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ОглавлениеIn dieser Stadt.
Also wieder einmal die Geschichte von einem, der auszog.
Als der Junge drei Jahre alt war, stand er eines Tages vor dem Wrack eines Schiffes, dass die Sturmflut auf den Strand gesetzt hatte. Es war ein grauer Tag, und hoch über ihn ragte der verrottete Rumpf, zu dem er mit fassungslosem Staunen empor sah. Später dann, nach fünf Jahren seines Lebens, lag er, das Gesicht zur Wand gedreht, starrte auf das Muster der Tapete und sagte immer wieder: ich will nicht sterben. Dann, als junger Mann, erblickte er die grünen Hügel von Tennessee; zuerst als er zwanzig war, beim Streifengang um die Kaserne unter hohen Bäumen, die sich im Wind bewegten, vier Jahre später aus dem Fenster eines Überlandbusses. Und nun war er in diese Stadt gekommen, doch gleichzeitig erwartete er sehnsüchtig Briefe aus Australien.
Es war kalt in dem Zimmer unter dem Dach. Die großen schrägen Fenster ließen viel Licht herein, aber auch die Kälte. Die Vorhänge halfen dagegen nicht. Der kleine elektrische Strahlofen, den er von seinem Vormieter übernommen hatte, konnte den Raum nicht erwärmen. Es gab noch einen Kachelofen, aber keine Kohlen. Der junge Mann hatte kein Geld; aber machte sich nicht viel aus der Kälte. Tagsüber befand er sich meist außer Haus, abends hüllte er sich in einen wollenen Bademantel und eine Decke, später kroch er dann unter das gewaltige Federbett. Die Nachrichtensprecherin kündigte für die kommende Nacht wieder zehn Grad unter Null an.
An einem Tag im Frühjahr hörte er aus dem Radio die aufgeregte Stimme eines Mannes: „Der Polizist rannte mit mir etwa 200 Meter die Straße entlang. Wir wurden an einen Bauzaun abgedrängt. Wir wurden beide niedergeschlagen. Dann kam der Überfallwagen. Wenn mir die Polizei nicht geholfen hätte, glaube ich, wäre ich da nicht heraus gekommen.“
Was geschah in dieser Stadt? Unruhig ging der junge Mann in dem Zimmer auf und ab. Dann verließ er die Wohnung. Einige Straßen weiter war ein Kino. Er setzte sich in eine der hinteren Reihen.
„Jiri ist tot“, sagte das Mädchen und sah auf die Mütze in seiner Hand. „Wir sind alle Rebellen gegen den Tod“, murmelte der junge Mann. „Quack Quack“, machte der Präsident, sein Schnabel zitterte und seine Finger wiesen auf ihn. Vor Protos wuchs die Stadt am Ende der Welt aus dem Nebel. Die Menschen in dem Kino lachten über die Bemühungen des Strandläufers, die Düne hinauf zu klettern. Der junge Mann stand auf und verließ das Kino; ein Aufschrei des Augenblicks gegen die endlose Stille. Er dachte an das jüdische Mädchen, das nur den Wunsch hatte, mit dem Gesicht zur Sonne sterben zu dürfen. Nun ist auch Jiri tot. Und es gibt eine Stadt, die ist erbaut aus gefrorenem Licht; auch dort begann eine Reise.
Vom Ausgang des Kinos aus geriet er in eine Nebenstraße, die zu einem kleinen Park hin führte. Er ließ das Mädchen in dem Laden zurück und betrat den Park. Um ihn herum war es still und leer. Er sah keinen Menschen. Es ist schwer, sich zu konzentrieren: wird er dem Mädchen aus Flagstaff wieder begegnen; oder werden Bomben fallen, ihn zu Boden werfen, werden sich seine Hände in den Boden krallen? Einen Moment lang glaubte er den Klang einer Flöte zu hören. Er sah sich um. Die Wege und Grünflächen um ihn herum lagen im Nebel. Er ist e nal caloon, eine Ameise vom Rande der Milchstraße, ein Verwandter Yves Kleins. Es ist einsam im Park.
Als er weiter ging, kam er an einen kleinen Kanal. Aus dem Nebel heraus kamen ihm zwei ältere Frauen entgegen.
„Immer kriegt man eins auf die Nase“, sagte die eine erbittert zur anderen. Sie sprachen von Franz Bieberkopf. Der junge Mann sah hinter ihnen her. Warum wehrt ihr euch nicht, dachte er bei sich. Dann erinnerte er sich an den Sommer in San Franzisko.
Zurück. Noch immer ist der Park leer. Das Mädchen im Laden ist allein, denn Jiri ist tot. Er kann ihr nicht helfen, er muss weiter. In dieser Stadt geht etwas vor, und er weiß nicht was.
Er geht einen Parkweg entlang, biegt um eine dunkle Buschgruppe unter ausladenden Bäumen, vor ihm liegt eine Wiese. Er hört Musik, aber die Töne klingen von fern und seltsam unwirklich, wie von einer alten Schallplattenaufnahme. Sie sagen nur, dass einmal etwas war, aber nicht, was sein wird. Er wartet.
Am Rand der Wiese ist für einen Moment die Gestalt eines Halbwüchsigen zu erkennen, der sich zögernd umsieht. Dann ist die Wiese wieder leer, der Nebel hängt nur noch zwischen den Bäumen am Rande.
Für einen Moment zweifelt er, dass dies der rechte Ort ist. Wenn er nun wieder, wie vor einem halben Jahr, im Bus säße, auf der Fahrt von New York nach Montreal, auf dem Weg zur Weltausstellung. Da war die Frau aus dem Dorf Ben Gurions und die lebhafte Rumänin aus Kanada. Auf der Rückfahrt zwei junge Männer, die nach Miami wollten und die die Grenze nicht passieren durften. Aber das alles will er jetzt nicht. Er schüttelt die Erinnerung ab.
Er bemerkt Schatten auf der Wiese, dann ein Sonnenstrahl. Eine rasche Bewegung. Ein kleiner dicker Mann, mit einer großen tickenden Uhr, rast vorbei, seine Stimme fliegt vorüber: o gott o gott ich komm zu spät. Dann ist er zwischen den Bäumen verschwunden. Der junge Mann will ihm nicht folgen, aber vielleicht war es doch ein Vorbote. Im Hintergrund steht Humpty Dumpty. Es geht los!
Ein kleines Mädchen tritt vor ihn hin und sieht zu ihm auf.
„Wie heißt du?“ fragt sie.
Er überlegt. Dann schüttelt er den Kopf und sagt:
„Weiß ich leider nicht.“
„Komisch.“ Sie wendet sich ab.
Jetzt kommt ein altes Mütterchen heran und befühlt seine Arme.
„Kräftiger junger Mann“, meint sie mit geneigtem Kopf.
Der junge Mann nickt stolz. Murmelnd tritt sie von ihm zurück. Alle alten Mütterchen murmeln. Alle kleinen Mädchen kichern. Er sah zu dem kleinen Mädchen hinüber, denn er hatte es noch nicht kichern sehen, aber er konnte es nicht mehr entdecken in der Menge. Es war ein ungewohntes Bild, das sich ihm bot, die Menschen trugen alle langwallende Gewänder, ihre Haut war dunkelgefärbt, und er konnte auch ihre Sprache nur schwer verstehen. Ihm fiel auf, dass sie alle in eine Richtung gingen, und er schloss sich ihnen an.
Der junge Mann unterhielt sich mit einem Passanten über Beatmusik. Er hörte ihm aufmerksam zu. Dann wurde seine Aufmerksamkeit auf ein Geschehen am Rande des Menschenstroms gelenkt. Ein dichtes Knäuel hatte sich gebildet und umringte einen am Straßenrand sitzenden Geschichtenerzähler. Der junge Mann trat heran. Zwischen den Menschen hindurch konnte er erkennen, dass der Sitzende aus einem kleinen Bändchen vorlas. Dabei blätterte er die Seiten mit großer Geschwindigkeit um und las immer nur einzelne Sätze:
„Unsereins, Bewohner der Milchstraße … Wie lachhaft wird sogleich das Türhüterleben! Wenn Hunderttausend leiden, ist das nicht entsetzlicher als das Leiden eines einzigen.“
Der junge Mann versuchte, einen Blick auf das Umschlagblatt des Büchleins zu werfen, doch mehr als den Schriftzug ‚Saint Ex‘ konnte er nicht erkennen.
„Eines lässt mich von vornherein am Schaffensvorgang verzagen: dass ich nicht weiß, was ich sagen werde … Eine Sprache muss ich mir erfinden. Wisst ihr, weshalb ein Stein fällt?“
Der Vorleser sah seine Zuhörer an. Sie schwiegen, und er wandte sich wieder dem Büchlein zu.
„Ja, weil er von der Erde angezogen wird. Was heißt Anziehung? Nach etwas streben; auf etwas gerichtet sein. Wie nennt man: auf etwas gerichtet sein, wenn es sich um die absteigende Senkrechte handelt? Fallen. Ein Stein fällt also, weil er fällt. Ich wehre nichts ab; es gelingt mir nur unvollkommen, mich zu erinnern … ich fürchte keineswegs, mir zu widersprechen.“
Erneut blickte der sitzende Mann in die Runde seiner Zuhörer, von denen sich einige nun abgewandt hatten und in dem Menschenstrom auf der Straße verschwunden waren. Für einen Moment ruhten die Augen des Sitzenden gedankenvoll auf dem Gesicht des jungen Mannes. Dieser errötete und blickte zu Boden.
„Augenscheinlich kann ich, unter strenger kausaler Verkettung, die logische Geschichte des Mannes schreiben, der seine Hütte verlässt, auf den Fluss zugeht und sich ertränkt, wenn ich hierfür lediglich die Vorgänge seiner Gehirnzellen studiere. Und das Bild wird sich in die Chemie übertragen, und wenn man von der Chemie ausgeht, wird alles logisch und klar sein … die Blondine, die in Peru wohnt. Nichts steht im Wege, dass Ereignisse, die auf einer Ebene nichts miteinander zu tun haben, auf einer anderen Ebene miteinander verkettet sein können (Schritte auf den Fluss zu).“
Die letzten Worte des Vorlesers waren nur noch gemurmelt, kaum verständlich. Der junge Mann bemerkte, dass alle anderen Zuhörer sich entfernt hatten. Als er sich umdrehte, sah er, dass auch die Straße hinter ihm wieder leer war, nur in der Ferne konnte er die Letzten der Menge erkennen. Der Mann ihm gegenüber war inzwischen geräuschlos aufgestanden und eilte mit schnellen, schwebenden Schritten hinter den anderen her, die weiten Ärmel seines Gewandes flatterten wie die Flügel eines Vogels.
Der junge Mann entschloss sich, ihm zu folgen. Indem er rasch ausschritt, näherte er sich bald wieder den Nachzüglern des Menschenstroms.
Am Straßenrand spielte die Westcoast Popart Experimental Band: Nimm an sie geben einen Krieg und niemand kommt.
Plötzlich öffnete sich ihm der Blick in eine Nebenstraße, die zwischen hohen Mauern hindurch führte. Auch hier bewegte sich ein Menschenstrom. Einem Impuls folgend bog der junge Mann in diese Straße ein und folgte der Menge. Nach kurzer Zeit formierte sich auf der Straße ein Demonstrationszug. Die Demonstrierenden gingen in der Mitte der Fahrbahn, während am Rand dichtgedrängt Passanten standen und ihnen zusahen. Die Marschierenden trugen Fahnen und Transparente. Einige hielten Schilder hoch, auf denen ein verstümmeltes, deformiertes Gesicht zu sehen war. Napalm. Aus einem Balkonfenster schwenkte ein Mann eine amerikanische Flagge. Wütendes Pfeifen und Hohngelächter aus dem Zug antworteten ihm, dann bildete sich ein rhythmischer Chor. Auf dem Bürgersteig schrie ein alten Mann mit einem hageren, jetzt hochroten Gesicht gegen den Chor an, ohne dass man ihn verstehen konnte. Gleichzeitig fuchtelte er mit beiden Armen ziellos in der Luft herum, dann zog er ein buntbedrucktes Taschentuch aus seiner Jacke, schneuzte sich und schüttelte es gegen die Marschierenden aus. Er taumelte, wischte sich mit dem Tuch über die Stirn und über die Augen. Sein Gesicht war verzerrt. Vor ihm hockte ein Mann in den Knien, mit dem Rücken zu den Demonstranten, und hielt eine Kamera auf den Alten gerichtet. Dabei munterte er ihn auf, weiter die Marschierenden zu beschimpfen. Der alte Mann bemerkte ihn kaum, noch immer versuchte er mit sich überschlagender Stimme den vielfältigen Chor zu übertönen.
Auf einem Balkon stand ein älteres Paar. Ein Sprechchor klang auf: „Bürger runter vom Balkon!“ Aus einem Fenster hob ein Mann den Arm zum deutschen Gruß. Vor einem Lokal standen Jugendliche; die Jungen in dunklen Anzügen, mit weißen Hemden und Krawatten; die Mädchen in Tanzkleidern. Mit verlegenen Gesichtern sahen sie auf die Vorbeimarschierenden.
Der junge Mann versuchte, die Spitze des Demonstrationszuges zu erreichen. Die Marschierenden waren überwiegend junge Frauen und Männer, doch entdeckte er hin und wieder in ihren Reihen auch Ältere mit Kindern dabei. Ein Junge fiel ihm auf, der alle Mühe hatte, mit den Demonstranten Schritt zu halten. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck von Entrücktheit, die Haare hingen ihm in die Stirn. Er trug eine verwaschene Leinenhose und eine schwarze Lederjacke. Der Mann, der neben ihm ging, war mittleren Alters und in einen dunklen Anzug gekleidet, mit einem weißen Hemd und Fliege. Er trug eines der Schilder mit dem zerstörten Gesicht darauf.
Der Zug hatte nun einen großen Platz erreicht. Von vorn, von der Tribüne, wurden flüsternde Stimmen über die Lautsprecheranlage herüber getragen. „I never saw such a great demonstration, it is so wonderful.“ Und eine andere mahnte: “Nicht zu lang. Nicht mehr als zehn Minuten.” Irgend jemand trat vor das Mikrophon.
Der junge Mann dachte an die Stromrechnung, die er am Morgen mit der Post bekommen hatte. Sie war entschieden höher, als er erwartet hatte. Und sie musste schnellstens bezahlt werden. Aber wie? Er war verstört. Er wollte doch die Schuhe vom Schuster holen; und Kohlen kaufen. Die Schuhe mussten warten, ebenso die Kohlen. Mit der Wäsche konnte er nicht länger warten. Die Rechnung ging ihm nicht aus dem Sinn, sie stellte eine Bedrohung seiner Freiheit dar. Er wollte sich nicht weiter in die Arbeit verstricken. Er wollte darüber schlafen. Und nun das Bild vom Krieg. Notre Dame Vietnam. Notre Dame Vietnam.
Er glaubte in der Menge das Gesicht der Frau G. zu sehen, einer älteren Arbeitskollegin. Er schüttelte den Kopf. Das konnte kaum sein. Sie hatte ihm von ihrem Schwiegersohn erzählt und ihm ein Foto gezeigt. „Er ist ja noch so jung. Sie haben immer zwölf Stunden Dienst und vierundzwanzig Stunden frei. Es ist manchmal schon ein harter Beruf. Am schlimmsten sind die, von denen eine Blutprobe genommen werden soll. Die sind ja meistens auch angetrunken, und dann wehren sie sich oft. Dann müssen sie zur Wache gebracht werden. Der Knüppel darf nicht mehr benutzt werden, sie dürfen ja überhaupt nicht mehr so, wie sie wollen. Sie nehmen ein nasses Handtuch, da sieht man hinterher nichts davon, und die Wirkung ist mindestens die gleiche. Das zieht ganz schön. Natürlich, wenn sie draußen mal in eine Schlägerei geraten, er ist ja in einer Einsatzgruppe, dann nehmen sie auch den Knüppel. Sie zeigen ihn heute nicht mehr, aber sie haben ihn immer im Ärmel stecken.“ – „Sie haben doch da jetzt den neuen Polizeispräsidenten“, hatte der junge Mann dazwischen geworfen. – „Ja, ja“, hatte seine Kollegin erwidert. Er hatte ihr das Bild zurück gegeben. Es war ein Hochzeitsfoto gewesen. – „Er will immer mit dem Kopf durch die Wand“, hatte sie weiter erzählt, „er ist ein richtiger Herrschaftstyp, und so leicht erregbar. Manchmal redet er zuviel, ist einfach nicht zu bremsen. Dann ist er wieder ganz ruhig. Er sammelt Briefmarken, steckt eine Menge Geld da hinein. Er muss immer recht behalten. Ganz schlimm ist es, wenn bei einem Einsatz einem seiner Kollegen etwas passiert, also dann ist er nicht mehr zu halten. Gerade weil sie in ihrer Gruppe eine so gute Kameradschaft haben. Er ist ein starker Kerl, aber er hat einen Herzfehler und schon zweimal einen Kollaps gehabt. Beim Zehnkilometerlauf kam er als einer der ersten ins Ziel, und dann fiel er um. Wegen seines niedrigen Blutdruckes leidet er auch immer unter Kopfschmerzen, dabei ist er so schnell aufbrausend. Er ist einer der Jüngsten und einer der Besten in seiner Gruppe, er kann es noch weit bringen. Er ist ja erst vierundzwanzig. Jetzt ist er Hauptwachtmeister. Vielleicht will er später zur Kripo gehen. Wenn er nur auf seine Gesundheit achtet.“ – „Ach“, hatte der junge Mann erwidert, „heute ist so eine Herzsache doch nicht mehr so schlimm, in zwanzig Jahren ist es doch reine Routine, ihm ein neues Herz einzusetzen.“ – Sie hatte gelacht und noch einmal die Mappe mit den Fotos heraus gezogen, um ihm die Bilder der Kinder zu zeigen.
Die Wirkung ist mindestens die gleiche, ein einziger Schlag genügt. Auschwitz ist an keinen Ort und an keine Zeit gebunden. Plasticon Safiplast Plastica Plasticos Plastiv Gerro-Plastik Clipterplast Solar Plastic Artico-Plastic Proplax Plastica Federal Plastics Finoplasticos.
OK Nero.
Ein junger Mann mit einer roten Fahne kletterte an einem hohen Baukran hinauf, ein zweiter folgte ihm, ebenfalls mit einer Fahne. Sie befestigten sie im Eisengerüst an der Spitze des Kranes, weit über dem Bedienungshäuschen. Inzwischen war noch ein weiterer junger Mann den beiden ersten gefolgt, der sich nun anschickte, auf den Ausleger des Kranes zu klettern.
Neben dem jungen Mann stand ein Mädchen mit dunklem Haar. Er sah sie von der Seite an. Als sie sich ihm zuwandte, blickte er rasch wieder nach oben. Der Kletterer hatte nun den Ausleger des Krans erklommen; er saß rittlings auf dem Metallgerüst und schwenkte die Fahne.
Der junge Mann wandte sich wieder dem Mädchen zu und murmelte leise:
„Es ist doch lächerlich zu behaupten, es gäbe nur eine Welt. Was ist eine Welt? Antwort: die Summe all dessen, was existiert. Wodurch ist der Begriff Existenz definiert? Antwort: alles, was Wirkungen ausübt, existiert. Also nicht nur materielle Gegebenheiten, sondern auch Gedanken, Träume, denn sie können einen Menschen veranlassen, etwas zu tun. Freilich, woher kommen die Gedanken und Träume?“
Verwirrt hielt er inne.
Das Mädchen mit den dunklen Haaren zeigte keine Reaktion.
„Ich sprach neulich mit einer älteren Frau. Für sie war Günter Grass ein Provokateur. Für mich ist er eher das Gegenteil. Welches ist nun der richtige Günter Grass? Man könnte also meinen, die Relativitätstheorie sei in das moderne Weltbild eingebrochen; aber es gibt doch einen gemeinsamen Nenner, auch für verschiedenartige Wirkungen, das sind die materiellen Gegebenheiten, auf denen sie fußen. Gerade aber, weil auf der gemeinsamen materiellen Welt so verschiedene Wirkungswelten aufbauen, ist sie nicht nur Tummelplatz, sondern auch Schlachtfeld.“
Da seine Ausführungen ohne Resonanz blieben, ereiferte er sich: „Trotz des gleichen materiellen Nenners brauchen wir nicht in gleichen Welten leben. Denn in meiner Welt exisiert nur, was Wirkungen auf mich ausübt. Wesen auf dem fünften Planeten einer Sonne, die 2oo Lichtjahre von uns entfernt ist, leben in dem gleichen materiellen Universum wie wir, wir wissen aber nichts von ihnen, sie üben keine Wirkung auf uns aus, sie existieren nicht in unserer Welt. Wenn das jemand bestreitet und sagt: aber wenn wir doch davon reden,dass da Wesen sind, dann sind sie doch in unserer Welt – so stimmt das nur soweit, als unser Gedanke an sie existiert, nicht jedoch die Lebewesen selber, über die wir ja gar nichts aussagen oder denken können. Schlussfolgerung: nicht die tatsächlichen Wesen existieren in unserer Welt, sondern nur die hypothetischen.“ Er lächelte. „In diesem Sinne sind auch die kleinen grünen Männchen vom Mars real.“
Das Mädchen sah starr geradeaus. Er dachte an die Kinder des Olymp: Baptiste, der Pantomime; der Komödiant; der Schurke, der das Spiel des Lebens schreibt; Jericho, die Trompete; zwei Frauen und ein Blinder.
‚Ich sehe eine Reise‘
‚Nach Indien vielleicht?‘
‚Warum nach Indien?‘
Erwacht er aus einem Traum, um zu leben; oder beginnt er einen Traum?
Das schweigende Mädchen mit den dunklen Haaren wurde zu einem Foto an der Wand.
Die Menschen um ihn herum sahen zu dem jungen Mann auf dem Ausleger des Baukranes hinauf. Er steht, und schwenkt die Fahne. Zu hören ist nichts, denn es ist zu hoch. Die Menschen haben Angst um ihn. Eine Lautsprecherstimme versucht ihn zu erreichen, doch der kühne Kletterer reagiert nicht. Er arbeitet sich weiter vor bis zur Spitze des Auslegers, wo er die Fahne befestigt. Dann endlich macht er sich auf den Rückweg.
Der junge Mann verließ den Demonstrationszug.
Eine schmale Straße zwischen niedrigen verfallenden Häusern führte ihn von dem Platz weg. Bald hatte er auch die Häuser hinter sich gelassen. Um ihn herum erstreckte sich flaches Land; doch die Umgebung erschien ihm seltsam undeutlich, als entzöge sie sich einem genauen Hinsehen. Es war ihm, als sehe er die Landschaft nur aus den Augenwinkeln, und alle Versuche, sie zu fixieren, scheiterten an seiner Unfähigkeit, sich ausreichend darauf zu konzentrieren. Denn noch immer dachte er an die Kinder des Olymp. Unsere Existenz beruht auf wenigen Voraussetzungen, aber wie viele Schwierigkeiten lassen sich daraus ableiten. Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Er sah, dass der Weg, dem er folgte, sich in einiger Entfernung mit einem zweiten kreuzte. Am Schnittpunkt der beiden Wege stand abseits ein einzelnes mehrstöckiges Holzhaus, mit einem hohen, spitzen Dach.
Farbe ist ein Hauch.
Er hatte das Haus erreicht. Von außen war kein Lebenszeichen wahrzunehmen, doch als er näher trat, hörte er Stimmengewirr, Klirren von Geschirr oder Gläsern und Musikfetzen. Neugierig öffnete er die Tür.
Ik gehorta dat seggen.
Es begab sich aber zu der Zeit. Blonder war einst oberster Narr am Hofe König Salomons gewesen und mischte sich oft unerkannt unter das Volk.
Vor ihm lag ein Schankraum. In der Luft hingen dichte Rauchschwaden, Lampen an den Wänden verbreiteten ein trübes Licht. Der Mann, der ihm zuerst auffiel, saß im Schneidersitz auf einem Tisch. Er war von untersetzter Gestalt, der Kopf saß ihm übergangslos auf den breiten Schultern. Während von den Beinen nicht viel zu erkennen war, fielen die kräftigen langen Arme auf, die im Schoß des Mannes verschränkt ruhten. Über allem jedoch lenkte das Gesicht den Blick auf sich. Unter einer scharfen, hervorstechenden Nase saß ein breiter, gerade zu einem häßlichen Lachen verzogener Mund. Einen Moment lang blickte der junge Mann ihm direkt in die Augen, der Augenblick ging sofort vorbei, weil der Kopf des Sitzenden sich ständig hin und her bewegte und nie zur Ruhe zu kommen schien. Doch dieser kurze Moment hatte ausgereicht, den jungen Mann zu bannen, denn die Augen waren so fern gewesen, sie hatten durch ihn hindurch geblickt, als wäre er nicht vorhanden, und sie waren unermesslich alt erschienen.
So stand er noch immer auf der gleichen Stelle, als der Blick des Mannes auf dem Tisch ihn ein zweites Mal traf. Nun aber war darin nichts mehr von dem zu erkennen, was ihn vorher so getroffen hatte. Er lachte zu dem jungen Mann herüber, blickte ihn freundlich an und lud ihn mit einer weit ausholenden Bewegung seines Armes ein, doch näher zu treten. Zögernd folgte der junge Mann der Aufforderung. Nun konnte er den Mann auf dem Tisch besser erkennen. Dessen Haare waren von heller, fahler Farbe, mit einzelnen dunklen, auch grauen Strähnen dazwischen. Sein Gesicht war von unzähligen Falten und Furchen durchzogen, ohne dass der Mann insgesamt dadurch alt wirkte; dazu war seine Gestik zu lebhaft, seine Stimme zu laut. Sie hatte manchmal einen schier boshaft zupackenden, manchmal dann wieder eher närrisch spöttelnden Klang.
Was er sagte, war nicht zu verstehen. Dabei bediente er sich nicht einer fremden Sprache, nur war der Klang der Worte undeutlich, nicht klar zu fassen; auch gingen sie im Stimmengewirr um ihn unter. Denn er war nicht allein. Die Bänke um den Tisch herum waren mit lärmenden, durcheinander schwatzenden Männern besetzt.
Der junge Mann drängte sich zwischen sie und fand auf einer Ecke noch einen Platz.
Der Mann auf dem Tisch beugte sich zu ihm, dabei wies sein langer Arm in eine entfernte Ecke des Raumes, wo ein Junge saß und eine Flöte spielte. „Er weigert sich zu sprechen“, sagte der Mann auf dem Tisch.
Der flötespielende Junge saß in einer dunklen Ecke des Raumes. Er hielt den Kopf gesenkt, die Augen auf den Boden vor sich gerichtet. Der junge Mann sah ihn an, eine undeutliche Erinnerung war in ihm, als sähe er den Flötenspieler nicht zum ersten Mal. Waren sie nicht zusammen über die Ebene gezogen? Oder war es ein anderer gewesen, der ihm davon berichtet hatte?
Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als der Mann auf dem Tisch laut auflachte.
Die Erzählungen des Armeniers in Amerika sind wie diese Musik, dachte der junge Mann, sie geben keine Antworten, sie stellen keine Fragen. Sie klingen in uns auf, sind heiter und traurig, einsame Töne im riesigen Raum des Schweigens, und verklingen leise, nur ein verhallendes Nachschwingen in uns zurück lassend.
Und dann saß da einer am Tisch, der hatte sich abgewandt von den anderen und schrieb etwas auf ein Stück Papier vor sich, und auf seiner Stirn brannte das Zeichen des Todes: „And he knew, that he would die with defiance on his lips, and that the shout of his denial would ring with the last pulsing of his heart into the maw of all-engulfing night.“
Die Männer um den Tisch herum hielten Trinkgefäße in den Händen, die ein dicker, keuchender Wirt immer wieder nachfüllte. Alle Wirte sind dick, gibt es denn keinen dürren Wirt? Nein, ein dürrer Mann, der sich als Wirt betätigt, hat sich an diesen Platz verirrt, ist fehl dort. Alle Wirte sind dick, keuchen in gespielter Anstrengung und klagen über die Arbeit. Dieser Wirt jedenfalls hatte alle Hände damit zu tun, die Becher der Männer immer wieder nachzufüllen. Ungeduldig hielten die Zecher die Becher hoch, er konnte nicht schnell genug in seinem Krug neuen Wein heranschaffen, den er aus dem Hintergrund des Raumes holte, wo sich ein langgezogener Tresen befand. Jedesmal, wenn er den Krug leergeschenkt hatte, eilte er zu diesem Tresen und verschwand dahinter. Offenbar führte von dort eine Treppe in einen Kellerraum, wo er seine Weinfässer verwahrte.
Der junge Mann sagte zu dem neben ihm Sitzenden:
„Ich warte auf Michail Bulgakow.“
Das schien den Angesprochenen aber nicht sonderlich zu interessieren.
Er sah auf die anderen Männer um sich herum. Sie trugen bunte, landsknechtartige Kleidung, in den Gürteln steckten Messer. Neben ihnen auf den Bänken oder auf dem Boden zu ihren Füßen lagen metallene Helme. Viele Gesichter waren von wild wuchernden Bärten bedeckt, doch waren einige noch sehr jung, ihre Gesichtshaut war glatt und ohne jeden Bartwuchs.
Glücklich die, die nicht zum Bewusstsein verdammt sind, dachte der junge Mann.
Der neben ihm Sitzende wandte sich ihm zu, als hätte er diese Gedanken verstanden, und meinte mit gesenkter Stimme:
„Unser General Tumber ist einer von denen, die an der Grenze stehen. Der Zweifel ist bereits in sein Leben eingebrochen. Er ist wahrhaftig unglücklich, denn er hat die Sicherheit des unbewussten Lebens verloren, ohne den Stolz der Erkenntnis erreicht zu haben. Er versucht, sich zurück zu ziehen, doch der Zweifel folgt ihm unbarmherzig. Wer kann ihm helfen? Vielleicht der Anblick des Ritters Mayroc und seiner Schützlinge. Wer weiß?“
Als der junge Mann ihm nicht antwortete, fuhr der fort:
„Ich denke an die Soldaten am Strand von Omaha. Die Stunden davor: das Warten auf den Tod. Und dann das Erlebnis des Unfassbaren. Genug davon. Und doch, jedes Nachdenken führt zum Nachdenken über den Tod. Im Meditieren versagt man sich der Intensivierung jedes gelebten Augenblicks, der Anreicherung jedes Zeitmoments, man sieht nur noch die Vertikale, die in unbarmherziger Geradlinigkeit auf das Ende zu stürzt. So wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die Schlange starrt, statt zur Seite auszubrechen.“
„Aber der Sommer ist nah“, erwiderte der junge Mann, „du kannst über die Straßen Europas trampen.“ Sommer, die Sonne, schnelle Regenschauer aus klarem Himmel, wärmender Wind über den Klippen. Am Rande der Steilküste, tief unten der Strand, vor uns bis zum Horizont das Meer. Kreisende, kreischende Möwen über uns im Luftraum. In der Ferne, auf der Landstraße, ein Auto zwischen hohen Baumreihen. Davor die weiten Wiesen und Felder, staubige Sandwege, die uns von der Straße zur Klippe führten. Wir sitzen am Rand, lassen die Beine über die Kante des Felsen baumeln, halten die Gesichter der Sonne entgegen. Der Wind fährt uns in die offenen Hemden und bläht sie auf. Er zerrt an unserem Haar.
„Woran denkst du?“ fragte der neben ihm leise.
Unter uns rollen die Wellen über den Strand, der zwischen Fels und Meer einen breiten Streifen bildet. Ich lasse mich ins Gras zurück fallen und schließe die Augen bis auf einen schmalen Spalt. Einer der anderen sagt etwas, doch ich höre nicht hin. Dann ist es wieder still, ich höre nur von unten das gleichmäßige Rauschen der anrollenden Brandung und von ferne den Schrei der Möwen. Ich versuche, durch das Blau des Himmels hindurch zu sehen, den Blick weitergehen zu lassen, da doch kein Hindernis sich ihm in den Weg stellt. Der Luftraum ist tief; immer weiter dringt der Blick in das Blau hinein. Die Farbe wird allmählich intensiver, zum Violetten hin, wird noch dunkler. Dann hat der Blick die Lufthülle hinter sich gelassen, vor ihm liegt die unendliche Tiefe des Alls. Links steht der Flammenball der Sonne übergangslos im Schwarz des Weltraums. Der Mond ist gerade irgendwo hinter mir, hinter der Erdkugel. Aber einen der inneren Planeten kann ich erkennen. Es ist der sonnennahe Merkur, dessen dem Zentralgestirn zugewandte Seite von den Strahlen der Sonne verbrannt wird, während die andere Seite in ewiger Nacht liegt. Weiter geht der Blick, vorbei am rötlichen Mars und am Saturn mit seinen Ringen, vorbei am letzten Vorposten des Sonnensystems, dem einsamen Pluto. Ich stürze mich in den Abgrund zwischen den Sternen, der nächsten, Lichtjahre entfernten Sonne entgegen. Alpha Centauri ist mein Ziel, und dahinter liegen endlose Räume mit ungezählten Sonnen, umkreist von blühenden Welten, dort warten Milchstraßen voller Wunder auf mich.
Etwas kitzelt mein Ohr.
„Hör auf“, brumme ich.
Jetzt kitzelt es auch am anderen Ohr.
Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe ein Knie neben mir. Darauf gestützt eine Hand mit einem langen Grashalm, der jetzt vor meiner Nase tanzt. Ich drehe den Kopf zur anderen Seite und schließe die Augen.
Der eintönig-gleichförmige Strand, die steil aufragende Felsenklippe.
Es ist nicht viel Platz für Menschen. Für Sekundenbruchteile sind sie da, stehen auf dem Strand zwischen Fels und Meer, dann sind sie wieder verschwunden. Andere erscheinen, sehen sich erstaunt um, blicken auf das Meer hinaus, schlagen aufeinander ein, jubeln laut, umarmen sich, dann verschwinden sie genauso plötzlich. Der Strand ist wieder leer.
Ich folge den anderen auf dem Sandweg, der zur Landstraße führt.
Das Gebäude am Rande des staubigen Feldes lag leer, als wir es betraten. Eine der Fensterscheiben war zersplittert, die Gardine war nach außen geweht und hatte sich dort an einem der Haken verfangen, die einmal zur Befestigung des Fensterladens gedient hatten. Der Laden selber lag vor dem Fenster im Staub.
Durch die Öffnung war Sand in den Raum geweht, der den ansonsten sauberen Boden in einer dünnen Schicht bedeckte. Einer meiner Begleiter blies den Staub von einem Stuhl und setzte sich. Erwartungsvoll sah er sich um und fragte:
„Wo bleiben denn nun die lieben Verblichenen, um uns von diesem heiligen Ort zu vertreiben?“
„Ich rechne eher mit einem uniformierten Eisenbahnergeist, der unsere Fahrkarten lochen will“, meinte ein anderer und ging neugierig auf eine Tür im Hintergrund des Raumes zu. Kurz bevor er sie erreichte, öffnete sich die Tür: langsam, wie von unsichtbarer Hand, und mit einem durchdringenden Quietschen. Der vor der Tür verhielt unwillkürlich den Schritt, dann trat er leise an die erst halb geöffnete Tür heran und riss sie mit einem Ruck auf.
Dahinter stand, in gebückter Haltung, die Hand noch am Türdrücker, einer unserer Freunde.
Der auf dem Stuhl rutschte mit einem gequälten Stöhnen auf den Boden, die Hände in die Brust gekrallt, ungefähr da, wo er sein Herz vermutete. Aus brechenden Augen warf er einen anklagenden Blick zur Tür und flüsterte:
„Du bist schuld am allzu frühen Tod eines jungen, blühenden, die Zukunft noch vor sich habenden Menschenlebens.“
„Schaut mal hierher“, sagte der in der Tür und wies hinter sich.
Wir traten in den Raum, aus dem er gerade gekommen war. Eine offene Tür in der Rückwand des Hauses offenbarte, von woher er den Raum betreten hatte.
Es war nur ein kleines Zimmer, ohne Fenster und ohne Mobiliar. Was jedoch unsere Aufmerksamkeit erregte, war ein breites, ungleichmäßiges Loch im Fußboden, welches die Mitte des Raumes einnahm, so dass man nur an den Wänden entlang von einer Tür zur anderen gehen konnte. Die Holzbohlen des Fußbodens ragten über den Rand des Loches hinaus und endeten in gezackten, abgebrochenen oder schlecht besägten Kanten. Das Licht, das durch die offen stehende Hintertür in das Zimmer fiel, zeigte uns, dass unter dem Loch ein Kellerraum lag, dessen weißgekalkten Wände genügend Licht reflektierten, um uns erkennen zu lassen, dass auch dieser Raum völlig leer war, abgesehen von einem Sandhaufen in seiner Mitte. In einer der Wände des Kellerraumes befand sich eine Brettertür.
Mit Hilfe meiner Gefährten ließ ich mich vorsichtig in das Loch hinab. Während sie oben auf mich warteten, ging ich zu der Brettertür. Ich stellte fest, dass sie nur lose angelehnt war, und öffnete sie.
Erstaunt sah ich um mich.
Der Mann, der im Schneidersitz auf dem Tisch saß, zwinkerte mir zu. Im Hintergrund war die leise Melodie der Flöte zu vernehmen.
Die Männer um mich herum brachen in lautes Lachen aus und überdeckten die Töne. Der Wirt kam hinter der Theke hervor, in jeder Hand einen schweren Krug tragend. An seinen Schuhen bemerkte ich eine dicke Staubschicht. Ich fragte mich, wohin die Kellertreppe hinter seiner Theke wohl führen mochte.
Bevor er in den Abgrund stürzte, sagte er: „Irgendetwas muss man doch tun.“
Hatte Plato die Hoffnung verloren, als er sich mit einer ungeladenen Pistole, allein in seiner roten Jacke den tausend gierigen Scheinwerfern entgegen stellte?
„Wir sind nicht hier, um den Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen“, meinte der neben mir. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Buch in seinen Händen zu; leise sagte er zu dem jungen Mann, indem er auf das Buch zeigte: „Ein großer Philosoph!“ Und er las leise einige Sätze vor: „… so war es plötzlich die Physik, die vor dem Phänomen verschiedenartiger Modelle stand, die sich nur sehr schwer synthetisieren ließen. Nicht die Philosophie zerbrach, sondern die euklidische Geometrie.“
Von der anderen Seite drückte jemand dem jungen Mann einen vollen Becher in die Hand und prostete ihm zu, so dass er einige Augenblicke von dem neben ihm abgelenkt wurde.
„Orientierung an Fakten? Aber was sind Fakten in dem riesigen Experiment Welt? Gibt es nicht einen Weltinhalt, der sozusagen selber noch nicht weiß, wo ihm der Kopf steht? Die Welt selbst ist Planung, ein Experimentum, ein Laboratorium possibilis salutis.“
Gelächter übertönte das leise, monotone Murmeln des Vorlesers. Die Stimme wurde fast unhörbar. Der junge Mann neigte sich weiter zu ihm und vernahm die Worte: „Jetzt aber gilt es die prometheische Befreiung der Menschheit von den Götzen der Vorherbestimmung. Weder wir noch die Umwelt sind fertig, undialektisch, statisch, bestimmt.“
Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich des jungen Mannes. Der Raum schien enger zu werden, schien nur noch aus dem Tisch mit dem Mann darauf und den Bänken darum herum zu bestehen, die weitere Umwelt wurde undeutlich. Nur der Wirt kam von Zeit zu Zeit aus dieser Unwirklichkeit heraus und verschwand dann wieder in ihr.
Und die leise Musik des Flötenspielers drang bis zu ihm, bildete den stetigen Hintergrund des lärmenden Gelages.
Der junge Mann versuchte, diese Stimmung abzuschütteln. Er sprang auf und rannte zu einem der Fenster, die durch Holzläden verschlossen waren. Er stieß den Laden auf und sah hinaus. Aber er wurde enttäuscht. Offenbar war er schon länger in dem Haus, als er angenommen hatte, denn draußen war es dunkel; die Finsternis schien undurchdringlich, auch vom Himmel kam kein Licht. Einen Moment lang stand er am offenen Fenster, dann blickte er zurück ins Zimmer. Er schüttelte den Kopf und fuhr sich über die Augen. Aber der Schleier, der die Sicht trübte, legte sich nicht. Jedenfalls schienen die Zecher jetzt weit weg von ihm zu sein, er sah den Mann auf dem Tisch aus der Ferne wie durch ein umgedrehtes Fernrohr. Auch von der Musik hörte er nichts mehr. Die Sicht wurde noch schlechter, kaum konnte er noch die Mitte des Raumes erkennen. Auch das Lachen und Singen der Männer klang nur noch wie aus der Ferne zu ihm herüber. Und es wurde immer leiser.
Da warf er den Fensterladen wieder zu und verriegelte ihn.
Als er in den Raum zurück trat, wurden die Gestalten im Dunst sogleich deutlicher, auch das Lärmen schwoll wieder an, und bei genauem Hinhören konnte er darunter auch das ruhige Spiel der Flöte vernehmen. Er dachte daran, dass er in früheren Zeiten schon einmal das Bild des Flötenspielers gesehen hatte. Das Bild hatte einen Hirtenjungen gezeigt.
Er kehrte zu seinem Platz am Tisch zurück. Die Augen des Mannes auf dem Tisch ruhten nachdenklich auf ihm, ehe sie sich wieder den anderen in der Runde zuwandten.
Der junge Mann dachte bei sich: Die Geschichte der Stadt am Ende der Welt ist noch nicht erzählt. Und: Ende der Welt, das ist nicht so sehr ein räumlicher als vielmehr ein zeitlicher Begriff.
Dann dachte er an den einen deutschen Einwanderer, der aus Europa kam, voller Hoffnung auf die Neue Welt quer durch den Kontinent zog, bis er eine kleine texanische Stadt namens San Antonio erreichte, wo er dreizehn Tage lang kämpfen musste, um schließlich zu sterben wie alle um ihn herum. Er hatte wahrscheinlich nicht einmal richtig Englisch gesprochen.
Die Erde ist blau. Yves Klein soll glücklich gewesen sein, als er es hörte. Aber in diesem Blau sind häßliche, scharfkantig zerrissene, schwarze Löcher. Und diese Löcher sind keine Vögel – allenfalls die Vögel des Todes, die über Vietnam kreisen und ihren blutigen Einsatz feiern.
Der junge Mann fühlte sich von denen um ihn herum ausgeschlossen. Ach, dachte er, ein Lucky Johnny müsste her; aber der sitzt in Las Vegas am Spieltisch. Das ist weit weg. Irgendwann werde ich ihn besuchen; das ist ein Mann, der es versteht zu leben.
Es müsste verboten werden, andere Menschen zu beobachten.
Er entdeckte vor sich auf dem Tisch eine Zeitungsseite. Über einen Artikel war mit schwarzem Stift geschrieben: „Diese Sätze sollen nie vergessen werden.“
Er las.
„Die Juden, aus einem ungarischen Konzentrationslager entlassen und auf dem Heimweg, kamen vor genau 22 Jahren, in der zweiten Aprilhälfte des Jahres 1945, an der Kompanie des Hauptsturmführers R. vorbei. Sie wurden von einem Posten angehalten und ohne Umschweife zusammen mit dem Kriegsgefangenen erschossen.
Wie der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Albert Th., rekapitulierte, war R.‘s Einheit, die 4. Werkstattkompanie der SS-Panzerdivision ‚Das Reich‘, damals während des Rückzuges aus Ungarn in dem niederösterreichischen Ort Leiben stationiert. ‚Nach ihrem Abmarsch hinterließen sie als anklagendes Zeichen drei Gräber‘, sagte der Richter. Nach Kriegsende fand man darin die Leichen der elf Erschossenen; unter ihnen sechs Frauen.
Im Gegensatz zu den beiden Staatsanwälten vertrat Th. die Auffassung, dass R. nur in einer der drei Erschießungsaktionen als überführt gelten könne, den Exekutionsbefehl erteilt zu haben: Vier Frauen und zwei Männer hatten ihre Gräber ausheben müssen und waren dann mit Kopfschüssen getötet worden. Unter den Opfern befand sich ein Marineoffizier des ersten Weltkrieges, für den die Henker ebenso wenig Gnade kannten wie für ein junges Mädchen, das laut um sein Leben flehte.
‚Das nach Zeugenaussagen auffallend hübsche Mädchen zeigte den Exekutionssoldaten noch ein Foto seines Bräutigams, weil es nicht verstehen konnte, dass es so jung sterben sollte‘, berichtete der Vorsitzende. ‚Schließlich bat es nur noch, als letzte und mit dem Gesicht zur Sonne erschossen zu werden, ein Wunsch, der ihr dann auch ‚großzügig‘ erfüllt wurde.‘ Unter den Zuhörern im vollbesetzten Schwurgerichtssaal entsteht Unruhe, als der Richter dies schildert; die Angeklagten zeigen keine Bewegung.“
Und auch diese nicht, dachte der junge Mann:
Aus einem Gedicht einer Schülerin des jüdischen Gymnasiums in Krakau.
„An unsere Lehrer.
Sind meine Leiden jetzt der Preis dafür,
und dass ich ohne Waffen bin für diese Welt?
O hättet ihr uns doch gelehrt,
hervorzuspringen aus dem Hinterhalt,
mit starkem Griff das Leben am Genick zu packen,
es mit geballter Faust zu treffen zwischen beide Augen,
so dass es taumelt
und in die Knie geht!
Hättet ihr uns gelehrt zu schreien,
dass man uns hört,
und wie man eine Türe eintritt,
und wie man treten muss, damit man uns nicht tritt!“
Auch diese dürfen nicht vergessen werden. Auschwitz ist an keinen Ort und keine Zeit gebunden. Hättet ihr uns gelehrt zu schreien, dass man uns hört! In Amerika steht ein Offizier vor Gericht, weil er sich geweigert hat, einen Piloten auszubilden, der später in Vietnam eingesetzt werden soll. Die Vertreter der Anklage erwägen, den Offizier auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen.
Die Nacht zog sich lang dahin. Irgendwann war der junge Mann auf seinem Platz auf der Bank eingeschlafen. Als er erwachte, lag sein Kopf auf der Tischplatte. Er schrak hoch. Doch um ihn herum hatte sich nichts verändert. Er bemühte sich, wach zu bleiben, doch immer wieder nickte er ein. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, er verstand die Gespräche, die lauten Scherze nicht mehr, die Augen schmerzten ihm von dem dichten Rauch und er sah seine Umgebung nur noch undeutlich. Schließlich, als er einmal wieder aufwachte, entschloss er sich, die Runde zu verlassen. Er erhob sich von seinem Platz und wandte den Zechenden den Rücken zu. Die Lichter an den Wänden brannten niedriger; er hatte Mühe, die Tür zu finden. Als er sie im Dunkeln ausgemacht hatte, ging er darauf zu und öffnete sie.
Der Morgen dämmerte herauf. Eine leichte Brise wehte ihm entgegen und erfrischte ihn. Die Luft war mild, der Himmel klar, fast wolkenlos. Die Sonne stand noch unter dem Horizont, aber die Helligkeit drang immer höher und ließ die Sterne verlassen.
Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf eine Bank, die an der Hauswand stand.
Er versuchte seine Gedanken zu ordnen:
Die Abwesenheit von Zeit in diesem Raum bedeutet nicht ewiges Leben, sondern Tod. Leben ist an Zeit gebunden, das heißt: an Entropie, wobei es aber gegen die Richtung der Entropie ankämpft.
Wenn ich ein E, gleich Elementarteilchen oder Grundstruktur, an einem Ort fixiere, ganz wörtlich als Da-Sein an einem Ort, nenne ich das ‚Existenz‘. Damit ist dieser begriff definiert.
Wenn ich aber dieses E solcherart als existent fixiere, geschieht das prinzipiell bei gegebener Nicht-Messbarkeit von Geschwindigkeit. Und da nicht ist, was nicht wirkt: unter Abwesenheit von Geschwindigkeit. Da diese ein der Zeit zugeordnetes Phänomen ist, liegt es nahe zu sagen, es geschieht unter Abwesenheit von Zeit. Abwesenheit von Zeit bedeutet Tod.
Es ist festzuhalten: Wenn ein E als existent fixiert wird, ist es tot.
Wenn ich die Geschwindigkeit eines E messe – wenn ich es als Geschwindigkeit messe – lebt es. Seine Existenz aber lässt sich nicht fixieren. Es lebt als Möglichkeit, da oder dort zu sein, als Möglichkeit zu dieser oder jener Existenz. Also: wenn ein E lebt, ist seine Existenz nicht fixierbar, und, da nicht ist, was nicht wirkt, es hat keine Existenz im oben angegebenen Sinne dieser Defintion.
Was existiert, ist tot, was lebt, lebt als Möglichkeit.
Die Sonne ging über dem fernen Horizont auf. Ihre rote Scheibe lag auf der Erdoberfläche auf, löste sich langsam, stieg höher. Der Raum zwischen Erde und emporsteigender Sonne wurde breiter. Ein neuer Tag begann.
Neben ihm öffnete sich die Tür. Einer der nächtlichen Zecher trat heraus und streckte gähnend die Arme.
Der junge Mann stand von der Bank auf. Ohne sich um die Blicke des anderen zu kümmern, steuerte er die Wegkreuzung an, die ihn hierher geführt hatte. Er konnte nicht mehr erkennen, aus welcher Richtung er gekommen war, doch erinnerte er sich, dass er am späten Nachmittag des voran gegangenen Tages die Sonne im Rücken gehabt hatte. Mit der Morgensonne hinter sich machte er sich erneut auf den Weg.
Seine Entscheidung war ohne Vorwarnung gefallen. Klar stand ihm das Ziel vor Augen, dass er erreichen wollte und dessentwegen er den Weg zurück wählte. Er wollte zu dem Park, in dem er seine Reise begonnen hatte, und durch ihn hindurch zurück auf die Straße mit dem kleinen Laden.
Während des Weges genoss er die morgendliche Frische des Tages. Die Luft war klar und kühl, ein leichter Wind strich über die Ebene. Als er sich einmal umdrehte, war das Haus an der Wegkreuzung kaum noch zu erkennen. Menschen waren nicht mehr zu sehen.
„Kikik“, girrte der Kater hämisch, der plötzlich vor ihm in der Luft erschienen war.
„Hallo“, sagte der junge Mann, „dich kenne ich, du gehörst doch zu Alice, nicht wahr?“
„Nicht wirklich“, erwiderte der Kater. „Andererseits: ganz recht.“ Er blinzelte und strich sich mit der Pfote über das lange Schnurrhaar. „Wie auch immer“, sagte er und ließ sich behäbig auf dem Weg vor dem jungen Mann nieder, „ich bin inzwischen und mittlerweile Allgemeingut geworden. Auf der Tagung in Lindau hat Professor Heisenberg (er machte eine gewichtige Miene, als er den Namen aussprach) eine gewisse Verwandtschaft festgestellt, zwischen mir und einem der Elementarteilchen, einem der strange particles, und zwar handelt es sich um eines, dem man weder einen bestimmten Ort noch eine bestimmte Energie zuordnen kann. Ich existiere physikalisch gar nicht. Du kannst mich also ruhig ignorieren.“
Wieder grinste er boshaft und zeigte seine gelben Zahnreihen.
„Ich heiße Tick“, schnatterte eine helle Stimme.
„Und ich Trick“, kam eine zweite hinzu.
„Und ich Track“, folgte die dritte.
Drei junge Enten standen in einer Reihe hinter dem Kater und sahen den jungen Mann neugierig ins Gesicht. Der beachtete sie jedoch nicht, sondern wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu:
„Ist es denn nicht so, dass diese Teilchen auch untereinander verwandt sind – ja dass sie sich sogar ständig ineinander verwandeln können?2
„Gewiss doch“, erwiderte der Kater und erhob sich in die Luft. „Im Grunde gibt es nur eine einheitliche …“. Er schwieg.
„Gibt es nur eine einheitliche – was?“ fragte der junge Mann, als der Kater keine Anstalten machte, in seiner Rede fortzufahren.
Der sah ihn überlegen an. Nach einigen Momenten des Schweigens ließ er sich dann doch herab zu antworten:
„Das wäre wohl etwas zu einfach.“ Er kicherte. „Sieh mich an. Es gibt Geisterzustände von Elementarteilchen, deren Vorhandensein rechnerisch erforderlich ist, die gleichzeitig aber praktisch unmöglich sind, weil die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens gleich Null ist.“
„Quak quak“, meinte eine ältere Ente im Matrosenanzug gereizt, die hinter den drei jüngeren erschienen war.
Der Kater verschwand, nicht einmal sein Grinsen blieb in der Luft hängen.
Der junge Mann versuchte, die Enten zu ignorieren und beschleunigte seinen Schritt.
Nach einiger Zeit bemerkte erm dass die Enten ihm mit geringem Abstand folgten.
Während er so vor sich hin ging, dachte er: Nun also doch die Reise des Wilden.
Zur selben Zeit landete Barbarella auf Lythion und Jeschua stand vor Pontius Pilatus. Unklar war ihm, ob die Reise des Wilden in dieses Land oder in ein fernes führte. Darüber wollte er weiter nachdenken.
Das Meeresforschungsschiff ‚Sternschnuppe‘ brachte ihn aus der Südsee mit. Er kam als Geschenk seines Volkes. Sein Name lautete – in freier Übersetzung – Paradiesfreivogel. Dass er ein Geschenk war, begriffen die Beschenkten nicht so recht, wenn sie auch aus Höflichkeit schwiegen; sie erkannten keinen Wert in ihm – ein Geschenk, welches nur Kosten hervorrief? Sie verstanden es nicht. Und als er sich nahm, was er haben wollte, schalten sie ihn. Dass verstand er nicht.
Natürlich gibt es heutzutage keine Wilden mehr auf diesem Planeten, es gibt nur unterentwickelte Völker. Nur in der Südsee auf einigen Inseln ist es anders; dort gibt es noch richtige Wilde! Aber diese Inseln sind so klein und diese Wilden so friedlich, dass sie unserer Aufmerksamkeit bisher entgangen sind.
Freivogel wurde verlegenheitshalber herumgereicht, hineingesteckt in einen schwarzen Anzug mit steifem Hut. Ach bitte, Herr äh Freivogel, würden sie bitte dieses Band zur Eröffnung unseres neuen Schwimmbades durchschneiden. Und dann bitte diesen Knopf hier drücken. Ja. So. Nein, nicht diesen Knopf. Nicht d i e s e n ! O Gott.
Der Wilde, der eine große Reise unternahm, betrat blumengeschmückt den Boden des fremden Landes.
Der junge Mann hockte am Wegesrand. Nach einer Weile nickte er ein. Als er wieder erwachte und die Augen aufschlug, sah er vor sich die vier Enten stehen. Sie blickten ihn an und sagten „Husch“, dann waren sie verschwunden.
Er stand auf und setzte seinen Weg fort. Es wurde Mittag, die Sonne stand hoch am Himmel, die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, das Hemd klebte am Körper und seine Kopfhaut juckte abscheulich. Er zog sein Taschentuch heraus, knüpfte Knoten in die vier Ecken und legte es so als improvisierten Sonnenschutz auf den Kopf.
Der Weg war staubig, das flache Land zu beiden Seiten ausgedörrt und ohne Schatten. Es gab keine Bäume. Wenn er eine Pause einlegte und sich am Wegesrand niederließ, spürte er, wie die Sonne ihm die Kraft aus den Gliedern zog und wie die Ermattung ihm mit jeder weiteren Minute der Rast das Wiederaufbrechen schwerer machte. So stand er denn jedesmal eilig wieder auf und marschierte weiter.
Mehrere Stunden lang änderte sich sein Lage nicht. Er hatte das Hemd ausgezogen und um die Schultern gehängt, um jeden möglichen Lufthauch direkt an die Haut gelangen zu lassen. Doch die heiße Luft lag unbeweglich auf ihm und gewährte keine Abkühlung. Er litt unter großem Durst, denn er hatte seit dem Aufbruch am frühen Morgen nichts getrunken. Seine Schritte wurden langsamer und schleppender. Er zwang sich, keine weitere Rast einzulegen, da sie seine Erschöpfung nur noch steigerte.
Es war inzwischen früher Nachmittag, die Sonne hatte den höchsten Punkt ihrer Tagesbahn überschritten und neigte sich wieder dem Horizont zu. Und dann bemerkte er, dass sich hinter ihm dunkle Wolken mit großer Geschwindigkeit heran schoben!
Gleichzeitig erhob sich ein frischer Wind, der ihm sogleich Kühlung schenkte. Der Staub des Weges wurde aufgewirbelt, doch das störte ihn nicht. Statt dessen sah er begierig zu der sich rasch nähernden Wolkenbank hinüber, in der es verhalten rumorte und die von Zeit zu Zeit einen Blitz auf das Land unter ihr hinab sandte. Dann erkannte er auch die ersten grauen Regenschleier, die von den niedrigen Wolken hinunter wehten.
Schreiben bedeutet ordnen. Der Schwamm, der aufnimmt und abgibt. Besser noch: ein Prisma. Ungeordnet strömen die Eindrücke ein, geordnet treten sie wieder aus.
„Ein Tropfen fällt und es ist da“, sagt Ernst B., „eine Hütte, das Kind weint, eine alte Frau in der Hütte, draußen Wind, Heide, Herbstabend, und es ist wieder da, genau so, dasselbe; oder wir lesen, wie sich Dimitri Karamasow im Traum verwundert, dass der Bauer immer ‚Kindichen‘ sagt, und wir ahnen, hier wäre es zu finden; ‚die Ratte, die raschle, so lange sie mag! Ja wenn sie ein Bröselein hätte!‘, und wir fühlen, bei diesem kleinen schnöden, sonderbaren Vers aus Goethes Hochzeitslied, in dieser Richtung liegt das Unsagbare, das, was der Knabe liegen ließ, als er aus dem Berg herauskam, ‚vergiss das Beste nicht!‘, hatte der Alte zu ihm gesagt, aber noch keiner konnte dieses Unscheinbare, tief versteckte, Ungeheure jemals im Begriff entdecken.“
Sich erinnern; an das, was war.
Dieser Satz ist rätselhaft: „Er hat nicht Licht verdient, sondern Frieden“, sprach Levi traurig. Was meint Michail Bulgakow?
Der Regen, der das Land zudeckte, hatte nun auch ihn erreicht und innerhalb weniger Minuten völlig durchnässt. Doch das bekümmerte ihn nicht, er genoss die Abkühlung, fing mit dem Taschentuch das Wasser auf und drückte es im Mund aus. Er war mitten auf dem Weg stehen geblieben, hatte die Arme ausgebreitet und das Gesicht den Wolken entgegen gestreckt.
Genauso schnell, wie das Unwetter gekommen war, verschwand es auch wieder. Die Wolkendecke über ihm zog weiter, Löcher rissen auf und ließen den blauen Himmel darüber erkennen, und etwas später erinnerte nichts mehr an das Unwetter, abgesehen von den Regenlachen auf dem Weg und dem Dampf, der aus den vollgesogenen Feldern aufstieg. Die Sonne brannte wie zuvor, doch der Regen hatte ihm wieder Kraft verliehen und er setzte den Weg mit neuem Mut fort.
Vor ihm lag die Stadt.
Noch schien sie weit entfernt und war im Dunst kaum erkennbar, doch nachdem er eine langgezogene Senke und ein anschließendes Waldstück durchquert hatte, war er den Außenbezirken schon nahe gekommen.
Mittlerweile begann die Dämmerung das Tageslicht zu verdrängen; es wurde Abend. Der Himmel über der untergehenden Sonne leuchtete rot auf, während am Zenit bereits die ersten Sterne sichtbar wurden. Gleichzeitig kam ein leichter Wind auf und vertrieb die lastende Hitze des Tages.
Er befand sich nun auf einer gepflasterten Straße. Ein Lastwagen mit unregelmäßig knallendem Motor kam ihm entgegen. Es war das erste Lebenszeichen, das er bemerkte, obgleich er seit einiger Zeit schon zwischen Häusern ging. Allerdings lagen diese alle in weiten, parkähnlichen Gärten, die zur Straße hin durch Hecken und Buschreihen gegen neugierige Blicke geschützt waren.
Der Lastwagen fuhr an ihm vorbei ohne abzustoppen. Im Führerhaus saß ein einzelner Mann hinter dem Steuer, der ihm keinen Blick schenkte. Die Planen, die die Ladefläche verhüllten, flatterten im Wind.
Er ging rasch weiter. Vor ihm rückten die Häuser dichter an die Straße heran, die Vorgärten wurden schmaler. Das holprige Pflaster der Straße wurde ebener, auf beiden Seiten der Fahrbahn befanden sich nun befestigte Fußwege. Offenbar war dies eine der Ausfallstraßen, und der junge Mann hoffte, dass sie ihn ins Zentrum der Stadt führen würde.
In einem der Gärten glaubte er zwischen Büschen zwei in der Dämmerung nur undeutlich zu erkennende Gestalten zu sehen. Er blieb stehen.
„Quack quack“, sagte der Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika in diesem Moment und sein Gesicht verzog sich zu einem teuflischen Lächeln.
Der Wilde lachte höflich zurück und nickte verständnisvoll. „Gewiss“, sagte er, „da gebe ich ihnen recht.“
Und dann sah er hinter dem Präsidenten die ….. Wesen, die nur noch murmelten, die Fleischklumpen, die gerade noch atmeten, die Gesichter, die zuckten, die Beine, die krampften, die Arme, die krallten. Die Lippen, die flüsterten.
Erschrocken wich er zurück und setzte seinen Weg fort.
New York City est omnis divisa in partes tres. Eins, zwei, drei, Brooklyn ist nicht dabei. Groß-Manhattan, New Jersey und Staten Island. Staten Island, die Sonneninsel, das Altersparadies. New Jersey, die Industrielandschaft, Uptown Manhattan, das Getto der Arbeitslosen. Der Dschungel des Central Parks.
Der Agitator überblickte die um ihn herum versammelte Menge. „Mayor Cromwell denkt nicht im leistesten daran, auch nur den kleinen Finger für euch zu rühren“, rief er.
Der junge Mann fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Das Bild verschwand. Er war allein auf der Straße. Die Häuser und Gärten um ihn herum lagen dunkel, nur der gelbe Schein der Straßenleuchten erhellte seinen Weg.
Er dachte daran, dass er vor einigen Jahren mit seinem Freund T. vor dem Bild des Flötenspielers stand; aber sie hatten beide etwas Unterschiedliches gesehen. Jahre später stand er allein wieder vor dem Bild, aber nun sah auch er nicht mehr das, was er damals gesehen hatte. Er hatte sich verändert.
Und er dachte an die Szene im Wartesaal des Busbahnhofes in New York. Ein alter Mann, in einem schäbigen schwarzen Anzug, um Würde bemüht. Und die Polizisten, die die Obdachlosen heraus suchten. Der alte Mann wollte nicht zu den Aussortierten gehören, auch wenn er keine Fahrkarte besaß. Er bemühte sich um Würde. Die Uniformierten bemerkten es nicht. Sie kannten ihren Auftrag und führten ihn aus. Der alte Mann besaß keine Fahrkarte. Er hatte kein Recht, dort zu sitzen.
Das Kind, das zum Lazarettschiff kam, mit zwei Geschwistern, hatte seine Eltern schon im heimatlichen Dorf durch den Krieg verloren. Von den zwei kleineren Geschwistern, die es mitbrachte, war eines schon auf dem Marsch gestorben. Das zweite starb auf dem Schiff. Die einzige Sorge des Kindes war es nun nur noch, ein gemeinsames Grab für seine Eltern und seine Geschwister zu finden, um für ihre Seelen sorgen zu können. Das Kind war acht Jahre alt.
Der Arzt sagte:
„Das ist ein normaler Ablauf – nachts geht der Vietcong in ein Dorf und beschießt daraus die Amerikaner. Die kommen daraufhin mit Flugzeugen und werfen Bomben. Am Tag dann holen sie mit Hubschraubern die Verwundeten der Zivilbevölkerung aus dem Dorf.“
Er sagte auch:
„Zwischen den Flammenwerfern des Vietcong und den Napalmbomben der Amerikaner ist für die Betroffenen kein Unterschied.“
Irgendwo heulte eine Sirene über den Dächern der Stadt, andere schlossen sich an, minutenlang erfüllte ihr auf- und abschwellendes Dröhnen die Luft und überlagerte die Straßen. Dann wurde das Heulen schwächer und klang ab.