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Kapitel 2

Endlich umgab mich die Freiheit. Das Seil unter mir schwang zwischen meinen Beinen hin und her, sodass ich mich weiter an ihm hinaufziehen konnte.

Die Welt unter mir verschwand, nun war ich am Himmel des Zirkus Zeltes angelangt und erreichte eine gewagte Höhe von 20 Metern.

Es war dunkel im ganzen Zelt, da es schon spät am Abend war und von fern her hörte ich das leise Gewitter Grollen, welches das herannahende Gewitter ankündigte. Genau deswegen war ich hier an diesem Ort. Um diese unglaubliche Atmosphäre zu genießen, die sich einem nicht allzu oft anbot.

„Elodie? Bist du hier?“, hörte ich die Stimme meines älteren Bruders Aleandro erklingen.

Und schon war die tolle Atmosphäre durchbrochen und ich ließ mich langsam am Seil hinunter auf den weichen Zirkusboden herunter gleiten.

„Ich bin hier.“, sagte ich und tapste in meiner Strumpfhose und samtigen Oberteil in die Richtung aus der die Stimme gekommen war. Aleandro hatte anscheinend eine Kerze mitgenommen, denn plötzlich leuchtete Licht vor mir auf und ich sah ihn entfernt vor mir stehen.

„Ich hab dich überall gesucht, hätte ich mir ja denken können, dass du hier bist.“, sagte er anklagend und strich sich sein blondes Haar aus dem Gesicht.

„Keine Sorge, mir passiert schon nichts.“, lächelte ich über seine Besorgnis und hakte mich bei ihm unter, damit wir das Zelt verlassen konnten.

Im Wohnwagen war es kalt, sodass Aleandro Kerzen aufstellte und das kleine Heizungsgerät, was wir von Reisenden geschenkt bekommen hatten, anschloss.

Seine Augen leuchteten auf, als ich ihm mein Geschenk überreichte, was ich heute extra in der Stadt gekauft hatte. Freudig nahm er es entgegen und zerriss das rote Geschenkpapier.

Aleandro war heute zwanzig Jahre geworden, heute war sein Tag.

„Du schenkst mir eine Kamera? Wie kann ich dir nur danken?“, strahlte er, als er die schwarze Spiegel Reflex Kamera aus der Folie nahm und bestaunend vor sich hielt.

Hastig umarmte er mich und drehte mich einmal im Kreis, was mich an alte Kindheitstage erinnerte, an denen wir noch im Sandkasten gespielt hatten.

Schon damals war ich immer, wenn es gewittert hatte, im Zirkuszelt verschwunden und hatte ungesehen meine Leidenschaft ausgelebt. Die Akrobatik erfüllte mich dann besonders, es war ein anderes Gefühl als bei jeder Zirkus Vorstellung. Viel intimer und vollkommener.

„Die anderen haben meinen Geburtstag wohl vergessen.“, weckte mich Aleandro aus meinen Gedanken und ich beschwichtigte ihn schnell.

„Bestimmt nicht. Sie sind nur beschäftigt mit ihren Aufführungen.“, tröstete ich ihn.

Unsere Zirkus Familie setzte sich aus meinen vier Brüdern, mir und ein paar Angestellten Tänzern zusammen. Nach dem Tod unserer Eltern, übernahm mein ältester Bruder Joe den Betrieb und seitdem turnten wir mit ihm durch Frankreich.

Oft war es nicht einfach, da sich nicht mehr viele Leute für Zirkus interessierten und wir viele Einnahme Probleme hatten. Die Finanzen standen schlecht und jeden Tag mussten wir um unsere Existenz kämpfen. Doch aufgeben war uns bis jetzt nicht in den Sinn gekommen, wir waren ein eingespieltes Team und so schnell würden wir unsere Leidenschaft nicht aufgeben.

Zum Glück besaßen wir keine Tiere, für die wir Futter und Stellplätze besorgen mussten, sodass die Einnahmen an uns und den Betrieb gingen.

Es klopfte an der Wohnwagentüre und ich öffnete schnell, damit Joe, Justus und Markus ihre Überraschung abstatten konnten, indem sie mit Luftballons und lautem Gepolter in den Wohnwagen stürmten. Ich lachte, als ich sie sich alle umarmen sah und das Strahlen auf Aleandros Gesicht immer größer wurde. Den ganzen Tag hatte er mich wie ein kleiner Junge gelöchert, ob die anderen seinen Geburtstag vergessen hatten…

„Ich bin so froh, dass es euch gibt!“, rief Aleandro laut in die Luft und winkte mich zu sich, damit wir uns alle umarmen und den Tag mit Sekt und Pizza ausklingen lassen konnten.

Wie schreibt man ein Buch oder besser gefragt, was interessiert die Leute so sehr, dass sie ein Buch auch zu Ende lesen? Diese Frage wanderte mir schon lange durch den Kopf, doch ich hatte nicht viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Das Training für die Aufführungen nahm viel Zeit ein, sodass ich erst abends zum Schreiben kam. Aber nun hatte ich eine Blockade, etwas Neues musste her. Die Wolken draußen zogen sich zusammen, das Gewitter vom vorigen Tag war immer noch nicht abgeklungen.

Am Liebsten hätte ich mich ins Bett gekuschelt, doch der Tag war gerade mal halb rum, sodass ich den Wohnwagen verließ und in meinem roten Kleid hinüber zum Zirkuszelt ging, wo Aleandro und Joe ihre Vorstellung probten.

Im Zirkuszelt war es einigermaßen geheizt, sodass ich mich auf die Tribüne setzen konnte und den Beiden zusah, wie sie ihre Akrobatik in der Höhe betrieben. Sie waren besser als ich, hatten mehr Kraft, ich beneidete sie immer noch.

Ich saß so auf der Tribüne und bemerkte nicht, wie ein junger Mann von hinten das Zirkuszelt betrat und sich suchend umsah. Schließlich erschreckte er mich, als er leise fragte: „Kannst du mir sagen, wo ich Joe finde?“

Abrupt drehte ich mich um und starrte den jungen Mann an, der mit einer Trainingstasche, ausgewaschener Jeans und wilden braunen Locken vor mir stand.

Seine Aura war mir unheimlich, sie hatte etwas Unberechenbares und Unbestimmtes.

„Joe ist der im blauen Shirt. Was willst du denn von ihm?“, fragte ich neugierig, doch auf Abstand bedacht.

„Ich bin der neue Tänzer.“, antwortete er und zeigte mir einen Blick, der mich sofort verstummen ließ, um ihm Platz zu machen.

Irritiert über seine stramme Wirkung sah ich hinter ihm her, wie er die Tribüne hinunter zu meinen Brüdern stieg und in diesem Moment wusste ich, dass ich mich vor ihm in Acht nehmen musste. Besser noch, ihm den Job als Tänzer wieder austreiben.

Schnell verließ ich das Zelt, bevor ich noch länger in seiner Nähe bleiben musste. Das war zu viel für mich, schwer atmend schnappte ich draußen nach Luft und wusste nicht, was er mit mir angestellt hatte. Mir war, als würde sich die Welt um mich herum nicht mehr um mich drehen, sondern als hätte sie ihre Kreise um jemand anderes gezogen.

Tief atmend holte ich Luft, versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als einige Besucher an mir vorbei gingen und ich hastend an ihnen vorbei hechtete. Mein Kleid flatterte über den Boden, meine schwarzen Ballerinas versanken in der nassen Wiese.

Ich war völlig durcheinander, eingenebelt von seiner Aura, die mich vollständig übermannt hatte.

„Was tut er hier?“, fragte ich Joe, als wir zusammen beim Abend essen saßen und mir auffiel, dass ich nicht mal seinen Namen kannte. Wie unhöflich, dass er sich nicht vorgestellt hatte…

„Larry ist der neue Tänzer, er wird mir beim Einmarsch helfen. Heute hat er eine ganz gute Figur abgelegt.“, sagte Joe locker und biss in das Brötchen mit Salat.

„Also ich fand ihn ganz unsymphatisch, kannst du dir nicht einen anderen Tänzer suchen?“

„Auf keinen Fall, es war echt schwer, jemand talentiertes zu finden, der auch einige Zeit mit uns reisen kann.“

„Wie? Er reist mit uns?“, fragte ich entsetzt, wobei mir der Appetit völlig entschwand.

„Erstmal für ein paar Wochen und dann sehen wir weiter.“

Ich hasste die Worte Joe’s, doch ich wusste nicht, was ich dagegen setzen sollte, um ihm klar zu machen, dass Larry nicht gut für uns war. Oder nur für mich?

„Sind die anderen damit einverstanden?“, fragte ich in die Runde, um vielleicht wenigstens von meinen anderen Brüdern Unterstützung zu erhalten.

Doch alle waren ins Essen vertieft und nickten abwesend. Aleandro, der mir gegenüber saß, warf mir einen warnenden Blick zu, der bedeutete, dass ich die Situation nicht ausreizen sollte.

Später als ich alleine mit ihm in unserem Wohnwagen saß, die Gardinen vor die Fenster gezogen hatte und mit einem Tee auf meinem Bett saß, kam er noch mal zu mir.

„Du weißt doch, dass man Joe nicht in die Quere kommen sollte…“, fing er an und strich die Bettdecke glatt. „Er mag es nicht, wenn ihm jemand von uns in seine Pläne redet. Und das kann ich voll und ganz verstehen.“

„Ist mir egal. Ich werde schon dafür sorgen, dass dieser Larry bald wieder geht.“, gab ich zurück und wandte meinen Blick ab.

„Elodie, ich kenne dich. Lass deine Spielchen.“, warnte er und erinnerte mich an damals, als einer der Tänzer meines Verschuldens gestorben war. Nicht, dass ich den Tod beabsichtigt hätte. Ich war in die Halle gekommen, in der die Proben damals stattfanden und hatte aus Versehen ein wichtiges Seil von der Decke gelöst gehabt, weil es schon zerrissen war. Dabei hatte ich nicht an den angestellten Tänzer gedacht, der in seinen Übungen an das Seil gebunden war, sodass er durch das fehlende Seil in den Tod stürzte.

Dieser Tag blieb ein dunkles Rätsel in meinem Leben und ich hatte es die meiste Zeit verdrängt. Natürlich rückte die Presse an und wollte mehr über den Fall erfahren, doch meine Brüder vertuschten alles so weit es ging. Und dafür musste ich ihnen wohl oder übel dankbar sein.

„So etwas wie damals wird nie wieder passieren.“, sagte ich bestimmt und drängte mich an Aleandro vorbei aus dem Bett, um im Zirkuszelt proben zu gehen. Im Dunkeln konnte ich mich am Besten fallen lassen. Ich spürte Aleandros Blick in meinem Rücken und ich wusste, dass er sich unsicher war, ob es damals wirklich nur aus Versehen war.

Es war dunkel und spät, als ich das Zirkuszelt am dritten Tag in Folge betrat. Diesmal wunderte ich mich über die hellen Lichter an der Decke. Was für eine Stromverschwendung.

Gerade wollte ich meine Hände mit Puder bestreuen, als ich den Schatten zu meiner rechten Seite bemerkte. Schnell drehte ich mich um und beobachtete Larry, wie er seine Sachen zusammen packte.

„Wieso bist du noch hier?“, fragte ich ihn. In den letzten Tagen hatten wir kein einziges Wort miteinander geredet und das war auch gut so.

„Glaub nicht, dass ich hier freiwillig bin. Ich tue das alles nur für Joe.“

Ja klar, dachte ich. Etwas an ihm störte mich gewaltig, seine Abneigung gegen mich war in den letzten Tagen gestiegen, obwohl er mir zu Anfang ganz offen entgegen getreten war.

„Ich glaube nicht, dass Joe verlangt, dass du abends hier im Zelt übst.“

Ich hatte gesehen, wie gut er war, wie elegant er das Seil hinaufklettern konnte und sich genauso sanft wieder hinab gleiten ließ. Er war sogar besser als Joe, vor dessen Kunst ich wirklich Respekt hatte.

„Weißt du was, Elodie.“, er ließ seine Tasche fallen und kam mit verschränkten Armen auf mich zu geschlendert. „Wenn man besser als gut werden will, muss man die Taktiken seiner Feinde kennen.“

„Und was soll das bringen?“, fragte ich, wobei ich seinen heißen Atem an meinem Gesicht spürte, da er nur einen knappen Meter vor mir stand.

Seine braunen Locken waren durchgeschwitzt vom Training und sein weißes Shirt klebte an seinem Oberkörper. Stunden harten Trainings zeichneten sich unter seinen Augen ab.

„Anerkennung. Liebe. Respekt.“, antwortete er, bevor er mich eines letzten Blickes würdigte und das Zelt mitsamt seiner Tasche, die er vom Boden hochnahm, verließ.

Ich blickte ihm Gedanken versunken hinterher und fragte mich, woher er kam. Aus welcher Kultur, aus welcher Familie…

Bevor ich noch weiter über ihn nachdachte, nahm ich ebenfalls meine Trainingstasche mit meinen Kostümen, verließ das Zelt und folgte seinem Schatten über die Wiese bis zu seinem Wohnwagen. Er blieb stehen, zog einen Schlüssel hervor, schloss auf und ließ die Türe hinter sich zuklappen. Joe hatte ihm einen einzelnen kleinen Wohnwagen gegeben, damit er ungestört schlafen konnte. Wie gnädig von ihm, dachte ich und pirschte mich näher an das hell erleuchtete Fenster, hinter dem ich Larry beobachten konnte. Er entledigte sich seiner Klamotten und zog lediglich eine Boxershorts an. Dann beobachtete ich, wie er sich vor das Fenster an einen Tisch setzte und anfing zu schreiben.

Irritiert wandte ich mich ab und überlegte, was er dort tat. Schrieb er seiner Mutter einen Brief zum Geburtstag? Doch ich hatte einen ganz üblen Verdacht, sodass ich meine Tasche raffte und mich zurück ins Zelt verzog.

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