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2. Nachbeben

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"Ich verkünde nun die Ergebnisse der Prüfung." Und dann war es vorbei. Robert stand auf, bedankte sich bei den Prüfern und verließ schnell den Saal. Vor dem Justizministerium steckte er sich ein Zigarette an und tauschte mit den anderen Prüflingen aufgedreht und doch abwesend Details der Prüfung und anderes aus.

Aus und Ende. Er war nun Volljurist und hatte ein Studium hinter sich gebracht, dass mit viel Spaß und wenig Studium begonnen hatte und in der zweiten Hälfte immer mehr zur Quälerei ausgeartet war. Diese hatte jetzt ihr Ende gefunden.

Nett waren die Prüflinge alle zueinander, richtig nett. In ein paar Minuten würden sie sich nach diesen fünf Stunden für den Rest ihres Lebens nie mehr sehen. Mehr als diese fünf Stunden hatten sie nicht zusammen gehabt, aber interessierte das irgendwen?

Auf der anderen Straßenseite flanierte die Düsseldorfer Schickeria an den Schadow-Arkaden vorbei. Vielleicht würde auch er bald bei E.ON, Henkel oder einer smarten Großkanzlei arbeiten und hier Mittagspause machen. Düsseldorf könnte gut funktionieren, hier war in kurzen Entfernungen unglaublich viel Angebot vorhanden, in jeder Hinsicht.

Vielleicht hatten diese Träume aber mit den Durchschnittsnoten seiner Examen wenig zu tun. Aber das sollte ihn heute nicht beschäftigen. Er würde gleich zurück nach Bonn fahren, den extra hierfür vor Jahren gekauften Whisky aufmachen und bis dahin einiges Bier trinken. Dann würde er sehr laut seine ältesten Hardrock-Platten auflegen und sich bis zum Delirium betrinken. Auch das hatte auf verquere Weise etwas von einem Job.

War aber akzeptabel.

Zuhause sah es schön aus. Er konnte die Angst des Morgens in seinem Zimmer riechen, den Angstschweiß auf dem Körper behielt er noch an, auch nachdem er sich ausgezogen hatte. Der beste Moment seit zwei Jahren ging ein wenig in der Erschöpfung unter, aber auch das Wenige, was er aufnehmen konnte, war immer noch gut, gut genug nach all dem, was hinter ihm lag.

Wie lange lief eigentlich schon das große Ding in Nahost? Sie sollten zwar gerade vor der Prüfung brav die Tageszeitung für aktuelle Fragen lesen, aber das hatte er wie vieles andere geschlabbert. Mut zur Lücke!

Und die Lücke war ja auch voll gekommen, allerdings nicht im Tageszeitungsgewimmel, sondern im Sachenrecht. Verdränge, verdränge, verdränge!

Nun wurde also bei den Arabern gebombt, und endlich war das Land mit dabei, um zu „helfen“. Er war nicht begeistert, aber irgendwie hatte man doch die ganzen letzten Jahre darauf gewartet, innerlich war es keine Freude, aber ein kleines „Richtig so!“ empfand er doch schon. Na also. Und die Kanzler mittendrin. Eine von den edlen Rettern, und auch hofiert, wenn es um Frieden ging. Und wie die Russen in der Sache zu Besuch kamen! Gemeinsames Schweigen im Regen vor dem Kanzleramt von Kanzlerin und Russenpremier vor der Weltpresse. Es war ein wenig wie das letzte Treffen mit der Ex.

Er merkte, dass er langsam wirr wurde. Neben der Müdigkeit hatte er schon seit Tagen den Verdacht, dass die Amphetamine, die er zum Wachbleiben beim Lernen gebraucht hatte, auch nach dem Absetzen nachhaltige Wirkung erzeugten.

Gleich würde er sich noch mit Freunden treffen, sie würden rausgehen und alles durcheinander saufen und er würde vor allem die anderen reden lassen und nur noch dasitzen, fertig und zufrieden.

Die große Erleichterung über die Prüfung kam erst im Lauf der nächsten Tage und wurde auch schon abgelöst von der Notwendigkeit, sich schnell um einen Job zu kümmern. Denn Robert hatte in der Endphase seines Studiums durch einige unglückliche Entscheidungen Schulden angehäuft, deren Rückzahlung er nicht mehr lange aufschieben konnte. Aber vorher musste er noch ein paar Dinge erledigen.

Zuerst traf er sich mit dem DJ im Cafe Blau um ein paar CD´s zurück zu geben. Und um ihn etwas zu fragen. Der DJ wurde DJ genannt, weil er DJ war. Eigentlich hieß er Matthias und legte nur gelegentlich auf. Ansonsten studierte er ganz normal Jura wie die meisten seiner Bekannten. Seine Lieblingsmusik war natürlich überhaupt nicht zum Auflegen geeignet (nicht in Bonn), weil das mit Morrissey, Loyd Cole und anderen Vertretern dieser Fraktion nicht klappte. Brit Pop war eine kleine Schnittmenge gewesen, aber das war es dann auch.

Matthias hatte eigentlich immer einen Anzug an, natürlich nicht Business, sondern schick. Ausnahme war höchstens absoluter Hochsommer, an dem auch mal ein Hemd zur Hose reichen musste. Mit ihm war es immer ganz interessant, aber auch anstrengend und kompliziert. Er war immer leicht aufgeplustert, was auf Dauer nervte. Anke, eine gemeinsame Bekannte, erzählte immer etwas von Selbstschutz und Komplexen, die damit zu tun hätten. Aber das war natürlich Quark.

Zum Cafe Blau muss man sagen, dass es später in seiner Studentenzeit dazukam und als cooler galt als die anderen Läden. Obwohl eigentlich überhaupt nichts dabei war, vom Eingangsbereich eines Hallenbades einen Teil abzutrennen, unbequeme Möbel hineinzustellen und Zeitgeistgedudel darüberzulegen. Die Leute hier zum Tanzen zu animieren wurde immer wieder versucht, hatte aber nie geklappt. Aber trotzdem funktionierte der Laden in Bonn ganz gut. Natürlich war die Konkurrenz auch nicht besonders groß.

Was gab es noch? Vor allem: Carpe Noctem und die Falle. Der Rest war eigentich total nebensächlich, dort landete man mal zum Abschluss, war aber egal. Außer dem GUM. Russische Kneipe mit ebensolcher Küche (Tipp: Der Borschtsch), sehr gutem Vodka-Angebot und hippen Publikum.

Das Carpe: Gute Disco in den Anfängen, vor allem aufgrund des Partydienstags, kurz nach dem Strafrechtsseminar, das auch am Dienstag stattfand. Dienstag gab es immer einen Grund zu feiern. An drei Dienstagen musste man gerade geschriebene Klausuren runterspülen, an drei anderen auf die zurückbekommenen anstoßen und sich auch diese schöntrinken, dann gab es noch eine Hausarbeit zurück und sonst fand sich auch immer ein anderer Grund. Dann kamen noch zwei Semester, in denen es spaßig war, in denen fast alles spaßig war. Später kam die Invasion aus dem Umland, die Provinzler, der Rockpalast in Remagen hatte es vorgemacht und die Eifel feierte sich blöde an Roberts am Anfang so tollen 70er Abend im Carpe (ja am Anfang hatten sie wirklich andere Sachen gespielt als woanders, naja, zumindest konnte man sich das einreden). Aber sowieso war die Zeit für 70er Abende schon lange vorbei und das Publikum machte einem die Entscheidung leicht, das Carpe seit längerem zu meiden. Ach ja, das Louvre. Hatte er nie verstanden, wie das mit dem Schmierlappensoul funktionierte, es war nicht richtig Tanzen und Musik eigentlich auch nicht. Standen zwar die Frauen drauf, aber nicht mal das machte es wett, auch wenn dort wirklich Mädchen rumliefen....

Und die Falle: Absolutes Muß für Juristen, VWLer und andere Edelproleten. Auszug aus einer Stadtzeitschrift: "Zu eng, zu heiß, zu voll." Und beschissene Musik. Und beschissenes Publikum. Dreimal war er da gewesen und das war allemal ausreichend.

Nochmal das Blau: Die üblichen Verdächtigen in der Anfangsphase, nach kurzer Zeit aber auch hier das ganz große Bergab. Nach alldem und ungefähr einem Jahr Abstinenz der angesagten Leute hatte sich aber doch alles ein wenig erholt, so dass man sich dort wieder blicken lassen konnte. Und eben mit Matthias nach langer Zeit wieder treffen.

Stark verspätet wie immer kam er, der Abziehbrite mit dem Brett im Rücken. Jeansjacke (was war heute los?), Jeans und Käppi konnten diesen Eindruck nicht verwischen. „Jahallo", „Taaag", „Ach, das Blau...", beiderseitiges Zurechtrücken.

„Doch nicht so schlecht, wie ich es in Erinnerung hatte“, fing Robert an.

„Ich bin eigentlich öfter hier, nach dem Seminar hab ich mir das so angewöhnt. Aber Dich sieht man hier nicht".

„Ich habe immer besser zuhause gelernt. Ich kann das Juridicum und die Leute nicht ausstehen.“

Die Lippen des DJ spitzten sich.

„Das ging mir nicht so. Man gewöhnt sich echt dran, und man sieht ja seine Leute."

Blubb, blubb, blubb. Wie das Telefonat. Robert hatte vorgeschlagen, die CD´s vorbeizubringen, sogar sich im Juridicum zu treffen, um die Sache zwischen Tür und Angel abzuwickeln. Der DJ dagegen drängte geradezu auf ein richtiges Treffen. Warum? Zu sagen gab es nicht viel. Neugier? Wahrscheinlich wusste der DJ nicht einmal, daß er gar nicht anders konnte, als irgendwie immer mittendrin zu sein, wobei Robert zugeben musste, dass er selbst mittlerweile ziemlich draußen aus der Szene war. Aber es war ganz gut, ihn zu sehen, weil ihm im Nachhinein einfiel, dass das jobmäßig etwas bringen könnte.

„Und wie hast Du jetzt Dein Examen gemacht, wenn ich fragen darf?"

Peng. Zumindest war das kein Blabla mehr.

„81 Punkte. Ich hatte ein bisschen Pech bei den Klausuren."

Kurz und knapp.

"Naja, dann musst Du gucken, was Du damit kriegst, sind schon ganz andere Leute was mit einer Durchschnittsnote im zweiten Examen geworden."

Genau guter Mann, aber ich werde Dich immer noch nicht fragen, welche Note Du hast.

"Und was machst Du jetzt?"

"Ich war erst zwei Monate in Italien. Dann hab ich in Berlin bei der GEMA angefangen."

"Aha, und wie ist das?"

"Ja, gut, weißt Du, ist zwar anders, aber eben auch nur Business. Wahrscheinlich nichts für mich, ich glaube ich kündige in der Probezeit."

Zeit für die Frage.

„Meinst Du, da ist noch eine Stelle zu bekommen?“

„Eher nicht, das ist glaube ich nichts für Dich.“

„Wieso das denn?“

„Habe ich so im Gefühl.“

Robert dachte „Arschloch“ und sagte "Hast Du die CD´s dabei?"

"Oh, äh ja." Hups. Noch ein bisschen Gequassel, und dann Abflug.

Robert beschloss Samstag nachmittags genervt und deprimiert, sich bei Mark abzulenken. Also fuhr er mit der Bahn von Beuel nach Poppelsdorf, schwamm durch den Strom von gegelten Rechtslehrlingen die, ob in einer der zahlreichen Burschenschaften oder auf sich gestellt, diesen Stadtteil und die Südstadt dazu praktisch übernommen hatten.

Mark dagegen empfing ihn in seinem Lieblingsjogginganzug, diesmal dazu auch das berüchtigte Batikhemd. Er konnte auch anders, aber zuhause hasste er Aufwand.

Sofort fühlte Robert sich wohl und bedauerte, dass für ihn wegen des Wegs durch Poppelsdorf ein ähnlich bequemes Outfit nicht in Frage gekommen war. Früher hatten sie zusammen mit ein paar anderen Verrückten in einer WG gewohnt, was er in solchen Momenten vermisste.

Mark wohnte in einem renovierungsbedürftigen Gründerzeithaus voller Studentenwohnungen und hatte sich damit den Flair der WG-Zeit noch ein wenig erhalten. Daran würde sich wahrscheinlich auch kurzfristig nichts ändern, denn auch im 23. Semester Regionalwissenschaften Nordamerika und Vorderer Orient, Japanologie und Sinologie waren Abschlüsse für Mark noch lange nicht erkennbar. Er studierte einfach sehr gern, seine Fächer interessierten ihn, nur die Klausuren und Hausarbeiten waren ein Problem. Großen Druck von zu Hause bekam er aber nicht und daher würden die Dinge noch eine ganze Zeit so bleiben, wie sie waren.

Während Mark Bier holte, dachte Robert darüber nach, wie lange sie sich kannten.

Mark war ein mit zu viel x-Chromosomen ausgestatteter langhaariger blonder Engel, dessen gehässige kleine Anmerkungen durch sein feminines Äußeres noch größere Wirkungen erzielten. Tatsächlich hatten sie mit ihren Lästereien immer sehr viel Spaß gehabt.

Sie hingen also wieder einmal in der Sitzgruppe ab und sahen sich die Sportschau an. Beide hatten nie in einem Verein gespielt, hatten also das akademisch geschulte Auge des Amateurs für diese wunderbare Sache. Heute aber kamen sie nicht in Schwung. Bayern gewann, die Laune wurde schlechter, Langeweile war ohnehin vorhanden. Sie rauchten Grass und langweilten sich danach noch mehr. Wenn sie diese Phase erreicht hatten - das war oft der Fall – sagte er sich oft, dass sie ja auch ins Kino, Theater oder sonstwohin gehen konnten. Aber das Grass hatte sie schon so lethargisch gemacht, dass an Weggehen nicht mehr zu denken war.

Dann fing Marks übliches Intellektuellengeschwafel an. Er versuchte Robert in drei, vier Sätzen zu erklären, welchen Zustand die Sonnen der Galaxis aufweisen konnten. Blaue Riesen, Rote Riesen, Weisse Zwerge usw. Und dann sein Lieblingsthema: Quasare.

Quasistellare Objekte!“, raunte er aufgeregt, als hätte er noch nie davon erzählt. „Als man sie zum ersten Mal sah, hielt man sie für sehr nahe Sonnen, weil sie so hell waren. In Wirklichkeit sind sie weit weg, aber strahlen so unglaublich intensiv, dass man die tatsächliche Distanz erst viel später bemerkte.“

Bei dem Thema konnte er sehr missionarisch sein. Allerdings war Mark auch schon ziemlich gut dabei, daher wurde es länger als sonst und Robert ungeduldig, aber er glaubte es am Ende verstanden zu haben. Er hörte es ja auch nicht zum ersten Mal.

Und weiter ging es: Zunächst die Frage, ob der Wrestler Shawn Michaels würdiger Nachfolger von Brett Hart war? Die Frage fand Mark interessant, hatte aber keine echte Meinung dazu.

Dann kam er wieder mit seinen Helden, die Robert fast ausnahmslos schrecklich fand. Der nach zwei Büchern langweilige Bukowski. Der nicht lesbare Miller. Kerouac und Beat gar nicht zu erwähnen, schrecklich einfältiges Gepinsel: The howl –aaaarggh, einzige Ausnahme vielleicht noch Burroughs, aber eben auch nur nova express und eben nicht, auf gar keinen Fall naked lunch. Kotzwinkle! Welche Substanz, nämlich keine! Tools! Immerhin hatte er sein einziges Werk während seiner Army-Zeit schreiben müssen, allerdings eine schwache Entschuldigung. T.C.Boyle. Na ja. Und Bowles, der alte Märchenonkel.

Mark sagte zu Robert, er rede wirres Zeug.

„Natürlich. Wirr.“, entgegnete Robert.

„Wirr sind eben Deine Kindergartenidole, von denen Du nicht loskommst.“

„Jetzt ist aber gut Robert. Das sind alles tolle Typen. Außerdem, von Burroughs ist natürlich auch Junkie wirklich gut, dass musst Du zugeben.“

Robert stöhnte.

„Nein, nein, nein. Junkie ist einfach nur lahm. Und gleich noch was zum Schlachten: Castaneda. Absoluter Insider immer noch. Aaaah! Was ist denn die Story? Ein netter Typ wie Du und ich wird in die hohe Kunst des Peyotezubereitens und Konsumierens eingeführt. So weit so fad. Und dann beginnt er halt im Peyoterausch zu fliegen. Dann doch lieber gleich die Brüder Grimm oder 1001 Nacht!“

„Aber das ist doch alles symbolisch aufgeladen!“

„Das ist sowie das absolute Unwort. Castaneda kann man nicht aufladen, weil da nichts ist an Substanz, dass man aufpumpen könnte.“

„Ich glaube, Du hast Castaneda einfach nicht verstanden.“

„Nein, Idiot, es gibt an Castaneda einfach nichts zu verstehen.“

Manchmal endeten ihre Abende eben auch so.

Es half nichts. Robert musste sich ernsthaft um einen Job bemühen.

Natürlich hatte er sich vor der Prüfung kaum darum gekümmert und musste sich jetzt erst einmal an den Gedanken gewöhnen, mit schlechten Noten und schlechten Aussichten zurecht zu kommen. Realistischerweise ersparte er sich Bewerbungen bei den Großkanzleien und versuchte sich Stellen herauszusuchen, die zumindest entfernt etwas mit seiner Ausbildung und anderweitigem Werdegang zu tun hatten. Da zwei seiner Ausbildungsstationen im Referendariat bei bekannten Anwälten erfolgten, bezog er sich sehr stark auf diese beiden – wohl wissend, dass beide für Ihre Verschrobenheit und Launen bekannt waren. Aber eine andere Chance als diesen möglichen animal magnetism von Freaklawyer zu Freaklawyer blieb ihm wohl nicht.

In den folgenden Wochen zog er eine Absage nach der anderen aus seinem Briefkasten. Leider war immer wieder jemand noch besser geeignet, leider passte das Profil nicht ganz, leider war er – das gab es mittlerweile auch für Juristen – überqualifiziert, leider war es oft auch ohne jede Begründung eine Ablehnung. Nicht wirklich hilfreich waren andererseits auch die zahlreichen Angebote, bei dubiosen Abmahnvereinen einzusteigen und sich das gesetzlich festgelegte Anwaltshonorar mit dem Mandanten zu teilen („Äh, ist das nicht illegal?“).

Er überlegte schon ernsthaft, seine Strategie komplett zu ändern, als endlich eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch kam. Seine Bewerbung bei Kaiser & Moron, einer renommierten kleinen Anwaltsboutique (Wirtschaft und Industrieanlagenzulassungen) hatte eingeschlagen!

Jetzt lag es an ihm.

Die Kanzlei befand sich in einer der wirklich beeindruckenden Altbauten im Bonner Bahnhofsviertel. Obwohl er schon seit vier Jahren in der Stadt wohnte, war er noch nie in der Gegend gewesen – vom eigentlichen Bahnhof abgesehen. Dabei war er hier immer mit dem Provinzzug angekommen, als er noch in der Voreifel gewohnt hatte.

Die Einrichtung der Kanzlei war von schweren englischen Ledermöbeln dominiert. Sie hätte auch als Rosamunde Pilcher-Parodie durchgehen können. Offensichtlich war hier aber alles ernst gemeint.

Jakob Kaiser ließ ihn fast eine halbe Stunde warten. Ob er vor vielen Jahren wie Robert angefangen hatte? Er hatte bei einigen der größten Konzerne des Landes gearbeitet und sich am Ende selbständig gemacht. Sein erster Angestellter war Felix Moron gewesen, der über schier unendliche Geduld verfügen musste. Denn die Kanzlei war immer das Geschöpf von Kaiser gewesen, er brachte über seine glänzenden Industriekontakte die Mandanten herein und gehörte auf vielen Rechtsgebieten bundesweit zu den wenigen, die sich wirklich damit auskannten. Moron war das fleißige Helferlein, das die nachrangigen Arbeiten klaglos und effizient verrichtete. Ohne ihn wäre der beachtliche Erfolg der Kanzlei in den dreißig Jahren ihres Bestehens nicht möglich gewesen.

"Herr Maas, kommen Sie bitte?" Die Sekretärin lächelte ihn ohne erkennbare Emotion an und führte ihn in das Zimmer von Jakob Kaiser. Dieser reichte ihm die Hand über seinen Massivholztisch, der mehr den Eindruck einer Burgmauer als eines Möbelstücks erweckte. Zwischen den beiden zum Garten hinausgehenden Fenstern rechts und links von ihm wirkte Kaiser wie von einem Bild eingerahmt.

"Guten Tag, Herr Maas. Es freut mich, dass Sie die Zeit hatten."

Er bedeutete Robert, sich zu setzen.

"Nun, Herr Maas, ich habe mir ihre Unterlagen angesehen und bin grundsätzlich ganz davon angetan. Zwar, äh...hatten Sie Pech in der Prüfung, wie ich annehme...", er sah ihn erwartungsvoll fragend an, was Robert mit dem geforderten Nicken bejahte, "aber ihre Auslandsaufenthalte und vor allem ihre außerstudentischen Aktivitäten haben doch mein Interesse geweckt. Sie waren in mehreren Theatergruppen aktiv?"

Rober stutzte etwas. Er hatte diese erfundene Angabe in seinen Lebenslauf eingefügt, um ein etwas orgininelles Hobby anzugeben. Er hatte nie damit gerechnet, in einem Bewerbungsgespräch darauf angesprochen zu werden.

"Das stimmt."

"Ja. Mein Sohn war ebenfalls in dieser Richtung engagiert, ich habe ihm nie abgeraten. Als Anwalt muß man ja auch oft ein guter Schauspieler sein."

Sie lachten beide dezent. Robert etwas dezenter.

"Er hat sich dann ebenfalls der Jurisprudenz zugewandt, alles andere machte keinen Sinn. Er hatte einfach keine besonders ausgeprägten Fähigkeiten.“

Kaiser stand auf, stellte sich an das Fenster zu seiner Rechten und sah hinaus.

„Sehen Sie, er hatte zum Beispiel keinerlei Begabung für Naturwissenschaften. Mit der Geisteswissenschaft ist ja beruflich nichts zu erreichen und von Wirtschaft versteht er nun wirklich nichts. Gut, ein wenig wird er da noch aufholen, aber da kann er sich durchbeißen, und zuviel wird man auf dem Gebiet in der Juristerei von ihm nicht erwarten, denn grundsätzlich, Sie wissen ja, judex non calculat."

Wieder lachten beide.

"Das gilt natürlich nur, wenn man sich nicht wie wir auf Wirtschaftsrecht spezialisiert hat.“

Er sah Robert direkt an.

„Hm, ihr Vater war im Umweltamt der Stadt Bonn tätig, ich kann mich an die Jammerei einiger Kollegen erinnern, haha, er war wohl gut in seinem Bereich, nicht wahr?"

"Soweit ich es beurteilen kann, ja."

"Gut, gut, aber Sie auch in die Behörde, das wäre dann doch zuviel der Tradition gewesen, oder?"

"Wahrscheinlich. Ich glaube, es wäre auch gegangen, aber man sollte doch etwas mehr eigene Wege gehen, das gleiche Studium reicht schon. Man will ja nicht zum ewigen Sohn mutieren."

Da war es heraus, er hätte sich die Zunge abbeißen können, aber Kaiser schien die Brisanz überhören zu wollen, die angesichts der Kaiserschen Juristendynastie eigentlich offensichtlich war. Aber er blickte nicht einmal von Roberts Unterlagen auf.

"Und Frau Happel war tatsächlich ihre Geschichtslehrerin. So ein Zufall, eine gute Bekannte von uns. Mir geht es prinzipiell wie ihrem Mann: Ich habe mich immer gefragt, wie sie in ihrem Unterricht auftritt. Da sieht man eine Frau bei Einladungen, bei allen möglichen Anlässen gehobenerer Art, und dann erst macht man sich klar, dass sie sich alltäglich dem Stress in der Schule aussetzt. Verzeihen Sie meine Direktheit, aber jemand wie Frau Happel ist, obwohl ich keinesfalls an ihren pädagogischen Fähigkeiten zweifle, viel zu schade für diesen Beruf. Auch ihr Mann hätte ihr das gerne erspart, aber sie kennen ja ihren Dickschädel."

"Ja, allerdings."

Diese Bekanntschaft war ihm vollkommen unbekannt gewesen. Frau Happel tauchte auch nur einmal kurz in einem Zeugnis zu einem besonderen Schulprojekt auf. Man konnte Kaiser zumindest nicht nachsagen, dass er Bewerbungsunterlagen nicht lesen würde.

„Na gut. Herr Maas, um es kurz zu machen: Ich kann mir vorstellen, Ihnen zunächst einen befristeten Teilzeitvertrag zu geben. Sehen Sie sich die Konditionen einmal in Ruhe an, sie sind auch ein wenig projektabhängig. Wenn das für Sie passt, sehe ich Sie erst einmal in der Rolle, für uns Zuarbeit zu erledigen in Bereichen, die sich nicht so stark in unserem Fokus befinden. Wenn das gut läuft, kann eventuell mehr daraus werden.

"Das wäre großartig für mich."

"Dann sehen wir uns Montag in acht Tagen wieder hier. Ich werde ihnen dann meinen Mitarbeiter Severin Luven vorstellen, er wird sie einarbeiten.“

Sie gaben sich noch einmal die Hand. Kaiser schenkte ihm ein warmes Lächeln.

„Herr Maas, auf eine gute Zusammenarbeit."

Und damit ging es los.

Guido sah noch einmal überall nach dem Rechten, bevor die Gäste kamen.

Frank und Martin mussten gleich mit ihren Familien hier sein und sie würden das erste schöne Maiwochenende mit einem Familienkaffee begehen, so wie jedes Jahr. Ihre traditionellen Treffen fanden immer reihum im Wechsel statt, aber bei gutem Wetter war es bei Guido am schönsten, wie auch er selber zugeben musste. Sein altes Fachwerkhaus am Ortsrand von Schalksmühle im nordwestlichen Sauerland befand sich an einem kleinen Bachlauf auf einer Landzunge und war dadurch fast überall von Wasser umgeben. Das Haus war nicht besonders groß, aber für Guido, seine Frau und die Kinder Anton und Pia vollkommen ausreichend. Er hatte den damals heruntergekommenen Bau als junger Mann günstig gekauft und seine Familie fühlte sich hier einfach pudelwohl. Sie hatten daher auch nicht viel verändert, nur ein wenig modernisiert - nicht zuletzt die Elektrik.

Die Kaffeetafel war schon gedeckt, seine Frau und die Kinder machten sich im Haus fertig. Da schellte es auch schon und Frank, Sibylle und ihre beiden Töchter kamen herein. Die Mädchen verstanden sich gut mit Anton und Pia und verschwanden sofort zu den Kinderzimmern.

Sie umarmten sich und kamen wie immer direkt ins Erzählen. Frank und Sybille war vor ein paar Wochen eine verletzte Brieftauben zugeflogen. Sie hatten dem Besitzer sofort Bescheid gesagt, die Telefonnummer war ja an den Beinringen angebracht, was sie bis dahin aber auch nicht gewusst hatten. Der Züchter konnte aber erst am Abend des nächsten Tages und dummerweise hatten die Mädchen im Internet gegoogelt, was in solchen Fällen passiert: Anscheinend drehten viele Züchter den mit der Verletzung nutzlosen Tauben direkt den Hals um und die Mädchen - und Sybille - hatten furchtbare Angst gehabt, dass die Hinrichtung noch auf ihrem Grundstück (oder auf dem Bürgersteig? Im Auto?) erfolgen würde. Aber alles war gut ausgegangen, der Züchter hatte die Taube abgeholt und wollte sehen, ob sie sich wieder berappelte. Er hatte Ihnen eine Flasche Wein dagelassen und wirkte sehr freundlich.

Dann waren auch Martin und Petra mit Susanne im Schlepptau da und sie fingen an.

Als sie fertig waren, gingen die Kinder an die Tischtennisplatte hinter dem Haus, die Frauen blieben sitzen und rauchten leichte Zigaretten. Martin, Frank und Guido setzten sich an einen kleinen Tisch, der etwas abseits des Hauses direkt am Ufer des Baches stand. Mit drei eiskalten Warsteinern stießen sie an. Guido schlug seinen Notizblock auf und drückte seinen Kugelschreiber.

"Wer fängt an?"

"Ich wüsste gern, was ein neuer Schalter mit Kettenprozessor kosten darf", sagte Martin.

"Nicht mehr als dreißig."

"Mehr nicht?"

"Ne, lass mal sein, sonst werden die aufmerksam. Unter 30 ist gut."

"Und mindestens?"

"18, außer Sonderfälle."

"Gut. Was ist mit den Hardcoresteckern?"

"45 - 50. Unter 500 Stück."

"Okay."

Sie machten noch eine halbe Stunde weiter. Dann holte Guido neues Bier. Er selbst wechselte auf Apfelsaft, weil er noch fahren musste.

"Sonst alles wie gehabt?

Die anderen nickten.

"Super. Lass uns mal mit den Frauen besprechen, ob wir nächstes Wochenende bei dem neuen Thailänder essen gehen wollen."

Auch das war schnell erledigt. Nach einer weiteren Stunde verabschiedete sich Guido und überließ seiner Frau die Gastgeberrolle, weil er noch kurz ins Büro musste. Er fuhr durch das gemütliche Schalksmühle mit seinen 10.000 Einwohnern und zwei Apotheken, bis er zu dem Gewerbegebiet auf der anderen Seite kam. Das zentrale Vollert-Werk baute sich nach der alten Papiermühle vor ihm auf, und er war immer noch beeindruckt wie an dem Tag, an dem er es eingeweiht hatte. Auch wenn die Vollert-Holding mittlerweile 17 Standorte in 12 Ländern besaß, war Schalksmühle immer noch das Herz des Unternehmens, das mit Schaltern und Steckern einen Jahresumsatz von gut drei Milliarden Euro jährlich machte.

Auch Frank Degener von Degener-Berger und Martin Gonert verdienten ihr Geld mit Schaltern aus Schalksmühle, aber im Vergleich zu den 1,5 Milliarden (Degener-Berger GmbH) beziehungsweise 1,2 Milliarden Euro (Gonert Schaltlösungen GmbH & Co. KG) hatte Guido Vollert doch klar die Nase vorn.

Das Schöne in Schalksmühle war, dass am Ende doch alles in der Familie blieb. Er hoffte, dass das noch lange so bleiben würde.

Am Montag morgen um 8.30 Uhr erschien Robert in seinem noch einzigen Anzug in der Kanzlei und meldete sich, wie Kaiser ihm gesagt hatte, bei seinem Kollegen Severin Luven an. Das Büro von Luven ging ebenfalls nach hinten hinaus, war jedoch erheblich kleiner als das von Kaiser. Es war aber offensichtlich, dass Severin unter den 20 Mitarbeitern der Kanzlei, die noch nicht Partner waren, der Leitwolf war. Robert schätzte ihn auf nicht älter als Anfang 30, ein heller, asketischer Typ mit kurzen roten Locken und einem dauerhaft spöttischen Lächeln in den Mundwinkeln.

Er wechselte seinen Gesichtsausdruck auch beim Händeschütteln nicht.

„Guten Morgen. Wie geht´s?“

„Danke, gut. Ich freue mich.“

„Schön. Es wartet auch viel auf Dich.“

Er sah ihn direkt an.

„Wenn das für Dich o.k. ist, duzen wir uns. So machen wir das alle hier, abgesehen von Jakob und Felix.“

„Ja, klar, ist mir sehr recht.“

Severin nickte zu sich selbst und blätterte in den Papieren auf seinem Tisch, bei denen es sich offensichtlich wieder einmal um Roberts Bewerbungsunterlagen handelte.

„Tja, machen wir uns nichts vor. Ich hätte Dich den Unterlagen nach nicht zum Gespräch eingeladen. Dafür geben die Noten und der Rest einfach zu wenig her.“

Ein kurzer scharfer Blick zu Robert.

„Aber Jakob hat anscheinend Gefallen an Dir gefunden. Ich weiß nicht, woran das genau liegt. Aber es spielt auch keine Rolle. Du solltest wissen, dass Du hier anfängst wie jeder andere und die gleichen Chancen bekommst. Dass ich Dich nicht genommen hätte, heißt nicht, dass Du Dich nicht beweisen kannst. Aber dass Du hier bist heißt auch nicht, dass das immer so bleiben muss. Wer hier nicht reinpasst, ist schneller wieder draußen als er denkt.“

Severin versuchte sich an einem echten Lächeln.

„So, soweit der Ernst des Lebens. Aber wenn Du hier ranklotzt, kann das durchaus was werden. Du kennst unser Themenportfolio, Du hast in der Richtung schon ein paar ganz erfolgreiche Ausbildungsstationen in Deinem Referendariat gemacht und ich kann mir daher vorstellen, dass Du es packst.“

Er schob die Unterlagen zur Seite.

„Aber glaub nicht, dass Du es schon geschafft hast.“

„Ganz sicher nicht.“

„Gut, dann kommen wir jetzt mal zu den Inhalten.“

In den nächsten 20 Minuten führte ihn Severin detailliert in die aktuellen Tätigkeitsfelder der Kanzlei ein. Robert wusste schon viel darüber, aber es war doch beeindruckend, welcher Mandantenstamm sich immer wieder auf die Expertise von Kaiser & Moron verließ. Von der Bundesregierung zu zahlreichen Behörden und vor allem natürlich dicken Fischen aus der Großindustrie waren etliche Renommierklienten dabei, außerdem zahlreiche eher unbekannte Mittelständler, die mit ihren Produkten Weltmarktführer waren. Wer hier anfing und dabei blieb, hatte es geschafft, entweder als Daueranstellung oder Sprungbrett für andere lukrative Jobs.

„Es ist natürlich klar, dass Du von den Mandanten erst mal nichts sehen wirst. Ansprechpartner sind wir. Und wir verwirren unsere Mandanten nicht mit Mitarbeitern, die noch nicht zum permanenten Stamm gehören. Wenn Du was von den Top-Fällen mitbekommst, dann im Rahmen von Zuarbeit, wenn wir für nachrangige Details keine Zeit haben. Aber das wird für Dich erst einmal anspruchsvoll genug sein.“

Robert nickte.

„Aber zunächst einmal wird Deine Hauptaufgabe in ganz anderen Bereichen liegen. Wir haben nämlich bei unseren Mandanten, vor allem den privaten, einige Umsatzbringer, die uns nebenbei auch mit ziemlichem Murks beschäftigen.“

Er zog aus der Ablage eine dünne Akte.

„Wir fangen direkt mit ihm hier an. Klaus Oberermbter. Sagt Dir der Name zufällig etwas?“

„Oberermbter Markisen?“

„Hey. Gut. Betrieb vom Vater übernommen, inzwischen selber schon 68 und einer der wenigen, die in dem Segment wirklich hochpreisig anbieten können. Ein bisschen unklar ist, ob er sich sein großes Hobby - die Jagd - tatsächlich zur Entspannung oder zum Renommieren zugelegt hat. In seiner Jagdhütte hat er jedenfalls schon einige Deals eingefädelt. Es kommt auch schon mal vor, dass wir ihm da spontan Sonntag morgens beistehen müssen.“

Severin strich beiläufig über die Akte.

„Von der Sorte haben wir einige. Fraglos einer unserer Premium-Klienten. Nur einen Nachteil hat der gute Oberermbter: Er prozessiert wegen jedem Mist.“

„Das klingt nach keinem Anwaltsproblem.“

Severin verzog sein Gesicht.

„Wie stellt Ihr Euch an der Uni eigentlich diesen Beruf vor? Schön ist natürlich, wenn seine Firma klagt oder verklagt wird, obwohl das eigentliche Geld natürlich die Beratung bringt. Ärgerlich ist es aber, wenn er private Probleme hat. Meistens sind die Streitwerte nur mäßig, man darf aber auch keinen Vergleich machen und die Sache schnell beerdigen, weil es meistens ums Prinzip geht. Und Honorarvereinbarungen zu unseren normalen Stundensätzen fallen auch flach, weil der Gute davon ausgeht, dass wir das eigentlich als Service nebenher machen können.“

Severin schob die Akte über den Tisch.

„Und hier kommst Du ins Spiel.“

„Das geht doch in Ordnung.“

„Das will ich meinen. Zur Sache: Unser Mann tritt zumindest offiziell wirklich als passionierter Jäger auf. Für sein Revier hat er den obligatorischen Antrag für den Rotwildabschuss bei der Jagdbehörde eingereicht. Aber der ist das zu viel. Er hat schon für die letzte Saison 135 Stück Wild beantragt und irgendwie durchbekommen.“

„135 Stück? Schießt er die allein?“

„Meistens wohl. Aber ausgewählte Bekannte werden auch mal mitgenommen. Jakob war auch schon dabei, aber für ihn ist das ja gar nichts, er hätte beinah gekotzt.“

„Und jetzt will er noch mehr?“

Severin holte sich die Akte wieder heran und schlug sie auf.

„Ja. 166 Stück. Will heißen,“ er blätterte in der Akte, “zusätzlich noch 26 Hirsche der Güteklasse I a sowie 5 der Güteklasse II a. Und das ganze ohne die letztjährige Beschränkung, nämlich auf ausschließlich Achter, Eissprossenzehner und einseitige Kronhirsche.“

Er schob die Akte zurück zu Robert.

„Hört sich sehr speziell an, ist aber letzten Endes nur Fachchinesisch. Lies Dir den Bescheid der Behörde mal auf Fehler durch. Ich fürchte aber, Du wirst keine finden. Die Sache ist eigentlich schon verloren. Solltest Du was Brauchbares finden, ist das schön und bringt Punkte bei Oberermbter. Wenn nicht, bist Du wenigstens in dem Thema drin, denn das ist bestimmt nicht das Letzte, was Du von ihm und der Jagd mitbekommen wirst.“

„Wunderbar. Bis wann brauchst Du das?“

„Komm mal“, Severin blätterte in seinem Terminkalender, „am Mittwoch um 9 Uhr zu mir.“

„Ist gut.“

„Und noch was.“

„Ja.“

„Die Ausführungen vorhin zu Deiner Bewerbung, das war Bussiness, ok? Ich hatte Dir ja gesagt, dass Dir Deine Vergangenheit nicht mehr schadet. Deine Chancen sind da und Du kannst sie nutzen.“

„Hab ich verstanden.“

„O.k. Jetzt aber was Privates: Du bist mir nicht ganz unbekannt, denn mein kleiner Bruder hat auch ein paar Semester in Bonn studiert und kannte Dieter Eilert.“

Dieter! Warum musste das jetzt kommen?

„Mein Bruder ist öfter mit Dieter um die Häuser gezogen, muss wohl ein ziemlich verrückter Typ gewesen sein.“

Robert wartete.

„Und dabei fiel wohl auch mal Dein Name. Du und Dieter habt anscheinend ziemlich viel zusammen gemacht.“

So konnte man es auch nennen. Tatsächlich hatte Robert viel zu viel der Sachen mitgemacht, auf die Dieter immer wieder gekommen war. Die Frage war nur, was davon Severins kleiner Bruder mitbekommen hatte. Sie waren zum Beispiel einmal sturzbesoffen spätnachts nicht auf der Kaiserstraße den ganzen langweiligen Weg von der Innenstadt nach Hause gelaufen, sondern hatten zur Abwechslung den nächstbesten Gullydeckel angehoben und waren im Kanal unter der Straße nach Hause gelaufen. Aber das waren die harmlosen Geschichten, die Severin allerdings auch nicht unbedingt mitbekommen musste.

„Hm, ja. Wir waren in einer Clique.“

„Naja, dann hast Du wohl auch was übrig für ordentliche Feiern.“

„Ja, schon.“

„O.k., dann komm doch am Samstag bei mir vorbei. Meine Verlobte und ich machen eine kleine Party. Wäre schön, wenn Du dabei sein könntest.“

„Samstag passt.“

„Gut. Dann zeig mir erst mal was bis Mittwoch und am Wochenende stoßen wir auf Deine erste Woche an.“

Wer drin ist, ist drin.

Mittwochmorgen erschien er bei Severin und machte ihm einen knappen Entscheidungsvorschlag in Sachen Oberermbter. Er sah eine kleine Chance, den Bescheid der Aufsichtsbehörde zu kippen und empfahl die Einleitung eines Eilverfahrens beim Verwaltungsgericht. Severin war hochzufrieden. Er fütterte ihn mit neuen Akten und wollte ihn erst wieder nächsten Montag sehen. Da er seine Arbeit machen konnte wo er wollte, hatte er ziemlichen Freiraum und traf sich erst einmal mit Mark im Zebulon, einer vor mindestens 20 Jahren stehen gebliebenen Studentenkneipe, die Marks zweites Wohnzimmer geworden war.

„Na, hast Du Dich wieder an Deine konservativen Kollegen rangeschmissen?“, zog ihn Mark auf.

„Nur kein Neid, mein Lieber. Probier erst einmal das Gefühl aus, im Job Erfolg zu haben, dann können wir uns über die Integritätsfrage gern weiter austauschen, in Ordnung?“

„Mann, Du hattest auch mal mehr Humor.“

Dann war zunächst Schweigen. Mark würde niemals zugeben, dass er neidisch war. Nicht auf den Job an sich, aber immerhin passierte etwas bei Robert. Das sah bei Mark noch anders aus. Bisher hatten sie beide sich nicht daran gestört, dass das letzte Jahr für sie recht ereignisarm verlaufen war. Aber allein die Tatsache, dass Robert nun ernsthaft beschäftigt war, brachte Mark in Zugzwang. Robert war sich sicher, dass er bald mit irgendeiner Neuigkeit ankommen würde, um sich interessant zu machen.

Er war allerdings überrascht, dass das unmittelbar passieren würde.

„Ich hab mein Buch fertig.“

„Nein.“

„Doch.“

Er holte eine Mappe aus seiner Tasche.

„364 Seiten.“

„Respekt.“

„Das Buch!“ war eigentlich eine feststehende Redewendung von Ihnen beiden gewesen, allerdings eher in dem Sinne eines Ereignisses, das niemals eintreffen würde. Er hatte nie damit gerechnet, dass Mark wirklich etwas zu Papier bringen würde. Er hatte auch keine Ahnung, um was für ein Thema es ging.

„Wenn der Herr Anwalt gelegentlich ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit erübrigen könnte, wäre ich für eine Einschätzung dankbar. Ich habe es bisher erst einmal überarbeitet.“

Robert betrachtete die Mappe beeindruckt und steckte sie ein.

„O.k. An den Gedanken, Bekannter eines Nachwuchsschriftstellers zu sein, muss ich mich erst gewöhnen.“

Mark grinste breit über das ganze Gesicht.

„Na dann mal los. Ich will eine Einladung zum nächsten Wettlesen in Klagenfurt haben.“

„Ich geb mir Mühe.“

Mark legte ein paar Münzen auf den Tisch.

„Ich muss leider auch schon los. Ich versuche in diesem Semester mal, mir zumindest die Nachmittagsvorlesungen vollständig reinzuziehen.“

Robert kam aus dem Staunen kaum noch heraus. Er hatte Mark lange nicht mehr so gut gelaunt erlebt. Während er seinen Kaffee in Ruhe allein austrank, sah er durch das Fenster auf die enge Stockenstraße und den zum Koblenzer Tor vorbeiströmenden Verkehr.

Der Ausblick war fantastisch.

Tora!Tora!Tora!

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