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1. Der Spaziergang

Nach Wochen des Trübsinns und der Finsternis erstrahlte erstmals wieder der blaue Himmel und wehte einen leichten Frühlingshauch herbei, der zu einem Spaziergang geradezu heraustrieb. Folglich nahm ich Stock und Hut und schlenderte frohgemut durch meinen heimatlichen Kiez. Dieser nimmt sich im schrägen Morgenlicht immer ganz bezaubernd aus. Alles erscheint dann in bizarrem Glanz, als läge ein goldener Schleier über der Stadt, der sich in vielfachem Glitzern bricht.

Jedenfalls kommt es mir so vor, vornehmlich dann, wenn ich guter Laune bin. Leider ist das angesichts der ständigen Querelen mit Nursel, meiner Haushälterin, eher die Ausnahme. Ständig muss ich sie ermahnen, den Kaffee nicht zu heiß zu brühen oder meinen Schreibtisch nicht zu verändern. Dabei bin ich, Roland Vinselberg, ein Mann in den besten Jahren und als promovierter Justitiar einer renommierten Versicherung in gesicherter Position, durchaus nicht kleinlich. Im Gegenteil, soweit ich kann, toleriere ich ihre Nachlässigkeiten und spreche selbst einen Tadel nicht im Ton eines Unwillens aus. Vielmehr versuche ich ihr durch einfache logische Schlüsse meine Kritik plausibel zu machen; leider nicht immer mit dem gewünschten Erfolg.

An diesem Tag aber war alles anders, fühlte ich eine unglaubliche Frische, wie wenn man nach Wochen der Dunkelheit erstmals wieder ins Freie tritt. Alles erschien mir so beschwingt und heiter, als wollte mich die ganze Welt umarmen. Vergessen alle Trübsal, die bleiern auf meinem Herzen lastete.

So spazierte ich vergnügt ein Liedchen pfeifend die Allee entlang, hin zur nahen Einkaufsmeile, wo das morgendliche Treiben allmählich einsetzte. Es roch nach Döner mit Knoblauch, Falafel und Dürüm. Irgendwo fiedelten Tanbur und Kemane, und vor den Geschäften drängten sich bereits die ersten Kopftücher. Die Gemüsehändler hinter ihren eiligst errichteten Ständen begannen lautstark ihre Ware anzupreisen, wobei ein ’Merhaba’ für jedermann, der hier kauft, schon obligatorisch ist. Niemand käme auf die Idee, sich daran zu stoßen, ausgenommen diejenigen vielleicht, die hier nicht kaufen und ein ‘Merhaba‘ nicht verstehen.

Wie immer quält sich der morgendliche Verkehr mit dumpfem Grollen durch die Straßen, und auf den Bordsteigen wird es bald so eng, dass man herunter treten muss, will man nicht von einem Eselkarren überrollt werden.

Ach, ich liebe dieses Gewimmel, auch wenn es mir in vielem fremd bleibt. Als Exot unter Exoten ist es stets faszinierend, hier einzutauchen und sich treiben zu lassen in diesem quirligen Basar, dabei so tuend, als wäre man mit jedem irgendwie bekannt. Viele können das, besonders die hier lebenden Südländer, welche die Majorität der Bevölkerung stellen und das Stadtbild wesentlich prägen. Sie haben ein Talent für lose Sprüche und tolerieren selbst das affektiere Benehmen mancher Touristen mit bewundernswertem Charme, indem sie ihnen ein: „Hallo, wie geht’s!“ nachrufen und oft Verwunderung und ein verschämtes Lächeln ernten. Mir ist so etwas suspekt. Ich kann nicht per Knopfdruck lächeln und höflich sein, nur weil mir jemand etwas nachruft, auch wenn ich das manchmal bedauere.

Nehmen wir nur die attraktive Blondine an der Haltestelle. Sie ist fremd hier, das sieht man sofort. Mit dem Plan in der Hand schaut sie hilflos drein, ist aber zu stolz, jemanden zu fragen. Zweifellos ist sie nur deshalb so verunsichert, weil sie die Fremde ängstigt und niemand da ist, der sie darüber aufklärt. ‚Nein, wertes Fräulein, hier ist nicht Istanbul, hier ist Neukölln‘, könnte man zum Beispiel beginnen, natürlich kultiviert und mit dem nötigen Respekt.

Sicher würden ihre Ängste dann schnell verfliegen und damit alle Vorurteile. Zu gern wäre ich ihr zu Diensten, doch wie ohne falsche Interpretation?

Immerhin bin ich weder Tourist, noch südländischer Gemüsehändler, sondern ein Mann in den besten Jahren und kann nicht einfach eine wildfremde Frau zur Ungezwungenheit auffordern, auch wenn sie dreimal blond ist und sich hier nicht auskennt. Dabei wäre ich um ein paar Nettigkeiten durchaus nicht verlegen, könnte mit meinen Kenntnissen brillieren, ganz zu schweigen von meinen guten Umgangsformen. Vielleicht kämen wir sogar ins Gespräch?

Doch ich zögere, obgleich an meinen Absichten nichts auszusetzen wäre. Oder ist es etwa nicht legitim, sich in solcher Lage vor einem Schaufenster zu postieren, dabei so tuend, als studiere man die Auslagen, nur um ihr Gelegenheit zu geben, selbige zu nutzen?

Keinesfalls, denn es ist die einzige Möglichkeit zur Herstellung eines wohlanständigen Kontaktes, wie es zur Klärung ihres Anliegens nötig wäre. Der Rest läge an ihr; immerhin ist sie es doch, die etwas will. Aber sie zögert. Womöglich verkennt sie mein aufmunterndes Nicken. Fehlte nur noch ein Tippen an die Stirn. Schon möchte ich es beenden, denn ich kann nicht zulassen, dass es so weit kommt und das nur, weil ich kein Gemüsehändler bin, auch wenn ich mich vielleicht so gebe.

Doch genau hier liegt der Punkt. Weshalb muss man erst darauf hinweisen, was man nicht ist, als vielmehr, was man ist? Irgendwie erscheint es widersinnig, durch bewusstes Abwenden eines Eindrucks, denselben erst zu erzeugen. Damit nicht genug; prompt kommt so ein Kerl aus dem Laden geprescht, drängt sich zwischen uns und bietet ihr direkt vor meiner Nase seine Hilfe an. Natürlich legt er gleich mit allerlei Sprüchen los, deren Fadenscheinigkeit zu Himmel stinkt.

“Kann isch helfen, scheene Frau, werden Sie belästigt? Soll isch rufen Polizei?“

‚Prolet’, denke ich und will ihn zurechtweisen, komme aber nicht zum Zug, da er in einem fort palavert und einen Bückling nach dem anderen macht. Selbst mein höfliches Ersuchen, nicht im Weg zu stehen, erscheint sinnlos. Hat der denn keine Manieren?Aber warum bemerktsie das nicht, vor allem, dass er die ganze Zeit seine speckigen Hände an der Schürze abstreicht? Im Gegensatz zu mir wirkt er grobschlächtig und vierschrötig, nicht sonderlich intelligent, dafür aber penetrant und frech, kurzum, ein Gemüsehändler par excellence.

Doch es kommt noch ärger. Anstatt mir den Rücken zu stärken, wie es richtig und vernünftig gewesen wäre, palavert sie plötzlich mit, nach dem Motto: „Hey Alda, musst nicht Messer, isch schon fertig.“ Mir bleibt die Spucke weg. Plötzlich komme ich mir so schrecklich dumm vor, weil ich das einfach nicht verstehen kann.

Glücklicherweise muss ich das nicht, nicht an einem solchen Tag. Also lache ich über diesen ganzen Unsinn und flaniere, vergnügt ein Liedchen pfeifend, die Promenade entlang, durchquere den Park und verliere mich in Nebenstraßen. Dabei war ich so in Gedanken, dass ich mich bald etwas weiter aus meinem Kiez entfernte. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich zu meiner Verwunderung in einer völlig fremden Gegend wieder, ohne sagen zu können, wie ich dorthin gekommen war, geschweige, was ich hier wollte.

Ich fühlte mich sogleich sehr unwohl und das nicht nur wegen der vielen Hundehaufen und der Graffiti an den Wänden. Vielmehr irritierte mich eine bestimmte Person auf der anderen Straßenseite, die vor einer zweifelhaften Lokalität auf- und ab stöckelte. Wie die meisten ihrer Zunft hatte sie unendlich lange Beine, war äußerst figurbetont gekleidet und rauchte eine Zigarette mit Spitze.

Oh, wie durchschauerte mich ihre Amoralität samt dem billigen Gehabe. Dabei war die Betonung ihrer Weiblichkeit nichts als kalte Professionalität. Dieser laszive Augenaufschlag, dieses Wackeln mit dem Hintern, alles nur Show. Daran vermochte auch ihr zuckersüßes Lächeln nichts zu ändern. Sie blieb, was sie war und zeigte es auch ganz offen. Glaubte sie wirklich, ich fiele darauf herein?

Mein Herz begann zu rasen und meine Schritte bohrten sich in den Asphalt, vor allem, nachdem sie mir auch noch nachpfiff. Das erschütterte mich bis ins Mark.

Ein Gemüsehändler hätte das zweifellos besser gemeistert. Ich aber bin nun mal keiner. Offenbar bemerkte sie das und benahm sich deshalb so. Meine Schwächen zu unterdrücken gehörte noch nie zu meinen Stärken. Wie es mir allerdings gelang, mich dennoch so weit zu zügeln, dass ich im entscheidenden Moment ihr dreistes: „Na Süßer“, mit einem saloppen: „Oh non, merci Madame“; parierte, weiß ich nicht. Jedenfalls fühlte ich mich danach sauwohl und das nicht nur wegen ihres dummen Gesichts.

Ich war nur wenige Schritte gegangen und hatte diesen Schreck noch nicht verdaut, als mir ausgerechnet jetzt jemand entgegenkam, den ich nur zu gut kannte. Ein Irrtum schien ausgeschlossen. Ein Mensch von solcher Gestalt und Gang war ein Unikat, in diesem Fall in Form eines ehemaligen Schulkollegen mit Spitznamen Bratapfel. Sein richtiger Name war mir entfallen.

Behäbig schritt er mit hängenden Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Händen dahin, dazu sein feistes Gesicht mit den stets geröteten Wangen, was ihm seinerzeit diesen Beinamen einbrachte. Ich erinnerte mich nur ungern an ihn, denn wir hatten seinerzeit kein gutes Verhältnis. War er doch ein Mensch ohne Manieren und gehörte zu jenen Schwätzern, die sich gern in den Vordergrund schoben und aus dieser Position heraus stets in einem nachlässigen und anmaßenden Ton redeten. Hin und wieder kam ihm zwar mal eine Idee, ansonsten aber beschränkte sich sein Wesen auf dumme Witzeleien und kurzsichtiges Verurteilen anderer. Gern deckte er fremde Fehler auf und hängte sie an die große Glocke, die eigenen hingegen sah er nie.

Wir mochten uns nicht. Folglich ließen wir keine Gelegenheit aus, das einander zu bezeigen, wenn auch mit dem Unterschied, dass ich es schweigend tat, er hingegen laut. Ich hatte ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen und war überrascht, ihn hier zu treffen.

Normalerweise war er mir schnuppe, und ich hätte ihn bestimmt nicht weiter beachtet, wäre nicht die Situation so dumm und ein Ausweichen noch dümmer gewesen. Gewiss hätte ich umdrehen und schnell weglaufen können. Aber warum? Machte ich mich etwa eines Vergehens schuldig, nur weil ich zu dieser Zeit an diesem Ort war? Ebenso stand zu befürchten, dass auch er mich längst bemerkt hatte und womöglich von den gleichen Ängsten geplagt wurde? Demnach war meine Situation nicht weniger prekär als seine, nur mit dem Unterschied, dass ich rein zufällig hier war, für ihn hingegen nicht bürgen würde. Also hielt ich auf ihn zu, bereit, ihn umzurennen, sollte er nicht weichen.

Ich kannte ihn, um zu wissen, wie ungern er das tat. Das lag in seinem Wesen, wonach sich alles seinem Willen zu fügen hatte. Und doch war er nur in der Gruppe stark, allein scheute er die Konfrontation. Ich hingegen war immer allein und Konfrontationen gewohnt. Das war mein Vorteil. Ich war gespannt auf seine Reaktion. Sicher würde er mich übersehen, weshalb ich den Blick nicht senken müsste. Selbst ein wortloses Aneinander-vorbei-schreiten wäre unter solchen Umständen für ihn weitaus unangenehmer.

Doch was, wenn es anders käme, er stehen bliebe und unerwartet grüßte? Immerhin war er dreist genug, selbst aus einer solchen Situation noch Kapital zu schlagen. Sollte ich dann erwidern und so tun, als wäre alles in bester Ordnung, obwohl nichts in bester Ordnung war? Dann müsste ich ebenso heucheln wie er. Kam nicht in Frage.

Natürlich waren das nur Gedankenspiele, geschuldet meiner unnötigen Erregung. Womöglich käme alles ganz anders. Er könnte sich ebenso verwundert geben und diese Verwunderung allein meinem Hierseinzuschreiben, da er genau wusste, dass ich hier nicht wohnte und demzufolge hier auch nichts verloren hatte. Allerdings stünde dann eine schmutzige Unterstellung dahinter, die wortlos ausgedrückt viel kompromittierender wäre, als jeder direkte Vorwurf. Oh, ich kannte ihn, darauf verstand er sich. Dabei hatte er kein Recht, mich so zu beurteilen. Ebenso könnte auch ich jetzt schmutzig über ihn denken (was ich im Übrigen auch tat), doch besäße ich den Takt, es nicht zu zeigen. Das war der Unterschied.

Jetzt endlich hatte er mich bemerkt, was seine plötzliche Schrittverzögerung verriet. Erwartungsgemäß lag keine Freude in seiner Miene, sondern so etwas wie Schreck und dumme Verwunderung. Unmöglich, jetzt noch an ihm vorbeizugehen. Das Gleiche wird er auch gedacht haben, denn ich meinte plötzlich ein spöttisches Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, als wollte er sagen: ‚Na du Gauner, habe ich dich erwischt?‘

Mittlerweile hatten wir einander erreicht, und er machte noch immer keine Anstalten, die bis zum Zerreißen gespannte Situation durch einen Tagesgruß oder etwas in der Art zu entschärfen. Da es mir nun zu dumm wurde, noch länger so zu tun, als wäre nichts (es war ja auch nichts), ich aber für Klarheit bin, sprach ich ihn unvermittelt an. Was ich dabei genau sagte, weiß ich nicht mehr. Er hob verdutzt die Brauen und tat, als erkenne er mich erst jetzt.

„Oh, Sie?“, entfuhr es ihm müde, und eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht.

„Ja, ich“, erwiderte ich mit leicht zitternder Stimme, nahm mich aber zusammen.

„Schön“, antwortete er emotionslos, obwohl es alle andere als schön war.

Ich setzte sofort nach, indem ich von mir zu erzählen begann und dabei, wie ich mich entsinne, wie ein Wasserfall redete. So berichtete ich ihm ohne Punkt und Komma wie es mir ginge und was ich hier triebe (dabei musste ich nicht mal lügen); dass ich demnächst dies und jedes vorhätte und schon lange niemandem aus den ’alten Zeiten’ mehr begegnet wäre, was ich zwar bedauere, aber nicht ändern könne, da der Strom der Zeit ... ja, der Strom der Zeit ...

Er hörte sich das alles an und quittierte es wiederum nur mit einem: „Schön.“ Das empörte mich, weil ein ’schön’ hier einfach nicht passte, weil es mich degradierte und seinem offenkundigen Desinteresse an einem vernünftigen Dialog entsprang. Ich trat an ihn heran und maß ihn zornig. Er schaute jedoch nur verständnislos, obgleich er ganz genau verstand.

Da platzte mir der Kragen und ich begann Tacheles zu reden. Ich erklärte ihm also, dass ich es unmöglich fände, jemanden zu erkennen und dann zu tun, als kenne man ihn nicht, ihn darüber hinaus noch auszuholen und derweil selbst zu schweigen. Offenbar habe er sich in all den Jahren nicht geändert, und wenn er ein Mann von Ehre wäre, würde er jetzt mit mir reden, wie man mit einem Mann von Ehre redet, nämlich offen und ehrlich und solche Mätzchen unterlassen.

Ob es an seiner Ruhe oder seinem stillen Lächeln lag, weiß sich nicht. Jedenfalls kam ich immer mehr in Fahrt.

„Hören Sie...“ wandte er schließlich ein. Doch ich ließ es nicht zu, indem ich ihn einfach niederschrie: „Nein, jetzt hören Sie!“ und setzte meine Tirade unvermindert fort.

So standen wir eine ganze Weile einander gegenüber, wobei ich gar nicht merkte, dass schon einige Passanten stehen geblieben waren. Plötzlich nahm er meine Hand von seinem Arm (ich musste ihn unwillkürlich umfasst haben), wischte sich eine Speichelflocke von Reverse, die mir im Eifer von der Lippe gespritzt war und meinte in kaum zu überbietender Niedertracht: „Sie sind überspannt, mein Bester, völlig überspannt.“ Dabei lag ein kaum bemerkbares, boshaftes Lächeln auf seinen Lippen; eben weil es kaum bemerkbar war.

Oh, wie hasste ich dieses Lächeln, weil es ihn erhöhte und mich erniedrigte, weil es Ausdruck seines Hochmutes war und worauf ich einfach nichts zu erwidern wusste. Schließlich ließ er mich wie eine Person zweiten Ranges stehen, hingehen ich, am ganzen Leibe zitternd, ihm noch nachschaute, unfähig, diese Infamie zu begreifen. Ich spuckte aus und rief ihm noch etwas nach. Er jedoch reagierte nicht.

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Einsamer Spaziergang

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