begann kurze Zeit später. Kritiker bemängeln, dass er verschwenderisch von geheimen ausländischen Bankkonten lebt, seine Besitztümer unter dem Namen seines Sohnes verbirgt und in einem Schloss in Dubai Hof hält. Es ist schwer einzuschätzen, ob diese Anschuldigungen auf Tatsachen beruhen oder nicht.

In Bergkarabach hat sich seit dem Waffenstillstand von 1994 nicht viel verändert, auch die gegenseitigen Anschuldigungen gehen weiter. Aserbaidschan behauptet, dass 20 Prozent seines Territoriums „besetzt“ seien, verlangt den bedingungslosen Abzug Armeniens und das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr. Vier UN-Resolutionen hat es dazu bereits erwirkt. Doch die abtrünnige Republik Arzach existiert weiterhin, und die Vereinigten Staaten empfehlen, auch auf Druck einer lautstarken armenischen Lobby, ein Referendum zu dieser Frage. Hin und wieder treffen sich Delegierte unter dem Dach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der „Minsker Gruppe“ und deren „Prager Prozess“, wo Hoffnung, Vertrauen und Fortschritt ungefähr noch genauso stark vorhanden sind wie nach dreißig Jahren israelisch-palästinensischem Stillstand.

Die prachtvolle Uferpromenade in Baku erzählt daher nur die halbe Geschichte. Aserbaidschan ist ein Land, dessen beachtlicher wirtschaftlicher Erfolg auf eine trostlose Politik trifft. Der andauernde, formal noch nicht beendete Krieg mit Armenien dient als Argument für die „harte Hand“, mit der durchgegriffen wird, und dem repressiven Regime droht von seiner eigenen Bevölkerung und von anderen Staaten, die vom Öl Aserbaidschans profitieren, nur wenig Ärger. Der bewundernswerte Professor Hasanli wirkt da wie ein einsamer Rufer in der Wüste.

Aserbaidschan schreckt nicht davor zurück, Geld in die Hand zu nehmen, um seine Interessen zu sichern und sein Image aufzupolieren. Es bezahlt die britische Regierung für das Training seiner Sicherheitsdienste durch die britische Sondereinheit SAS.63 Es gibt viel Geld für Werbespots zur besten Sendezeit auf CNN aus. Es investierte Unsummen in die Durchführung des Eurovision Song Contest 2012 und hat sich inzwischen einen Weg in den internationalen Top-Fußball gebahnt, wo die Spieler von Atletico Madrid mit unpassenden Shirts und dem Werbespruch „Land of Fire“ auf der Brust herumrennen.64

Und dennoch ist es nicht einfach mit Aserbaidschans neu gefundener Identität. Der Marxismus-Leninismus wurde als Leitideologie von einem engstirnigen Nationalismus abgelöst, der eine ganze Reihe von Exzessen, von ethnischer Vereinheitlichung bis hin zu historischen Fantasien, beflügelt. Im letzten Jahrhundert hat man die Namensänderung von Menschen und Orten immer wieder erzwungen, und auch heute setzt sich dieser Trend fort.65 Kürzlich wurde im Parlament vorgeschlagen, die Russifizierung der Familiennamen solle rückgängig gemacht und Endungen wie -ew und -ow müssten gestrichen werden; aus Präsident Alijew würde „Präsident Ali“.66 Nach einer anderen Idee sollte der Name des Staates in „Nordaserbaidschan“ geändert werden, was impliziert, das „Südaserbaidschan“ illegal vom Iran besetzt gehalten wird.67

Angesichts der Beschäftigung mit derartigen Fragen zeigt das Regime wenig Neigung, in die dringend benötigte soziale Entwicklung zu investieren. Die weitverbreitete Armut konnte zurückgedrängt werden, vor allem in den ländlichen Gebieten, und Prestigeprojekte sind reichlich realisiert worden, doch hinter der hübschen Fassade ist nur wenig Substanz. Die Geschäfte sind so leer wie das Nationale Literaturmuseum. Trostlose, verfallende Wohnblöcke aus Sowjetzeiten dominieren die Außenbezirke, in den Seitenstraßen tummeln sich die Bettler. Wohlhabende Aserbaidschaner lassen sich im Iran medizinisch versorgen, zur gleichen Zeit sind die Flüchtlingslager noch immer gut gefüllt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer.

Darüber hinaus ist auf internationaler Ebene Aserbaidschans Manövrierfähigkeit stark eingeschränkt.68 Man fürchtet, die iranischen Ayatollahs könnten die traditionell säkulare Haltung des Landes unterminieren wollen, und sperrt aserbaidschanische Geistliche ein, die für religiöse Studien nach Ghom oder Isfahan gereist sind. Was die Kaukasusregion angeht, so zeigt Aserbaidschan nur wenig Solidarität mit seinen armenischen oder georgischen Nachbarn.69 Die Beziehungen zur Türkei sind weniger intensiv, als Heydar Alijew es sich einst erträumte, als er von „einer Nation, zwei Staaten“ sprach. Die Wirtschaftsbeziehungen blühen, doch das Langzeitprojekt eines Turk-Rates kommt kaum in Schwung, und der gegenseitige Beistandspakt wurde erst im Jahr 2010 unterzeichnet. Moskau zieht weiterhin gleichzeitig an vielen Fäden und sorgt damit für die Verstetigung des Stillstands in Bergkarabach. Auf der einen Seite unterstützt es Armenien, verkauft auf der anderen Seite allerdings unbekümmert Waffen an Aserbaidschan. Insgesamt ähnelt Alijews Regime ziemlich genau jenem fiktionalen Land Tazbekistan, wie es in der Comedy Show Ambassadors karikiert wurde.70 Für einen Staat mit derart hohem Einkommen ist Aserbaidschans Ergebnis im Good Country Index, der den „Beitrag zum allgemeinen Wohlergehen der Menschheit“ misst, unterirdisch: Unter 153 Ländern erreicht es Platz 110 und steht damit noch hinter Ländern wie Ruanda, Burkina Faso, Pakistan oder der Mongolei.71

Wladimir Putins Besuch in Baku im August 2013 wurde als „Arbeitstreffen“ beschrieben. Flankiert von Außenminister Sergei Lawrow und den Vorstandsvorsitzenden von Rosneft und Lukoil traf er auf zwei Kriegsschiffen der gerade umgerüsteten russischen Flotte im Kaspischen Meer ein. Nach dem fünfstündigen Gespräch mit Präsident Alijew kündigte man ein Abkommen über die gemeinsame Nutzung von Pipelines an. Putin sagte, Russlands Vermittlungshilfe sei immer verfügbar. Alijew sagte, Russlands Waffen seien „die besten der Welt“.72 Zwei Jahre später wurden russische Cruise Missiles vom Kaspischen Meer aus auf Syrien gefeuert.

Nach allem, was wir wissen, könnte Präsident Putin seinem Kollegen auch einen Rat in Bezug auf das Wahlmanagement gegeben haben. Denn die aserbaidschanische Wahlkommission veröffentlichte versehentlich schon vor der Schließung der Wahllokale das Endergebnis, nach dem Alijew mit 74,8 Prozent der Stimmen gewonnen habe. Schlussendlich siegte er dann sogar mit 84,6 Prozent, während der glücklose Hasanli 5,5 Prozent der Stimmen bekam. Wahlbeobachter der OSZE nannten die Wahlen „stark fehlerbehaftet“.73

Später wurde bekannt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten mit Irans neuem Präsidenten telefoniert habe, nach drei Jahrzehnten des Schweigens zwischen den Führern der beiden Staaten. Man feierte einen wichtigen Durchbruch. Im August 2016 kehrte Wladimir Putin dann nach Baku, zu Dreiergesprächen mit den Präsidenten von Aserbaidschan und dem Iran, zurück.74 Die internationale Wetterfahne hatte sich bewegt. Der Wind in Baku drehte erneut.

Am Vorabend meiner Abreise wurde ich eingeladen, an der hiesigen Geburtstagsfeier für Königin Elizabeth II. teilzunehmen; für alle britischen Auslandsbotschaften ein regelmäßig wiederkehrender Termin im Kalender, weniger üblich für umherziehende Historiker. Gefeiert wurde im großen Ballsaal des Fairmont Hotel im Flame Towers-Komplex. Tausend Gäste stiegen aus ihren Limousinen und passierten die Sicherheitskontrollen, um dann dem britischen Botschafter, zusammen mit Lady Penelope und dem scharlachrot livrierten Militärattaché, vorgestellt zu werden. Anschließend begaben wir uns in einen leuchtenden, mit roten, weißen und blauen Luftballons dekorierten Saal, den man mit zwei riesigen Leinwänden ausgestattet hatte. Große Plakate stimmten auf das Thema des Abends ein: „This is GREAT Britain.“ Ich betrat den Raum zusammen mit einem britisch-indischen Rechtsanwalt, den ich vor einigen Tagen kennengelernt hatte.

„Was passiert mit dem Wort ‚Great‘, wenn das Referendum in Schottland verloren geht?“, wollte er wissen.

Der Chor der britischen Schule stimmte die britische und aserbaidschanische Nationalhymne an. Dann wurden Reden gehalten, während hungrige Horden die Tische mit Essen belagerten. Aus Lautsprechern tönten Crown Imperial und Händels Zadok the Priest, dann wurde ein Film über die Krönung der Königin 1953 gezeigt.

Um den Smalltalk mit einem US-Marine-Colonel am Tisch in Schwung zu halten, erklärte ich ihm: „Das habe ich alles live gesehen. Die erste Fernsehsendung meines Lebens.“

Die wichtigsten Gäste drehten im Saal ihre Runden. Der israelische Botschafter, Mr. Harpaz, drückte mir die Hände.

„Haben Sie auch mein Land schon bereist?“, erkundigt er sich hoffnungsvoll.

Israel und Aserbaidschan stehen sich erstaunlich nahe. Sie fürchten beide den Iran. Dann ergreift der Manager des Fairmont Hotels das Wort.

„Wir veranstalten Geburtstagspartys wie diese hier regelmäßig. Besonders für einjährige Jungs.“

„Beschneidungsfeiern“, erklärt eine Stimme. „Genau 220 Dollar pro Kopf.“

Ein Mann aus Yorkshire liegt mir in den Ohren. Er ist der Manager der Firma, die ganz Baku mit Londoner Taxis füllt.

„Es war die Idee des Präsidenten“, sagt er, „aber wir unterbieten die örtlichen Fahrer: 16 Manat für die Fahrt zum Flughafen statt 30.“

Er hat bereits 1000 Fahrzeuge auf der Straße, möchte eines Tages aber 3000 haben. Sie sind alle violett lackiert.

„Die Menschen hier nennen sie badimçan, Auberginen“, erläutert er uns.

Ein russischer Admiral in schlecht sitzender Uniform begrüßt den US-Colonel mit demonstrativ falscher Fröhlichkeit. Als er geht, frage ich den Amerikaner: „Ist heutzutage alles in Ordnung mit den Ruskies?“

„Wir tun unser Bestes“, grinst er. „Aber sie denken nicht wie wir.“

Das kann man laut sagen.

Nicht bei jedem herrscht die Vorstellung, dass die früheren Sowjetrepubliken Opfer von Imperialismus und Kolonialismus sein könnten, doch genau das sind sie. Sie wurden alle erobert, die meisten sogar gleich zwei Mal – erst vom Zaren, dann von den Bolschewiki. Sie wurden von fremden Armeen, Beamten und Siedlern überrannt; ihre Eliten zwang man zur Kollaboration; ihre Kultur wurde unterdrückt, und ihre Wirtschaft wurde so gefördert, dass sie den Interessen einer ausländischen Macht diente.75 Mit diesem verschandelten Erbe kämpfen sie nun alle.

Ein Hauch dieses Erbes umwehte mich, als ich Aserbaidschan verließ. Ich gelangte durch zwei Kontrollpunkte am Flughafen, scheiterte aber beinahe an der dritten Hürde. Eine Kontrolleurin mit schicker grüner Uniform, langen goldenen Dauerwellenlocken, einer spitzen Mütze und zahlreichen Abzeichen an ihrem großen Busen saß in einem Glaskäfig. Sie kontrollierte meinen Reisepass, bat mich, in die Kamera zu blicken, und reichte mir gerade meine Dokumente zurück, als ihr Blick auf die Zahl 22 fiel. Ihr Gesicht verzog sich in einer Mischung aus Schrecken und Hochgefühl:

„Sie verlassen Aserbaidschan vorzeitig, Sir. Warum?“

„Ich glaube nicht. Mein Flugticket war schon immer für heute ausgestellt, den 30.“

„Sie sind am 22. angekommen. Ihr Visum gilt für neun Tage. Warten Sie hier.“

„Nein, das tut mir leid; meine Pläne haben sich nicht geändert. Meine Tickets wurden bereits überprüft.“

Sie zählte es an ihren Fingern ab, bevor sie, tief besorgt dreinblickend, einen Kollegen zurate zog. Besucher mit einem Neun-Tages-Visum verlassen das Land nach neun Tagen. Ich konnte ja nicht zugeben, dass ich eigentlich schon am 21. angekommen war. Ich biss mir auf die Lippen.

„Sie verlassen das Land vorzeitig“, fasste sie zusammen. „Das ist nicht erlaubt. Sie fliegen morgen. Warten Sie hier.“

„Das verstehe ich nicht. Ich bin Gast des britischen Botschafters.“

„Der Botschafter müsste es wissen: Sie reisen am 31. ab, nicht am 30.!“

Ihre Augen wurden zu Schlitzen. Ihre Finger klapperten auf dem Schalter. Was sie auf ihrem Bildschirm sah, passte nicht zu den Angaben in meinem Pass. Entweder war der Computer gehackt oder der Stempel gefälscht worden. Oder beides. Aber warum sollte jemand Aserbaidschan vorzeitig verlassen wollen, wenn er nicht ein Spion, oder ein Armenier, war? Und würde diese verfrühte Abreise Ärger bedeuten? Es war eine enge Angelegenheit.

„Dieses Mal dürfen Sie gehen“, sagte sie ernst. „Aber beim nächsten Mal ist es verboten!“

* „Caucasian“ wird im englischsprachigen Raum auch als Sammelbezeichnung für „Weiße“ und damit als Abgrenzung z.B. zu „Schwarzen“ verwendet (Anm. d. Übers. J. P.).

Ins Unbekannte

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