Читать книгу Ein Sommer vor dem Krieg - null Libert - Страница 5

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2.

An einem klaren, strahlend schönen Sommertag begannen sie ihre Reise vom Yachthafen Wedel an der Peripherie Hamburgs aus. Luises Vater hatte sie persönlich mit dem Auto zum Boot gebracht und sie am Kai verabschiedet.

Die knapp neun Meter lange Lena Winzig, mit der sie in See stachen, war eine Leihgabe des Hamburger Jachtklubs. Man war sofort bereit gewesen, dem Wunsch des Reichsrundfunks nach einem Boot für den Gast aus England nachzukommen. Anthony Hingleys Ruf als Olympiateilnehmer hatte ein übriges dazu getan, mögliche Bedenken zu zerstreuen. Es gab auch keinen Widerspruch von Seiten des Eigners, denn der hatte zur Zeit keine Verwendung für das Boot.

Die Yacht wies unter Deck eine geräumige Kajüte auf mit einer kleinen Pantry auf der einen Seite und einer Arbeitsplatte auf der anderen; mit zwei Kojen und einem Tisch dazwischen, dazu gab es eine Toilette und reichlich Stauraum.

Unbeeindruckt von der Großzügigkeit der Einrichtung hatte Marie Appeldorn bei der Besichtigung einige Tage zuvor einen skeptischen Blick in den Raum geworfen.

„Und wer schläft hier wo?“ war ihre erste Frage.

„Da ist eine Eignerkabine. Für die Damen“, erklärte Anthony in seinem manchmal umständlichem Deutsch. Er zeigte auf den vorderen Teil der Kajüte, wo sich zwischen Einbauschränken eine schmale Tür befand. „Und hier die zwei Liegen. Aber wir werden meistens an Land schlafen. Wir hüpfen von Insel zu Insel“, meinte er fröhlich.

Marie Appeldorn schien erleichtert. Ihre nächste Frage hätte nämlich dem offenbar nicht vorhandenem Bad gegolten. Sie war entschieden für das Übernachten an Land.

„Natürlich nicht, wenn es zum Notfall kommt“, fügte Anthony beiläufig seinen Worten hinzu. Die Fröhlichkeit war aus seiner Miene gewichen.

Marie sah ihn alarmiert an.

„Notfall? Was für ein Notfall!“

Der Engländer hob die Schultern. „Ein Sturm“, murmelte er düster. „Mastbruch. Strandung auf einer Sandbank. Die See ist unberechenbar.“ Er hatte sich abgewandt, sein Gesicht war nicht zu sehen.

Marie war beunruhigt. „Ich denke, du bist ein erfahrener Segler?!“

Anthony zeigte ihr weiterhin den Rücken und antwortete mit einem Achselzucken.

Hilfesuchend blickte Marie zu ihrer Freundin.

Luise stieß ihrem Freund den Ellenbogen in die Seite. „Lass den Unsinn!“ fuhr sie ihn an.

„Aua!“ Anthony richtete sich empört auf und rieb sich die Hüfte. Luise verdrehte die Augen. Sie packte Marie am Arm. „Komm. Er nimmt dich nur auf die Schippe.“

Sie stiegen durch die Luke hinauf aufs Deck.

„Ich werde bestimmt seekrank“, meinte Marie missmutig.

„Wir sind jeden Abend an Land“, beruhigte sie ihre Freundin.

„Und wann kommt der Italiener dazu?“

„Auf Sylt. So ist es verabredet.“

Ihr erstes Ziel war Helgoland.

„Schaffen wir das heute?“ fragte Marie träge, die sich im Badeanzug von der Sonne verwöhnen ließ.

Luise schüttelte den Kopf. „Das ist zu weit.“

„Wir hätten doch früher aufbrechen können“, wandte Marie ein.

„Wir müssen elbabwärts das ablaufende Wasser nutzen, das können wir aber höchstens fünf, sechs Stunden.“

„Was heißt hier ablaufendes Wasser? Die Elbe ist doch keine Badewanne.“ Marie kicherte.

„Die Ebbe. Deswegen sind wir erst nachmittags los. Es hätte uns nichts gebracht, zu starten, wenn uns die Flut entgegen kommt“, erklärte Luise geduldig.

„Ach so.“ Ebbe und Flut, davon hatte auch Marie schon gehört. „Ist die Flut so stark, dass wir nicht gegenan können?“

Luise nickte. „Wir würden kaum vorankommen. Umgekehrt kann uns der Ebbstrom um bis zu drei Seemeilen pro Stunde beschleunigen.“

„Und warum fahren wir nicht mit dem Motor?“ Marie hatte sehr wohl bemerkt, dass das Boot einen solchen besaß.

„Gegen die Flut würde das nicht viel bringen. Und jetzt brauchen wir ihn nicht. Wir segeln mit dem Ebbstrom“, erklärte Luise. „Aber das ist in sechs Stunden vorbei, dann kommt uns die Flut entgegen. Bis dahin schaffen wir es nicht bis in die offene See. Nicht einmal bis Cuxhaven. Man vergisst oft, dass es von Hamburg bis zur Nordsee gut 100 Kilometer sind. Und auf der Elbe gegen die hereinströmende Flut ansegeln zu wollen, bringt nichts. Da kommen wir nicht voran. Also machen wir zwischendurch eine Pause.“ Sie wandte sich an Anthony, der am Ruder saß und den Schiffsverkehr im Auge behielt: „Wo legen wir den Zwischenstopp ein?“

„Glückstadt“, erwiderte er zerstreut. „Das soll der beste Liegeplatz sein. Bis Cuxhaven kommen wir nicht. Brunsbüttel vielleicht, aber Glückstadt ist interessanter für meinen Reisebericht.“

Sie erreichten das malerisch am Elbstrom gelegene Städtchen am frühen Abend und machten im Außenhafen fest. Nachdem das Boot vertäut war, unternahmen sie einen Rundgang durch den Ort. Luise hatte einen Reiseführer dabei und informierte ihre Begleiter. Luise hatte mehrere Bücher eingepackt. Sie wollte Anthony bei seiner Reportage helfen.

„Glückstadt war früher Residenz der dänischen Könige“, erklärte sie, „und somit Hauptstadt von Dänemark.“ Marie sah sie verblüfft an. „Doch, doch“, bestätigte Luise. „Das habe ich schon in der Schule gelernt. Bis an die Hamburger Stadtgrenze war das Land dänisch. Das kam, weil der König von Dänemark gleichzeitig der Herzog in Schleswig und in Holstein war. Glückstadt sollte Hamburg Konkurrenz machen. ‚Geht es glücklich fort, so wird Glückstadt eine Stadt und Hamburg ein Dorf’, soll der Dänenkönig gesagt haben – Daraus ist ja nun nichts geworden“, fügte sie fröhlich hinzu.

Nach einem Abendessen in einem Gasthof am Hafen kehrten sie zum Boot zurück.

„Es ist keine Notwendigkeit, in ein Hotel zu gehen“, hatte Anthony erklärt. „Wir starten noch vor der Morgendämmerung mit Einsetzen der Ebbe. Dann können wir abends Helgoland erreichen.“

„Und was machen wir, bis es weiter geht?“ wollte Marie wissen.

„Wir können uns einige Stunden hinlegen“, schlug Anthony vor. „Morgen wird es ein langer Tag.“

Von den Frauen hatte keine Lust, sich in die enge abgeschlossene Eignerkabine im vorderen Teil des Bootes zurück zu ziehen. Statt dessen nahmen sie die beiden Liegen im ‚Salon’ in Beschlag. Anthony erklärte, an Deck bleiben zu wollen. Er war nicht müde. Es war eine warme Sommernacht. Er wollte in Ruhe eine Pfeife rauchen und über den Kurs der nächsten Tage nachdenken.

Die Navigation war seine Aufgabe, wie auch das Setzen oder Bergen der Segel. Luise übernahm dann das Ruder. Anthony hatte einen Stapel Seekarten, Handbücher und Gezeitenkalender mit an Bord gebracht. Das Wattenmeer vor der nordfriesischen Küste, das nach einem Besuch auf Helgoland ihr Ziel war, stellte auch für ihn wegen der zahlreichen Untiefen, der wechselnden Strömungen und des Einflusses der Gezeiten eine Herausforderung dar.

Als Marie in der Nacht aufwachte, lauschte sie, noch halb im Schlaf einem entschwindenden Traum nachsinnend, dem Geräusch des Wassers, das mit gleichmäßigen Schlägen gegen den Kai schwappte, und das vom Mauerwerk zurück geworfen am Bootsrumpf entlang leise glucksend ablief. Dann hörte sie leise Stimmen an Deck. Im schwachen Licht, das durch den Niedergang in die Kajüte fiel, sah sie, dass die Liege auf der Backbordseite leer war.

Sie setzte sich auf, tastete sich vor zur Luke und steckte den Kopf hinaus. Anthony und Luise saßen nebeneinander im Heck des Bootes. Marie wollte sich zu ihnen gesellen, doch etwas im Tonfall der beiden flüsternden Stimmen hielt sie zurück. Sie konnte nicht verstehen, was die beiden sprachen, aber offenbar waren sie sich über irgendetwas uneins und stritten sich. Marie seufzte und zog den Kopf zurück. Anthony und Luise hatten sie nicht bemerkt.

Sie kam sich fehl am Platze und überflüssig vor angesichts einer Vertrautheit der beiden Verliebten, die jeden dritten ausschloss – selbst und vielleicht gerade im Streit. Genau das hatte Marie befürchtet, als sie von ihrer Freundin zur Teilnahme an dieser Fahrt aufgefordert worden war. Jetzt zum Beispiel wäre sie gern an Deck gegangen, aber sie wollte die beiden nicht in ihrer Zweisamkeit stören.

Unhörbar vor sich hin fluchend zog sie sich zur Liege zurück und streckte sich aus. Der Schlaf wollte nicht zurückkehren. Nach einer Weile hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand erneut auf und stieg an Deck. Luise und Anthony saßen nun schweigend nebeneinander im Heck. Marie setzte sich neben Luise. Niemand sprach. Diese Nacht lud zum Schweigen ein.

Es war still um sie herum. Das Städtchen lag im Dunkeln. Auf dem Strom war es ruhig. Nur die Stimmen von Vögeln klangen über das Wasser herüber. Auf den anderen Booten im Außenhafen rührte sich nichts. Es war diesig, die Sterne waren wie durch einen feinen Schleier hindurch zu erkennen. Ein rötlich gefärbter Halbmond stand über dem Elbstrom.

Im Morgendämmern, bei einsetzender Ebbe, setzten sie ihren Törn fort. Anthony erklärte, man könne nun mit dem Strom die etwa 28 Seemeilen bis Cuxhaven in knapp fünf Stunden schaffen. Nur dürfte der Dunst, der noch immer über dem Wasser lag, nicht stärker werden, denn die Elbe war ein stark befahrener Fluss, und die großen Pötte würden eine Segelyacht, die ihnen vor den Bug geriet, kaum bemerken. Er war in den folgenden Stunden kaum ansprechbar, und auch Luise war wortkarg. Für Marie gab es nichts zu tun. Sie zog sich mit einem Buch unter Deck zurück.

Als die Sonne höher stieg, löste sich der Dunst zu Anthonys Erleichterung allmählich auf. Er lehnte sich entspannt zurück und zündete sich eine Pfeife an. Es war wenig Verkehr auf dem Strom, und er lud Marie ein, sich ans Ruder zu setzen. Sie zögerte. Er versprach, bei ihr zu bleiben. Sie willigte ein.

Ein sanfter Wind, der von der Seite her einfiel, und der Sog des Ebbstroms trieben sie zügig voran. Als Marie das Ruder in ihrer Hand hielt, hatte sie das Gefühl, als würde sich ihr zum ersten Mal das Besondere des Segelns erschließen. Bis dahin hätte sie genauso gut Gast auf einem mit Motorkraft angetriebenem Boot sein können. So unbeteiligt war sie an allem gewesen. Nun aber spürte sie die Kraft des Windes und den Druck des Wassers mit ihrem ganzen Körper. Sie fand es aufregend. Sie hatte Angst, etwas falsch zu machen, aber Anthony beruhigte sie. Alles wäre gut, meinte er. Trotzdem war sie erleichtert, als er sie nach einiger Zeit ablöste.

Luise, die wortkarg geblieben war, hatte sich unter Deck zurückgezogen, um, wie sie erklärte, in ihren Reiseführern zu stöbern.

Ein großes weißes Passagierschiff kam ihnen entgegen. Sie fuhren dicht daran vorbei. Hoch ragte die Bordwand über ihnen. An der Reling standen Menschen und winkten zu ihnen herunter. Sie winkten zurück.

„Das ist das KdF-Schiff, das von Norwegen zurück kommt“, erklärte Luise sachkundig. Sie war wieder an Deck. Man sah Anthonys Miene an, dass er nichts verstand. „Kraft durch Freude“, erklärte Marie an Luises Stelle. „Vom Reichsarbeitsdienst. Damit kannst du für 55 Mark acht Tage lang die norwegische Küste bereisen.“

„Ist das nicht billig?“ fragte Anthony.

„Das ist billig“, bestätigte Marie, die die Reise schon gemacht hatte. Als Mitarbeiterin der Pressestelle der UFA war sie bevorzugt bei der Zuteilung. Es war peinlich gewesen, weil ihr Chef mitgereist war und sich vergeblich ein Abenteuer erhofft hatte.

Auf der Höhe von Brunsbüttel war die Elbe bereits fast zwei Seemeilen breit.

„Was ist das?“ fragte Marie, die am anderen Elbufer, auf der Brunsbütteler Seite, sich bewegende Schiffsmasten hinter dem Deich zu sehen meinte.

„Du Dösbattel, das ist der Kaiser-Wilhelm-Kanal, musst du doch wissen“, wies Luise sie fröhlich zurecht. „Da kannst du direkt von der Elbe in die Ostsee schippern.“ Sie schien jetzt wieder guter Dinge zu sein.

Marie schwieg beschämt. Geographie war nicht ihre Stärke.

Anthony sah interessiert hinüber.

Sie segelten nun dicht am Südufer der Elbe, vor einem hohen grünen Deich, über den schlanke spitze Kirchtürme ragten. Das andere Elbufer wich immer weiter von ihnen zurück.

Dann erreichten sie Cuxhaven. Es war noch früher Vormittag, als sie im Hafen festmachten. Wie von Anthony vorhergesagt hatten sie für die Strecke von Glückstadt bis hierher nicht einmal fünf Stunden benötigt. Zuletzt hatte der Ebbstrom stark an Kraft verloren. Nicht mehr lange, dann würde die Flut die Wassermassen von der Nordsee zurück in den Strom pressen, das ewige Ein- und Ausatmen des Meeres.

Sie vertraten sich die Beine an Land und gingen mittags in einem Hotel essen. Cuxhaven selbst fanden sie nicht interessant. Sie waren bald wieder an Bord und warteten auf das ablaufende Wasser.

„Vor uns ist doch das Meer“, meinte Marie vorsichtig, die nicht gern ihre Unkenntnis von allem Seemännischen preisgab. „Ich dachte nicht, dass wir dann immer noch den Einfluss von Ebbe und Flut ausgesetzt sind.“

„Das ist richtig“, erklärte Anthony. „Von hier aus sind es an die 36 Seemeilen bis Helgoland. Aber ungefähr die Hälfte davon sind wir noch im Mündungsgebiet der Elbe, und damit von Ebbe und Flut betroffen. Auf offener See müssen wir uns nicht mehr darum kümmern.“

Während sie sich auf der Cuxhavener Seite hielten, entschwand die gegenüberliegende Küste Schleswig-Holsteins allmählich ihren Blicken. Vor ihnen lag die offene See. Marie wurde es schummrig zumute. Das Boot verhielt sich anders. Vorher war es ein ruhiges Gleiten gewesen, ein leichtes Wiegen im Wind. Jetzt hatte sie das Gefühl, erst hochgehoben, dann fallengelassen zu werden, und das in ewiger Wiederholung. Sie befürchtete, seekrank zu werden und versuchte, sich abzulenken. Nicht immer daran zu denken.

Sie beobachtete Anthony. Offenbar bereitete es ihm keine Schwierigkeit, stundenlang zu schweigen, wenn er sich auf einem Segelboot befand. Seine ganze Konzentration galt dann den Elementen Wind und Wasser, die auf das Boot einwirkten. Gleichzeitig wirkte er dabei völlig gelassen und zündete sich eine Pfeife nach der anderen an. So entspannt und in sich ruhend hatte sie ihn noch nie erlebt. Nie war er bei dem, was zu tun war, hektisch, auch nicht, wenn er offenbar Eile für geboten hielt. Das Boot und er wirkten wie eine Einheit, das Boot war Teil seiner Person. Bei Künstlerfreunden in Berlin hatte sie diese Fokussierung auf einen Gegenstand und eine Tätigkeit erlebt. Vielleicht, dachte Marie, musste man diese Fähigkeit der alles andere ausblendenden Konzentration auf eine Sache haben, um ein so erfolgreicher Sportler wie Anthony zu sein. Für Anthony war das Segeln eine Kunst.

Vielleicht, so dachte Marie weiter, war dies die Ursache des nächtlichen Streits gewesen. Vielleicht hatte Luise etwas besprechen wollen, das ihr auf dem Herzen lag, und Anthony hatte sich nicht darauf eingelassen. Wieviel Platz war für Luise, wenn er auf dem Boot war? War dies ein Konflikt? Konnte ihre Freundin das akzeptieren oder versuchte sie es zu ändern? Jetzt jedenfalls ließ sie ihn in Ruhe. War das alles eine neue Erfahrung für sie?

Marie war sich bewusst, dass dies ein Schönwettertörn war – soviel hatte sie begriffen –, der für einen Segler wie Anthony keine Herausforderung darstellte. Für ihn konnte es nicht mehr wie ein Spaziergang vor der Haustür sein. Aber er ließ kein Nachlassen in seiner Konzentration erkennen.

Um sich weiter abzulenken, widmete sie ihre Aufmerksamkeit den Schiffen, denen sie begegneten. Es waren vor allem Frachtdampfer, die ihnen von der offenen See her entgegen kamen und sie im engen Abstand passierten.

Eines dieser Schiffe fiel ihr auf, das linker Hand – ‚backbord’, wie sie gelernt hatte – am Horizont aufgetaucht und allmählich größer geworden war, doch deutlich langsamer als alle anderen. Als sie näher kamen, sah sie den Grund hierfür: Das Schiff kam ihnen nicht entgegen. Es saß fest auf einer Sandbank. An Bord war niemand zu sehen.

„Was ist mit dem passiert?“ fragte sie erstaunt.

„Aufgelaufen“, erwiderte Anthony knapp – warum viele Worte über das Offensichtliche verlieren?

Marie war gereizt. „Das sehe ich. Aber wie kann so etwas passieren? Die anderen laufen doch auch nicht auf.“

Anthony bequemte sich nun zu einer ausführlicheren Antwort.

„Es ist hier nicht immer so gemütlich wie heute. Und das Fahrwasser ist eng. An beiden Seiten drohen Untiefen. Stell dir eine dunkle Nacht vor, Regenschauer, Nebel, ein Sturm. Da geht die Orientierung schnell verloren. Du wirst abgetrieben. Du strandest, vielleicht sogar bei Hochwasser. Du kommst nicht frei, so sehr du auch die Maschinen volle Kraft rückwärts laufen lässt. Dann kommt die Ebbe, und das Schiff sitzt endgültig und unwiederruflich fest. Es wimmelt hier von Wracks, dies ist nur eines. Die Deutsche Bucht ist ein Schiffsfriedhof“, schloss er.

„Oh“, sagte Marie. Mehr fiel ihr nicht ein. Sie war beeindruckt. Und stellte zwischenzeitlich zu ihrer Erleichterung fest, dass sie offenbar von der Seekrankheit verschont wurde.

Die Sonne machte sich daran ins Meer zu versinken, als sie sich endlich ihrem Ziel näherten. Zuerst war es ein dunkler Fleck, der die ferne Horizontlinie unterbrach, im Dunst verschwimmend. Als die Lena Winzig näher heran kam, erhob sich vor ihnen das abgeflachte Felsmassiv aus dem Meer.

„Es ist eigentlich eine englische Insel“, erklärte Anthony beiläufig, während der rote Felsen vor ihnen größer wurde. „Wir haben es euch geschenkt.“

„Du Klugschieter“, meinte Luise. „Von wegen geschenkt. Ihr habt Sansibar dafür bekommen. Ich hab nämlich im Schulunterricht aufgepasst. Und von wegen ‚englisch’: Helgoland war ein Teil Schleswigs und hat lange Zeit den Dänen gehört. Ihr habt ihnen die Insel geklaut.“

Anthony sah sie verwirrt an. „Was meinst du mit ‚denen’?“

Luise und Marie sahen sich an und kicherten. „Die Dänen! Schon mal was von Hamlet gehört, Prinz von Dänemark?“

„Ach, die Dänen“, sagte Anthony. „Aber was hat Hamlet mit Helgoland zu tun?“

Die beiden Frauen brachen in lautes Gelächter aus. Für einen Moment schien Luise die düstere Stimmung vergessen zu haben, mit der sie sich seit der vergangenen Nacht in Glückstadt umgab.

In der Abenddämmerung steuerte Anthony das Boot durch die breite Hafeneinfahrt und machte sich daran, die Segel zu bergen, während Luise die Ruderpinne übernommen hatte.

Auf Helgoland buchten sie Zimmer für die Nacht in einem Hotel auf dem Oberland mit Blick auf die der Insel vorgelagerte große Sanddüne.

„Ein Einzel für den Herrn, ein Doppel für die Damen?“ Der Hotelier hatte sie mit strengem Blick angesehen und alle drei hatten brav genickt.

Nach einem Abendessen im Hotelrestaurant, bei dem sie die einzigen Gäste waren, unternahmen sie einen Spaziergang auf einem Weg, der sie an den Klippen entlang rund um das Oberland der Insel führte. Luise ging schnell voran. Marie und Anthony folgten ihr mit einigen Metern Abstand.

Kurz vor der Nordspitze der Insel mit der freistehenden Felsspitze – dem Wahrzeichen Helgolands, von den Insulanern Lange Anna genannt – wartete Luise an einem Felsvorsprung auf die beiden. Fünfzig Meter unter ihnen schlug die Brandung gegen die Felsen. Heisere Schreie klangen herauf.

„Was ist das?“ fragte Marie. Ihr war unheimlich zumute.

Noch ehe sie eine Antwort erhielt, löste sich eine dunkle kugelförmige Gestalt aus dem Felsen knapp unter ihnen und stürzte wie ein Stein hinunter. Der Aufschlag aufs Wasser klang bis zu ihnen herauf.

„Was ...?“ wiederholte Marie.

Luise lachte.

„Trottellummen“, erklärte sie vergnügt. „Sie nisten hier. Der Felsen hier heißt ‚Lummenfelsen’. Die Eltern rufen vom Wasser nach ihren Jungen. Die können noch nicht fliegen. Aber sehr gut schwimmen. Wenn sie so weit sind, lassen sie sich hinunter fallen. Es passiert ihnen nichts.“

„Trottellummen“, murmelte Marie. „Was für ein Name! Wieso weißt du das alles?“

„Ich war als Kind schon mal auf Helgoland. Ich erinnere mich an vieles.“

„Davon hast du mir nicht erzählt“, meinte Anthony, der bis dahin geschwiegen hatte. Er wirkte irritiert.

Luise zuckte mit den Achseln.

Sie gingen noch vor bis zur Langen Anna, dann kehrten sie zum Hotel zurück.

Für kurze Zeit saßen sie noch im Aufenthaltsraum des Hotels zusammen. Es wurde wenig gesprochen. Alle waren müde; es war ein langer Tag gewesen. Anthony und Luise gingen als erste die Treppe hinauf. Marie wartete noch eine Zigarettenlänge, ehe sie ihnen folgte.

Es war still auf dem Flur im zweiten Stockwerk, auf dem ihre Zimmer lagen. Andere Gäste hatten sie bis dahin nicht bemerkt. Nur einmal war im Stockwerk unter ihnen eine Tür zugeschlagen worden.

Marie rechnete damit, das Doppelzimmer leer vorzufinden. Sie ging davon aus, dass – hätten Anthony und Luise es für sich nehmen wollen – sie es ihr gesagt hätten. Die Tür war nicht abgeschlossen. Als sie sie zögernd öffnete, fand sie zu ihrer Verblüffung Luise vor, die auf dem Bett saß und zum Fenster hinaus schaute.

„Das hätte ich nicht erwartet“, meinte Marie.

„Was?“ Luise sah sie nicht an.

„Dass du hier bist, Lieschen! Wieso bist du nicht bei deinem Liebsten?“

„Tony kann warten.“ Luises Stimme klang leise.

„Und? Wartet er auf dich?“

„Weiß ich nicht.“

„Lieschen, was ist los? Zweifelst du wieder? Ist etwas mit Tony?“

„Nein. Mit Tony ist gar nichts. Ich zweifle nicht an ihm.“

„Aber irgend etwas ist doch mit dir.“

Luise stieß den Atem aus. „Ich mache mir Sorgen um die Zukunft“, brach es aus ihr heraus.

„Warum?“

„Weil mein Vater sich Sorgen macht.“

Marie schwieg. Hinrich Basmann hatte sich in den letzten Tagen rar gemacht und war, wenn er denn in ihrer Gesellschaft erschien, ungewöhnlich wortkarg gewesen. Bei ihren früheren Besuchen in Hamburg hatte er oft seine Scherze mit der Freundin seiner Tochter getrieben und offensichtlich seinen Spaß daran gehabt. Davon war in den Tagen unmittelbar vor ihrer Abreise nichts zu spüren gewesen.

Sie setzte sich neben ihre Freundin und legte den Arm um sie. „Ist etwas geschehen?“ fragte sie.

„Ein guter Freund von Vater ist verhaftet worden, angeblich wegen Devisenvergehens. Er ist auch Reeder, eine alte Hamburger Firma. Er beschäftigt mehr als tausend Leute. Sie haben schon lange versucht, ihm die Reederei wegzunehmen. Jetzt haben sie einen Vorwand gefunden.“

„Er ist Jude?“ fragte Marie nach.

„Ja. Aber das sagt doch gar nichts. Der Mann war im Weltkrieg für Deutschland im Felde. Und nach dem Krieg hat er auf eigene Kosten Suppenküchen für die Leute eingerichtet, die in dem Hungerwinter nichts zu essen hatten. Vater hat oft davon erzählt. Viele unserer Geschäftsfreunde sind Juden und sie sind mindestens so gute Hamburger wie die deutschen Kaufleute.“

„Das ist schlimm“, meinte Marie zögernd, „aber warum macht es dir Angst? Du hast dich nie viel für Politik interessiert.“

Dass ihre Freundin, die wohlbehütete Hamburger Reedertochter, sich derart betroffen zeigte, war aller Ehren wert, aber doch auch verwunderlich, denn bisher war Luise politischen Diskussionen in der Regel ausgewichen. Als vor kurzem erst in Hamburg Marie von Berliner Bekannten berichtet hatte, die ihren Modeladen zwangsweise und gegen eine absurd geringe Entschädigung an ein Mitglied der arischen Rasse übergeben mussten, hatte Luise das Gespräch kurz und bündig mit der Bemerkung beendet, ein Hamburger Kaufmann tue so etwas nicht.

„Stimmt“, erwiderte Luise. „Weil man sowieso nichts machen kann. Aber das jetzt ist nicht richtig.“

Marie hätte gern nachgefragt, warum das eine, das sie erzählt hatte, nicht diskussionswürdig war und das andere aber schon, doch ihre Freundin hatte bereits weiter gesprochen:

„Vater hat angeboten, die Reederei stellvertretend zu leiten, bis Bernstein wieder raus kommt. Daraufhin haben sie gedroht, ihn öffentlich an den Pranger zu stellen, und haben statt dessen zwei Parteimitglieder rein gesetzt, die von dem Geschäft keine Ahnung haben, sagt Vater.“

Marie sann nach. Sie konnte die Empörung ihrer Freundin nachempfinden. Viele ihrer Freunde aus Berlin hatten in den letzten Jahren das Land verlassen – freiwillig und auch weniger freiwillig. Man stand dem hilflos gegenüber, auch wenn man es nicht für richtig hielt. Einige versuchten unter der Hand zu helfen, die meisten schauten nicht hin, und nicht wenige profitierten davon: freuten sich über frei gewordene Wohnungen, billig zu erstehendes Mobiliar und Geschäfte, die übernommen werden konnten. Insbesondere, wenn man in der Partei war. Das alles erlebte sie in Berlin tagtäglich. Aber so ehrlich Luises plötzliche Empörung auch wirkte: Marie vermutete, dass mehr dahinter steckte.

„Du sagst, dein Vater macht sich Sorgen?“

„Er sagt, es schadet uns im Ausland.“

Marie nickte. Das also war es. Ihre Freundin stand kurz davor, sich mit einem Ausländer zu verloben. Es betraf sie.

„Ich habe nicht den Eindruck, dass das Ausland sich großartig um das schert, was in Deutschland geschieht“, wandte sie ein. Sie konnte den Unterton von Bitterkeit nicht ganz verbergen, doch Luise achtete nicht darauf.

„Das stimmt. Aber hier liegt der Fall anders. Das Reedereigeschäft lebt von internationalen Kontakten. Und natürlich sind viele unserer Geschäftspartner in Übersee Juden. Mit der Reederei Bernsteins unter der neuen Leitung will im Ausland niemandGeschäfte machen. Eine deutsche Reederei kann es sich nicht leisten, gegen die Juden zu sein, sagt Vater.“

„Aber das seid ihr doch auch nicht.“

„Wir nicht. Aber irgendwann wird da kein Unterschied mehr gemacht werden. Und wenn es zum Krieg kommt, ist sowieso alles aus.“

„Jetzt fängst du schon wieder damit an. Es wird keinen Krieg geben.“

Marie sagte es mit mehr Überzeugung in der Stimme als sie selber in ihrem Inneren spürte.

„Daran musst du fest glauben“, fügte sie hinzu. „Wie willst du dir sonst ein gemeinsames Leben mit Tony aufbauen?“

„Du hast sicher recht“, erwiderte Luise leise. „Ich will es ja glauben.“

„Hast du mit Tony darüber gesprochen?“

„Ja.“

„Habt ihr euch gestritten?“

„Nein. – Naja, ein wenig. Ich finde, er macht sich zu wenig Gedanken. Ich wollte einen Moment allein sein. Er nimmt alles so leicht.“

Marie seufzte. „Tony ist privilegiert. Dafür kann er nichts, aber es ist so. Er kann es sich leisten, in den Tag hinein zu leben.“

„Aber nicht, wenn er eine Familie gründen will“, erwiderte Luise heftig.

Sie blieben noch einen Tag auf der Insel, den sie für ein ausgiebiges Besichtigungsprogramm nutzten. Ein Ausflug mit einem Inselboot führte sie zu der Badeinsel, die der Hauptinsel vorgelagert war, und zu den Seehundbänken. Am Nachmittag ging Luise zu Anthony aufs Zimmer. Beide kamen erst zum Abendessen wieder herunter.

Marie begann sich zu langweilen. „Was ist eigentlich mit dem Italiener, den ihr mir versprochen habt?“ fragte sie vorwurfsvoll.

„Licio will auf Sylt zu uns stoßen“, erklärte ein sichtlich zufriedener Anthony. Auch von Luises Missstimmung war nichts mehr zu spüren.

Am nächsten Tag brachen sie bei bestem Segelwetter in Richtung nordfriesisches Wattenmeer auf. Ein frischer Westwind blähte ihr Segel und trug sie zügig voran. Anthony, der das Ruder nicht aus der Hand gab, hatte neben sich ein Fernglas liegen, mit dem er immer wieder aufmerksam die See vor ihnen absuchte.

Irgendwann machte es Marie unruhig, und sie fragte ihn, wonach er Ausschau hielte.

Er erläuterte es ihr: „Vor der nordfriesischen Küste ist es schwieriger zu navigieren als vor der ostfriesischen. Dort hat man, wenn man sich auf der Seeseite parallel zu den Inseln hält, immer genügend Wasser unter dem Kiel und kann sich dabei an den Leuchttürmen auf den Inseln orientieren. Die Inseln liegen hintereinander wie an einer Schnur. Vor Nordfriesland dagegen reichen Sände und Watten mit ihren Ausläufern bis zu 20 Seemeilen nach Westen, also ins offene Fahrwasser. Wenn wir uns hier im sicheren tiefen Wasser halten, haben wir keine Sicht auf die Landmarken. Hier sind die Fahrwasser durch Tonnen markiert, die uns zum Land und zu den Inseln hin durch die Untiefen führen.“

„Ich sehe keine Tonnen.“

Er lächelte. „Eben. Deshalb das Glas.“ Er wies auf den Feldstecher neben sich.

Nach einiger Zeit erklärte er, dass sie nun das Fahrwasser der Norderhever erreicht hätten. Sie würden nun von der Flut zu ihrem Ziel getragen. Er war sichtlich mit sich zufrieden.

„Die Norderhever – ist das ein Fluss?“ wollte Marie wissen.

„Wir sind im Wattenmeer, da gibt es keine Flüsse“, stellte Anthony klar. „Es ist ein Priel.“

„Ich weiß, was ein Priel ist.“ Marie war wieder einmal gereizt. Sie mochte es nicht, von Anthony von oben herab behandelt zu werden. „Was ich nicht wusste ist, dass die Priele Namen haben.“ Sie sagte es mit einiger Schärfe. Vielleicht war sie doch nicht der richtige Typ, um stunden- und tagelang mit zwei Jungverliebten auf einem Boot ohne eine Fluchtmöglichkeit zu verbringen.

„Die großen schon“, griff Luise beschwichtigend ein. „Ausserdem liegst du nicht so falsch. Bis zur ‚grooten Manndränke’ von 1362 war alles um uns herum Festland. Und die Norderhever war ein Fluss.“

„Aha.“ Die Antwort stellte Luise zufrieden. „Und was machen die Bäume im Wasser?“ Sie wies auf eine gerade Reihe vor ihnen aus dem Wasser ragenden dünnen Bäumchen.

„Das sind keine Bäume“, erwiderte Anthony. „Das sind ... ähem ...“ Er unterbrach seinen Redefluss, wobei es unklar war, ob er nicht weiter wusste oder ob er Maries Reaktion fürchtete. Hilfesuchend sah er zu Luise.

„Das sind Pricken. Damit wird die Fahrrinne markiert.“ Luises Miene verdüsterte sich. „Wir sind hier in gefährlichen Gewässern“, flüsterte sie.

„Warum flüstert du?“ Misstrauisch musterte Marie ihre Freundin.

„Irgendwo hier liegt es“, flüsterte Luise weiter und sah sich ängstlich um. „Doch keiner hat es je gefunden.“

Fragend sah Anthony von Luise zu Marie und wieder zurück. Er hatte den Eindruck, irgendetwas verpasst zu haben. Marie konnte ihm nicht helfen. Ihr ging es ebenso.

„Doch manchmal, so wird es erzählt, hört man sie“, führte Luise weiter mit gedämpfter Stimme aus. Wieder suchten ihre Augen die Wasseroberfläche ab.

„Was?“ klang es ihr doppelt entgegen.

Luise legte die Finger an die Lippen. Sie schien zu lauschen. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Die Glocken von Rungholt“, erklärte sie mit dramatisch erhobener Stimme. Sie blickte den anderen beiden bedeutungsschwer in die Augen. „Einmal im Jahr läuten sie, und ihr Klang steigt aus der Tiefe des Meeres auf. Viele Seefahrer wollen sie in den vergangenen Jahrhunderten gehört haben. Manche von ihnen“, schloss sie düster, „sind nicht zurückgekehrt.“

„Rungholt!“ Marie lehnte sich entspannt zurück. Sie bekam die Geschichte nicht mehr auf die Reihe, aber den Namen kannte sie aus der Schulzeit.

„Wovon sprichst du?“ wollte Anthony wissen.

„Rungholt war eine bedeutende Hafenstadt an der Küste, bis ...“. Sie hielt inne und begann dann zu deklamieren:

„Heute bin ich über Rungholt gefahren,

die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Noch schlugen die Wellen da wild und empört,

wie damals, als sie die Marschen zerstört ...“

Marie unterbrach sie. Laut rief sie aus:

„Trutz, Blanke Hans!“

Da war die Erinnerung aus der gemeinsamen Schulzeit mit Luise. Sie hatten Balladen auswendig lernen müssen, so wie auch diese. Luise war darin groß gewesen – damals träumte sie davon, Schauspielerin zu werden. Marie hatte das Auswendiglernen weniger gelegen, aber an den Refrain konnte sie sich noch erinnern. Und dass der Größenwahn der Rungholter von der See, dem schlummernden Ungeheuer, bestraft wurde.

Luise hatte sich nicht lange unterbrechen lassen. Sie stand in der Plicht und deklamierte mit dramatischer Geste:

„Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,

der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.

Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,

belächelt der protzigen Rungholter Wahn ...“

Marie stellte sich neben sie, die Faust gegen die still ruhende See geballt rief sie laut:

„Trutz, Blanke Hans!“

Mehr hatte sie nicht behalten. Doch Luise schon:

„Und überall Frieden, im Meer, in den Landen.

Plötzlich wie Ruf eines Raubtieres in Banden:

Das Scheusal wälzte sich, atmete tief,

und schloss die Augen wieder und schlief.

Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen

Kommen wie rasende Rosse geflogen.“

„Trutz, Blanke Hans!“

„Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,

und Hunderttausende sind ertrunken.

Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,

schwamm andern Tags der stumme Fisch.

Heut bin ich über Rungholt gefahren,

die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.“

„Trutz, Blanke Hans!“

Lachend fiel Marie ihrer Freundin um den Hals.

Der Engländer sah kopfschüttelnd zu den beiden Frauen. Manchmal verstand er die Gemütsregungen der Deutschen nicht. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und fragte:

„Was ist: Blanker Hans?“

„Das ist die Nordsee, wenn sie stürmt!“ beschied ihm Luise. „Und Rungholt hat es wirklich gegeben. In der Zeitung stand, dass neulich hier irgendwo im Watt die Reste alter Brunnen freigespült worden sind. Das kannst du alles in deiner Reportage bringen.“

Der Flutstrom in der Norderhever trieb sie zügig voran, und bald hatten sie den Hafenpriel der Insel Pellworm erreicht, der sie zur Anlegestelle führte. Direkt am Hafen erhob sich ein düsteres Gebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende, das Hotel Börse. Nachdem sie Zimmer für die Nacht gebucht und etwas Warmes gegessen hatten, machten sie sich an die Erkundigung der flachen, rundum von Deichen geschützten Insel. Neben der Alten Kirche, einem kleinen Gotteshaus, stand eine braunrote Turmruine aus verwittertem Gestein, die als das Wahrzeichen von Pellworm galt. Luise hatte wieder ihren Reiseführer mitgenommen und las ihnen vor:

„Dieser Turm soll früher 60 Meter hoch gewesen sein. Aber schon im Jahr 1611 stürzte der Ostteil des Turmes in sich zusammen. Seitdem sind nur die Reste erhalten. Die Kirche ist die älteste in Nordfriesland.“

Sie besuchten den neben dem Gotteshaus gelegenen Friedhof der Namenlosen, auf dem die unbekannten Schiffbrüchigen, die nach Sturmnächten tot auf den Stränden gefunden wurden, ein christliches Begräbnis fanden.

Am folgenden Tag erreichten sie den Hafen Hörnum an der Südspitze Sylts. Sie waren von Pellworm aus über die Norderhever zurück zur offenen See gesegelt, dieses Mal vom Ebbstrom in dem Priel hin zum Meer getragen. Von der Hevermündung segelten sie nordwestwärts im tiefen Wasser des Schmaltiefs bis zur Südspitze von Amrum, dann seeseitig an der Insel mit dem markanten Leuchtturm entlang, bis sie drei Inseln im Blickfeld hatten: zurückbleibend die weißen Strände von Amrum, dahinter im Hintergrund die grüne Insel Föhr, und vor sich die Südspitze Sylts.

Marie hatte darauf gedrängt, Sylt ohne Zwischenaufenthalt auf Föhr oder Amrum anzusteuern. Sie war es leid, die Zeit auf dem Schiff allein mit den beiden Jungverliebten zu verbringen.

„Ihr habt mir einen Italiener versprochen.“

Auf Sylt sollte Licio de Cesare zu ihnen stoßen.

Ein Sommer vor dem Krieg

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