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Schritt 1: Suchen Sie nach Störungen, bevor es ein anderer macht

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"Zuerst hatte ich befürchtet, Robin leidet an ADHS. Aber unser Kinderarzt konnte mich beruhigen. Es ist etwas viel Schlimmeres." Nancy P., Bruchköbel

Gemäß der Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Gesundheit ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Selbst wenn man also nicht krank ist, dann ist man für die WHO noch lange nicht gesund. Diesen von der WHO beschriebenen Zustand erreicht man quasi nur, wenn man auf einer geselligen Swinger Party Sex im schön dekorierten Da Vinci Zimmer mit anschließender Diskussion hat. Die Definition der WHO ist nicht nur der Grund dafür, warum sich Ärzte trotz aller finanziellen Einbußen zwei Luxusautos und eine Finca auf La Palma leisten können. Die Definition ist auch ein Freischein dafür, Ihr Kind als nicht gesund zu bezeichnen. Störungen bei Kindern sind eine wunderbare Sache für Eltern. War noch vor ein paar Jahrzehnten ein Kind auffällig und hat nicht so gespurt, wie es sollte, dann hieß es gleich: die Eltern haben es verkorkst, die Eltern haben in der Erziehung versagt. Dank der mittlerweile erfolgten Verlagerung auf den Krankheitsbegriff sind auch Eltern mit den erzieherischen Qualitäten eines Plastikbechers auf der sicheren Seite. Nicht die Erziehung ist katastrophal, sondern die Kinder sind krank. Und während man auf Probleme in der Erziehung mit anstrengenden, langwierigen Verhaltensänderungen reagieren muss und dies schnell in Arbeit ausartet, gibt es bei Krankheiten Pillen oder die Kerze in der Wallfahrtskirche. Sie müssen sich als Eltern nicht fürchten, dass Sie Ihre Kinder zu schnell oder zu leichtfertig als krank bezeichnen. Sie haben eine riesige Lobby aus Ärzten hinter sich, die Ihnen den Rücken stärken und die angebliche Krankheit Ihres Kindes in den Vordergrund stellen.

Das Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS):

ADHS Kinder sind wie italienische Sportwagen. Sie können nur schnell und laut. Auf einer leeren, geraden Strecke ist das eine tolle Sache, aber versuchen Sie einmal, mit so einem rot lackierten Boliden durch die Fußgängerzone zu kommen, ohne dass Ihnen danach ein nasses T-Shirt am Rücken klebt. Ständig heult der Motor auf und weil das Geschoss nicht weiß, wohin mit seiner Kraft, legen die durchdrehenden Reifen alle paar Meter schwarze Kreise auf den Asphalt. An die Verkehrsregeln können Sie sich gar nicht halten, Tempo 30 findet in einem Drehzahlbereich statt, bei dem es noch keine Kraftübertragung gibt und die Tachonadel wie festgeklebt stillsteht. So und nicht anders läuft das bei ADHS Kindern ab. Das AD steht für Aufmerksamkeitsdefizit und es ist Ihnen sicher klar, dass Ihrer Aufmerksamkeit der ein oder andere Blumentopf im Fenster entgeht, wenn Ihr Sportwagen mit 240 Sachen durch den verkehrsberuhigten Bereich schießt (womit dann auch das HS im Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom beschrieben ist). Jeder Autofahrer würde so ein PS Monster einem langweiligen Kleinwagen mit Einparkhilfe vorziehen, aber bei Kindern bezeichnet man das ADHS als unliebsame Störung. Ohne die Hyperaktivität wird aus dem Krankheitsbild ein ADS, Typ Träumer und aus dem italienischen Sportwagen mit aufheulendem Motor ein sanft dahinschwebender Gleitschirmflieger. Nimmt der hyperaktive Flitzer seine Umgebungen wegen der hohen Geschwindigkeit und dem heißlaufenden Motor nicht wahr, so entgeht dem Gleitschirmflieger der Sinn für Details einfach aufgrund der Höhe, in der er sich befindet. In diesen sphärischen Welten ist die Realität des Alltags ganz klein. Hier oben ist man eins mit sich und der einen umgebenden Ruhe. Den Boden der Tatsachen lernt man erst nach einem schmerzhaften Absturz kennen, rafft seinen Schirm dann schnell zusammen und entschwebt wieder in grenzenlose Freiheiten.

Sportwagen oder Gleitschirm - es dürfte wohl nicht allzu schwer sein, Ihr Kind irgendwo zwischen diesen beiden Extremen unterzubringen. Der Vorteil bislang - Sie mussten nur die Buchstaben der Abkürzung in den Mund nehmen, und schon nickte ihr Umfeld verständnisvoll. Sie haben es halt nicht leicht als Eltern mit so einem Kind. Ach, ADHS? Ja das erklärt alles, die armen Eltern. Unglücklicherweise entwickelt sich gerade ein Trend, der es Eltern immer schwerer macht, ihre verpfuschte Erziehung unter dem Deckmantel der ADHS Diagnose zu verstecken. Ein erster Aufschrei ging vor kurzem durch Elternselbsthilfegruppen, nachdem ein Facharzt allen Ernstes behauptet hatte, ADHS sei keine Entschuldigung für schlechtes Benehmen. Auf Partys und anderen gesellschaftlichen Anlässen kommen Sie also mit ADHS nicht mehr so leicht durch, auch weil ADHS in seiner Gewöhnlichkeit mittlerweile das Mallorca unter den Störungsbildern bei Kindern ist. Aber in einem Punkt kann diese Diagnose ein wahrer Segen sein. Für Ihr im Schnellverfahren von einem Landarzt als Zappelphilipp beschriebenes Nervkind bekommen Sie kostenlos Substanzen, für die Sie sonst auf dem Bahnhofsklo eine Menge Geld hinblättern oder unappetitliche Sachen machen müssten. Und mit diesen unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Mittelchen können Sie Ihr Kind problemlos in die Vollanästhesie schicken. „Ich erkenne mein Kind nicht wieder“, schwärmen Eltern nach der ärztlich verordneten Drogenabgabe. Und was können Eltern Schöneres sagen, die elf Jahre lang vergeblich versucht haben, ihr Kind nachträglich im Krankenhaus zu vertauschen.

Das Asperger Syndrom:

Helle Aufregung herrscht auf der Kommandobrücke. Die Offiziere der Sternenflotte verfolgen mit bangem Blick das Geschehen auf dem riesigen Schirm. Der Kapitän und eine Handvoll Besatzungsmitglieder wurden in ihrem kleinen Raumgleiter vom grausamen Herrscher des Planeten entführt. Dem Erkundungstrupp droht die ewige Sklaverei und der erfolgreichen Fernsehserie das vorzeitige Aus. Vom Maschinenraum kommen pausenlos Schadensmeldungen, Befehle werden hektisch gebrüllt. Nur ein Offizier mit spitzen Ohren bleibt ruhig, zieht eine Augenbraue nach oben und kommentiert das Drama mit einem schnöseligen „faszinierend."

Ein paar Sternzeiten später will ein Roboter in Menschengestalt und mit tuntigem Make-up wissen, weshalb seine Kollegen im Raumschiff über Witze lachen. Er setzt sich deshalb einen Chip für menschliche Emotionen ein. Der Zuschauer erkennt, dass der Wandel vom Hochleistungscomputer zum Menschen erfolgreich war, als sich auf dem Gesicht des Androiden ein dämliches Grinsen zeigt.

Diese Science Fiction Figuren haben eine Gemeinsamkeit mit Wolfgang Amadeus Mozart, Albert Einstein und Sir Isaac Newton. Sie alle können als Werbeträger einer Störung aus dem Autismus Spektrum herhalten: dem Asperger Syndrom.

Das Asperger Syndrom ist eine Krankheit, die unter diesem Namen erst 1944 erfunden wurde. Sie erfreut sich vor allem unter gesunden Menschen immer größerer Beliebtheit, weil man den einen oder anderen Spleen elegant als medizinischen Vorfall erklären kann. Menschen mit Asperger sind nämlich eigentlich ganz clevere Kerlchen, aber sie haben etwa so viel Einfühlungsvermögen in ihre Mitmenschen wie ein Urologe beim Harnröhrenabstrich. Das fehlende Softwareprogramm für zwischenmenschliche Beziehungen, eine gewisse Verbohrtheit in wenige Interessen und ein oft ungebremster Redeschwall sind die wichtigsten Zutaten für diesen Störungscocktail.

Auf Partys erkennen Sie den Asperger sofort. Er ist das Abflussloch der guten Laune. Unterhält sich lachend eine Gruppe von Gästen, dann stellt sich der Asperger dazu, ohne jemanden direkt anzuschauen. Kaum hat er angefangen zu reden, verabschieden sich die anderen mit einem "Äh, tja also" und suchen sich neue Gesprächsgruppen. Ein typischer Aspergerauftritt sieht ungefähr so aus: Im Anschluss an eine Wahlparty vergleichen Sie das gerade bekannt gegebene vorläufige Endergebnis der Wahl mit den Wahlergebnissen der ehemaligen DDR. Sofort spult der Asperger seinen monoton gehaltenen Text herunter, wonach es keine ehemalige DDR gibt, weil auch keine aktuelle existiert. Die DDR, so geht der Vortrag weiter, habe von 1949 bis 1990 bestanden. Und es gibt nur die eine. Goethe, der von 1749 bis 1832 lebte, bedürfe schließlich auch nicht der speziellen Bezeichnung als ehemaliger Goethe. Diese wie ein tibetisches Mantra vorgetragene Rede schlägt Sie natürlich in die Flucht und Sie bekommen die Zurechtweisung nicht mehr mit, wonach das vorläufige Endergebnis ein Widerspruch in sich ist.

Allerdings wirken nicht nur Menschen mit Asperger Syndrom auf ihre Umwelt befremdlich wie die eingangs beschriebenen Raumfahrer aus unendlichen Weiten. Auch der Asperger selbst hat oft das Gefühl, dass um ihn herum nur Freaks unterwegs sind. Er ähnelt dabei einem Autofahrer, der sich auf der Autobahn über die vielen Geisterfahrer aufregt. Das Asperger Syndrom wird daher auch als Wrong-Planet-Syndrom bezeichnet, weil der Betroffene glaubt, dass er auf dem falschen Planeten gelandet ist. Dieses Gefühl, auf dem falschen Planeten zu sein, kennt allerdings auch jeder so genannte Normalo, der einmal zur Rush Hour mit der U-Bahn gefahren oder über den Weltkirchentag gelaufen ist. Und eben hier liegt die Chance des Asperger Syndroms für gestresste Eltern. Die Grenzen zwischen einem Asperger und einem Gesunden sind fließend. Kriterien des Asperger Syndroms wie zum Beispiel unbeholfene, linkische Körpersprache, unangemessene Ausdrucksweise und eigenartig starrer Blick hat auch jeder gewöhnlicher Mann schon einmal gezeigt, der eine attraktive Frau ansprechen wollte. Während also Asperger Patienten versuchen, sich vom Stigma der Krankheit freizuschwimmen und ihre Art zu leben einfach als eine andere Form der Normalität bewerten, haben Eltern eines Kindes, das bei der Mannschaftsaufteilung auf dem Sportplatz immer als letztes übrig bleibt, endlich eine Diagnose. Und das ist heutzutage auf Familienfesten eine große Hilfe. Denn einen kleinen Klugscheißer, der nicht weiß, wann er die Klappe halten soll, hat man schnell mal in der Sippe. Da muss man als Elternteil nur im Internet den Pornokanal und die Horrorvideos sperren, und schon bleibt dem Kleinen nichts anderes übrig, als sich unnützes akademisches Wissen anzueignen. Und wenn beim nächsten Familientreffen die Tanten mit säuerlichem Blick von Ihrem kleinen Kotzbrocken die Welt erklärt bekommen, dann können Sie als Eltern gelassen mit den Schultern zucken: "Er hat das Asperger Syndrom, ist unheilbar." Sofort hebt sich die Stimmung bei Ihren Verwandten wieder, denn alle wissen: Hier doziert gerade ein künftiger Wissenschaftler oder Künstler vor ihnen. Und selbst wenn es nicht für höhere Sphären reichen sollte - zum Lehrerberuf ist der kleine Sonderling allemal geeignet. Denn typische Asperger Symptome wie zum Beispiel fehlendes Einfühlungsvermögen in zwischenmenschliche Beziehungen, seltsame Spezialinteressen und ein ungebremster Redeschwall, egal ob jemand zuhört oder nicht, klingen schließlich wie die Stellenbeschreibung für das Lehramt.

Störungen des Sozialverhaltens:

Tim ist 13 Jahre alt. Kurz vor Weihnachten klaut er seinem Vater die EC Karte und geht mit einem Freund Geschenke einkaufen - für sich, aber auch für die Eltern. Kurz vor Ostern hat er auf dem Heimweg vom Fußballtraining keinen Bock zu laufen und schwingt sich auf ein altes Fahrrad, das unverschlossen an einem Zaun lehnt. Als Tim auf dem Pausenhof im allgemeinen Gejohle einen Kumpel aus Spaß in den Schwitzkasten nimmt, hätte dies wohl niemand für erwähnenswert empfunden, wäre da nicht zufällig ein Lehrer gewesen, der kurz zuvor ein Seminar zum Thema Gewalt unter Jugendlichen besucht hatte. Yannick ist 15 und wird wegen seiner schlechten Noten in Mathe vom Lehrer vor der Klasse gerne mal als künftiger Harzer bloßgestellt. Weil er nicht einsieht, was ihm eine solche Schule bringen soll, bleibt er lieber zuhause und ballert am Computer - manchmal 10 Stunden am Tag. Wenn er nachts die Welt vor Zombies gerettet hat, bekommen ihn die Eltern morgens natürlich nicht wach und schon gar nicht in die Schule. Als es Yannicks Vater zu blöd wird und er den Computer wegsperrt, rastet Yannick aus und zerschlägt mit einem Stuhl den nagelneuen Flachbildschirm der Eltern. Diese beiden Jungs haben eine Gemeinsamkeit: Noch vor ein paar Jahren wären sie als völlig normale Teenager durchgegangen, denen man eben mal von Zeit zu Zeit die Leviten lesen muss. Heute haben beide die fachärztliche Diagnose Störungen des Sozialverhaltens gemäß F91, aufgeführt im ICD 10, dem internationalen Verschlüsselungscode aller internationalen Krankheiten. Diese Diagnose ist die Geheimwaffe im Kampf gegen Kinder. Es ist die Killerdiagnose schlechthin, mit der das Augenmerk von den unfähigen Eltern auf jene Kinder gelenkt wird, bei denen keine andere Beeinträchtigung gefunden werden kann. Vielleicht ist der Nachwuchs nicht schnell oder langsam genug, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit passen könnte. Oder Ihr Kleiner ist bei Gleichaltrigen beliebt und geht selbst bei wohlwollender Betrachtung nicht als Asperger durch. Dann ist die Störung des Sozialverhaltens der Schrotflintenschuss unter den Diagnosen, mit dem Sie selbst noch mit verbundenen Augen treffen. Sie müssen nicht einmal zielen, sondern einfach nur irgendwie draufhalten. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind eine Störung des Sozialverhaltens und somit eine anerkannte Krankheit hat, gründet darauf, dass wohl jedes halbwegs normal entwickelte Kind und jeder Jugendliche die entsprechenden Symptome im Laufe seiner Entwicklung zeigt. Das problematische Verhalten muss, damit die Diagnose passt, mindestens ein halbes Jahr auftreten. Das ist kein Kunststück beim aufsässigen, rebellischen Austesten von Grenzen, wie es bislang als völlig normal und gesund für Halbstarke in der Pubertät angesehen wurde. Als Eltern können Sie sich heutzutage ruhig zurücklehnen und mitleidig über die Erkrankung Ihres Kindes den Kopf schütteln, wenn Ihr Sprössling beispielsweise nicht macht, was Sie sagen. Mit deutlichem Maß an Ungehorsam wird diese Störung von ärztlicher Seite beschrieben und ja, Ungehorsam klingt nach der guten alten Zeit, in der gemacht wurde, was die Obrigkeit verlangt hat. Auch wenn der Kleine oft streitet (brauchte man dafür nicht früher einmal zwei Personen?) sind Sie aus ihrer Elternverantwortung entbunden und Ihr Kind bekommt ein Rezept. Dachten Sie, die Wutausbrüche Ihres Kindes wären der ersten, zweiten oder dritten alterstypischen Trotzphase zuzuschreiben? Früher vielleicht. Heute wissen Sie, dass der Dickkopf eine ernstzunehmende psychiatrische Erkrankung hat. Geht bei Ihrem Kind jedes Spielzeug zu Bruch und lügt es oft? Ganz klarer Hinweis auf eine Störung des Sozialverhaltens. Waren Sie als Kind fasziniert von brennenden Streichhölzern und haben Sie gerne ein Lagerfeuer entfacht? Seien Sie froh über die Gnade der frühen Geburt. Heute wären Sie ein Fall für den Psychiater. Der Gesetzgeber bestraft keine Kinder unter 14 Jahren, weil sie noch nicht strafmündig sind. Dieses Nachsehen kennt der Arzt nicht. Er veranlasst schon einmal die mehrwöchige stationäre Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wegen häufigem Stehlen. In einem Versteck die erste Zigarette rauchen, anstatt in die Schule zu gehen? Gott bewahre! Hier liegt eine Krankheit vor, die es seltsamerweise vor ein paar Jahrzehnten noch gar nicht gab. Die Erfolgsstory der Störungen des Sozialverhaltens begründet sich also auf der Alltäglichkeit der Krankheitssymptome. Zwar wird betont, dass die Ausprägung der Symptome über das normale Maß an oppositionellem Verhalten hinausgehen muss, aber niemand erklärt, wo dieses normale Maß beginnt und wo es endet. Ob eine Krankheit vorliegt oder nicht, wird also von Eltern, die überfordert sind, und von Ärzten, die an der Krankheit verdienen, festgelegt. Und es müssen bei weitem nicht alle beschriebenen Symptome vom künftigen Patienten gezeigt werden. Es genügt schon, wenn ein Merkmal besonders ausgeprägt auftritt. Der eingangs beschriebene Wutanfall von Yannick mit eingeworfenem Flachbildschirm reicht bei geschicktem Vorgehen der Eltern bereits für einen Kurzurlaub in der Psychiatrie aus. Bloß nichts bagatellisieren nach dem Motto: „Gab halt Stress, war mal wieder laut.“ Gehen Sie stattdessen professionell mit dem Wutanfall Ihres Bengels um. Rufen Sie die Polizei und den Notarzt und verwenden Sie dabei so oft wie möglich die Begriffe Impulskontrollverlust sowie Fremd- und Selbstgefährdung. Das genügt. Sie sind Ihren Quälgeist für die nächsten Wochen los, das Mitgefühl Ihrer Nachbarn ist Ihnen sicher und keiner kommt auf die Idee, dass Ihr Kind nicht krank sondern nur verzogen ist. Und anstatt sich durch öde Erziehungsratgeber zu quälen, dürfen Sie Ihr neuerdings krankes Kind mit der Diagnose Störungen des Sozialverhaltens ganz einfach mit Neuroleptika vollpumpen. Jetzt denken Sie vielleicht, schade, so eine Diagnose wäre toll, auf jeden Fall schmeichelhafter als die Einsicht, in der Erziehung gepfuscht zu haben. Leider ist Ihr Rotzlöffel nur zuhause frech. In der Schule, bei Freunden und im Verein ist er ein echter Musterknabe mit vollendeten Manieren. Für diese Fälle gibt es die Untergruppe F91.0: auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens. Oder wie wäre es mit der kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen gemäß F92, der so genannten Vollbildstörung. Der Kleine zertritt wütend seine Sandburg und ist darüber anschließend irgendwie sehr traurig. Und wenn selbst das nicht auf Ihren Nachwuchs passen sollte, dann gibt es ja immer noch F91.8 und F91.9: die sonstige Störung des Sozialverhaltens und die nicht näher bezeichnete Störung des Sozialverhaltens. Also da dürfte doch wirklich für jeden Geschmack etwas dabei sein. Böse Zungen behaupten ja bereits, die Diagnose Störung des Sozialverhaltens käme schon automatisch mit dem Parkschein aus dem Automaten vor der Psychiatrie. Machen Sie sich also keine Sorgen, Ihr Kind könnte gesund sein.

Indigo und Co.:

Nun haben Sie ein paar ganz brauchbare Methoden kennengelernt, Ihr Kind als derart krank darzustellen, dass niemand einen prüfenden Blick auf ihre Erziehung wirft. Und dies bringt Sie einen entscheidenden Schritt weiter, das entspannte Leben zu führen, welches Sie vor der Geburt Ihres Kindes genießen durften. Aber vielleicht sind Ihnen die vorgestellten Störungen nicht en vogue genug? Oder Sie halten es für ratsam, aufgrund Ihrer eigenen psychischen Verfassung einen großen Bogen um Ärzte zu machen? Dann darf ich Ihnen zum Abschluss noch ein besonderes Bonbon vorstellen, eine esoterische Tarnkappe für eine misslungene Erziehung aus der Ecke mit den Klangschalen und den Räucherstäbchen. Es handelt sich dabei um eine Auffälligkeit, mit der Sie auf jedem Wiedergeburtsworkshop punkten: dem Indigokind. Das Indigokind kann kurz und bündig als verstrahlter Versuch gesehen werden, die eigenen verzogenen Gören als Vorboten einer neuen Weltordnung und als Ankündigung einer höheren Macht durchzuschmuggeln. Seit der Blütezeit der New Age Bewegung werden angeblich immer mehr Kinder mit indigofarbener Aura geboren. Die Aura ist bekannterweise eine feinstoffliche Hülle, die den Menschen umgibt und nur von wenigen selbsternannten Sehern wahrgenommen werden kann. Nicht zu verwechseln ist die Aura übrigens mit jener feinstofflichen Hülle, die viele Mitmenschen umgibt und als Geruch nach Schweiß, Alkohol und kaltem Rauch wahrgenommen werden kann. Diese feinstoffliche Hülle nennt man nicht Aura, sondern Aroma. Mittlerweile soll jedes neugeborene Kind mit einer indigofarbenen Aura auf die Welt kommen, was laut den Anhängern dieser These auf die unmittelbar bevorstehende Ankunft einer höheren, kosmischen Macht hinweist. Es kann aber auch nur auf einen besonders desolaten Zustand der heutigen Erziehung hinweisen.

Indigo ist ein tiefblauer Farbstoff, fast schon ins Violette übergehend und nicht unähnlich der Farbe eines Hämatoms am Auge, kurz nachdem man im Vollrausch gegen den Türrahmen gerannt ist. Und wahrscheinlich genau bei einer solchen Kollision mit dem Türrahmen ist auch die Idee mit den Indigokindern entstanden. Bemerkenswert an der Aura dieser neuen Superkinder ist, dass sie mit Indigo zufälligerweise eine Farbe hat, wie man sie auch in den Engelskarten und den wehenden Tüchern der ausdruckstanzenden Eltern findet. Auch klingt Indigo in der Szene irgendwie mystisch und nicht so unsexy wie beispielsweise der Farbstoff Bismarckbraun. Indigos sind die Königskinder in der Krabbelgruppe, was natürlich auch eine schmeichelhafte Sichtweise für deren Eltern darstellt. Diese Kinder scheinen zu wissen, dass sie die Vorboten einer höheren Macht sind und sie können über die weltlichen Alltagsprobleme ihrer bürgerlichen Mitmenschen nur milde lächeln. Als Hochwohlgeborene ignorieren sie natürlich alle gewöhnlichen Vorschriften und Regeln. Weil sie sich weigern, ein Rädchen im Schulsystem und der von spießbürgerlichen Vereinen diktierten Freizeitgestaltung zu sein, werden sie von uneingeweihten Prolls gerne als Störenfriede und Außenseiter angesehen, die am Leistungsprinzip scheitern, früh von der Schule fliegen und einen gewissen Hang zu bewusstseinserweiternden Substanzen haben. Ohne das Geheimwissen um deren Erhabenheit könnte man Indigokinder deshalb fälschlicherweise mit ADHS-Patienten verwechseln. Dabei wirken Indigokinder durch die esoterische Brille betrachtet überhaupt nicht wie zappelige Krawallbrüder, sie hinterfragen nur eben bestehende und längst überholte Sichtweisen. Wenn man es sich nur oft genug einredet, erkennt man deshalb bei Indigokindern eine enorme Tiefe der Seele, so als spreche man mit einem Erwachsenen, der schon alles gesehen und erlebt hat. Dies wiederum ist kein Wunder, wenn der Kleine mit 12 Jahren schon seinen dritten Entzug hinter sich hat.

Jetzt sollten Sie sich als gestresste Eltern von gewöhnlichen Kinderzimmerterroristen nicht von dem Hokuspokus um die Vorboten einer neuen Weltordnung abschrecken lassen. Stattdessen dürfen Sie die Vorteile sehen, die Ihnen durch die offene Tempeltür der Indigobewegung geboten werden. Ähnlich wie bei der Störung des Sozialverhaltens, dem Asperger Syndrom und dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sind nämlich die Merkmale für das Indigokind so allgemein gehalten, dass sie quasi zu jeder kleinen Nervbacke passen. Indigokinder benehmen sich kurz auf den Punkt gebracht wie Kids, die nicht erzogen wurden. Sie kennen keine Regeln und ja, sie verhalten sich wie Paschas. Klar denken sie, dass ihnen die Sonne aus dem Hintern scheint, ihre Eltern haben ihnen schließlich noch nie Grenzen aufgezeigt. Die Gören sind rotzfrech, halten sich für etwas Besonderes und machen nicht, was man ihnen sagt. Während sie sich einreden, sie hätten als einzige die Ahnung von der Welt, durchlaufen sie die drei überflüssigsten Jahre ihres Lebens: die fünfte Klasse. Und die höhere Macht, auf deren Ankunft sie hinweisen, ist höchstwahrscheinlich der Jugendrichter.

Wenn Ihr Nachwuchs aber partout nicht die Rolle des Engels mit dem Schwert spielen will, sondern eher eine langweilige, antriebslose Töle ist, dann preisen Sie Ihr Kleines doch einfach als Kristallkind an. Wenn der Indigobalg dem rebellischen ADHS´ler entspricht, dann ist das Kristallkind ein ADH-Kunde vom Typ Träumer. Es erscheint wissend, allerdings mit verzögerter Sprachentwicklung. Fälschlicherweise werden Kristallkinder gerne als Autisten diagnostiziert, dabei klingt doch schon ihr Name nach einer geheimnisvollen Schatztruhe der sicherlich auserwählten Eltern. Kristallkinder sind sehr friedfertig, glücklich und ausgeglichen. Aber höchstwahrscheinlich haben diese Kinder einfach nur zu oft vom Drogenvorrat ihrer Eltern genascht. Und wenn Ihnen jetzt selbst die Indigo- und Kristallkinder noch zu gewöhnlich sind, dann erfinden Sie doch einfach selbst eine neue Gruppe von auserwählten Kindern. Keine Sorge, das geht ganz einfach. Bei Indigo- und Kristallkindern hat es schließlich auch schon funktioniert. Wie wäre es denn in ihrem Fall mit Matsch- oder Schlammkindern? Oder vielleicht mit Sputumkindern? Das klingt nicht so ordinär und ist sogar lateinisch. Sputum ist der schleimartige Auswurf, der sich aus den düsteren Regionen des Körpers seinen Weg nach draußen bahnt und immer gerade dort landet, wo er nicht hingehört. Die Legende ihres Sputumkindes könnte folgendermaßen lauten: Sputumkinder sind umgeben von einer Aura aus gehustetem Rotz und feinstofflichen Spaghettiresten. Sie müssen spätestens alle zwei Jahre die Schule wechseln, weil sich ansonsten durch den didaktischen Stillstand der Schleim nicht mehr aushusten lässt, sondern sich im Mundraum sammelt und zu Sprachstörungen sowie zu schwarzen Zähnen führen kann. Und Sputumkinder kündigen nicht eine neue, bessere Weltordnung an, sondern die monatlichen Essensgutscheine der Fürsorge.

Erziehung ist Krieg

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