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Die Burg des Ritters

Als der Nebel aufbrach, lag die Burg des Ritters vor ihren Augen.

Es war kein prachtvolles Gebäude, das sie erwartete. Auf einem flachen Hügel, inmitten der Steinwüste der Hochebene, duckte sich dunkles Gemäuer unter dem Grau der tief hängenden Wolken. Es waren mehrere flache Bauten, die von einer ringförmigen Mauer umschlossen wurden. In der Mitte der Anlage stand ein zweigeschossiger Steinbau, daneben erhob sich ein runder, fensterloser Turm. Auf dem zinnenbewehrtem flachem Dach wehte eine Fahne. Und von dort oben ertönte der Ruf eines Hornes, der weithin schallte.

„Der Wächter“, erklärte Mayroc. „Er signalisiert mir, dass er nicht schläft. Und warnt alle Bediensteten, dass ihr Herr in der Nähe ist und sie sich besser wieder ihrer Arbeit widmen.“ Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.

„Immerhin ist er wachsam“, meinte Kiri-Ne. Sie war froh, dass sie angekommen waren. Sie entstammte einer Zivilisation, in der Raumschiffe das All durchflogen und Fluggleiter den Luftraum ihres Heimatplaneten. Sie war es nicht gewohnt, lange Strecken zu Fuß zurückzulegen.

Am Tor erwarteten einige der Bediensteten die Ankömmlinge. Es waren bewaffnete Männer. Sie beugten den Kopf vor dem Ritter und grüßten Kiri-Ne. Sie kannten sie schon, denn vor zwei Tagen war hier vor dem Tor die Sternenkönigin in dieser Welt erschienen.

Die Kinderschar lief unter lautem Johlen an ihnen vorbei in das Innere der Anlage. Kiri-Ne sah ihnen nach.

„Sie haben Hunger, wie immer“, sagte der Ritter. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Sie wissen, dass in der Küche immer etwas für sie übrig ist.“

Kiri-Ne fühlte, wie ihre Wangen feucht wurden. Rasch senkte sie den Kopf und durchquerte sie das Tor.

Mayroc, der mit ihr Schritt hielt, sah sie prüfend von der Seite an.

„Sie denken an ihren Sohn“, stellte er sachlich fest.

Kiri-Ne nickte. Sie schämte sich ihrer Tränen nicht. Die Sehnsucht nach ihrem Mann Leo-Tan und dem kleinen Tog-Isas brannte in ihr wie ein körperlicher Schmerz und presste ihren Brustkorb zusammen.

Nur dass Tog-Isas nicht mehr ‚der Kleine’ war. Das war ihr beim Anblick der fröhlichen Kinderschar wieder brutal vor Augen geführt worden und hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben. Sie fühlte, wie die Zeit ihr davonlief. Es gab dort draußen in den Weiten des Universums der vielen Welten einen Jungen, von dem sie nicht einmal wusste, ob sie in ihm ihren kleinen Tog-Isas erkennen würde, wenn er vor ihr stand.

Sie wollte so schnell wie möglich zu ihrem Sohn. Doch nicht als Gestaltreisende, denn das führte unweigerlich die Dynarer auf ihre Spur. Um als Traumtrinkerin zu reisen, brauchte sie eine sichere Zuflucht für ihren Körper.

Es war, als hätte der Ritter an ihrer Seite ihre Gedanken erraten. Er wies auf den runden Turm in der Mitte der Burganlage.

„Dort“, sagte er, „das ist der richtige Platz. Niemand hat dort Zugang ohne meine Einwilligung. Und einer von uns“ – er sagte es mit Betonung – „wird Wache halten an Ihrer Seite, um Sie aufzuwecken, falls es doch einen Eindringling gibt.“

Kiri-Ne nickte. Sie war dem Ritter dankbar für die Hilfe, die er ihr anbot.

„Wer ist ‚uns’?“ fragte sie, denn sie hatte wohl bemerkt, dass Mayroc mit seiner Betonung des Wortes etwas aussagen wollte.

„Heute Abend“, sagte der Ritter, „im Ankersaal. Dort wollen wir uns treffen. Ich möchte Sie mit einigen Freunden bekannt machen.“

Die Sternenkönigin wusste, dass es keinen Sinn hatte, Mayroc zu drängen. Der Ritter konnte sehr verschwiegen sein. Und er liebte das Geheimnis.

„Ankersaal?“ fragte sie. Bei ihrer Ankunft am Vortag war sie in die große – und gemütlich warme – Küche geführt worden und hatte Mayroc beim Mahl zusammen mit seinen Bediensteten an einem Tisch vorgefunden.

„Es ist die große Halle des Haupthauses.“

„Dann sehen wir uns dort“, sagte sie.

Als die Sternenkönigin am Abend den großen Saal des Hauptgebäudes betrat, fand sie den Raum von zahlreichen Fackeln beleuchtet. Im Kamin, der die Stirnseite beherrschte, loderte ein wärmendes Feuer.

Das erste, was ihr auffiel, noch bevor sie die Menschen um sich herum registrierte, war ein gewaltiger Anker aus Eisen und Holz, wie sie ihn von antiken Seeschiffen kannte. Er hing – an einer Kette befestigt – in der Mitte der Halle von der Decke herab und schwebte über einem massiven runden Tisch, der den Raum beherrschte. Um den Tisch herum waren Stühle mit hohen Lehnen gruppiert. Auf der Tischplatte standen schmiedeeiserne Halter mit flackernden Kerzen.

Ein leichter Luftzug durchzog den Saal, jedoch nicht so kräftig, dass es unangenehm gewesen wäre. Er kam von den Fensterlöchern, die durch Vorhänge verdeckt waren, und war gerade stark genug, um die Rauchschwaden zu vertreiben, die sich unter der Decke sammelten. Glas gab es nicht in den Fenstern, sondern nur in Form der Trinkgefäße, die sich auf dem Tisch befanden. Viele Gläser waren es und zahlreiche Krüge. Dazu Schüsseln mit Brot, Obst und kaltem Fleisch. Alles in allem war reichlich aufgetischt, doch ohne viel Abwechslung.

Es war laut in dem Raum, denn alle Kinder – so schien es Kiri-Ne – waren anwesend und lärmten ungeniert. Sie hielten sich nicht an dem runden Tisch auf, sondern drängten sich an den Wänden, wo sich lange Bänke befanden, auf denen sie saßen, standen oder auch lagen – sofern sie nicht sowieso in ständiger Bewegung waren. Zum Tisch kamen sie nur, um sich etwas vom Essen zu nehmen. Keines von ihnen setzte sich an die runde Tafel. Sie riefen laut durcheinander, lachten, und vor allem sangen sie. Dieses Singen war das erste, was Kiri-Ne hörte, als sie die Halle betrat – untermalt von den leisen Tönen einer Flöte. Die Sternenkönigin lächelte, denn das Singen der Kinder machte ihr Mut.

Eine einzelne Bedienstete huschte durch den Saal: eine junge Frau mit roten Haaren, im Kleid einer Bäuerin. Sie ging zu einer Gruppe der Kinder, die besonders laut war, und sprach leise auf sie ein.

Nur einige der Stühle um den Tisch herum waren besetzt. Von einem erhob sich Mayroc und trat der Sternenkönigin entgegen. Der Ritter hatte sich umgezogen: Er trug eine Lederhose, ein helles Hemd mit weiten Ärmeln und eine Lederweste. Um den Hals hatte er ein rotes Tuch geschlungen. Sein langes schwarzes Haar hatte er im Nacken zusammengebunden.

Kiri-Ne sah, dass er jünger war, als sie bisher gedacht hatte. Es war der tief eingegrabene Ernst auf seinem Gesicht, der ihn hatte älter erscheinen lassen. Doch an diesem Abend machte er einen gelösten Eindruck. Er wirkte zufrieden, beinahe fröhlich. Am Rande ihres Bewusstseins stellte sie fest, dass er eine attraktive Erscheinung war, und sie fragte sich, warum er allein lebte.

„Ich möchte Sie mit meinen Freunden bekannt machen“, sagte er und wies ihr den Weg zur runden Tafel.

„Es ist schön, dass die Kinder hier sind“, sagte Kiri-Ne.

Mayroc nickte. „Sie lassen sich keine unserer Sitzungen entgehen“, sagte er.

„Sitzungen?“

„O ja. Unser Beisammensein dient einem Zweck. Sie werden sehen. Ich stelle Ihnen erst einmal die Teilnehmer der heutigen Runde vor.“

Die Sternenkönigin war neugierig geworden und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Männer, die um den Tisch herum saßen. Es waren drei. Der Mann, der ihr zuerst auffiel, befand sich auf der ihr gegenüberliegenden Seite der Tafel. Er schien von untersetzter Gestalt. Der große Kopf saß ihm übergangslos auf den breiten Schultern. Auffallend waren die kräftigen langen Arme, die er vor der Brust verschränkt hielt.

Vor allem jedoch lenkte das Gesicht, beleuchtet vom rötlichen Licht des Kaminfeuers und dem flackernden Schein der Kerzen auf dem Tisch, den Blick auf sich. Es war von unzähligen Falten und Furchen durchzogen. Umrahmt wurde es von hellen langen Haaren, mit einzelnen dunklen, auch grauen Strähnen dazwischen. Unter einer scharfen, hervorstechenden Nase saß ein breiter, zu einem spöttischen Lachen verzogener Mund.

Einen Moment lang sah Kiri-Ne ihm direkt in die Augen. Der Augenblick ging schnell vorbei, weil der Kopf des Mannes sich ständig hin und her bewegte und nie zur Ruhe zu kommen schien. Doch dieser kurze Moment hatte bewirkt, dass ihr Schritt stockte. Diese Augen waren wie aus weitester Ferne auf sie gerichtet gewesen, sie hatten wie durch Glas durch sie hindurch, aber zur gleichen Zeit auch tief in sie hinein gesehen, und sie waren ihr unermesslich alt erschienen. Dabei wirkte das Gesicht – trotz der Falten und der grauen Strähnen im Haar – nicht alt. Dazu war seine Gestik zu lebhaft, seine Stimme zu laut.

Sie stand noch, als der Blick des Mannes am Tisch sie ein zweites Mal traf. Nun aber war darin nichts mehr von dem zu erkennen, was sie vorher so getroffen hatte. Er blickte sie freundlich lächelnd an und lud sie mit einer weit ausholenden Bewegung seiner Arme ein, näher zu treten.

Durch die Bewegung auf der anderen Seite des Tisches aufmerksam geworden wandten sich ihr die zwei Männer zu, die bis dahin mit dem Rücken zu ihr gesessen hatten. Auf den ersten Blick wirkten sie wie Zwillinge, denn sie trugen beide dunkle Anzüge und Hemden mit Krawatten. Vor ihnen auf der Tischplatte lagen, säuberlich nebeneinander ausgerichtet, zwei dunkle runde Hüte mit schmaler Krempe.

Sie schienen etwa gleich groß, waren nicht mehr jung, und sie hatten graue bartlose Gesichter. Doch damit war die Ähnlichkeit erschöpft. Denn während der eine ein rundes Gesicht mit einer Knollennase und kleinen Augen aufwies, blinzelte sie der andere durch die Gläser einer randlosen Brille mit einem Metallgestell an. Dieser hatte ein schmales Gesicht mit dünnen Lippen. Seine Augen wurden durch die Brillengläser unnatürlich vergrößert, so dass es aussah, als wollte er sie mit seinem Blick durchbohren.

Wie auf Kommando standen beide auf und verbeugten sich.

„Bormichel und Gulgano“, sagte Mayroc mit einem leichten nur für Kiri-Ne bestimmten Lächeln.

„Gulgano“, sagte der mit der Knollennase und griff nach ihrer Hand.

„Bormichel“, erklärte der andere und verbeugte sich erneut. Dabei hatte er die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Sie sind Kiri-Ne“, stellte er fest.

Während die Sternenkönigin dem einen die Hand schüttelte, lächelte sie dem anderen zu. Dabei fragte sie sich, wie diese zwei Gestalten in die Welt des Ritters Mayroc passten.

„Ermittler aus Adolfstadt“, sagte der, der erst jetzt ihre Hand losließ, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Adolfstadt?“ fragte Kiri-Ne verständnislos.

„Eine mir sehr fremde Welt“, sagte Mayroc. „Aber ich bin froh, sie in meiner Runde zu haben.“

„Mayroc, mein Freund, eine fremde Welt kommt dir fremd vor? Worüber wunderst du dich?“ schrie der Mann von der anderen Seite des Tisches mit tiefer Stimme.

„Die Freude ist auf unserer Seite“, sagte der mit der Brille höflich. Die Sternenkönigin wusste noch nicht, dass Bormichel für seine Verhältnisse gerade ungewöhnlich gesprächig war.

Also sind diese beiden Traumtrinker, begriff sie. Besucher aus einer anderen Welt. Sie sah die zwei eigenartigen Männer mit neu erwachtem Interesse an. Da sie sich offensichtlich nicht eines Wirtes aus Mayrocs Welt bedienten, dürfte das, was sie vor sich sah, ein Abbild ihrer jeweiligen realen Gestalt sein. Es versprach, ein anregender Abend zu werden.

„Darüber wüsste ich gern mehr“, sagte sie.

Mayroc nahm ihren Arm. Er nickte den beiden Männern zu und zog die Sternenkönigin mit sich. „Später“, sagte er. Er führte sie zu dem Mann, der ihr als erstes aufgefallen war und dessen Blick eine so starke Wirkung auf sie gehabt hatte.

Er erwartete sie neben seinem Stuhl stehend, was sie erst erkannte, als sie um den Tisch herum kam. Denn im Stehen war er nicht größer als im Sitzen. Das lag an den Proportionen seines Körpers: Von der Hüfte aufwärts war er normal gewachsen, sah man von den überlangen Armen ab. Doch seine Beine waren kurz und krumm. Es war ein Rätsel, wie diese verkümmerten Gliedmaßen einen so kräftigen Körper tragen konnten. Geradezu grotesk wirkte es, wenn er seine Arme hängen ließ, denn sie erreichten fast den Fußboden. Seine Füße wiederum waren groß und breit, zweifellos hatte er einen sicheren Stand, doch alles in allem wirkte es, als wäre er falsch zusammengebaut.

Über einer engen Hose trug er einen zugeknöpften Mantel, der aussah, als wäre er aus einem Flickenteppich herausgeschnitten worden. Er sah der Sternenkönigin mit einem freundlichen Lächeln entgegen und streckte seinen Arm aus.

„Das ist mein Freund Blonder“, stellte Mayroc vor.

„Oberster Narr nicht nur hier im Raum, sondern auch am Hofe König Salomons“, ergänzte der Verwachsene und nahm Kiri-Nes Hand, um sie ausgiebig zu schütteln. Sie ließ es geschehen. Ihr war dieses Begrüßungsritual auf ihren Reisen in den Menschenwelten mehrfach begegnet. In ihrer Heimat auf Kimba-Log wurden körperliche Berührungen sparsamer verwendet.

„Ist das wörtlich gemeint?“ fragte sie vorsichtig. Sie hatte irgendwann von einem König dieses Namens gehört, der – soweit sie wusste – der Sagenwelt angehörte.

„Wörtlicher geht es nicht“, unterstrich Mayrocs Freund nachdrücklich seine Aussage. „Der König gebietet Tag und Nacht über mich, aber“, er grinste schelmisch, „es gelingt mir trotzdem von Zeit zu Zeit, mich zu absentieren.“

„Er ist ein talentierter Tagträumer“, ergänzte Mayroc. „Und nichts könnte irreführender sein als die Bezeichnung ‚Narr’.“

„Man nennt mich ‚Blonder der Narr’ und das hat schon seine Richtigkeit“, widersprach der Verkrüppelte. Er ließ Kiri-Nes Hand los, kletterte zurück auf seinen Stuhl und lud sie mit einer Handbewegung ein, neben ihm Platz zu nehmen.

„Ich kenne niemanden, der weiser ist als du“, beharrte der Ritter.

„Aber das ist doch kein Widerspruch – auch wenn du mir zuviel der Ehre antust. Ein Narr, der nicht wenigstens ein Löffelchen Weisheit gefressen hat, ist nur ein Fratzenschneider“, sagte Blonder lächelnd.

Kiri-Ne folgte seiner Aufforderung und setzte sich neben ihn.

„Eine Runde von Traumtrinkern“, stellte sie fest.

„So ist es“, bestätigte der Ritter. „Ich bin hier am Tisch der Einzige, der von dieser Welt stammt.“

„Und die Kinder?“ fragte Kiri-Ne, der aufgefallen war, dass diese sich um den Tisch herum mit einigem Abstand zu sammeln begannen. „Was ist mit ihnen?“

„Sie sind verrückt nach den Geschichten von unseren Traumreisen“, lachte Mayroc. „Sie können nicht genug davon bekommen. Sie kennen Träume. Aber das bewusste Traumtrinken beherrschen sie noch nicht. Jedes von ihnen möchte eines Tages mit an dieser Tafel sitzen. Aber dazu müssen sie erst lernen, gezielt zu reisen. Blonder ist ein guter Lehrer. Er kümmert sich um sie.“

„Und welche Bedeutung hat das?“ Die Sternenkönigin wies auf den Anker, der über dem Tisch hing.

„Der Anker ist das Symbol, das uns vereint“, erklärte ihr Gastgeber. Er war halb um den Tisch herum gegangen und hatte sich mit dem Rücken zum Kamin gesetzt.

„Wir sind Schiffe in dunkler Nacht, und dies ist der Ort, an dem wir vor Anker gehen“, sagte mit leiser Stimme Bormichel, der Bebrillte von den beiden Männern in den Anzügen.

„Ein Stammtisch für Trinker – Traumtrinker“, warf sein Partner ein und fand sein Wortspiel so lustig, dass er in lautes Lachen ausbrach, in das niemand in der Runde einfiel. Was ihn nicht zu stören schien. Erst ein Hustenanfall stoppte ihn. Er schniefte und zog ein großes buntkariertes Taschentuch aus der Hose, in das er sich umständlich und lautstark schneuzte. „Eine Erkältung“, murmelte er. „Ziemlich blöd von mir, die mit in den Traum zu nehmen.“

Blonder sah ihn interessiert an. „Was macht Ihr damit?“ fragte er.

Gulgano blickte irritiert zurück. „Was meinen Sie? Was mache ich womit?“

„Ihr habt Euren Auswurf in einem Tuch verwahrt. Hat er einen Wert für Euch? Was wollt Ihr mit ihm tun?“ Die Augen des Narren waren weit aufgerissen, offenbar war er an dem Vorgang sehr interessiert.

Gulgano schüttelte den Kopf. „Nichts“, erklärte er kurz angebunden.

„Es ist Winter in Adolfstadt“, warf Bormichel ein.

„Nass und kalt“, bestätigte Gulgano. „So ungefähr wie hier.“ Wieder lachte er. Es war ein gequältes Lachen ohne viel Freude darin.

Der Ritter ergriff nun wieder das Wort.

„Wir sind noch nicht komplett“, sagte er.

Kiri-Ne, die den Gesprächen mit einer Mischung aus Faszination und Nichtverstehen gefolgt war, und dabei irgendwann mit einem Gefühl der Befreiung festgestellt hatte, dass sie nicht mehr nur von ihren eigenen Sorgen beherrscht wurde, wandte sich ihm zu. „Erwarten Sie noch jemanden?“ fragte sie.

Mayroc lächelte verschmitzt. „Wir müssen nicht warten. Unser Besucher ist schon im Raum. Und ich bin sehr froh, dass er meiner Einladung gefolgt ist. – E nal caloon, kommen Sie bitte zu uns!“ rief er in den Saal.

Die junge Frau mit den feuerroten Haaren, die noch immer inmitten eines Pulks von Kindern stand, die sich um sie scharten und ihren Worten lauschten, blickte auf. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und wischte sich die Hände an der Schürze ab, die sie über ihrem einfachen Kleid trug. Sie sprach noch einige Worte zu den Kindern, die sich daraufhin im Kreis um den Tisch herum verteilten.

Also doch keine Bedienstete, dachte Kiri-Ne. Der äußere Anschein hat, wie so oft, getrogen.

Die Gerufene kam an den Tisch und blieb hinter einem der Stühle stehen.

„Bitte setzen Sie sich zu uns“, sagte Mayroc. „Sie müssen nicht stehen, nur weil ihr Wirt eine Bedienstete ist.“ Er wandte sich erklärend zu den anderen am Tisch: „Arlene arbeitet sonst in der Küche. Sie hat sich freiwillig bereit erklärt, als Wirt für unseren Gast zu dienen.“

„Und das ist“, fuhr er fort, während die junge Frau sich zögernd setzte und ihre Augen – sie waren grün – auf ihn richtete, „unser Besucher E nal caloon. Ein Reisender. Oder soll ich besser sagen: eine Reisende?“ Er sah die junge Frau an.

Die antwortete sachlich: „Korrekt wäre ‚ein Reisendes’. Wir haben auf meiner Heimatwelt keine Geschlechter. Wir kennen nur Kasten mit unterschiedlichen Funktionen für das All. Da ich in dieser Welt einen weiblichen Wirt habe, ist aber die Bezeichnung ‚eine Reisende’ angebracht.“ Die junge Frau, die eine wohlklingende Stimme hatte, machte eine um Entschuldigung bittende Geste, als sie fortfuhr: „Ich könnte in Ihrer Welt auch mit einem Abbild meiner wahren Gestalt überleben. Aber eine Verständigung wäre nicht möglich. Deshalb bin ich auf einen Wirt angewiesen. Wie fast in jeder Welt, die ich besuche“, fügte sie hinzu.

„Was meinen Sie mit: ‚das All’?“ fragte Blonder interessiert. Kiri-Ne hatte die gleiche Frage stellen wollen.

„Das ‚All’ ist die Gesamtheit unserer Existenzen. Wir sind viele und eins zugleich. Es gibt in Ihrer Welt etwas Vergleichbares, auf niederem Niveau: ein Ameisenstaat.“ Sie zeigte ein warmes Lächeln, das wie Sonnenschein auf ihrem ebenmäßigen Gesicht lag. (Mayroc blickte sie fasziniert an.) „Das sind sozusagen unsere nächsten Verwandten in Ihrer Welt.“ Sie verstärkte ihr Lächeln: „Sie könnten mich als eine Ameise vom Rande der Milchstraße bezeichnen, denn dort bin ich zu Hause.“

Gulgano lachte laut auf. „Haben Sie sechs oder acht Beine?“ Er sah zu seinem Partner. „Wie viele Beine hat eine Ameise?“ Bormichel blinzelte ihm missbilligend zu.

„Ist schon gut, ich ziehe die Frage zurück“, entschuldigte sich Gulgano. „Ist mir so rausgerutscht.“

„Tatsächlich habe ich in meiner realen Gestalt sechs Gliedmaßen, die sowohl zum Greifen wie zum Laufen benutzt werden können“, erwiderte E nal caloon unbeirrt. „Ich kann ihnen versichern, dass dies eine nützliche Einrichtung ist. Bei Bedarf haben wir mehr als nur zwei Hände frei – was hier in der Küche eine große Hilfe wäre – und wir können auf unseren sechs Beinen sehr schnell weglaufen. Was häufig die geeignetste Methode ist, mit einer gefährlichen Situation umzugehen.“

„Eine Ameise mit Humor“, stellte Blonder der Narr leise fest.

Etwas in den Worten der Reisenden im Körper der jungen Frau weckte in Kiri-Ne Erinnerungen, die sie noch nicht genau bestimmen konnte. Es war nicht die Art, wie sie sprach, sondern es lag in dem, was sie sagte, in der an Umständlichkeit grenzenden Präzision, mit der sie sich mitzuteilen versuchte. Das kannte sie. Aber sie konnte sich nicht erinnern, e nal caloon schon einmal begegnet zu sein.

„Ich darf vielleicht ergänzen“, fuhr die Reisende fort, „dass meine Wirtin und ich gut miteinander auskommen. Ich bin ihr zu Dank verpflichtet, dass sie sich freiwillig zur Verfügung gestellt hat. Ich glaube, sie ist ganz zufrieden.“

„Bekommt sie mit, was geschieht?“ fragte Kiri-Ne.

„Unbedingt. Sie hat – für die Dauer meiner Anwesenheit – nur keinen eigenen Willen. Sie erlebt das Ganze wie einen Traum. Ich sorge natürlich dafür, dass sie keinen Schaden erleidet.“ Die Reisende lächelte mit dem Mund der schönen Arlene. Offenbar lächelten beide gern. „Zu sagen, sie erlebt dies wie einen Traum, ist schon eigenartig, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich hier am Tisch die einzige ist, die nicht träumt, außer Herrn Mayroc natürlich.“

„Und der Sternenkönigin, denn die ist nicht als Träumende, sondern in Gestalt bei uns“, berichtigte der Ritter.

E nal caloon neigte den Kopf. „Sie haben recht. Zu meiner Wirtin möchte ich noch sagen, dass sie diesen Traum sehr genießt. Sie denkt oft, dass sie froh ist, während dieser Zeit nicht in der Küche arbeiten zu müssen. Und sie findet es schön, in der Nähe ihres Herrn zu sein.“

Mayroc hüstelte. Die Reisende horchte in sich hinein. „Ich sollte das nicht sagen“, stellte sie fest.

Kiri-Ne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Diese Feinheiten des menschlichen Gefühlslebens überforderten E nal caloon offenbar.

„Jedenfalls“, schloss die Reisende, „ist es für mich eine interessante Erfahrung, den Unterschied von Geschlechtern kennen zu lernen. Diese Person kann besonders gut mit den Kindern kommunizieren. Die weiblichen und männlichen Jungen ihrer Rasse sind faszinierende Wesen. Wir haben so etwas nicht. Wenn wir schlüpfen, sind wir so gut wie komplett.“

Bormichel und Gulgano sahen die junge Frau mit offenen Mündern an. Blonder nickte nachdenklich, und der Gesichtsausdruck des Ritters war nicht zu deuten. Kiri-Ne hatte den Verdacht, dass seine Gedanken nicht nur der Reisenden galten. Sie wandte sich zu ihm:

„Sie haben diese Runde zusammengerufen. Erzählen Sie uns etwas darüber. Und was es mit dem Anker auf sich hat.“ Sie zeigte nach oben.

Mayroc nickte ihr zu. „Zuerst berichte ich, wie es zu diesem Treffen von Traumtrinkern verschiedener Welten auf meiner Burg kommt. Übrigens sind heute nicht alle anwesend. Wir sind noch nicht viele, aber einige fehlen doch.“ Er nahm einen Schluck Wein, dann begann er erneut:

„Als junger Mensch besuchte ich in meinen Träumen mit Vorliebe Ritterwelten, auf der Suche nach Abenteuern und Ruhm. In einer dieser Welten stieß ich auf eine Gemeinschaft von Edlen, die sich die ‚Ritter der Tafelrunde’ nannten. Es war eine Runde von Traumtrinkern, doch anders als wir waren sie alle in der Welt zu Hause, in der sie sich trafen. Von ihrer Runde aus brachen sie auf in die Welten ihrer Träume – sie waren auf der Suche nach Ruhm und Abenteuern. Damals bewunderte ich sie. Sie waren jedoch, wie ich, kindlichen Gemüts. Als ich in meine Heimat zurückkehrte, vergaß ich sie, denn in meiner Welt geht es nicht um Ruhm und Abenteuer, sondern um das Überleben. Meines und das der Menschen, für die ich verantwortlich bin.“

„Das mit dem kindlichen Gemüt kann ich bestätigen“, warf Blonder der Narr ein. „Ich meine das von jenen Rittern der sogenannten Tafelrunde. Ich glaube, ich bin einmal einen von ihnen begegnet. Irgendwo in der Wüste. Er hatte etwas verloren und suchte es, irgendein Gefäß, oder dergleichen. Der Bursche hatte keinen Funken Humor im Leib. Er drangsalierte mich mit seinen Fragen. Als er gewalttätig wurde, machte ich mich aus dem Staub. Keine Ahnung, ob er sein Ziel erreicht hat.“

„Andererseits ist ein kindliches Gemüt nicht selten die Voraussetzung für einen vorurteilslosen Blick auf die Wirklichkeit“, gab Bormichel mit seiner leisen Stimme zu bedenken. Seine Brillengläser glänzten. Er murmelte nur, doch da er es verstand, nur dann zu reden, wenn alle anderen schwiegen, verschaffte er sich Gehör.

Mayroc sah ihn nachdenklich an, dann setzte er seinen Bericht fort: „Erst als ich mich aus den fruchtlosen Händeln des Bürgerkrieges zurückzog, fiel mir wieder jene Tafelrunde ein. Doch mir schien es sinnvoller, dass sich in einer solchen Runde die Traumtrinker verschiedener Welten begegnen, um ihre Erfahrungen auszutauschen und einer vom anderen zu lernen, statt – wie jene Ritter – im eigenen Sud zu brutzeln.“

Er hob die Stimme und ließ seinen Blick über jeden der am Tisch Sitzenden wandern, während er weiter sprach:

„Das ist es, warum wir uns hier treffen. Wir teilen die grundlegende Erkenntnis, dass unsere Träume wahr sind. Wir wissen, dass wir unsere Träume nicht erfinden, sondern entdecken. Sie zeigen, was ohne uns existiert und schon immer existiert hat. Wir sind der Gast unserer Träume. Sie zeigen uns die Vielfalt der Welten und den Reichtum des Lebens.“

„Bravo! Gut gesprochen. Salomon hätte es nicht besser ausdrücken können.“ Blonder klatschte in die Hände. Zögernd folgten ihm die anderen. Am lautesten klatschten schließlich die Kinder.

„Und der Anker?“ wiederholte Kiri-Ne hartnäckig ihre Frage.

„Wir alle wissen, wie schwer es ist, sich gezielt in eine bestimmte Welt zu einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit zu träumen. Der sicherste Weg ist es, an jenem Platz einen ‚Anker’ zu haben, an den wir denken, wenn wir beginnen, den Traum zu trinken. Meist ist dieser ‚Anker’ ein Lebewesen, denn zu ihnen stellt sich leichter eine Verbindung her als zu den unbelebten Gegenständen. Der Anker hier ist ein Symbol für diesen Ort, an dem unsere Runde sich versammelt.“

„Verdammt schwer das Ding“, meinte Gulgano und schaute unbehaglich nach oben. „Wusste nicht, dass ihr so große Schiffe habt.“

„Haben wir nicht“, erwiderte Mayroc. „Und das nächste Meer ist 1000 Meilen entfernt. Diesen Anker umgibt ein Rätsel. Die Kinder haben ihn gefunden. Nicht weit von hier inmitten der felsigen Hochebene. Nur einer seiner eisernen Zacken ragte aus dem Boden. Gemeinsam haben wir ihn ausgegraben und hierher gebracht.“

„Und wie er dorthin gekommen ist, wissen Sie nicht?“ E nal caloon stellte die Frage mit der sanften Stimme seiner Wirtin Arlene.

Mayroc schüttelte den Kopf. „Nein. Es gibt eine Sage. In die passt er hinein.“

„Erzähl“, fordert der Narr ihn ungeduldig auf. „Deswegen sind wir doch hier.“

Der Ritter zögerte. „Es ist wichtiger, dass die Sternenkönigin uns berichtet.“

„Ich möchte es auch gern hören“, unterbrach ihn Kiri-Ne. „Danach bin ich mit meiner Geschichte an der Reihe.“

„Nun gut.“ Mayroc lehnte sich bequem zurück.

Kiri-Ne bemerkte, dass es in der Halle ruhig geworden war. Alle Kinder hatten sich im Kreis um den Tisch herum auf den Boden gelagert und lauschten gespannt auf das, was in der Runde gesprochen wurde. Ihr Blick fiel auf einen Jungen, den sie bisher nicht gesehen hatte: Er war braunhäutig und nur mit einer Art Lendenschurz bekleidet, doch hatte ihm jemand eine Decke über die Schultern geworfen. In der Hand hielt er eine Flöte, und sie erinnerte sich daran, die Melodie gehört zu haben, als sie den Saal betrat.

„Es soll vor langer Zeit“, so erzählte der Ritter, „inmitten unseres größten Ozeans eine Insel gegeben haben, auf der ein wissenschaftlich und kulturell fortgeschrittenes Gemeinwesen existierte. Es war aber eine Vulkaninsel, und auch im Meer um die Insel herum gab es zahlreiche Vulkane. Im Laufe der Zeiten nahmen die Ausbrüche zu, und die Menschen erkannten, dass ihre Existenz auf dieser Insel gefährdet war. Sie bauten eine Flotte von Schiffen. Doch gerade als sie die Insel verlassen wollten, gab es heftige unterseeische Beben, die eine riesige Flutwelle auslösten. Die gesamte Flotte, wie auch alle Küstenstädte, wurde vernichtet. Gleichzeitig nahmen die Ausbrüche der Vulkane auf der Insel an Heftigkeit zu. Die Menschen befürchteten das Schlimmste.

Es wird nun erzählt, dass sie beschlossen, durch die Luft von der Insel zu fliehen, und dass sie zu diesem Zweck Städte bauten, die von gewaltigen Ballonen getragen wurden. Kurz bevor ein Ausbruch aller Vulkane die Insel zerstörte und im Meer versinken ließ, hoben einige der Städte ab in den Luftraum und strebten, von den Winden getrieben, dem Festland zu.

Dort wurden sie von den Eingeborenen – unseren Vorfahren – keineswegs freundlich empfangen. Man war auf dem Festland schon lange neidisch auf die Inselbewohner und strebte nach deren Reichtümern. Einige der Städte sollen direkt nach der Landung geplündert und zerstört worden sein. Frieden war schon immer ein Fremdwort in unserer Welt, die von Hass und Missgunst regiert wird“, schob Mayroc mit bitterer Miene ein, ehe er fortfuhr:

„Als die verbliebenen fliegenden Städte erkannten, welches Schicksal ihnen auf dem Boden drohte, sollen sie, so sagt es die Sage, beschlossen haben, in der Luft zu bleiben. Es heißt, sie kämen nur nachts und an einsamen Stellen herunter, um Einkäufer abzusetzen und sich mit dem Nötigsten zu versorgen. Die übrige Zeit trieben sie über den Wolken um unsere Welt, und so soll es noch heute sein“, schloss er. „Der Anker würde dann von einer dieser Landungen stammen. Vielleicht hatten sie überstürzt aufbrechen müssen und das Ankertau gekappt. Aber das alles ist, wie gesagt, nur eine Sage, und niemand hat meines Wissens je eine dieser fliegenden Städte gesehen.“

Um den Tisch herum war ein Gemurmel zu hören. Es kam von den Kindern. Mayroc nickte in ihre Richtung. „Die Kinder glauben fest an die Städte und meinen, sie nachts über den Wolken zu hören. Und sie träumen davon, an Bord einer dieser Städte zu gehen.“

„Das kann man ihnen kaum verdenken“, warf Blonder ein. „Bei den Zuständen in deiner Welt. Und du hast selbst gesagt, dass die Wolkendecke so gut wie nie aufreißt. Wie sollte man eine dieser Städte sehen?“

Der Ritter hob die Schultern. „Soviel zu dem Anker“, sagte er. „Jetzt zu Kiri-Ne.“

Alle Augen richteten sich auf die Sternenkönigin. Sie erzählte den Anwesenden, was bisher geschehen war: beginnend mit ihrer ersten Reise zu den Dynarern, dem drohenden Kollaps des Zentralgestirns von Dynar, der Forderung der Dynarer nach einer Übersiedlung in eine zivilisierte Welt, dem Überfall der Dynarer auf Kimba-Log und der Traumentführung ihres Mannes Leo-Tan, ihrer Sorge vor einer Entführung ihres Sohnes und einer Erpressung durch die Dynarer, bis hin zu der erschreckenden Feststellung, dass für den kleinen Tog-Isas in seiner Zufluchtswelt Jahre vergangen waren, während es für sie nur Wochen und Monate gewesen waren.

Als sie ihren Bericht beendet hatte, senkte sich Schweigen über die Runde. Von den Kindern war kein Laut zu hören. Fast schien es, als hielten sie den Atem an. Alle hatten damit zu tun, das Gehörte zu verarbeiten.

„Es droht ein Krieg der Welten“, brach Blonder der Narr das Schweigen. Er erläuterte, worum es ihm ging: „Wenn es den Dynarern gelingt, in eine Welt ihrer Wahl umzusiedeln und dort die Herrschaft zu übernehmen – wer garantiert, dass sie sich mit einer Welt zufrieden geben?“

„Sie sehen sich als Herrenrasse“, bestätigte Bormichel mit tiefer Abscheu und vor Erregung lauter Stimme. „Das kennen wir zur Genüge.“ Er warf einen Blick auf seinen Partner, der ihm zunickte. „Für die sind wir minderwertiges Leben“, setzte er bitter hinzu.

„Sie können nur mit Hilfe meines Wissens über das Gestaltreisen umsiedeln“, sagte Kiri-Ne, „das wollen sie erzwingen. Leo würde niemals zustimmen, dass ich mich seinetwegen erpressen lasse. Ich habe die Absicht, den Dynarern einen Ausweg zu bieten, eine Umsiedlung in eine Welt, in der sie keinen Schaden anrichten können. Doch ein solches gigantisches Unternehmen kann ich nicht allein bewirken. Ich werde Hilfe brauchen. Mein Problem ist ...“, ihre Stimme stockte. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Niemand im Saal wagte es in diesem Moment, auch nur einen Laut von sich zu geben. Mit bleicher Miene sprach die Sternenkönigin weiter: „... ob ich die Kraft dazu habe. Die Sorge um meinen Sohn lähmt mich. Er ist zehn Jahre gealtert, ohne dass ich davon etwas mitbekommen habe! Es kann so nicht weitergehen, sonst verliere ich ihn, ohne dass die Dynarer irgendetwas dazu getan haben. Das könnte ich nicht ertragen.“

Ihre Stimme brach.

„Der Rip-van-Winkle-Effekt“, stellte Blonder fest.

Alle sahen ihn erstaunt an.

„In vielen Welten wird der Effekt der unterschiedlichen Zeitabläufe so genannt“, erläuterte der Narr – wohl auch, um Kiri-Ne Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln. Er hatte sich seitlich auf seinen Stuhl gesetzt, sodass er auch die Kinder ansprach. „Rip van Winkle war ein begabter und begeisterter Traumtrinker, der in einer kleinen Stadt lebte. Er besaß auch die seltene Gabe des Gestaltreisens, doch das wusste er anfangs nicht. Er ging zum Träumen gerne vor die Tore der Stadt und suchte sich einen Ort, wo er ungestört war. Eines Tages zog er sich in eine Höhle zurück und schlief ein. Er träumte. Ein schöner Traum wahrscheinlich, denn er hatte es nicht eilig aufzuwachen. Ich weiß nicht, wie lange er in seiner Traumwelt blieb. Vielleicht ein paar Stunden, oder auch Tage.

Dann erwachte er und verließ die Höhle. Er kehrte zurück in sein Städtchen und musste feststellen, dass zwanzig Jahre vergangen waren. Er selbst, auch sein Körper, war jedoch nur um Stunden, allenfalls Tage, gealtert. Dieser Umstand machte ihm klar, dass nicht nur seine Gedanken auf Traumreise gegangen waren, sondern auch sein Körper. ‚In eigener Gestalt’, so nannte er es. Seitdem spricht man vom Gestaltreisen. Der Effekt der Zeitunterschiede wurde in seiner Welt, und später in vielen anderen, nach ihm benannt.“

„Das erste, was wir tun können, um Kiri-Ne zu helfen“, ergriff nun Mayroc das Wort, „ist, ihr einen sicheren Ort zu geben, von wo aus sie auf Traumreise gehen kann. Wenn sie ihren Körper hier zurück lässt, können die Dynarer ihre Spur nicht verfolgen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu bewachen.“

Er blickte in die Runde und sah nur zustimmende Gesichter.

„Sternenkönigin“, sagte mit ihrer weichen warmen Stimme Arlene, doch natürlich war es die Reisende E nal caloon, die aus ihr sprach: „Ich muss es Ihnen sagen: Es gibt Neuigkeiten von ihrem Sohn. Und ich fürchte, es sind keine guten.“

Alle Augen richteten sich auf sie.

„Was meinen Sie?“ Kiri-Ne sah sie verständnislos an.

„Es heißt, er ist verschwunden. Man vermisst ihn.“

Traumtrinker

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