Читать книгу Red Dirt Heart: Sengende Erde - N.R. Walker - Страница 8

Kapitel 3

Оглавление

Mehr als nur Erinnerungen

Zwei Kartons standen auf dem Küchentisch.

Alt, staubig, vergessen.

Ich hatte keine Ahnung, was da drin war und ich hatte beinahe Angst davor, nachzusehen. Offensichtlich waren sie im Dachstuhl in Sicherheit gebracht worden – oder versteckt – und seit Jahren nicht angerührt worden.

Was mich zurückhielt, waren mein Name und Geburtsdatum, die in der Handschrift meines Vaters auf den Kartons standen.

Und mir Angst machten.

»Charlie«, sagte Travis leise. Er stand neben mir, ebenso wie Ma. Bacon, der geholfen hatte, sie runterzubringen, war nun verschwunden. »Willst du sie aufmachen?«

Ich nickte, dann schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß nicht.«

»Du musst nicht«, flüsterte er. »Ich kann sie in den Schuppen bringen, bis du bereit bist.«

Ich dachte, ich hätte das hinter mir gelassen. Ich dachte, ich hätte mich mit meinem Vater, seinen verletzenden, intoleranten Worten und seinem enttäuschten Blick abgefunden. Ich dachte, ich hätte meine Vergangenheit akzeptiert und weitergemacht. Zum Teufel, ich hatte sogar anerkannt, dass ich so stur war wie mein Vater – und war sogar stolz darauf. Ich war mit den homophoben Kommentaren und Blicken genauso umgegangen, wie er es mit jemandem getan hätte, der nicht seiner Meinung war.

Ich wusste, dass ich die Neigung zur nüchternen, in die Offensive führenden Arroganz direkt von meinem alten Herren geerbt hatte und das war für mich in Ordnung.

Und trotzdem katapultierte mich das, was auch immer er in diesen zwei Kartons versteckt hatte, wieder zum Ausgangspunkt zurück. Ich war wieder ein verängstigtes Kind und wartete darauf, dass mich seine Worte verletzen würden.

»Ich dachte, er hätte alles gesagt, was er sagen konnte«, hörte ich mich selbst sagen. Ich bin nicht sicher, ob ich es laut hatte aussprechen wollen. Trav legte seine Hand auf meinen Rücken und ich sah ihn an. »Was, wenn da noch mehr von Du bist so eine Enttäuschung drin ist?«

Trav hob das Kinn, als würde er glauben, dass ich ihn beleidigt hätte. »Charlie, seine Worte können dich nicht mehr verletzen«, sagte er. Ich glaube, er hatte das schon mal gesagt. »Du weißt das, richtig? Du hast die Macht über das, was in diesen Kisten ist. Du entscheidest, nicht er.«

Ich starrte ihn an. Er hatte vollkommen recht. »Wie bist du so klug geworden?«, fragte ich.

»Ich bin nicht so klug. Ich weiß einfach nur, wie dein Verstand funktioniert. Ich wusste genau, was du gedacht hast, Charlie.« Er küsste meinen Kopf. »Willst du sie aufmachen?«

Ich nickte und sah zu Ma, die Travis anlächelte. »Alles in Ordnung, Ma?«, fragte ich.

Sie sah immer noch müde aus, sah mich aber mit einem sanften Lächeln an, als sie sich an den Tisch setzte. »Mir geht's gut«, sagte sie. »Ich mache mir nur Sorgen, wenn du dir Sorgen machst, das ist alles.«

Ich nahm einen Stuhl, stützte aber nur das Knie darauf, anstatt mich zu setzen und zog den ersten Karton zu mir. Ohne darum gebeten worden zu sein, stellte Travis eine Tasse Tee vor Ma und beide warteten darauf, dass ich den Karton öffnete.

Ich weiß nicht, was ich erwartete. Vielleicht Briefe, Dokumente, vielleicht sogar finanzielle Unterlagen, die wir nicht gefunden haben, als wir sein Zimmer ausgeräumt hatten.

Was ich fand, brachte mich zum Lächeln und ließ mich gleichzeitig die Stirn runzeln.

Ich griff in den Karton und zog den ersten Gegenstand hervor. Es war ein Teddybär. Alt, ausgebleicht, ein wenig abgenutzt und er sah aus, als wäre er in den Schlamm gefallen. Ich erkannte ihn nicht.

»Oh, der hat dir gehört«, sagte Ma leise. »Bis du etwa drei warst, hast du ihn überall mit hingeschleppt.«

»Ich erinnere mich nicht«, sagte ich und legte ihn auf den Tisch.

Ma nahm den Bären und betrachtete ihn. »Dein Vater hat ihn dir nach deinem dritten Geburtstag weggenommen. Meinte, du wärst zu alt, um ein Stofftier mit dir rumzutragen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Das überraschte mich nicht. Kein bisschen.

»Also daran erinnere ich mich«, sagte ich und nahm einen aufgesägten Gips heraus. Er war vom Dreck ganz braun, ausgefranst und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Mein erster gebrochener Arm«, sagte ich lachend. »Erinnerst du dich, Ma? Ich bin von meinem Motorrad gefallen.«

Ma sah mich finster an. »Natürlich erinnere ich mich. Wie könnte ich das vergessen?«

Travis nahm den Gips und betrachtete ihn. »Das ist widerlich. Kommt das vom Alter oder hast du ihn so zugerichtet?«

Ma schnaubte. »Er hat ihn im Schlamm, im Dreck und im Fluss getragen. Dann hat sein Vater ihm das Ding hier abgenommen, weil es so fürchterlich gestunken hat.«

Ich schnaubte. »Ja, er hat wie ein überfahrenes Tier gerochen.«

Travis betrachtete die ausgefranste Öffnung, die sich über die ganze Länge des Gipses zog. »Dein Dad hat ihn aufgeschnitten?«

»Ja, mit einer Schurschere.«

»Gütiger Gott«, murmelte Travis.

Ich lachte über seinen Ausdruck. »Und sieh mal, hier ist der Gasgriff des Motorrads, das ich gefahren habe, als ich gestürzt bin«, sagte ich und nahm den Motorradgriff heraus, der auf meine Peewee 50 gehört hatte. Er war schwarz und das Gummi mittlerweile abgewetzt und brüchig. Es war ein ungewöhnliches Andenken. »Warum zur Hölle hat er das aufgehoben?«

»Weil es dein erstes Bike war«, sagte Ma schulterzuckend. »Und du hast es geliebt.«

Ich dachte darüber nach, was es bedeutete. Mein Vater hatte diese Dinge nicht wirklich für sich selbst aufgehoben. Er hatte es für mich getan.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Anschließend nahm ich weitere Dinge heraus, angefangen bei einem kleinen Glas mit meinem ersten Zahn, meinen ersten Babyschuhen bis hin zu einem alten Bunnykins-Teller und einem dazu passenden Plastikbecher, der nun gesprungen war.

Auf dem Boden des Kartons befanden sich Bücher: ein Sammel-, ein Baby- und ein Fotoalbum. Ich nahm sie heraus und legte sie zur Seite, ehe ich nach den letzten Sachen in dem Karton griff. Es waren einige laminierte Zertifikate aus meinen Homeschooling-Tagen und eine Plastiktüte mit gefalteten Zeitungen.

Ich stellte die erste leere Kiste auf den Boden und betrachtete all die Dinge, die den Tisch bedeckten. Meine Kindheitserinnerungen. Es war schockierend und wundervoll, dass mein Vater diese Dinge aufbewahrt hatte. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Da ich immer noch zu durcheinander war, um sie in Worte zu fassen, seufzte ich stattdessen.

Aber ich lächelte.

»Wow«, sagte ich schließlich und setzte mich. »Ich hatte keine Ahnung.«

Travis zerzauste meine Haare und drückte mir einen Kuss auf den Kopf, ehe er sich neben mich setzte. Er schien kurz davor zu sein zu platzen. Ob es vor Erleichterung oder Freude für mich war, wagte ich nicht zu sagen. Es war egal.

Zuerst nahm ich das Babyalbum. Es war blau, klein und durch das Alter gelb geworden. Ich öffnete die erste Seite, auf der in einer schönen Handschrift, die ich nicht erkannte, mein voller Name, mein Geburtsdatum, Gewicht, Größe und Haarfarbe standen. Außerdem klebte da ein kleines Bild eines weinenden Babys. Vermutlich war ich es.

»Du hast dich nicht verändert«, scherzte Travis.

Ich konnte nur lachen. Auf der nächsten Seite befanden sich Daten mit Gewicht, Größe und Meilensteinen. Anscheinend hatte ich meinen ersten Zahn mit sieben Monaten bekommen. Und es war sehr deutlich, sogar unterstrichen und so, dass ich Haferbrei nicht mochte.

Ma lachte schnaubend. »Also das hat sich nicht geändert.«

Ich lachte mit ihr, aber als ich die nächste Seite aufschlug, verging mir das Lachen.

Da war ich, vielleicht zwei Jahre alt und saß auf dem Knie meines Vaters. Er lachte über etwas, sein Gesicht leuchtete und er sah jemanden oder etwas an, das auf dem Bild nicht zu erkennen war.

Er sah so viel jünger aus als der Mann, an den ich mich erinnerte. Auch glücklicher. Er sah so glücklich aus. Unsere Kleidung war ein Hinweis auf die Zeit – die späten Achtziger – und das Foto selbst war ein vom Alter vergilbtes Polaroid.

Travis' Hand auf meinem Knie zwang mich, ihn anzusehen. »Geht's dir gut?«

Ich nickte. »Ja.« Und das stimmte. Das war nicht, was ich erwartet hatte: Diese Dinge aus meiner Kindheit und eine Erinnerung daran zu finden, dass mein Vater nicht immer so wütend gewesen war. Ich richtete meinen Blick wieder auf das Foto und strich gedankenverloren mit dem Finger darüber. »Er sieht so glücklich aus.«

Ich konnte Mas Blick auf mir spüren und als ich aufsah, musterte sie mich eine Weile lang. »Er war glücklich, Liebling.«

»Ich muss ihn wohl anders in Erinnerung haben«, murmelte ich.

Ma seufzte. »Er war nicht immer so…« Es schien ihr schwerzufallen, das richtige Wort zu finden.

»Wütend?«, schlug ich vor. »Verbittert?«

»Einsam«, beendete sie ihren Satz.

Darauf hatte ich keine Antwort. Stattdessen ließ ich es auf mich sinken, wie eine schwere Decke der Reue. »Ich war zu beschäftigt damit, ein Stinkstiefel zu sein, um es zu sehen«, gestand ich.

Ma lächelte mich warm an. »Du warst ein Teenager, Liebling. Man kann dir nicht die Schuld geben, es nicht gesehen zu haben, vor allem, wenn er Dinge sagte, die er nicht so gemeint hat.« Sie seufzte und sah so müde aus, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Er war ein guter Mann, Charlie, bis zu dem Tag, an dem deine Mutter gegangen ist. Danach war er nicht mehr derselbe. Zu stolz, glaube ich, um zuzugeben, dass er sich wünschte, die Dinge wären anders.«

Danach war es still und ich drehte die nächste Seite um. Es gab Abrissspuren, wo einst ein Foto gewesen war, das später herausgerissen worden war. Genau wie auf der nächsten und übernächsten Seite.

Ich nahm an, dass sie von meiner Mutter waren.

Der letzte Eintrag war ein Bild von mir. Ich war vielleicht vier Jahre alt, hielt einen Fisch, der halb so groß war wie ich und trug zu große Reitstiefel. Ich grinste wie das glücklichste Kind der Welt. Ein Kind, das nicht wusste, dass sich seine Welt für immer verändern würde.

Trav legte mir eine Hand in den Nacken und beugte sich vor, aber nicht, um sich das Bild anzusehen, sondern um mir näher zu sein. »Erinnerst du dich daran?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Dann betrachtete ich erneut das Foto. »Aber ich glaube, ich erinnere mich an die Stiefel.«

Travis lachte. »Jap. Du bist wirklich schwul.«

Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an, lachte aber leise. Als Nächstes kam das Sammelalbum. Es war genauso alt, die Seiten vergilbt und staubig. Darin befanden sich eingeklebte Zeitungsartikel, ein paar Fotos von mir und einige Erwähnungen. »Du hast Bullen geritten?«, fragte Travis.

»Jap. Bis ich etwa zwölf war und mir das Handgelenk an zwei Stellen gebrochen habe.« Ich hatte ihm schon erzählt, dass ich mir das Handgelenk gebrochen hatte, bevor mein Dad ein wichtiges Treffen hatte. »Danach hat mir mein Vater verboten, noch einmal ein Rodeo zu reiten.«

Einige der Ausschnitte erwähnten die Sutton Station, bei anderen ging es direkt um mich und die School of the Air. »Es war keine normale Schule«, erklärte ich. »Es gibt keinen Mannschaftssport, keine außerschulischen Aktivitäten oder so was, wenn das nächste Kind zweihundertfünfzig Kilometer weit weg ist. Pi mal Daumen.«

Travis schüttelte den Kopf. »Deine Kindheit war ganz anders als meine«, sagte er.

»Sie war ziemlich toll«, gestand ich. »Reiten, Motorrad fahren, Bullen jagen… von Bullen gejagt werden.«

Ma deutete auf ihre Haare. »Siehst du die grauen Strähnen?«, sagte sie und hob die Brauen. »Jede einzelne davon habe ich wegen etwas bekommen, das er getan hat.«

Die Zeitungsartikel reichten von meiner Kindheit bis zum Teenageralter. Der letzte Ausschnitt war nicht eingeklebt, sondern einfach nur gefaltet und zwischen zwei Seiten gesteckt worden. Und er lag nur wenige Jahre zurück.

Soweit ich es beurteilen konnte, sah er aus, als wäre er aus dem Magazin der Beef Farmers Association ausgeschnitten worden, genau wie die Ausgabe, die wir letztens mit meinem Gesicht auf dem Titelblatt bekommen hatten. Aber das hier war nur Text, scheinbar ein Interview mit meinem Vater.

Er sprach darüber, dass die letzten Viehpreise etwas niedriger waren, als ihm lieb war, die Saison aber gut gewesen war. Als sich die Unterhaltung dann auf die Familienangelegenheiten konzentrierte, bemerkte der Journalist:

Charles Sutton sprach stolz über seinen Sohn und sagte, dass er in Sydney Landwirtschaft studiert. »Soviel wir auch davon lernen können, auf dem Land zu leben, liegt die Zukunft in Bildung«, sagte er. »Charlie wird ein besserer Farmer sein, besser, als ich es je sein könnte.«

Der Interviewer hatte gescherzt und sich gefragt, ob ein junger Mann ins Outback zurückkommen würde, nachdem er vom Stadtleben gekostet hatte. Charles Sutton lachte, als wäre es ein Insiderwitz. »Es ist ein hartes Leben, dem würde niemand widersprechen. Aber fragen Sie jeden von uns – wir würden es nicht anders haben wollen. Charlie wird zurückkommen. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil er es liebt.«

»Sie müssen sehr stolz auf Ihren Sohn sein«, sagte der Interviewer. Charles Sutton antwortete mit einem durchschlagenden Wort. »Sehr.«

Ich las das Interview. Und dann las ich es erneut. Und ich schluckte die Tränen hinunter, während Travis und dann Ma den Artikel lasen. »Ich verstehe es nicht«, sagte ich. »Hat er gelogen, als er das gesagt hat? Warum würde er sie anlügen? Warum sollte er diese Dinge sagen? Sie stimmten nicht.«

»Charlie«, murmelte Travis. »Sie stimmten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir das Gegenteil gesagt. Er hat es mir gesagt. Ma war da, genau wie George. Sie haben gehört, was er gesagt hat.«

Ma runzelte die Stirn. »Oh, Liebling.«

Travis nahm unbeeindruckt meine Hand. »Charlie, wir sind ziemlich gut darin geworden, über Dinge zu reden, nicht wahr?«

Ich nickte. »Ich versuche, besser zu werden.«

Er lächelte. »Du machst das toll.« Er drückte meine Hand. »Aber erinnerst du dich an den Anfang? Es war nicht leicht.« Er sprach so ruhig. »Für dich war es einfacher, zu lügen und zu sagen, dass es dir gut geht, wenn das nicht wirklich der Fall war. Du hast so hart gekämpft und es war leichter, Nein zu sagen, in den Verteidigungsmodus zu schalten und so zu tun, als würde es dich nicht interessieren, als jemanden auch nur eine Sekunde lang glauben zu lassen, dass du ihm gegenüber offen wärst.«

Ich schluckte, damit ich sprechen konnte. »Aber warum sollte er bei einem Interview lügen? Er hätte einfach sagen können, dass ich auf dem College war und es dabei belassen können, aber das hat er nicht. Er hat weitergeredet. Das ergibt keinen Sinn.«

Travis schüttelte den Kopf, als würde ich das Offensichtliche nicht erkennen. »Er hat sie nicht angelogen, Charlie. Was er zu dir gesagt hat, war nicht die Wahrheit. Er war stolz auf dich. Er konnte es dir nur nicht sagen.«

Ich schüttelte den Kopf. Es ergab keinen Sinn.

»Genau wie für dich, war es für ihn einfacher, einem Fremden die Wahrheit zu sagen, als dem Menschen, den er liebte, die ganze Wahrheit zu sagen. Es ist leichter, einem Fremden die Wahrheit zu sagen, weil man nicht riskiert, zurückgewiesen zu werden. Siehst du es nicht? Für ihn war es leichter, dir gegenüber so zu tun, als wäre es ihm egal, weil er bei dir das meiste zu verlieren hatte.«

In diesem Moment sah ich Travis an. Sah ihn wirklich an. Neben mir saß der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich kannte, hielt meine Hand und sah mich mit den blauesten Augen aller Zeiten an. Er kannte jedes meiner Geheimnisse, jede meiner Stimmungen, Träume und Wünsche, er hatte meine schlimmsten Seiten gesehen und saß trotzdem noch neben mir.

»Hörst du, was ich sage, Charlie?«, fragte Travis sanft.

Nickend schluckte ich den Kloß in meiner Kehle hinunter und ignorierte das Brennen in meinen Augen. »Du bist wirklich irgendwie perfekt, weißt du das?«

Ma schnaubte und als wir zu ihr sahen, wischte sie sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ihr Jungs bringt mich zum Weinen.«

In dem Moment kam Nara in die Küche und blieb stehen, als sie uns sah. »Entschuldigung«, sagte sie schnell. »Ich bin nur gekommen, um beim Mittagessen zu helfen.«

Was uns alle dazu brachte, auf die Uhr zu sehen. Scheiße, der Vormittag war fast vorbei. Ich stand auf und legte alles wieder in die erste Schachtel zurück, als mir klar wurde, dass ich die zweite nicht einmal angerührt hatte.

»Ich hab noch gar nicht mit dem Mittagessen angefangen«, sagte Ma.

»Ich hätte Nugget mittlerweile füttern müssen«, fügte ich hinzu, sah aber zu dem ungeöffneten Karton zurück.

Ma legte eine Hand auf meinen Arm. »Mach ihn auf, Charlie. Verschwende keinen weiteren Tag. Ich kann die Flasche für Nugget fertig machen…«

»Wisst ihr was?«, sagte Travis. »Warum setzt ihr euch nicht ins Wohnzimmer und seht euch den Inhalt an. Ich bin sicher, dass ihr viel zu bereden habt. Nara und ich können uns ums Mittagessen kümmern.«

Ich wusste nicht, ob er wirklich der Meinung war, Ma und ich müssten reden oder ob ihm aufgefallen war, wie blass Ma aussah, aber es war eine gute Idee.

Und sie widersprach nicht.

Rückblickend hätte mir genau das, dieser fehlende Widerspruch, sagen müssen, dass etwas nicht stimmte.

Aber ich war zu sehr mit den Kartons beschäftigt, die sie im Dachstuhl gefunden hatten, um es zu bemerken. Der Karton meiner Kindheitserinnerungen und der winzige Funke Hoffnung – das Interview, das vielleicht, nur vielleicht bewies, dass mich mein Vater nicht so hasste, wie ich gedacht hatte – bestimmten mein Vorgehen.

Ma setzte sich neben mich und ich öffnete den zweiten Karton. Er war kleiner und leichter als der erste und als ich ihn öffnete, wusste ich, warum.

Nur ein Album lag darin.

Ein kleines Sammelalbum. Das war alles. Ich fragte mich, warum es in einem extra Karton lag, wenn sonst nichts weiter drin war. Ich nahm das Album und stellte den Karton ab, als ein paar Zeitungsausschnitte auf den Boden segelten.

Ich hob sie auf, es waren vielleicht sechs oder sieben, und öffnete das Album. Keiner der Artikel war eingeklebt, als wäre meinem Dad die Zeit ausgegangen oder als wäre er nicht sicher gewesen, was er damit machen sollte.

Ich legte das Album zwischen mich und Ma und öffnete den ersten gefalteten Ausschnitt. Das Papier war alt, vergilbt und trocken. Es war ein Artikel von einer Grundschule in Darwin, bei dem es um eine Ausstellung ging. Die Namen und Hinweise sagten mir nichts.

Ich nahm einen weiteren kleinen Ausschnitt. Es war ein Foto aus der Zeitung, auf dem einige Kinder Fußball spielten. Ich konnte keine Gesichter erkennen, aber sie mussten fünf oder sechs Jahre alt sein.

Wieder, nichts.

Ich reichte ihn Ma, dann nahm ich einen weiteren. Kleiner, älter. Es war eine Geburtsanzeige.

Samuel Jennings, geboren am 4. März 1983. Mutter und Sohn sind wohlauf.

Ich las ihn. Und las ihn erneut.

Ich hatte keine Ahnung, wer das war oder warum mein Vater es aufgehoben hatte.

Stirnrunzelnd reichte ich Ma das vergilbte Stück Zeitung. »Ich kenne niemanden mit dem Nachnamen Jennings.«

Das war der Moment, in dem ich Ma wirklich ansah. Also wirklich ansah. Sie war blass, blasser als jemals zuvor und die dunklen Ringe unter ihren Augen stachen hervor. Ihre Atmung kam schnell und abgehackt und als ich ihre Hand nahm, war sie klamm.

Ich nahm ihr den Zeitungsausschnitt ab, nahm ihre andere Hand und zog sie auf die Füße. »Ins Bett mit dir«, sagte ich. »Versuch nicht, mit mir zu diskutieren.«

Und sie tat es nicht.

Es war sehr untypisch für sie, aber sie nickte. »Ich fühle mich nicht gut.«

Ich führte sie in ihr Zimmer, an der Küche vorbei, wo Travis unterbrach, was er gerade tat, und uns folgte. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ma geht's gut«, antwortete ich, während ich sie noch immer langsam zu ihrem Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses führte. »Sie braucht nur etwas Ruhe.«

»Danke«, sagte Ma schwach. »Ich will nicht, dass sich jemand Sorgen macht.«

Wir kamen bei ihrem Bett an und ich schlug die Decke zurück, während ich darauf wartete, dass sie hineinkrabbelte. »Wie wäre es, wenn du es uns zur Abwechslung überlässt, uns Sorgen zu machen?«, sagte ich. »Ich mach dir etwas Zitronentee und bring dir ein paar Panadol, ja?«

Sie nickte und ich verließ das Zimmer. In der Küche stieß Travis zu mir. »Charlie?«

»Ich mache ihr Tee«, sagte ich.

»Hat sie etwas aufgewühlt?«, fragte er. »Was war in dem zweiten Karton? Ich weiß, dass es ihr nicht gut ging, aber…«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie war schon eine Weile nicht mehr sie selbst. Seit Wochen. Erinnerst du dich, dass sie diese Erkältung hatte?«, fragte ich. »Da fing es an.«

Ich hatte irgendwie vergessen, dass Nara mit uns in der Küche war. »Mr. Sutton«, sagte sie leise und reichte mir eine Tasse Zitronentee. »Ich hab ihn ein wenig für sie abgekühlt, wie sie es mag.«

»Danke«, sagte ich. Nara lächelte schüchtern und widmete sich wieder der Vorbereitung des Mittagessens. »Nara? Hast du bei Ma eine Veränderung bemerkt?«

Das Mädchen sah zu mir auf, als hätte es Angst zu antworten. Doch dann nickte sie. »Sie wird sehr müde.«

Travis legte eine Hand auf meine Schulter. »Charlie, als Scott gestern hier war, hat er dasselbe gesagt.«

»Was?«

»Er hat zu mir gesagt, dass ihm nicht klar war, wie schlecht es Mrs. Brown ging. Er sagte, dass er sie das letzte Mal vor drei Jahren hier gesehen hätte, bei der Beerdigung deines Vaters.« Travis schluckte schwer.

»Und?«

»Und er sagte nur, dass es ein kleiner Schock war, sie so dünn und blass zu sehen.«

Und so dachte ich zurück, wie Scott es getan hatte und erst, als ich mich an die Ma von vor ein paar Jahren oder auch nur ein paar Monaten erinnerte, wurde mir klar, dass sie wirklich nicht sehr gut aussah.

Und ich hätte mich selbst treten können, weil ich so verdammt blind gewesen war.

Vielleicht war es nur eine Erkältung, wie sie sagte, aber sie war blass und sah müde aus. Sie war ruhiger als sonst und aß kaum etwas. Viele ihrer Teetassen blieben unberührt. Sie war so beschäftigt damit, sich um alle anderen Sorgen zu machen und wir so beschäftigt damit, das zuzulassen, dass ich es nicht einmal bemerkt hatte.

In dem Moment schlug die Fliegengittertür zu und ich erkannte am Klang der Schritte, wer es war. »George«, rief ich.

Er kam in die Küche und in seinen Augen blitzte etwas auf, das ich nicht erkannte. Ob es die Tatsache war, dass Ma nicht in der Küche war, oder der Ausdruck auf meinem Gesicht, wusste ich nicht.

»Wo ist Ma?«

»Sie ist im Bett«, sagte ich. »George, wahrscheinlich geht es mich nichts an, aber ich glaube nicht, dass sich Ma so gut fühlt. Und damit meine ich nicht, dass sie ein wenig krank ist, ich meine, dass es ihr nicht gut geht.«

Ich erwartete viel Überraschung oder einen Schock, stattdessen sah er zu Boden und seufzte. »Es geht ihr schon eine Weile nicht gut.«

Mein Körper bewegte sich wie von allein einen Schritt auf ihn zu. »Was hat sie gesagt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist gut darin, es zu verbergen.«

»Warum hat sie nicht früher etwas gesagt?«, fragte ich leise. »Zu mir, meine ich. Ich hätte sie dazu zwingen können, sich freizunehmen, sich auszuruhen oder so was.«

»Du kennst sie doch, Junge. Sie ist dickköpfig und stolz. Wollte nicht, dass sich jemand Sorgen macht.«

»Ich rufe den Arzt«, sagte ich.

George lächelte und schüttelte den Kopf. »Das sage ich schon seit zwei Wochen. Sie hat mir jedes Mal körperliche Schmerzen angedroht.«

»George, sie ist nie krank«, sagte ich, als würde ich ihm etwas erzählen, das er nicht bereits wusste. »Solange ich sie kenne, war sie noch nie so.«

»Ich weiß«, sagte er traurig. Er versuchte zu lächeln, aber es funktionierte nicht. »Und sie sagt, dass es nur eine Erkältung oder Grippe oder so was ist. Der Winter hat ihr schwer zugesetzt, aber sie sagt, dass sie in ein oder zwei Tagen wieder auf dem Damm ist.«

Ob er etwas wiederholte, was Ma ein Dutzend Mal gesagt hatte, oder ob er versuchte, sich selbst zu überzeugen, konnte ich nicht sagen. Ich schüttelte den Kopf. »Das hat sie vor zwei Wochen zu mir gesagt, als Trav und ich nach Alice gefahren sind.«

George nickte. »Ich weiß, Charlie.« Er klang nicht wütend oder auch nur resigniert. Es hörte sich an, als hätte er dieselbe Diskussion mit ihr immer und immer wieder geführt.

»Sie wird nicht arbeiten, bis sie sich besser fühlt. Es ist mir egal, ob es sie verrückt macht, sie kann mich anschreien so viel sie will. Sie braucht Ruhe und wir müssen uns zur Abwechslung um sie kümmern.«

George lächelte, wenn auch nur kurz. »Ich sag es ihr.«

»Wir behalten sie im Auge«, sagte ich ihm. »Aber wenn es ihr in ein oder zwei Tagen nicht besser geht, fahre ich sie persönlich nach Alice.«

Er zog den Kopf ein und als er sich zum Gehen umwandte, reichte ich ihm die Teetasse und sagte sanfter: »Ich hab ihr etwas Panadol versprochen.«

»Ich hole es«, sagte er und klang dankbar. »Danke, Charlie.«

Anschließend drehte ich mich um und stellte fest, dass Travis mich beobachtete. »Geht's dir gut?«, fragte er. »Du hattest einen verdammt aufreibenden Vormittag.«

Ich nickte und war mir sehr bewusst, dass Nara noch immer in der Küche war und die Tabletts mit Brot und Fleisch belud. »Alles in Ordnung«, sagte ich ihm.

Travis schien es egal zu sein, dass wir nicht allein waren. Er schlang seine Arme um mich und trotz meines Zögerns lehnte ich mich an ihn. Die Umarmung war warm und fest und alles, was ich brauchte. Ich konnte spüren, wie meine Sorgen verschwanden und das Gewicht des Vormittags – diesen Karton voller Kindheitserinnerungen unter dem Dach zu finden – fühlte sich nicht mehr so erdrückend an, als er mich umarmte.

»Was war in dem zweiten Karton?«, fragte er und zog sich zurück, umfasste aber weiter meine Arme.

»Nur Zeitungen, weitere Ausschnitte«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was sie bedeuten. In keinem geht es um mich.« Ich zuckte mit den Schultern. Als sich die Hintertür quietschend öffnete und die anderen zum Mittagessen kamen, stellte ich fest, dass Nara bereits ein Tablett zum Tisch gebracht hatte.

Ich nahm das zweite Tablett mit dem geschnittenen Obst, Travis das andere mit den Soßen und Gewürzen und gemeinsam folgten wir Nara ins Esszimmer. Alle saßen am Tisch, irgendwie ruhig und abwartend. Ich fragte mich, warum niemand mit dem Essen anfing und dann wurde es mir klar. Sie würden nicht anfangen, weil George nicht da war. Ich nahm mir einen Teller und füllte ihn mit Sandwiches und Früchten. »Ähm«, setzte ich an. »Ma fühlt sich nicht gut. George ist gerade bei ihr, also bringe ich ihm den hier. Ihr esst bitte.«

Ich ließ sie mit geweiteten Augen und verwundert zurück und brachte George sein Mittagessen. Ich konnte leises Murmeln hören, aber als ich an der Tür klopfte, unterbrachen sie ihre Unterhaltung. George saß auf dem Bett und Ma versuchte zu lächeln. Ich brachte den Teller herein und reichte ihn George. »Ich kann dir etwas Toast machen?«, sagte ich zu Ma. »Nach all den Gelegenheiten, bei denen ich krank war und du mich gezwungen hast, trockenen Toast runterzuwürgen, ist es das mindeste, was ich tun kann.«

Sie lachte leise. »Vielleicht später.«

Ich ließ sie allein, ging zurück ins Esszimmer und nahm meinen üblichen Platz ein. Es fühlte sich falsch an, einen leeren Stuhl neben mir zu haben. In all den Jahren, die ich an diesem Tisch gesessen hatte, war George immer direkt neben mir gewesen. Seine ruhige, unaufdringliche, unglaubliche Stärke ausdrückende Präsenz fehlte.

Plötzlich war mir nicht mehr nach Essen, aber Travis stellte mir einen Teller vor die Nase. Er legte etwas Brot und Fleischaufschnitt darauf und ehe ich den Kopf schütteln konnte, hakte er unter dem Tisch seinen Fuß hinter meinen.

Wie ein Anker oder ein rettendes Element erdete er mich. Ich weiß nicht, woher er es wusste, aber er schien immer das zu sein oder zu sagen, was ich brauchte. Wortlos sagte er mir, dass ich hierbleiben und stark sein sollte.

Ich nickte und sah zu Bacon. »Wie geht's mit dem Dach voran?«

Und so begann die Unterhaltung. Bis alles aufgegessen war, sprachen wir darüber, was erledigt war und was noch getan werden musste. Ich schlug vor, dass alle ihre Arbeit ruhen ließen, um beim Dachdecken zu helfen. Ich wusste, dass es Travis' Projekt war und er und Bacon es schnell fertig bekommen würden, aber ich wollte nicht, dass es im Haus kälter wurde, während Ma krank im Bett lag.

Sie alle verstanden es.

»Ich weiß nicht, wie lange sie nicht arbeiten kann«, sagte ich ihnen. »Könnten zwei Tage sein, aber auch eine Woche oder länger. Aber bis dahin werden wir alles tun, um ihr den Rücken freizuhalten.« Alle nickten. »Ich will nicht, dass zu ihren Problemen auch noch Schuldgefühle hinzukommen, okay?«

Nara steckte ihren Kopf herein und hatte den Mundwinkel unsicher und entschuldigend nach unten gezogen.

»Was gibt's?«, fragte ich sie.

Sie zeigte mir eine wackelnde blaue Mütze und eine kleine Milchflasche. Oh Scheiße, ich hatte ihn vergessen.

Nara sprach leise. »Er will wieder nicht fressen.«

Ich winkte sie herein. »Bring ihn her«, sagte ich, nahm ihr den Wombat ab und schob ihm schnell die Flasche in seinen jammernden Mund. Dann, während Nara noch im Raum war, sprach ich weiter. »Wir werden das Kochen in Schichten übernehmen«, sagte ich. »Ich weiß, dass ihr alle nicht dafür angestellt seid, und glaubt mir, niemand hier will essen, was ich koche, aber wir müssen einspringen.«

Nara nahm ein Tablett vom Tisch. »Ähm…« Sie fing an, etwas zu sagen, unterbrach sich dann aber. Alle beobachteten sie und sie sah so nervös aus wie noch nie. »Ach, es ist nichts.« Sie ging einen Schritt rückwärts in Richtung Tür.

»Nara«, sagte ich und hielt sie auf. »Bitte, sag, was du sagen wolltest. Deine Meinung ist genauso wichtig wie unsere.«

Sie blinzelte schnell. »Ich wollte nur sagen« – sie sprach zum Fußboden – »dass ich das Kochen übernehmen kann.« Als ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Ich helfe Ma ständig und sie hat mir beigebracht, wie es geht. Ich weiß, dass ich nicht so gut sein werde wie sie, aber ich hab auch für meine Familie gekocht…«

Ein träges Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Nicht, weil sie sich gerade freiwillig zum Kochen gemeldet hatte, damit ich es nicht tun musste, sondern weil sie das Selbstvertrauen gefunden hatte, etwas zu sagen.

»Nara, du bist mehr als fähig«, sagte ich ihr. »Und ich bin sehr dankbar.«

»Aber?«, fragte sie.

»Nichts aber«, sagte ich. »Du hast dir gerade einen Job an Land gezogen.«

Mann, ihr Lächeln war riesig. Billys Lächeln mindestens genauso breit. Travis stieß mich mit dem Fuß an, drückte mein Knie und sah mich wieder mit diesem Du bist irgendwie wundervoll-Ausdruck in den Augen an.

Alle standen vom Tisch auf und gingen draußen an die Arbeit und nachdem ich das nun schlafende Babywombat in seinen Beutel gesteckt hatte, half ich Nara beim Aufräumen und machte eine Bestandsliste, während sie das Abendessen organisierte. Als mir klar wurde, dass sie mich offensichtlich nicht für irgendetwas brauchte, ließ ich sie machen.

Anschließend setzte ich mich wieder ins Wohnzimmer auf die Couch. Ich hatte nur die verstreuten Zeitungsausschnitte einsammeln und wegräumen wollen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß und erst, als Travis hereinkam und sich vor mich kniete, wurde mir überhaupt bewusst, dass ich sie noch einmal gelesen hatte. Ich hatte sie sogar irgendwie chronologisch geordnet.

»Charlie«, sagte Trav sanft. »Was hast du da?«

Ich reichte sie ihm und die Geburtsanzeige lag ganz oben. Ich beobachtete, wie er las, einen immer wieder auftauchenden Namen und körnige, veraltete Zeitungsfotos von einem Jungen betrachtete, den ich nie zuvor gesehen hatte.

»Wer ist dieser Samuel Jennings?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht.«

Er runzelte die Stirn, als er sich nachdenklich wieder hinkniete. Dann stand er einfach auf. »Komm mit«, sagte er und verließ das Zimmer. Ich folgte ihm in mein Büro, wo er an meinem Schreibtisch stand und den Laptop aufklappte.

»Was hast du vor?«

»Herausfinden, ob uns Google irgendwelche Informationen über diesen Jungen liefern kann«, sagte er und hielt die Zeitungsausschnitte hoch.

Ich nahm die kleinen Papierschnipsel ab und legte sie langsam auf den Tisch. »Ich, ähm…« Meine Stimme war leise. »Ich bin nicht sicher, ob ich das will.«

Travis seufzte. Es war kein ungeduldiges Seufzen. Es war ein Es tut mir leid dass ich dich gedrängt habe-Geräusch. Er legte eine Hand an mein Gesicht und küsste sanft meinen Wangenknochen. »Ich hätte dich fragen müssen, tut mir leid.«

»Entschuldige dich nicht«, sagte ich ihm. Wir waren uns noch immer so nahe, so nahe, dass ich ihn hätte küssen können, wenn ich gewollt hätte. Aber ich wollte etwas anderes viel mehr. Ich ließ meine Stirn an seine Schulter sinken, lehnte mich an ihn und wartete darauf, dass er die Arme um mich legte. Es dauerte nicht lange. Ich atmete ihn ein und stieß die Luft heftig aus, bis ich spürte, wie mich meine Sorgen verließen.

Er rieb mit den Händen über meinen Rücken und seine Wärme sprang auf meinen Körper über. »Geht's dir gut?«, fragte er leise.

»Jetzt schon«, antwortete ich. »Du hast irgendeine seltsame Zauberkraft, die alles weniger schwer macht.«

Seine Stimme erklang nah an meinem Ohr. »Weniger schwer?«

Ich erklärte nicht, was ich meinte, sondern nickte einfach nur. »Jap.«

Er lachte leise, das Geräusch war ganz warm und brummend. Er küsste mich seitlich auf den Kopf und zog sich zurück. »Ich würde vorschlagen, dass du uns draußen beim Dach unterstützt, weil es dir vielleicht hilft, einen klaren Kopf zu bekommen, wenn du dich körperlich betätigst. Aber Bacon hat Trudy gesagt, dass sie auf kein verdammtes Dach steigen wird und sie hat ihm eine Menge Schimpfwörter an den Kopf geworfen, deshalb solltest du lieber hierbleiben, wenn dir was an deinem geistigen Wohlergehen liegt«, sagte er lächelnd. »Bleib bei Ma. Ich weiß, dass du dir Sorgen um sie machst.«

»Das tue ich.« Ich nickte. »Aber danke für die Warnung wegen Trudy und Bacon.«

Travis lachte leise. »Es ist alles gut, Charlie. Es geht ihnen gut. Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, okay? Du hast gerade schon genug um die Ohren.«

Ich lehnte mich vor, nur ein kleines bisschen und drückte ihm meine Lippen auf, als es gerade auf dem Dach klopfte. »Charlie«, rief Ernie. »Du hast Besuch. Da kommt ein Auto.«

»Erwartest du jemanden?«, fragte Travis.

Ich schüttelte den Kopf. Die Farm war zu abgeschieden, als dass irgendjemand aus heiterem Himmel auftauchte. Wenn jemand hier rauskam, dann normalerweise, weil er darum gebeten worden war.

Als ich nach draußen in den Flur ging, wäre ich beinahe mit George zusammengestoßen. Er musste Ernie gehört haben. »Erwartest du jemanden?«, fragte ich ihn.

»Nein. Du?«

»Nein.« Ich nickte in Richtung Schlafzimmer. »Wie geht's Ma?«

»Schläft tief und fest«, sagte er. Dann schenkte er mir ein kleines Lächeln. »Sie wird wieder. Du weißt, wie sie ist.«

Das Geräusch eines sich nähernden Fahrzeugs wurde lauter, also gingen wir nach draußen, um zu sehen, wer es war. Sie fuhren langsam. Also wirklich langsam. Eine unsichere Art von langsam. »Vielleicht verfahren«, schlug ich vor.

»Könnte sein«, sagte George.

Das Auto, ein älterer Subaru, kroch auf das Haus zu und blieb schließlich etwa zwanzig Meter entfernt stehen. Falls sie erwartet hatten, ein leeres Haus vorzufinden, lagen sie falsch. Drei Männer auf dem Dach, eine Frau, die an der Hausseite eine Leiter hielt und drei Männer auf der Veranda hielten inne und starrten.

Niemand stieg aus dem Auto aus.

Travis ging, weil er nun mal Travis war, mit einem einladenden Grinsen die Treppe hinunter und auf das Auto zu. Er stützte sich mit den Händen auf dem Autodach ab und das Fahrerfenster wurde ein paar Zentimeter hinuntergelassen, sodass er hineinsehen konnte.

Reflexartig trat Travis einen Schritt zurück, die Augen ungläubig geweitet und mein Instinkt sagte mir, dass ich zu ihm musste. Ich wusste nicht, was los war, wer in dem Auto saß, oder was die Person getan hatte, um ihn zu erschrecken, aber ich sprang von der Veranda. »Travis?«

Die Autotür öffnete sich langsam und eine Frau stieg aus.

Ich hörte George hinter mir murmeln. »Oh mein Gott.«

Ich drehte mich um und fragte mich, ob irgendetwas mit Ma nicht stimmte, aber er starrte die Frau an. Travis stellte sich mit schnellen Schritten vor mich.

»Was ist los?«, fragte ich. Seine Augen waren voller Sorge. »Woher kennst du sie, Trav?«

»Charlie?«, flüsterte die Fremde, als könnte sie beinahe nicht glauben, was sie sah. Sie legte sich eine Hand aufs Herz. »Es war ein Fehler, hierherzukommen, entschuldige«, sagte sie und öffnete die Autotür, als würde sie gehen wollen.

»Warte!«, rief ich ihr zu und sah um Travis herum, der noch immer vor mir stand, als würde er sich zwischen mich und diese Fremde stellen. Die Frau schien stehen zu bleiben, also sah ich Travis an. »Was hast du gesehen?«

»Dich«, flüsterte er und schluckte schwer. »Ich hab nur ihre Augen gesehen. Sie hat deine Augen. Charlie, ich schwöre, du warst es, der mich angesehen hat.«

Red Dirt Heart: Sengende Erde

Подняться наверх