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Das Leben in Eden.

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Sie nimmt die feinen Nadeln zwischen ihre Hände und zerreibt sie kräftig. Schiebt die eine Hand gegen die Andere. Dann öffnet sie die Hände wieder und die kleinen, graugrünen Nadeln sind zu Krümeln geworden. Sie hält mir ihre offenen Handflächen hin und sagt: „Riech nur, es duftet so unglaublich gut!“ Ich trete näher, halte meine Nase dicht über ihre Hände und schließe die Augen. Dann atme ich tief den Geruch des frischen Rosmarins ein. Er riecht ganz unglaublich gut. Sie nimmt einen weiteren kleinen Zweig und hält mir diesen hin. Diesmal nehme ich den Geruch nach Rosmarin nur ganz schwach wahr. Ich schaue zu ihr auf. In ihre grünen Augen. Ich sehe die Sommersprossen, die über ihr Gesicht springen und wäre so gerne so wie sie. „Später“, denke ich, „später werde ich einmal so sein“. „Du musst den Rosmarin immer zwischen deinen Händen verreiben, sonst entfaltet er seinen Geruch nicht richtig.“, sagt meine Mutter. „Und dieser Geruch ist Zuhause.“

Zuhause war auch immer schon der Geruch von Blumen und der Geruch des Mittels, das Floristen Wasser zugeben um die Blumen länger haltbar zu machen. Ich gehe an keinem Rosmarinstrauch vorbei ohne mir einen kleinen Zweig abzureißen, ihn zu zerreiben und seinen Geruch in mir aufzunehmen. Dann lasse ich die zerdrückten Nadeln langsam wieder zu Boden fallen und bin glücklich. Gehe ich an einem Busch vorbei, dann reiße ich ein Blatt ab und zerkleinere es soweit ich es vermag. Dann pule ich die Reste des Grüns unter meinen Nägeln hervor und manchmal bleibt noch etwas Blattsaft an meinen Fingerkuppen kleben.

Damals gab es einen Busch mit weißen Beeren dran. Wenn man diese weißen Beeren auf den Boden warf und auf ihnen herum sprang, dann gaben die meisten ein „Plopp“ von sich. Es war wichtig diese Beeren nicht zu essen oder die Finger in den Mund zu nehmen, wenn man mit ihnen gespielt hatte. Am besten aber war gar nicht erst mit ihnen zu spielen. Wenn man nur ein bisschen an seinen Fingern lutschte, würde man wahrscheinlich nur spucken müssen, aber wenn man wirklich eine ganze Beere oder gar mehrere aß, dann würde es einem sehr schlecht gehen. Ich wusste das. Meine Mutter hatte wiederholte und wiederholte es. Und mit dem klebrigen Saft von Efeu an den Fingern war das nichts Anderes.

Ich hatte nie ein Baumhaus, aber einen kleinen Baum auf den ich klettern konnte und dessen Astgabel mir einen perfekten Sitzplatz bot. Der Baum war etwas versteckt, so dass man mich nicht wirklich von der Straße aus sehen konnte, wenn ich Stellung bezogen hatte. Wir hatten damals auf dem Hof immer große, ich meine wirklich große Metallkübel. Ich glaube Kübel ist nicht das richtige Wort, aber ich kann mich nicht an das Richtige erinnern. Meist waren diese prall gefüllt mit allem möglichen prächtigen Restmüll. Mit diesem Restmüll konnte man prima spielen. Nur wollten meine Eltern nicht, dass man das tat, weshalb man den Restmüll immer in den Verstecken zwischen Gebüschen und kleinen Bäumen fern aller Blicke positionieren musste. Man konnte sich ganze Wohnungen bauen, in denen man seine Sommertage dahin lebte. Ich hatte verschiedene Wohnungen, die auf dem ganzen Gelände verteilt waren, das uns damals gehörte. Ich hatte Hauptwohnsitze und Ferienwohnungen und einen Bobbycar als ich ganz klein war, einen fahrbaren Bagger später und irgendwann ein Fahrrad mit Stützrädern und dann eines ohne. Ich war wohlhabender als ich es jetzt bin.

Es gab einen sehr erträchtigen Kirschbaum, der im Juli, spätestens aber im August schwer mit dicken, fast schwarzen Kirschen hing, die ich in mich hineinstopfte bis ich nicht mehr an die zu hohen Äste kam. Daneben waren Quittenbäume. Ihrer vier oder fünf und ich verstand nicht, warum es so viele bedarf, denn Quitten kann man nicht vom Baum essen. Sie sind hart und haben eine samtweiche Schale, die sich zwar gut in der Hand anfühlt, die man aber nicht im Mund haben will, weshalb man auch Kiwis schält. Ich zumindest schäle sie. Man isst sie nicht mit der Schale. Man schneidet sie in der Mitte durch und löffelt sie. So hat es mir meine Mama beigebracht und so gehört es sich.

Man kippt auch nicht die Milch in den Schwarztee bevor man den Beutel herausgenommen hat und man trinkt Schwarztee auf jeden Fall mit Milch und Zucker. Schwarzteemitmilchundzucker war jahrelang mein Frühstück. Ich frage mich warum ich irgendwann meinte, ich müsse anfangen Kaffee zu trinken. Schwarzteemitmilchundzucker sagt sich so wunderbar wie es schmeckt. Man sollte nicht wechseln, was sich als gut erwiesen hat.

Quitten muss man zu Saft verarbeiten und aus dem Saft der Quitten kann man dann Quittengelee machen, was nicht gut schmeckt. Aber es gab diese vier oder fünf Quittenbäume, die vier oder fünf Bäume zu viel waren, denn sie zwangen mich dazu mehr Quittengelee auf meinem Marmeladenbrot zu haben als Himbeere. Hinter den Quittenbäumen waren die Brombeer- und Himbeerhecken, aber es waren nicht genügend um gegen die Quitten anzukommen. Es gab nie genug Himbeermarmelade und auch nie genug Brombeermarmelade und sicher nicht genug Kirschmarmelade, weil es so anstrengend ist die ganzen Kirschen zu entsteinen. Zum Glück konnte man aus Quitten keinen Obstkuchen machen. Der Kuchen blieb von den Quitten verschont.

Es gab viel Apfelkuchen. Aus Boskop-Äpfeln. Es gab zwei Möglichkeiten Apfelkuchen zu machen. Entweder mit Streuseln und ganz viel Zucker oder mit einer Schicht Sahnegemisch wie bei Käsekuchen. Die Streuselvariante ist viel besser. Es gab auch viele Zwetschgenbäume auf der Wiese neben unserem Haus und an einem kleinen Hang hatten wir Rhabarber. Von Zwetschgen, die nicht reif sind, muss man sich übergeben. Das habe ich selbst gelernt. Keiner hat daran gedacht es mir zu sagen. Wenn man in eine Kiste voller Kakteen fällt, dann tut das weh. Das haben meinem kleinen Bruder alle gesagt, aber er hat es nicht verstanden. Bis er in den Karton mit den Kakteen fiel.

Und es gab einen Gemüsegarten mit Tomaten, Salat, gelben Rüben und grünen Bohnen. Die gelben Rüben konnte man ganz einfach aus der Erde ziehen. Erst waren sie noch widerwillig und glitten nur langsam aus der Erde, aber zuletzt kamen sie einem mit dem kleinen „Plopp“ entgegen, mit dem die weißen Beeren ihr Leben aushauchten, wenn sie am Boden zerschellten. Mit der, der Erde entnommenen gelben Rübe musste man nur noch bis zum Wasserhahn laufen und dort konnte man die gesäuberte, noch nasse, süße gelbe Rübe gierig verschlingen.

Zwischen den Beeten verliefen schmale Pfade, gepflastert mit dunkelgrauen Platten. Im Sommer, wenn die Sonne den ganzen Tag auf diese Platten schien, dann gab es nichts Schöneres als auf diesen Wegen verträumt mit Steinchen und Staub zu spielen.

Und das Grün des Grüns der Rüben war so leuchtend. So ungemein schön. Und so praktisch um die Möhre zu greifen, wenn man sie aß.

Ganz am Anfang meiner Erinnerungen gab es noch den schmalen Gang zwischen zwei Gewächshäusern, der zu einem Schopf führte, in dem Töpfe, Holz und Rindenmulch gelagert waren. Rindenmulch – etwas an diesem Wort habe ich immer geliebt. Wie Milch, nur dunkler. Die Milch unter der Rinde des Baumes, eine braune Erdmilch. I anstatt U. Mulch anstatt Milch.

So braun wie die Erdmilch war der hölzerne Käfig, der in dem Schopf stand. Ein selbstgebauter Käfig mit einem ebenso braunen Hasen befand sich darin. Ein großer Hase, ein bisschen dick und mit Schlappohren. Der Hase hieß Braunie. Wenn ich heute den Namen Braunie höre, dann denke ich an doofe, amerikanische Brownies. Braunie war alt und er sah traurig aus und irgendwann starb er. Einfach so.

An Braunies Tod erinnere ich mich nicht. Es scheint kein für mich bewegendes Erlebnis gewesen zu sein. Aber sein Leben war ein andauerndes bewegendes Erlebnis für mich, weil es Unrecht war. Es war düster in dem Schopf und das auch tagsüber und der Käfig war ein Käfig und ich hielt ihn für zu klein. Ein Käfig war eine Unart. Ein Käfig ist immer noch eine Unart, aber vielleicht denke ich heute auch an die Größe des Käfigs und dann ist die Unart kleiner. Und ich weiß nicht, ob das richtig ist. Und immer wenn man den Hasen heraus nehmen wollte, hatte er Angst. Manchmal hat er einen panisch und gehetzt angeschaut. Ich glaube am schlimmsten fand ich die Tatsache, dass Braunie sich gefreut hat wieder in seinen Käfig zu kommen und so schnell er konnte in die engste und düsterste Ecke verschwand.

Einmal hatten mein kleiner Bruder und ich Froschlaiche in einem Sumpf gesammelt und wollten sie in unserem künstlichen, kleinen Tümpel aussetzten um ihn beim Wachsen zuzuschauen, aber mein Großvater sagte uns, sie würden wohl in dem großen Steintrog genauso gut gedeihen und wir würden sie dort viel besser sehen können, weil sie sich nicht würden verstecken können. Von den Kaulquappen sahen wir viele, aber kaum ein Fröschlein. Vielleicht sind die Fröschlein gleich weg gesprungen, weil der Trog ihnen ein zu kleiner Käfig gewesen war. Ich wünschte Braunie wäre so gewesen wie die Fröschlein, aber Braunie war ein alter Hase und kein junges Fröschlein.

Wir hatten Gänge voller Stauden und ein Gewächshaus mit exotischen Pflanzen und eines mit Topfpflanzen und jedes Jahr kam die Zeit der Geranien und der Duft von Geranien war mir immer der Liebste. Und dann gab es noch eine Ecke mit Tischen voller Kräuter, die herrlich dufteten. Wir hatten Basilikum und Zitronenmelisse und Thymian und der Enzian stand auch bei den Gewürzen und ich weiß nicht mal warum. Und natürlich gab es auch Rosmarin.

Meine Großmutter sagte immer, dass jedes Kind, solange es Kind sei, zehn Kilo Dreck essen müsse, denn das sei gut für den Magen. Vielleicht sollte auch jedes Kind ein kleines Vögelchen finden, das aus dem Nest gefallen ist. Nicht für einen gesunden Organismus, aber um die Hülle um den Geist langsam zu brechen.

Um Hilflosigkeit in Bezug auf ein anderes Lebewesen zu lernen. An sich selbst erfahren Kinder Hilflosigkeit täglich, aber zu lernen, dass man nicht helfen kann und nicht, dass man selbst immer auf Hilfe angewiesen ist, ist einmalig. Man schafft es nicht den Vogel zu füttern und er stirbt alleine über Nacht in dem Metallkörbchen, in dem man ihm ein Nest gebaut hat. Morgens ist sein Körper kalt wie der Korb. Was dann nach all den Mühen auf dem Feld, auf dem man den ganzen Tag Würmchen gesucht hat, aber kaum gefunden hatte, in einem zerbricht ist einmalig. Der gefrorene, kalte Körper der Leiche zerbricht nur ein Mal am Boden, wenn sie fällt.

Und doch hatte man alle seine Freunde geholt. Einer hatte das Vögelchen bewacht vor der Katze und alle anderen hatten Würmer gesucht. Alles hatte man für das Leben getan, alles um es zu erhalten. Und die Eltern wollten einem nicht bei der Suche helfen und einem nicht sagen welche Würmer das Vögelchen am liebsten aß als er alle, die man fand verschmähte. Sie wollten nicht helfen, weil sie arbeiten mussten und die Arbeit ist wichtiger als das Leben, dachte ich. Und die Eltern dachten, dass der Vogel ohnehin zerbrechen würde. Sie machten sich die Mühe der Hoffnung nicht. Sie fühlten am nächsten Tag, die am Boden zerschollene Enttäuschung nicht, die uns allen durch die Glieder fuhr.

Das war meine Selbstverständlichkeit. Das war meine Welt. Eine Welt voller Zäune. Zäune um die Wiese im Kindergarten. Zäune um den Garten. Zäune um die Gärtnerei. Aber eingesperrt habe ich mich nicht gefühlt. Die Zäune verboten weniger mir hinauszugehen, denn sie mich vor dem schützten, was herein kommen wollte. Meine Welt blieb klein, einzig die Erzählungen derer, die die Zäune nicht mehr um sich tragen, vergrößerten den Horizont meiner Welt ein kleines bisschen. Manchmal wollte ich diese Zäune sicher übersteigen, doch das waren Ausnahmen. Die Welt hinter den Zäunen war groß und voller Rätsel. Sie stand in Hieroglyphen geschrieben und die Geschichten meiner Eltern waren mir so fern wie die Märchen in meinen Büchern. Man sagt es ist der Unterschied schlechthin, ob man in einem Gefängnis sitzt und gehen will oder ob man hinter Zäunen sitzt, weil man es will. Meine Selbstverständlichkeit waren Zäune, war das Darinbefindliche, waren Früchte, Pfade, Bäume und braune Hasen. Meine Selbstverständlichkeit war Sicherheit.

Was ich nicht sage.

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