Читать книгу Wenn ich jetzt nicht weine - Oisín Curran - Страница 8

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TOD FÄLLT!, schrie mein Vater und schwang seine Axt. Tod fällt dir ins Genick! Axt blitzte durch den Himmel und fiel – Birkenscheit brach entzwei; Myles rastete, Brille schief, um den Kopf einen weißen Lumpen gebunden, schwarze Haare zu Berge – verrückter Samurai. Ich fing die Scheithälften auf, stapelte sie und stellte ein noch ganzes auf für den nächsten Hieb.

Er beantwortete halb eine nur halb gehörte Frage.

Die Nacht zuvor hatte ein betrunkener Jäger meinen Kater Schatten für einen Waschbären gehalten und ihn erschossen. Beziehungsweise nahmen wir das an – wir waren dem Mann nie begegnet, aber man wusste, dass bewaffnete Trinker durch die Wälder torkeln, und Schatten sah ein wenig aus wie ein Waschbär, vor allem nachts, wenn sie in diesen Gegenden gejagt werden. Jedenfalls war er tot. Wir fanden ihn am Morgen unter seinem Lieblingsbaum.

Obwohl er meine erste Liebe war und obwohl ich das Blut aus seiner Schusswunde überall an mir hatte, weinte ich nicht. Meine Mutter wickelte ihn in ein altes Bettlaken, während mein Vater sein Grab schaufelte. Als er unter ein paar Handvoll Erde verschwand, kam mir in den Sinn, dass er vier Jahre früher genauso unsichtbar gewesen war, bevor ich ihn aus dem Körper seiner Mutter schlüpfen sah. Für diese Unsichtbarkeit hatte ich keinen Namen; vielleicht war dies auch ein Tod. Den restlichen Morgen dachte ich über die Angelegenheit nach, verzweifelt darauf achtend, das in meiner Brust aufkeimende Schluchzen zu unterdrücken, weil ich dachte, es würde mich töten, wenn ich es zuließe. Zwecks zusätzlicher Ablenkung sprach ich mit Myles.

Gehen wir in den Tod zurück, weil wir aus dem Tod geboren werden?

(Halb gehört, halb verstanden.)

Der Tod ist simpel, deklamierte er, anders als die Geburt, die ein Kraftakt von unvergleichlicher Schwierigkeit ist. Ein Kraftakt der Raserei – explosiv. Wir alle streben unsere Inkarnation an.

Axt fiel wieder und verkeilte sich im Holzscheit. Gesicht, verschlossen zu einem teuflischen Grinsen, hob Myles Axt und Holzscheit und hämmerte beide gegen den Baumstumpf. Schweiß flog von ihm und vom Lumpen auf seinem Kopf und vom Lumpen an seinem Genick und seinem triefenden Shirt, bis das Holzscheit sich teilte und er sich gegen einen Baum lehnte, atemlos und hochrot.

Du hast uns auserwählt, keuchte er, richtete seine Brille. Du hast uns herausgepickt, und jetzt sind wir dran.

Von ihrem nahe gelegenen Platz, wo sie über Schattens Grab einen spindeldürren Birnbaumsetzling pflanzte, rief Iris, dass man mir, obwohl ich ohne Frage der Grund ihrer Vereinigung war, keine Schuld geben könne. Myles antwortete, dass man es selbstverständlich könnte – es sei nur logisch.

Ich gebe ihm die Schuld, sagte er stolz, aber ich bewundere ihn – die Anstrengung, die es gebraucht haben muss, um uns beide zusammenzuzwingen. Zu zeugen ist einfach, gezeugt zu werden ist eine Unterbeweisstellung von Gerissenheit und Hartnäckigkeit.

Dabei hob Iris ihr schmutziges, von Tränen beflecktes Gesicht und erwiderte, Für einen Mann bedeutet Zeugen ein vergnügliches Bestäuben. Für eine Frau – neun Monate Besitz, der in schmerzvoller Enteignung endet.

Ein Ereignis, das du verbockt hast, grummelte Myles, als er das nächste Holzscheit zerschmetterte. Ich zerklatschte Mücken und glotzte auf einen verschmierten Regenbogen aus verschüttetem Kettensägenbenzin. Ich tagträumte oder versuchte es, aber es hatte keinen Sinn … ihre Stimmen wurden langsam lauter.

Wie Caesars Mutter, fuhr Myles fort, brauchtest du eine Klinge.

Iris wurde bleich.

Kläre deinen Sohn darüber auf, wo du damals warst!, rief sie. Hast deinen anderen Liebhaberinnen Adieu gesagt, während dein Kind aus meinem Körper geschnitten wurde.

Myles seufzte.

Das war ein Scherz!, sagte er. Ich gebe dir nicht die Schuld, dass unser Sohn sich weigerte, auf demselben Weg herauszukommen, auf dem er hineinkam.

Auf dem er hineinkam?, sagte Iris. Ich sehe, die katholische Schule hat bei dir mittelalterliche Fantasien über die menschliche Reproduktion hinterlassen !

Myles ignorierte das und sagte, was das Durchtrennen von Bändern zu Liebhaberinnen betrifft, habe er das lange zuvor getan, Monate zuvor, und dass er, wie sie genau wisse, am Tage meiner Geburt mit Bangen im Krankenhausgarten wie in einem Anti-Gethsemane umherspaziert sei und die Ankunft seines Sohnes, seines Erben, seines Schicksals erwartet habe.

Ja, natürlich, jetzt erinnerte sich Iris (wie konnte sie es vergessen haben?), dass er zwischen den Fliedern umhergeschlendert war, während sie geblutet hatte.

Das, sagte Myles, ist eine krasse Übertreibung, wie immer, aber wie könnte man denn von ihr auch erwarten, sich an irgendetwas jenes glorreichen Tages zu erinnern, wo sie doch wegen des Messers zugedröhnt bis unters Dach war, während er, er, in einem Zustand ekstatischen Taumels war, als er mich sah und zum ersten Mal in seinen Armen hielt.

Während sie stritten, fühlte ich ein merkwürdiges inneres Ziehen, als ob mich eine fremde Gravitationsquelle in einem schrägen Aufwärtswinkel nach oben ziehen würde. Die vereinte Kraft verschwisteter Gravitationen, eine innerlich, eine irdisch, erzeugte ein seitwärts gerichtetes Schwebegefühl.

Ich erinnere mich, sagte ich still, aber abrupt und fiel zu Boden.

HIER, IN den Wäldern an der Küste von Maine, 1980, waren hundert Jahre vergangen, seit eine Schaufel dieses Erdreich umgegraben hatte, oder eine Axt das örtliche Holz gespalten; die Steine eines alten Bauernhausfundaments waren zur Umrandung eines Froschteichs geworden und Bäume schwärmten über den sumpfigen Grund, verhüllten alle Zeichen menschlicher Anstrengung. Damals traten Myles und Iris einer nahe gelegenen Buddhisten-Kommune bei, kauften diese paar Hektar und begannen sie mit Kettensäge und Feuer zurückzuerobern. Meinerseits rückte ich mit einer winzigen Säge durch die nahen Birkengewächse vor, Entschuldigungen flüsternd zu den Setzlingen, die ich behutsam von ihren Wurzeln trennte, und Salamander beobachtend, die sich langsam unter den umgedrehten Steinen hervor in Bewegung setzten. Und später, nach dem Abriss und den Feuern, prallte der Knall der Hammerschläge zurück vom zurückgewichenen Wald, als mein Vater und seine Mitjünger Balken auf Pfosten hoben und wieder ein Haus auf dem Land stand.

In der Mitte dieses Landes lag ich nun auf einem Grasklumpen, Füße Richtung Bäume, Kopf zum Haus. Lose Ecken schwarzer Teerpappe flatterten und das Plastik über den Fensteröffnungen bauschte sich und schnalzte in einem Wind, der über den Wald vom Ozean her blies. Und wie kann ich mich an diese Details erinnern? Gar nicht. Auch an meine Eltern, wie sie über meinem feuchtkalten Körper knieten, die Mücken verscheuchten, in panischer Angst, während ich sprach, erinnere ich mich nicht. Sie erzählen, meine Augäpfel verdrehten sich in ihren Höhlen und meine Glieder wurden steif. Ich murmelte etwas von einem alten Gebäude voll neuer Musik, einem Unfall.

Myles hob mich vom Gras auf und trug mich zum Auto. Iris stürmte voraus, um eine ganze Batterie an Blumenheilmitteln und Kräutertinkturen vorzubereiten. Abgelegt am Rücksitz unseres Kombis, blind hinaufstarrend, fuhr ich fort, irgendetwas über traurige Korridore, Krankheit, den drohenden, wartenden Tod zu erzählen.

Mein armes kleines Putz-Mäuschen, heulte Iris, neben mir einsteigend, Flüssigkeiten in meinen Mund spritzend, Salben in meine Schläfen massierend. Beeil dich!, sagte sie zu Myles, der den Rückwärtsgang einlegte, auf die Schotterpiste ausscherte und mit Höchstgeschwindigkeit über die Schlaglöcher davonhopste.

Fahr langsamer!, sagte Iris.

Entscheide dich!, schrie Myles und schloss zwischen ihren beiden Befehlen einen Kompromiss, indem er ein paar Sekunden lang den Druck auf das Gaspedal zurücknahm, bevor er es wieder durchtrat, während er sagte, Schreib das alles auf.

Ich fuhr fort, von einem Entflohenen auf der Flucht zu sprechen, aber die Bilder waren verstreut, keine Geschichte nahm Gestalt an.

Mein kleiner Käfer, sagte Iris, die mittlerweile auf ihrer manuellen Olivetti, die nur selten nicht in ihrer Nähe war, mit Warp-Geschwindigkeit das Diktat tippte. In den Monaten, die darauf folgten, wurden diese Bilder zur Geschichte. Sowie ich sie erzählte, machte auch Myles Notizen, in seiner beinahe unlesbaren (aber ästhetisch faszinierenden) Handschrift. Als ich dreißig Jahre später diese Notizen wiederfand, erzählte er mir, er habe immer noch vor, aus ihnen eine umfangreiche mythopoetische Hermeneutik zu entwickeln, genau wie es William Butler Yeats mit den paranormalen Schriften seiner Frau getan hatte.

Iris hatte ihrerseits strukturelle Anpassungen und Revisionen meiner konfusen endlosen Sätze vorgenommen. Die Florpostbündel ihres Getippses fingen mit der Zeit schließlich an, große Mengen von Ausgestrichenem und Notizen an den Rändern zu enthalten, neben den Skizzen, die sie in Illustrationen zu verwandeln vorhatte. Es sind die kombinierten Aufzeichnungen meiner Eltern, aus denen ich diese Erzählung rekonstruiert habe, also kommt sie gefiltert durch Syntax und Vokabular dreier Erwachsener daher.

Auf dem Rücksitz des Wagens brabbelte ich anscheinend von einer Brücke, die das Innere einer leuchtenden Welt überspannte.

Schwach hörte ich meinen Vater vom Fahrersitz aus ausrufen, dass ich eine Art visionären Zustand durchlebte.

Oder einen Anfall!, sagte Iris unglücklich.

Oder eine mystische Trance! Wie Edgar Cayce, sagte Myles. Er hat vielleicht Zugang zu einer weiteren Bewusstseinsebene.

Beeil dich einfach, sagte Iris, aber fahr nicht zu schnell.

Ein Anfall? Nein. Ich wusste von Edgar Cayce, dem schlafenden Propheten, dem mystischen Hellseher. Damals war es schwer, ihm aus dem Weg zu gehen. Meine Eltern und deren Freunde sprachen oft von seinen diversen Vorhersagen – vor allem, und mit insgeheimer Hoffnung, von dem bevorstehenden Verschwinden Kaliforniens unter den Wellen. Aber was mich betraf, nein. Kein Anfall, keine Vision. Ich hatte die Hitze satt, und den Streit meiner Eltern, und fühlte mich benommen genug, um mich hinzulegen. Na ja, vielleicht wurde ich ein wenig ohnmächtig, ich werde diese Möglichkeit nicht leugnen. Und wenn es so war, würde das die kleinen Traumstücke erklären, die ich von mir gab, als ich zu mir kam. Die Kombination aus Kollaps und surrealer Äußerung elektrisierte Myles und Iris. Sie hörten auf, sich zu zanken, und richteten ihre Aufmerksamkeit auf mich. Ich konnte sie nicht enttäuschen. Und ich wollte ohnehin herausfinden, was als Nächstes passiert. Also machte ich weiter, so gut ich konnte. Es ist nicht so einfach, wie es klingt, sich Dinge auszudenken und vorzugeben, dass man es nicht tut, vor allem, wenn es so wenig Material gibt, bloß ein kleines, merkwürdiges Wirrwarr an Bildern. Darunter: ein Reisender in Not, in Gefahr, geschützt, in Sicherheit geschmuggelt; einen kopflosen Vogel, Federn und Blut überall, glänzende Gedärme; ein funkelnder Schatzfund; ein sinkendes Boot – es gab mehr, aber in meinem Ohnmachtsanfall prasselten sie zu schnell auf mich ein, um sie zu halten. Dann wurden sie langsamer, bis sie sich zuletzt über einer Szenerie ruhiger Wellen, die durch das Sieb eines Kiesstrandes rannen, niederließen.

EINGEHÜLLT IN einen alten Mantel, schlafe ich am Strand. Steine knirschen. Einsames Geräusch – hohle Schuhe auf einem hohlen Planeten. Stadtschuhe, teure, seltsam für einen Seemann, der er ist – derjenige, der sie trägt. Zumindest denke ich, dass er es tut. Er könnte vieles sein. Schwer auch zu sagen, wie alt er ist. Dreißig? Noch nicht, aber an der Kippe. Er kommt auf mich zu, dort, wo ich in dem wolkigen Licht liege, und sagt, alles sei bereit, das Schiff vorbereitet, die Mannschaft versammelt, und ich solle um Mitternacht kommen, weil er dann Wache habe und mich an Bord schmuggeln könne.

Rook (das ist sein Name) macht ein komisches Gesicht, das seine gebrochene Nase verbiegt (aber das ist die Form seines Lächelns), und geht dann weg. Seine Haare sehen wie schwarze Sprungfedern aus, die wippen, wenn er geht.

Ich folge ihm nicht, erzwinge nicht mein Glück – indem ich folgte, bin ich überhaupt an ihn geraten. Letzte Woche sah ich ihn am Strand rauchen und begriff, dass er von der Lizzy Madge war. Ich ergriff die Chance und bat ihn, mich an Bord zu bringen. Das war das erste Mal, dass ich sein zähnefletschendes Lächeln sah, sein aufgetürmtes schwarzes Haar, kurze dicke Zöpfe hinten, weite schwarze Augen, braune Haut, lange dünne schiefe Nase. Er wollte wissen, ob ich Geld habe. Ich hatte ein wenig. Er nickte, kratzte sich am Kinn, sagte, er werde darüber nachdenken.

Also gehe ich am selben Tag, drei Stunden später, voller Hoffnung und Angst zu meiner Meereshöhle, der trockensten Aushöhlung in der Landzunge an der Grenze zum Strand. Dort, wo ich die letzten Wochen gelebt hatte und mich von rohen Muscheln und Resten aus den Abfalleimern der Seitengasse von Nacht-Hafen ernährte.

Woher ich komme, weiß ich nicht mehr. Eines Nachmittags erwachte ich am Strand, nicht weit entfernt vom Eingang einer Meereshöhle. Keine Vergangenheit, kein altes Leben abrufbar, keine Ahnung, wer ich war oder wo ich herkam. Nur ein paar Bilder oder Stücke davon, die ich festhalte, weil sie alles sind, was ich von dem noch habe, wer ich einmal war. Jede Stunde jedes Tages hüte ich meine Sammlung, trage sie vor meinem inneren Auge zusammen – mein kleiner Fund an Visionen. Ich lege sie nacheinander in der Dunkelheit meiner Gedanken aus, um sie zu betrachten und um daran zu feilen:

ein altes Haus in der Nacht, heraussickernde Musik,

ein Autounfall auf einer langen Straße,

ein grünes Wartezimmer, Tod im Schatten,

das Innere eines glitzernden Planeten,

ein Mann aus einem fernen Land, der Zuflucht sucht,

eine Axt auf einem blutigen Baumstumpf, Kopf eines Vogels auf einem Bett aus Federn und glänzenden Gedärmen,

ein Schatz von Silbermünzen,

zwei Leute, bis zu den Knöcheln im Wasser auf einem sinkenden Boot,

ein Geist auf einer verlassenen Straße in der Nacht,

ein Gespenst mit einem Gewehr, ein Schuss, eine Wunde,

ein Regenbogen aus Licht, der aufleuchtet an einer Wand in einem Raum voller Kinder,

Brennholz, auf einem Schlitten gezogen aus einem morschen Wald durch blauen Schnee, kalte blaue Luft,

ein runder Laib Brot, heiß aus dem Ofen, das Ende abgeschnitten und gebuttert, Dampf, der von ihm aufsteigt,

eine Frau (meine Mutter?) im Bett, blass, in Schmerzen,

eine Lichtexplosion mitten in einer dunklen Nacht,

ein betrogenes braunhaariges Mädchen, Gesicht einst lebhaft, nun aschfahl,

ein altes Buch, in dem mein eigenes Leben abgedruckt ist, zwei Männer, die in dichtem Schnee kämpfen, Mond hinter himmelumspannenden Wolken, dunkle Bäume, die zu ihm emporzeigen.

Ich bringe diese Bilder auf eine innere Bühne und lasse sie wieder und wieder abspielen, während ich überlebe. Und da formen sie ihre eigene Art von Gravitation, die mich in Richtung einer letzten Ansicht zieht, einer Stadt. Es ist ein Ort, den ich niemals gekannt habe, aber ich sehe ihn deutlich: hohe Gebäude, zwischen denen in einem Wasserfall nach dem anderen ein großer Fluss fließt, und irgendwo in der Nähe gibt es einen Park voller Flieder. So viel Flieder, dass der Duft stark, süß, beinahe ekelerregend ist. Die Stadt ist nicht bloß eine Stadt, es ist Stadt. Ich fühle es in meinen Muskeln, meinem Schweiß, meiner Nase und Zunge. Sie zieht meine Knochen an, wie die Erde einen Stein anzieht, aber die Richtung, in die sie mich zieht, ist hinaus auf die See.

Ich hörte von Gerüchten aus der Stadt, dass die Lizzy Madge gechartert wurde, damit sie einen seltsamen Haufen von Menschen auf einer Expedition in die Südlichen Meere bringt, um eine Insel zu finden. Die Insel soll ein Geheimnis bewahren, oder einen Schatz, vielleicht einen Jungbrunnen. Die Gerüchte liegen in der Luft. Die Insel ist mir gleichgültig – ich weiß nur, dass ich an Bord gelangen muss, um Stadt zu finden.

Nach Einbruch der Dunkelheit sage ich meiner Höhle Lebewohl, schnüre die wenigen Kleidungsstücke, die ich von Wäscheleinen in Nacht-Hafen gestohlen habe, zu einem Bündel und mache mich auf zum Hafen.

Der Mond ist aufgegangen, ein Halbmond, in seinem Licht schaue ich zurück zum Strand. Lebewohl, Strand.

Etwas in der Nähe meiner Höhle, etwas darin. Ein Mensch? Tier? Scharfer Tiergeruch im Wind, aber es bewegt sich zu schnell, um zu sagen, was es ist. Der Mond ist nicht hell genug. Was es auch ist, mein Hinterkopf wird unverzüglich heiß. Um ihn zu kühlen, wende ich mich ab und gehe rasch.

Nacht-Hafen ist ein Kaff, gerade mal kurios, nach Diesel und Salzwasser stinkend. Aber am Ende seines verrottenden Docks treibt die Lizzy Madge in ihrem eigenen Flair verwahrlosten Glanzes, andere Gewässer, andere Küsten verheißend.

Ich gehe den Landungssteg entlang, spüre den frischen Überzug von billigem Anstrich auf der holprigen Reling und den Motor, der in ihr pocht.

Eine Hand schnappt mich und zieht mich durch eine Tür. Ich höre Rooks Stimme sagen, Still!, und die Tür schließt und verriegelt sich und ich bin im Dunkeln.

MEINE STIMME wurde schließlich stumm und in der Stille, die darauf folgte, hörte ich, wie mich jemand sanft dazu drängte, mich zurückzulegen und zu entspannen. Ich war im Krankenhaus. Drähte waren mit runden Aufklebern an meiner Brust angebracht und eine Krankenschwester unterhielt sich geduldig mit meinen nervösen Eltern, während sie den Bildschirm beobachtete. Sie machte einen Ausdruck und der Arzt kam herein, sah ihn sich an und sagte, Nein, es gibt kein Problem mit seinem Herzen. Machen wir ein EEG.

Dann schob mich jemand in einen fensterlosen Raum und klebte mit irgendeinem klebrigen Zeug Drähte an meinen Kopf, ließ lange Zeit wieder und wieder Lichter in verschiedenen Mustern in meine Augen blitzen. Schließlich druckten sie etwas aus und ein Arzt sah es sich an. Er schüttelte den Kopf. Nein, es gab kein Problem mit meinem Kopf.

Also setzte sich dann ein anderer Arzt zu uns und sagte, es sei wahrscheinlich nur ein Ohnmachtsanfall aufgrund der Hitze gewesen. Iris merkte an, dass gerade mein Kater getötet worden war, und der Arzt sagte, Ja, ein plötzlicher Schock plus heiße Sonne können einen bewusstlos werden lassen, also würde ich mir deswegen keine Sorgen machen. Versuch, ab jetzt einen Hut zu tragen. Und weil wir gerade von Sonne reden, was ist damit?

Er zeigte auf Iris’ Bein, dorthin, wo ihre Shorts hochgerutscht waren und ein schwarzes Mal genau über ihrem Knie zum Vorschein brachten. Es war gefleckt und groß und Iris sagte, ja, sie wisse, sie sollte es untersuchen lassen.

Am besten gleich, sagte der Arzt, und dann schabte er mit ihrer Erlaubnis ein kleines Stück davon auf ein Glasplättchen und nahm es mit.

ROSTGERUCH nimmt Gestalt an. Nieten klopfen, Stahl ächzt. Die Sonne scheint durch Schlitze rund um eine Falltür in der Decke. Sie formt die Konturen eines Quadrats, das über die Wände und den Boden gleitet. Meine einzige Uhr. Ich glaube, dass ich in der Dunkelheit vielleicht den Verstand verliere, also packte ich die Scherben meiner Erinnerungen aus und polierte sie auf, damit sie am Leben bleiben. Es ist eine unvorhersehbare Übung – manchmal wachsen die Bilder und weiten sich aus, werden dichter und detailreicher; ein anderes Mal schrumpfen sie in Zeit, Farbe, Textur, bis sie nichts weiter sind als vergängliche flüchtige Blicke oder die Aufzeichnungen zu einer Erinnerung, stenografische Variationen über einen Gedanken. Dieses Mal wachsen sie …

ein altes Gebäude bei Nacht, das eigenartige Musik umhüllt, die herausrieselt durch die dunklen Bäume draußen und die hellen Laternen, die zwischen ihnen hängen,

ein Auto, das außer Kontrolle gerät auf einem breiten Highway, umsäumt von einem blattlosen Wald,

ein graugrünes Wartezimmer voller Leute, die ruhig darauf warten herauszufinden, wann sie sterben werden,

ein Raum von der Form eines riesigen Wasserballs von draußen beleuchtet – das Innere eines hohlen Glasplaneten,

ein Mann mit angsterfüllten Augen, der einer Zuflucht bedarf,

ein Baumstumpf, eine Axt, ein toter Vogel, Federn, Eingeweide, Blut,

Haufen von Silbermünzen, die in einer kleinen Holzschachtel glitzern,

ein Boot, das unter zwei Menschen versinkt, die durch das kalte Wasser an Land rudern …

Einmal am Tag spuckt die Falltür Licht und Rooks Hand kommt herab mit einem Teller mit Brot und Butter oder gekochten Kartoffeln oder Roter Bete. Einmal Würste. Ich bitte ihn, mich hinauszulassen – es ist zu dunkel und der kleine Metallraum grillt mich. Er sagt, ich soll Geduld haben, und erzählt mir, dass er in seinen Landstreichertagen eine Woche lang in einem Güterwagenwerkzeugschrank von der Größe eines Sarges eingeschlossen war. Kein Essen und nur hereintropfendes Regenwasser zum Trinken. Er wäre also beinahe gestorben, bevor ihn ein anderer Vagabund hörte und befreite. Als er herauskam, streckte er sich in der rauen Luft und sah durch die offene Tür des Güterwagens, dass der Zug über die Kuppe eines schneebedeckten Berges fuhr. Er sah hinab auf wilde Ziegen und fliegende Adler und aß die harte grüne Kruste eines Brotes, das ihm gegeben wurde.

Deine Umstände sind unendlich luxuriöser, sagt er.

Die Tür schließt sich wieder und später kühlt mein Raum ab und ich schlafe.

Ich erwache zitternd und ziehe mich wieder an. Die Stahlwände und -böden lassen mich schnell frieren. Wir bewegen uns in die falsche Richtung.

Die Falltür öffnet sich und aus dem Lichtgetöse höre ich Rooks Stimme, die mich vor Erfrierungen warnt – er sagt, er habe drei Zehen an eine Schneebank verloren, als ihn ein Pflug versehentlich begrub, während er einen Rausch ausschlief. Er war dort monatelang eingefroren, bevor ihn ein Tauwetter befreite. Gewöhn dich daran, sagt er. So ist das Leben eines Herumtreibers – erbärmlich und frei.

Decken fallen auf mich und Hüte, alle von Motten zerfressen. Wir stechen durch die Nördlichen Meere, sagt er.

Lass mich raus!, schreie ich. Wir nehmen den falschen Weg.

Es tut ihm leid, aber es ist unmöglich – die Leute auf diesem Boot sind Verrückte. Sie gehören zu einer Gesellschaft, sagt er. Dem Silbernen Apfel, oder vielleicht ist es der Vergoldete Zweig … der Orden der Knorrigen Fichte? Wie auch immer, sie sind verrückt nach dieser Insel. Aber wir müssen nordwärts fahren, bevor wir südwärts fahren können. Eine Frage der Geografie.

Er reicht mir eine Zigarette hinab, steckt sie mir in den Mund und zündet sie an, aber ich bekomme keine Luft. Ich habe noch nie geraucht. Er legt sich über mir auf den Boden, stützt seinen Kopf auf die Hand und zündet sich selbst eine Zigarette an.

Als ich so alt war wie du, sagt er, habe ich zwanzig Kippen pro Tag geschafft.

ZIGARETTEN?! Meine Mutter seufzte in einer Verwirrung aus Verlangen und Missbilligung, was mich aus meiner Geschichte warf. Sie meinte, dass dieser Rook einen schrecklichen Einfluss habe, wenn er einem Kind Tabak aufdrängt – sie mochte ihn nicht. Sie tadelnd, weil sie mich unterbrach, sagte mein Vater, dass Rook schließlich nur ein junger Mann sei, rau erzogen, der den Ehrenkodex eines Vagabunden befolge, um einem Herumtreiberkameraden in Not zu helfen und das wenige, das er hatte, zu teilen. Myles mochte ihn, Zigaretten hin oder her. Hatte Iris denn nicht kettenweise Menthol-Zigaretten geraucht, seit sie sechzehn war, bis sie ihn traf?

Es war Nacht. Ich lag auf meinem Bett, Iris setzte sich mit ihrer Olivetti auf den Knien auf einen Sessel, und Myles saß auf einer braunen Matte auf dem Boden, die Beine gekreuzt im halben Lotus-Sitz, eine Decke über seinen Kopf und die Schultern drapiert zwecks Wärme. Seine rote Plastik-Füllfeder schwebte einsatzbereit über einem gelben Notizblock. Mein Kopf pochte aufgrund eines offensichtlichen Katers, denn ich erinnerte mich, dass ich in jener Nacht zuvor heimlich eine Flasche Selbstgebrautes hinuntergeschüttet hatte.

Wir waren zum Abendessen bei den Krimgold-Gragnolatis, nach einem langen Sonntag, an dem wir Holz aus einem verlassenen Nonnenkloster ausgebaut hatten. Wir mussten dieses Altmaterial verwerten, um unser Haus zu vollenden. Die K-Gs brauchten es, um eines zu bauen. Mit Tagesbeginn ließen die Erwachsenen mich und die jüngeren Krimgold-Gragnolati-Geschwister darangehen, Nägel aus alten Brettern zu ziehen, während Myles und Bill Krimgold Fenster aus ihren Rahmen lockerten und Bodenplanken von ihren Tragbalken. Iris und Bernadette Gragnolati plagten sich über den Rohrleitungen mit Bernadettes ältester Tochter Athena und befreiten zwei Badewannen und drei Waschbecken aus den verkrusteten Fesseln jahrhundertealter Armaturen. Später – das Dach des Kombis bog sich vor Holz und Porzellan – fuhren wir zu ihrer winzigen Hütte, um wieder zu Kräften zu kommen.

Bill und Myles prüften die Vorzüge von Hopfen und Malz, indem sie gegenseitig ihre selbst gebrauten Biere verkosteten, während Iris und Bernadette das Wetter und Unkraut und ihre Gärten analysierten und die lächerliche Präsidentschaftskampagne für Ronald Reagan. Artemis und Apollo und ich spielten Mensch ärgere dich nicht. Artemis war ein Jahr älter als ich – vorstehendes Kinn, langes schwarzes Haar in Zöpfen, Schlaghosen-Overall. Apollo war ein Jahr jünger, auch ein Jahr zarter, mit einem gutartigen Mondgesicht unter einem Pagenkopf glatter roter Haare. Ihre Schwester Athena saß in einer Ecke und las Anna Karenina. Sie war in der zwölften Klasse. Ein abgeklärtes Mädchen mit funkelnden Augen und von schrecklicher Schönheit. Wenn sie ging, war es, als ob sie schwebe, eine Halbgöttin aus einer anderen Welt. Sie war sieben Jahre älter als ich, und wenn sie mir mit meiner offenen Kinnlade zulächelte, brachte mich das Strahlen ihrer Zähne zwischen pflaumenfarbenen Lippen zum Zittern.

Myles erging sich über das Thema der Etymologie und den verwunderlichen, jedoch unausweichlichen Pfad, der zur Wurzel der gesamten Sprache und Kultur führe, welcher, wie sich herausstellte, Alt-Gälisch war, oder vielmehr Gaeilge, wie er sich selbst ausbesserte, das Wort Gälisch sei nichts anderes als eine weitere Anglisierung, die der Muttersprache der Poeten durch das perfide Albion angetan wurde, und er pausierte zeitweise, um die Ansammlung von Schleim hinten in seiner Kehle zu schlucken, denn niemand kann so lange reden, ohne ausspucken zu müssen, wenn es ihm nicht anders beigebracht wurde, und in dieser Pause lächelte er für einen Augenblick unbehaglich, als ob ihm seine eigene Redseligkeit bewusst wäre, und leicht verlegen, jedoch unfähig, sich selbst zu stoppen, oder wenigstens nicht willens, legte er ungeschickt, aber rasch, aus der Pause heraus wieder los, indem er schnell schluckte und dort weitermachte, wo er aufgehört hatte, während sich die Schlucktätigkeit noch immer nach unten fortsetzte, weil, wenn er noch einen Augenblick länger pausiert hätte …

Aber es war zu spät, Bill hatte bereits den Beginn aufgegriffen, um nur halb im Scherz zu sagen, Weißt du, was du bist, Myles? Du bist ein keltischer Rassist! Aber hey, fuhr er fort, bevor Myles protestieren konnte, das ist okay, ich mag diese Kelten. Verrückte Bastarde. Hast du jemals Caesars Gallischen Krieg gelesen? Vercingetorix und sein Haufen? Jeder, der schreiend in den Kampf stürmt und nichts weiter an sich hat außer etwas Farbe, verdient Respekt. Weil wir gerade von französischen Kelten reden, von Galliern, rat mal, in welchem Wagen de Gaulle saß, als ihn die OAS zu ermorden versuchte? In einem 55er Citroën DS! Genau wie der, den ich hinten stehen habe. Man sagt, es war die Radaufhängung, die ihn gerettet hat. Obwohl die Reifen weggeschossen wurden, war der Fahrer in der Lage, aus dem Schleudern heraus zu beschleunigen und davonzukommen. Witzig, weil meine Aufhängung Schwierigkeiten macht – gerissene Strebe, aber ich habe einen Tipp für einen guten Schweißer bekommen. Kaum zu glauben, dass ich die Göttin damals während des Aufbaustudiums für dreieinhalb bekommen habe. Allerdings war damals ihr Motor hinüber …

Die ganze Zeit über machte ich mich an einer Flasche Starkbier zu schaffen, die ich vom Tisch entwendet hatte, und bald verlor ich auf dem Rindsleder, das die Klavierbank bedeckte, das Bewusstsein. Etwas später hörte ich schwach die Aufschreie wegen der leeren Flasche, die man von mir umklammert fand. Und noch später kam ich zu Hause in meinem Schlafzimmer zu mir.

Über mir und um mich waren rohe Fichten-Planken mit sporadischen Trägern an den Wänden angebracht und sie neigten sich unter dem Gewicht von Büchern. In meinem Blickfeld war der rote Rücken von Aufstieg und Fall des Dritten Reiches zwischen Im Atlantik verschollen und Die Jātaka-Erzählungen. Ich drehte meinen Kopf im Polster und sah wie gewöhnlich Reise zum Mittelpunkt der Erde, Die Halbgötter, Wie man das energieeffiziente Heim baut, Die drei Pfeiler des Zen, C. G. Jung für unterwegs, Die Reise des Maelduin, Das Tibetische Buch der Toten und Finnegans Wake. Die lange, durchhängende Reihe von Bänden hatte die stramme Unordnung von Zähnen. Sie trösteten mich; sie bedrängten mich. Ihnen gab pinke Glaswolle Rückhalt, die in einem Jupitersturm aus angetackerten Schichten matter Plastikfolie gefangen war. Mein Blick fiel auf die Bank neben meinem Bett, und indem ich das fluoreszierende Paar neuer Strümpfe und die neu geflickte Cordjeans und den sorgfältig gefalteten Velours-Sweater auf mich wirken ließ, erinnerte ich mich an die Quelle meines Elends, die mich veranlasst hatte zu trinken: Schule.

Die Claude-O.-Cote-Grundschule kauerte auf einer Betonplatte in einer Senke genau nördlich der zwei rivalisierenden Gemischtwarenläden der Stadt und genau südlich der Schottergrube. Sie war eine mit grauen Asphaltschindeln verkleidete Schachtel, deren untere Reihen von Generationen gelangweilter, schlecht ernährter Kinder abgenagt worden war. In ihrem dunklen Flur im Inneren beaufsichtigte ein Portrait von Mr. Cote seine Unterstützungsempfänger, wenn sie am Ende des Tages aus den Klassenzimmern schossen und um acht Uhr morgens wieder hineinschlichen. Jeden Morgen ertrugen wir stundenlange Gefangenschaft in stinkenden gelben Bussen, in denen sich die Jungen und Kleinen und Schwachen um die vorderen Sitze innerhalb der Reichweite des Fahrers bemühten, während die Gewalttätigen und Pubertierenden in die hinteren Reihen ausschwärmten, und ein Crescendo an Beleidigungen, Drohungen und Verführungen wurde durch das Brüllen des Fahrers abgewürgt, nur um in einem ständigen Kreislauf wieder aufzuwallen.

Das Chaos des Busses, das auf dem Parkplatz ausgeworfen wurde, konstituierte sich in subtileren, nach Alter getrennten Hierarchien innerhalb der mit Teppich ausgelegten hohen Klassenräume wieder neu. Dort bemühten sich die Lehrer vergeblich oder unnachgiebig oder liebenswürdig, die Flammen, die in uns brannten, zu ersticken, denn wir brannten und wussten es und betrachteten diese knirschenden Humanoiden als Boten einer leeren Zukunft. Ihre Stunden waren nichts weiter als Vorbereitung auf das Fegefeuer des Erwachsenseins. Oder etwas in der Art. In der Tat, woran ich mich erinnere, das sind die Eimer, die unter den lecken Decken platziert wurden, und die schlimmen Kids, die im Zickzack die Tröpfchen mit ihren Zungen auffingen. In der Zwischenzeit mussten wir das Läuten der Glocken, pädagogisches Gedöns und ritualisierte Schwüre erdulden, während die Stunden in ihre Tausendstel zermalmt wurden, in denen wir uns mit Gletschergeschwindigkeit, unmerkbar auf dieses klare, unerreichbare Ende-Juni-Licht zubewegten.

Ich wartete mit vorhersehbarem Schrecken auf September. Reifende Tomaten, tiefer stehende Sonne, länger werdende Schatten, erstes Blutkleeblatt versteckt im Grünen – alles Vorzeichen, die auf den Bus hindeuteten, in dem ich auf leiser Lautstärke das Radio-Geplätscher der Top Vierzig durchlitt, den Brechreiz, ausgelöst durch das endlose Halten und Anfahren und die Dieselabgase, die durch die Fenster hereinfurzten, mit jedem ratternden Hammerschlag, wenn die schwarzen Reifen gegen eine weitere gewaltige Frosthebung prallten. Die Flächen an Blaubeeren-Brachen, die vorbeiflogen, waren nichts weiter als äußere Manifestationen der Seelenlandschaft des Busses. Im Inneren herrschte das schmutzige Geplänkel von Kindern, die vor Kurzem von einem Begriff über Kopulation überwältigt worden waren. Noch weiter drinnen, in meinem Inneren, herrschte das jetzt vertraute Zur-Seite-Ziehen außerirdischer Schwerkraft, das mich schwebend in eine dunkle Metallbox verfrachtete, in der ich saß und dem Klang von Tauen, heiseren Schreien von Matrosen, dem verschlingenden Meer nachlauschte.

IN MEINER Metallbox warte ich. Rook kommt und geht mit Essen und meiner Toilette, einem verbeulten Blechtopf mit einem alten Teller zum Zudecken. Kein Licht, außer dem plötzlichen Sonnenschwall zusammen mit Rooks Visiten. Im Dunkeln, ohne etwas zu sehen, nichts zu tun, außer scheißen und essen und lesen, mit der Taschenlampe, die mir Rook herunterlässt, ein Exemplar von Du kommst nicht durch. Er sagt, es ist das einzige Buch, das er besitzt.

Ich sitze in mehrere Schichten von Decken eingehüllt da, nur mein Gesicht und meine Hände haben Kontakt zur bitterkalten Luft. Die Hände müssen frei sein – eine, um die Taschenlampe zu halten, und die andere für das Buch. Mein Atem dampft im dünnen Tunnel des elektrischen Lichts, das von den Seiten abprallt und meine kleine Box beleuchtet.

Der Raum ist zehn Bücher lang, sechs hoch und fünf breit. Dunkelheit und Angst verleihen mir Fledermausohren. Oder ich bin verrückt, weil ich anfange, dumpfes, fernes Gerede vom ganzen Schiff zu hören. Stimmen, die sich über Navigation Gedanken machen, einen Chor, der Oper übt, Klavierstimmen, etwas Geschrei, glücklich oder traurig? Und auch den hämmernden Motor. Radiosignale kommen und gehen, Senkbleie klopfen unter uns. Wenn das Schiff untergeht, gehe ich mit ihm unter.

Kartoffeln!, schreit jemand. Hast du sie gesehen? Die Stimme ist nah.

Dann schreit Rook, Nicht dort, NICHT DORT!

Aber es ist zu spät, die Falltür wird hochgezogen und eine intakte Sonne prallt auf mich herab.

Dunkle Augen starren zu mir hinab. Die Frau mit den Augen zieht mich in die blitzende Sonne. Sie ist jung, glatte Haare und Haut, nicht viel älter als Rook, aber die steile Flügelform ihrer Augen lassen sie erwachsener wirken. Sie denkt, ich sei eine Gefangene, sie macht sich um meine Gesundheit Sorgen. Ihr Name, sagt sie, sei Quill. Sie ist die Köchin und sie war auf der Suche nach Kartoffeln. Ich sage ihr, ich sei keine Gefangene, ich sei ein blinder Passagier und keiner wusste es.

Ich wusste es, sagt Rook.

Rook kann, wie sich herausstellt, nicht lügen, sogar wenn er in Schwierigkeiten gerät. Das ist entweder eine Tugend oder eine Schwäche, je nachdem. Jetzt gerade das erstere, meiner Meinung nach.

Quill ruft Severn, den Kapitän, herbei. Kapitän Severn ist groß, drahtig, die gelben Haare eine Fahne im Wind. Ich schätze, er ist Mitte vierzig, obwohl sein Gesicht gezeichnet ist, weil er Stürmen die Stirn bot, oder vielleicht vom Rauchen, dem er ohne Unterlass nachgeht. Quill legt ihre Hand auf seinen Arm, während sie erklärt, was passiert ist, und er bewegt sich nicht weg. Er wendet ihr seine schroffe Habichtsnase zu und seine harten blauen Augen fokussieren und werden sanft, als sie ihrem dunklen Blick begegnen. Ich erkenne einen zornigen Mann, der seinen eigenen Zorn hasst und ihn abschütteln will. Vielleicht hat Quill etwas damit zu tun. Jedenfalls ist er gütig, aber es ist schwierig für ihn. Und trotzdem bestraft er Rook mit Extraarbeit.

Jemand schreit, Sturmböe!

Im Westen eine dunkle Wand mit Blitzen. Severn beordert mich unter Deck, dann wendet er sich ab und brüllt Kommandos.

Ich kringle mich in eine leere Koje, um der Mannschaft aus dem Weg zu gehen. Über mir Schritte, Luken hämmern zu, das Schiff erbebt. Durch ein Bullauge beobachte ich, wie der Himmel schwarz wird.

Der Sturm kommt mich zu holen, scharfer, intensiver, wilder Tiergeruch, genau wie damals, als ich sah, wie die Kreatur meine alte Höhle betrat – sie folgt mir. Die Hinterseite meiner Kopfhaut brennt wieder.

Ich wende mich von dem Anblick ab, schließe meine Augen und nehme meine Bilder aus dem Regal.

Autounfall

grüner Warteraum

Planeten-Raum

Flüchtling

Axt, Vogel, Federn, Gedärme

Silbermünzen

sinkendes Boot

Kein gutes Bild, um jetzt daran zu denken. Und noch schlimmer, als ich die Bilder durchgehe, fehlt eines. Welches? Verzweifelt scharre ich danach in meinem Hirn. Was war es? Was war es?

Das Meer tut sich auf.

Wir tauchen samt den Blitzen und dem ganzen kreischenden Himmel zum Grund. Das Kreischen könnte jedoch auch von mir kommen. Schwierig, etwas zu hören über dem Donner, der überall rundherum hämmert.

DAS SCHLINGERN des Busses, der eine scharfe Kurve fuhr, brachte mich wieder ans Ende meiner Reise zurück.

Dann ging ich die steile Schotterstraße hinab, kickte gegen Steine und versuchte, fallende gelbe Pappelblätter aufzufangen, als Glücksbringer, aber kein Glück – und dann die kleine Brücke über die Mündung der Bucht, wo ich anhielt und einige Zeit über das Wasser starrte und mir an den glitzernden Wellenkämmen die Augen verbrannte, dann wendete ich mich in die andere Richtung zum Marschland, dessen Bäche durch den gigantischen Abzugskanal unter mir zur Bucht und weiter in den offenen Ozean flossen. Im Marschland formierten sich pralle Hagebutten und ein großer blauer Reiher breitete seine Flügel aus und schwebte in den Himmel.

Nun hetzte ich am leeren Farmhaus vorbei, wo blinde Fenster die Sonne spiegelten und im Wind zitterten und so zu einer Atmosphäre von verhaltenem Grauen beitrugen, das mich entlang des langen, schmalen Korridors der von knurrenden Wäldern gesäumten Straße verfolgte. Tief in den Bäumen versuchte jemand einen Motor zu starten, der, obwohl er tapfer dröhnte, es nicht schaffte, sich hustend Leben einzuhauchen, daher wurde das Geräusch leiser und versiegte. Bis ins Erwachsenenalter war ich überzeugt vom mechanischen Ursprung des Geräuschs und bewunderte, bemitleidete, hasste die Beharrlichkeit des mysteriös unfähigen Besitzers des Motors, der nie anspringen konnte. Dann, eines Tages, während ich in den Wäldern pinkelte, sah ich einen Vogel, ein Moorhuhn, das den Boden mit den Flügeln schlug, und das Geräusch, das es machte, war das Geräusch des unwilligen Motors.

Ich war abgelenkt von einem dunklen Umriss im Gebüsch und einen Augenblick lang dachte ich, es wäre mein Kater Schatten. Aber ebenso rasch erinnerte ich mich, dass er tot war, und unterdrückte den Schmerz, der folgte.

Ich bog in die Einfahrt ein und hörte ein Schreien aus dem Haus. Die Stimme meiner Mutter, tobend. Indem ich so leise wie möglich zum offenen Küchenfenster ging, blieb ich aus der Sicht und lauschte.

Ich werde nicht sterben !, schrie sie.

Ich habe nicht gesagt, dass du sterben wirst, sagte Myles ruhig.

Ich habe einen Sohn! Einen elfjährigen Sohn – ich kann nicht sterben!

Der Arzt hat nicht gesagt, dass du stirbst. Er hat gesagt, es sei ernst – sehr ernst –, und wir müssen über alle Möglichkeiten nachdenken.

Ich muss ein Kind großziehen, sagte Iris, und ihre Stimme klang mörderisch. Ich sterbe nicht.

Sie stapfte aus dem Haus, schlug die Tür hinter sich zu und ging Richtung Garten.

Ich schleiche mich zum Plumpsklo davon, obwohl ich es nicht benützen muss. Eine winzige Ansammlung alter Planken und Pfosten mit Blechdach, stand es etwa fünfzig Fuß von unserem Haus entfernt, mit einer türlosen Öffnung, die auf die Wälder schaute. Ich saß auf dem geschlossenen Deckel und betrachtete das Gebüsch und die Bäume. Wo Forste frisch geschlägert sind, sehen die Grenzen zerklüftet und ungeschlacht aus, zu Unrecht entblößt wie eine Schicht zerrissener Haut. Trotzdem schienen es die Meisen und Finken und Rothörnchen zu genießen – von Wurzel zu Zweig hüpfend in ihrem Krieg um Kiefernzapfen. Artemis erzählte mir, sie habe einmal gesehen, wie ein Hörnchen den Kopf einer lebenden Babymeise aß, während dessen Mutter vergeblich von oben angriff. Jetzt gab es hier kein solches Blutbad zu sehen, nur Gezwitscher und Gehopse, Balgereien. Ein paar Moskitos machten halbherzige, weinerliche Annäherungsversuche in der fröstelnden Luft, auf der Suche nach einem letzten Blutmahl, bevor sie zur Vergessenheit erfroren.

Ein tiefes Grunzen und plötzliches Krachen zu meiner Rechten schreckten mich auf, in eine aufrechte Position, sodass ich Geweih und Hinterteil eines weißschwänzigen Bocks im Gebüsch verschwinden sah. Was dachte ich? Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich versuchte, es nicht zu tun. Würde Iris verschwinden wie Schatten? Und wenn ja, was würde ich dann tun? Jetzt gab es in meinem Magen ein leeres graues Loch und all meine Gedanken schlitterten, zusammen mit dem Rest meines Lebens, hinein. Ich fühlte Druck auf meiner Brust – der alte Seufzer um Schatten kam hoch. Ich würde entweder explodieren oder in das graue Loch kollabieren. Vielleicht zuerst explodieren, dann implodieren. Um beiden Katastrophen auszuweichen, sprang ich auf, hievte meinen Rucksack auf eine Schulter und machte mich auf in den Garten.

Iris kniete zwischen ihren Tomatenpflanzen, wütend jätend, leise weinend, daher setzte ich mich neben sie hin.

Ich weiß, dass du krank bist, sagte ich sachlich, ich habe dich zuvor gehört.

Sie sah mich konzentriert an, lehnte sich dann nach vorne und zog mich zu sich.

Ich verlasse dich nicht, sagte sie in mein Ohr und ihre Stimme klang so grausam, dass ich ihr glaubte.

Sie wollte, dass ich ihr von der Schule erzähle, aber stattdessen erzählte ich ihr von meiner letzten Vision. Sie wischte ihre schmutzverkrusteten Hände im Gras ab, packte die Olivetti aus, die sie nun genau aus diesem Grund die ganze Zeit mit sich herumtrug, und begann zu tippen.

Während ich sprach, sah ich ihren Fingern zu, wie sie die Tasten mit rascher Kraft anschlugen. Dieses rhythmische, sichere Getrommel zählt zu meinen lebhaftesten Kindheitserinnerungen. Das Geklapper des stählernen Alphabets, welches Wörter in einer zuverlässigen Unkenntlichkeit der Bewegung auf knisterndes Papier übertrug, begeisterte mich mehr als jede Musik, glaube ich, mit Ausnahme der Frühlingspfeifer, die im Sumpf neben uns weinten. Vermutlich auch der Ruf der Einsiedlerdrossel, und nicht zu vergessen, wenn ich schon dabei bin, Grillen. Aber diese Geräusche waren saisonal, wohingegen Iris das ganze Jahr über tippte. Sie tippte Geschichten, die sie zuerst mit der Hand schrieb. Sie tippte kurze Sachen für die Zeitung. Sie tippte Gedichte und Essays und Papiere für Myles.

Im Garten waren für diese zwanzig Minuten alle anderen Klänge durch meine eigene Vor-Stimmbruch-Stimme in meinem Ohr und das Hämmern der Olivetti zum Verstummen gebracht. Die gebräunten Backenknochen meiner Mutter, ihre gebrochene Nase, ihr bogenförmiger Mund, geschürzt in Konzentration, ihre Augen, blau-grau, und ihre blonden Strähnen, die aus den Haarnadeln rutschten, alles war fokussiert auf meine Geschichte, die aus der Dunkelheit in das trockene Herbstlicht hinausstolperte. Vielmehr würde ich das gerne sagen können, aber erst viele Jahre später konnte ich meine Mutter als jemanden anderen als mich selbst sehen. Und es würde auch viele Jahre dauern, bis ich die Gestalt jener Geschichte, die ich ihr erzählte, oder vielmehr die Gestalt, in der ich sie ihr und Myles erzählte, sehen konnte – dass sie als Jux anfing, beginnend mit diesem Tag aber immer belastender wurde, je tiefer wir drei mit meiner Lüge verbunden waren. Um ehrlich zu sein, war es trotzdem ein Vergnügen, mich an der Aufmerksamkeit meiner Mutter zu weiden, sogar als die Tränen auf ihrem Gesicht trockneten, denn in diesen frühen Tagen entschloss ich mich, ihrer Ankündigung, dass sie nicht sterben werde, zu glauben. Nein, es war unmöglich, dass sie sterben könnte.

Als ich fertig war, erhoben wir uns, Schreibmaschine und Blätter in Händen, und gingen langsam zurück zum Haus, hielten in unserem Vorwärtskommen an, um die späten neuen Blüten der Ringelblume zu bemerken und die Gurken, belagert von Schnecken. Iris bückte sich, um sämtliche gelben Körper von einem zerfransten Blatt zu picken und sie grimmig in die Wälder zu schleudern, und wischte sich an einem Haufen ausgerissenen Unkrauts den Schleim von ihren Händen. Aber sie zügelte rasch ihr Temperament und stimmte mir zu, dass die blauen unter den chinesischen Vergissmeinnicht stark an die Lapislazuli-Ohrringe erinnerten, die ihr Myles einige Jahre vor meiner Geburt geschenkt hatte, die sie aber niemals trug, aufgrund der fehlenden Löcher in ihren Ohren.

Diese Ohrringe wurden in einer Schachtel aus gelbem Leder aufbewahrt, in das Schnörkel eingeprägt waren. Diese Schachtel zu öffnen, bereitete mir ein Vergnügen, beinahe vergleichbar mit jenem, ein Buch zu öffnen. Wenn das Schloss aufsprang, traf es die Schachtel mit einem leisen, dumpfen Geräusch und die Schachtel selbst fungierte als Resonanzkörper und steigerte den Klang. An der Unterseite des Deckels angebracht, reflektierte ein Spiegel eine Menge farbiger Steine und gewirktes Metall. Eine rubinfarbene Glaskette war mit einem Bodhisattva-Anhänger verheddert, der aus Silber und mit einem Amethysten besetzt war. Myles´ goldener Ehering war hier abgelegt, weil er zu unbequem war, sagte er, um ihn den ganzen Tag zu tragen. Still in der Dunkelheit der Schatzkiste sitzend, hatte sein Goldband eine matte Patina angenommen, die Kanten scharf, die zwei dekorativen Schlitze deutlich sichtbar. Im Kontrast dazu glänzte Iris’ Ring gelb, weich und rund aufgrund des Tragens. Wenn sie sich die Hände wusch oder eine Flasche Bier aufhob, klopfte das Gold gegen Porzellan oder Glas, mit einem beruhigenden Klirren, dessen befriedigende Eigenschaft ich erst viele Jahre später bemerkte, als mein eigener Ehering mit Geschirr und Steinen kollidierte. In der Tat verstand ich mich erst nach dem Wiedererkennen dieses vertrauten Klangs endgültig als Erwachsener. Ich war ein Ringträger geworden, gebunden durch einstmals undurchschaubare Schwüre, an Empfindungen, die mich vor ein Rätsel gestellt hatten. Aber sogar damals als Kind wusste ich, während ich in der Schmuckkiste meiner Mutter wühlte, dass diese zwei Ringe mehr symbolisches Gewicht hatten, als sie tragen konnten: einer getrübt und hart im Dunkeln, der andere weich glänzend im Sonnenlicht – die eheliche Gleichung war zu exakt, um sie ertragen zu können. Zu exakt, ja, und deshalb nicht akkurat, weil ihre Ehe wie die meisten ein unentzifferbarer Eintopf an Zweideutigkeiten war, unergründlich, fand ich später heraus, auch für sie.

Myles war wie üblich mit Farbe bekleckert – sogar seine Brille glitzerte vor weißen Tröpfchen. Zuerst kratzte er die Gläser ab, dann seinen Bart mit einem Rasierer, und wir alle zogen saubere Kleidung an und spazierten hinaus auf die Schotterstraße und folgten ihr westwärts, den Weg zurück, den ich vom Schulbus her gekommen war, zwischen den sumpfigen Bäumen, vorbei am ominösen Farmhaus, quer über den gigantischen Abzugskanal, der nun das Marschland aus der steigenden Flut des Ozeans speiste. Die Sonne kollabierte über der Bucht, eine kolossale Qualle, die rohes Purpur hinter sich her zog. Und von dort führte die Straße hinauf, sanft am Haus der Silvers vorbei, das sich auch in Bau befand, aber in einem fortgeschritteneren Stadium der Vollendung als unser eigenes. Und hier bäumte sich der Hang abrupt zu einem Hügel auf. Wir gingen hinauf, die Unterhaltung verstummte aufgrund der Anstrengung. Auf halbem Weg kamen wir am Miniaturhaus der Bojanowskis vorbei. Herman Bojanowski baute ständig neue Räume, aber unerklärlicherweise schien das Haus mit jeder Erweiterung kleiner und kleiner zu werden.

Als wir uns der Spitze des Hügels näherten, konnten wir die Schreie von Pfauen hören, vermischt mit dem Stimmen von Saiten und einer schnurrenden Menschenmenge, alles akzentuiert durch gigantisches Lachen und Tonleitern. Laternen bekämpften die Dämmerung mithilfe eines Schirms aus Bäumen. Ein männlicher Pfau stolzierte mit geöffnetem Rad, schillernd und absurd, entlang des Straßenbanketts, wie ein Ball-Debütant aus dem achtzehnten Jahrhundert, der sich verlaufen hatte.

Dann waren wir in der Menschenmenge, manche waren frisch umgezogen, andere stanken heftig nach Dünger und Sägemehl. Am Boden waren Stockenten und Hühner, die von Zeit zu Zeit krächzten, wenn jemand, besoffen vom Wodka, über sie stolperte.

In dem Wald aus Erwachsenen fand ich Artemis und Apollo, die griesgrämig planten, den Konzertschuppen hochzujagen. Niemand, den wir mochten, würde sterben, versicherten sie mir, aber diese Horde von Arschlöchern müsste es erfahren. Ich fragte, was die Horde erfahren müsse, aber die Verschwörer strebten bereits ihr Ziel an.

Der Schuppen war immer noch leer, als wir unter die Bühne krochen, um die Ladung anzubringen. Artemis deponierte einen Haufen von Schießpulver, das sie aus gestohlenen Patronen gesammelt hatte. Sie stupste Apollo an, ihren Schützling, der durch die Ritzen im Bretterboden hinaufspähte. Der Tagträumer schüttelte sich und holte eine Zündschnur heraus, die er abwickelte. Ich machte mir Sorgen, weil sich das Pulver direkt unter Willards Klavierbank befand. Aber darum ginge es, erklärte Artemis voller Zufriedenheit, Willard würde mitten im „Bemsha Swing“ in die Luft gehen. Sie hatte mir gesagt, niemand würde sterben, und jetzt planten sie den Lehrmeister umzubringen, der ohne Zweifel jemand war.

Da hätte ich unrecht, beharrte Artemis, Willard war nicht jemand, er war ein Monster.

Wie das?, fragte ich. Etwas Schreckliches war geschehen, aber sie wollten nicht sagen was. Und sie würden es auch niemals, wirklich, niemals, niemals sagen.

Sie zogen sich bereits von ihrem Platz unter der Bühne zurück und wickelten dabei die Zündschnur ab.

Dann wanderten wir in der Menschenmenge umher, um ein Alibi zu konstruieren. Den Jüngern hatten sich wohlhabende Einheimische angeschlossen, die gekommen waren, wie um exotische Fauna zu begaffen. Sie beteten den Lehrmeister an und nannten ihn Maestro und er korrigierte sie nicht. Sie defilierten ehrerbietend in den Schuppen und bewunderten dabei die Authentizität seiner grob behauenen Balken und deren Reflexionen in der glänzenden schwarzen Flanke des Konzertflügels. Und behutsam herzlich ließen sie sich nieder auf den bunt zusammengewürfelten Stühlen und Bänken, Schaukelstühlen und Sofas, die den Erdboden bevölkerten. Im Schein der Kerosin-Lampen, die als Rampenlicht dienten, hopste Willard leichtfüßig auf die Bühne. Sein dichtes grauschwarzes Haar, das sich in einer Explosion aus kurzen strammen Locken aus seinem Kopf hochschraubte, strahlte einen Glanz von Vergnügen aus, als der Applaus um ihn anschwoll.

Niemand wusste genau, woher Willard kam. Manche sagten, er wäre ein Schwarzer Indianer, der Nachkomme von Sklaven aus Louisiana, die ihren Herren entkamen und Zuflucht bei den einheimischen Choctaw fanden. Andere sagten, seine Mutter wäre eine Brahmanin aus Jaipur, die ihre Familie kompromittierte, indem sie einen chinesischen Fischer heiratete. Und wieder andere beharrten darauf, dass sein Vater ein sephardischer Jude aus Äthiopien war. Ein Mann, der behauptete, mit ihm zur Highschool gegangen zu sein, sagte, Willard wäre bloß ein Schmidt aus New Jersey, der leicht Farbe bekomme. Weder bestätigte Willard selbst irgendeines dieser Gerüchte, noch leugnete er es. Woher wir kommen, ist irrelevant, sagte er dann. Wir müssen unsere Vergangenheit auslöschen, unser Ich. Wir müssen der Wind werden.

Das sagte er dauernd. Und das sagte er mehr oder weniger jetzt, als er auf der Bühne des Schuppens stand.

Thelonious Monk, sagte er, großer Zampano der Bebop-Tasten, Prinz des perkussiven Anschlags, Kaiser des Improvisationsjazz. Und was ist Improvisation? Es ist, mit dem auszukommen, was man hat, was genau vor einem liegt, genau jetzt, genau hier. Zufällig ist das auch eine 1 A-Beschreibung von Zen-Praktik. Monks Kompositionen sind musikalischer Zen. In einem bestimmten Augenblick verwenden sie nicht mehr und nicht weniger als die präzise erforderliche Note. Monk zu spielen, Monk zu hören, wirklich zu spielen, wirklich zu hören, heißt, in Samadhi einzutauchen. Lasst uns das tun, Leute. Aber zuvor, ein Augenblick, um uns auf den Augenblick zu besinnen, der eine Wirklichkeit enthält, die weder willkommen noch unwillkommen ist; er ist einfach nur und man muss ihm ins Auge sehen.

Eine unter uns, sagte er, hat eine lebensbedrohliche Krankheit. Unsere liebe Freundin Iris, fuhr er fort, indem er in ihre Richtung gestikulierte, hat Krebs. Sie ist in unseren Gedanken, aber nicht nur in unseren Gedanken, auch in unseren Taten. Die Einnahmen aus diesem Konzert werden für die Bezahlung ihrer Arztrechnungen verwendet.

Und damit verbeugte er sich und wendete sich seinem Klavier zu. Niemand sah Iris an, aber es war, als ob das beiläufige Starren der Zuhörer sie niederdrückte, und beschämt sackte sie in ihrem Sessel zusammen. Später beschuldigte sie Myles, private Information an Willard und Weiß-Gott-Wen preisgegeben zu haben, um sie in der Öffentlichkeit zu demütigen. Worauf Myles erwiderte, er habe keine Ahnung gehabt, dass es bei dem Konzert verkündet würde, aber so oder so sei es eine sehr nette Geste und sie würden das Geld sicherlich benötigen und warum müsse sie die ganze Zeit über so verdammt vertraulich sein, und von dort nahm der Streit einen sorgfältig ausgetretenen Pfad entlang einer der großen Bruchlinien zwischen ihnen – in diesem Fall des Spalts zwischen einer Wortkargen aus New England und einem geschwätzigen Iren.

Die Lichter flackerten bei Willards forscher Bewegung. In der Stille schlug der von Dünger verkrustete Saum seines Overalls sanft gegen die Beine seiner Klavierbank, als er sich setzte und seine riesigen, von der Arbeit geschwollenen und mit Speilen gespickten Hände über den Elfenbein-Zähnen seines Flügels ausbreitete, dessen Bauch weit geöffnet zum Schuppen hin dastand. Neben Willard saß seine Umblätterin, seine Adjutantin, Ms. Ohm, meine Klavierlehrerin, eine Frau, die unter allen anderen Umständen sich kaum das Grinsen verkneifen konnte, aber hier, im Schatten des Schuppens, still und grimmig konzentriert den „Bemsha Swing“ aussaß.

Kaum hatte die Musik begonnen, fing ich an, mich zu krümmen. Diese Konzerte waren quälende Härtetests, während derer ich es mit der verzückten Stille oder dem ruhigen Wiegen und Kopfwackeln der Erwachsenen um mich herum versuchte. Ich versuchte sogar wie sie, meine Augen zu schließen. Nach einer Ewigkeit musste ich mich anpassen – meine Knochen wuchsen, während ich atmete. Während die Noten vorbeirasten oder erbärmlich am Boden entlangkrochen, dehnten sich meine Sehnen und drehten neue Stränge, meine Zähne pressten sich aus meinem Kiefer und ich musste unbedingt meine Position auf dem Sitz ändern, um all diese inneren Bewegungen auszugleichen. Zuletzt drehte ich daher, so still wie möglich, meinen Torso in dem Korbsessel, der mich gefangen hielt, und wurde von einem missbilligenden Blick von Jack Blatsky, dem Violinbauer, getroffen. Flink kehrte ich in meine ursprüngliche Position zurück und genauso flink wurde mein Körper von innerlicher Bedrängnis gefoltert. Ich schlug meine Augen zu. Mein Schädel expandierte mit solcher Geschwindigkeit, dass ich spüren konnte, wie sich die Bänder dehnten, meine Kehle sich blähte, die Knie ihre Scheiben wegsprengten und ich mich in salziger Luft wälzend wusste.

OHNE MICH zu finden, zieht der Sturm vorüber. Das Schiff treibt immer noch umher. Das Bullaugenfenster trocknet rasch, aber ich kann durch jenes hindurch nicht viel sehen, außer den Horizont, die Sonne, die See.

Rook findet mich, gibt mir einen Hut, einen Apfel, ein Brötchen, und weist mich hinauf ins Krähennest, auf Befehl von Kapitän Severn. Wir wurden vom Kurs geweht und nun müssen wir Jagd machen nach Land.

Von der Spitze des Mastes ist die Welt eine gigantische Scheibe unter mir und ich schaukle über ihr. Schichten von Farben überall. Über mir ist die Himmelskuppel eine umgedrehte purpurne Schüssel, die langsam zu einem quecksilberroten Vorhang im Westen wird, wo die Sonne in einen Horizont aus Blut versinkt. Und dieses Blut fließt über die Wellen zu mir, wird pink, als es das Boot erreicht, und verflüchtigt sich dann rasch zu verzinktem Stahl und schlägt schließlich im Osten, an der fernen Seite der Welt, in Schwarz um.

Ich wende mein Auge nach innen und jage dem fehlenden Bild nach. Ich habe so wenige, dass ich es mir nicht leisten kann, eines davon zu verlieren. Aber es ist verschwunden, vollkommen. Und dennoch kann ich immer noch die Lücke spüren. Es wäre fast besser, es würde ohne Spuren verschwinden, aber es bleibt ein Rest, wie der Kleber, der in einem Album zurückbleibt, aus dem ein Bild entfernt wurde, und dieser Rest fühlt sich beinahe so lebendig an wie das Bild selbst, und daher noch schmerzvoller. Was war es, was war es? Ich sehe meine Sammlung durch, eins nach dem andern, um jene, die ich noch habe, zu retten. Es darf keine Verluste mehr geben.

Unfall

Warteraum

Planeten

Flüchtling

Vogel

Schatz

Boot

Geist

Pistole

Regenbogen

Brennholz

Brot …

Die Lizzy Madge unter mir ist eine winzige Muschel.

Rook und ein dürrer bärtiger Mann rollen ein Klavier aus einer großen Kabine auf das Vordeck. Etwas später bringt der bärtige Mann eine Bank heraus, öffnet das Klavier und stimmt es. Als er fertig ist, setzt sich eine große Frau mit einem großen Strohhut an das Klavier. Ein kleines braunes Tier bewegt sich wie Wasser zu der Bank und fließt hinauf, um neben ihr zu sitzen. Es ist ein Otter. Warum weiß ich das? Die Finger der Frau bewegen sich ein paarmal die Tasten auf und ab und spielen ein seltsames trauriges Lied, das mich ermüdet.

Um wach zu bleiben, scanne ich das Deck. Im hinteren Teil jongliert Rook mit Orangen. Er starrt gerade hinauf zu seinen fliegenden Früchten und geht umher, als ob es nichts wäre. Er jongliert zu der Musik. Vielleicht bemerkt es die Frau am Klavier, weil sie schneller spielt. Rook wird schneller. Sie auch. Sie machen weiter, bis das Jonglieren und die Musik so schnell sind, dass sie einen neuen Sturm brauen. Ich schaue auf und sehe keine Stürme, sondern Land. Ich läute die Glocke.

Die See ist ruhig und in ihrer Mitte ist eine kleine Insel aus blankem gelbem Stein. Sie ist klein, aber hoch, zumindest so hoch wie mein Ausguck, und voller Klippen, so gerade wie der Mast. Alles in allem sieht sie aus wie die Spitze eines versunkenen Schlosses und hat sogar entlang der Innenwände des Felsens in den Stein gehauene Eingänge. Nichts wächst auf ihr und der ganze Ort sieht so trauervoll aus wie ein Friedhof. Aber wenn ich könnte, würde ich aus dem Ausguck klettern und geradewegs zu ihr hinfliegen, weil mich die Schwerkraft von Stadt dorthin zieht.

Dieses Gefühl knallt von hinten in mich hinein. Einen Moment lang taxiere ich kühl den Ort und im nächsten muss ich hingelangen. Warum? Dort ist keine Stadt, keine Wasserfälle, kein Flieder, kein Platz für Autounfälle oder Warteräume oder Räume, die wie Planeten aussehen. Aber trotzdem muss ich, trotzdem muss ich hierher.

Der Ort ist bewohnt. Es gibt ein kleines, aus dem Felsen gehauenes Dock. Auf dem Dock ein paar Leute mit Netzen und Seilen. Sie scheinen nicht glücklich zu sein, uns zu sehen, aber vielleicht können sie mir den Weg nach Stadt zeigen. Vielleicht muss ich deshalb an Land. Aber vorerst warte ich.

Die Lizzy Madge setzt den Anker und Kapitän Severn springt mit Rook in ein kleines Motorboot. Als sie das Dock erreichen, schaltet Severn den Motor ab und vom Schiff aus hören wir ein Hin und Her von Stimmen. Rook scheint zu versuchen, mit den Leuten in verschiedenen Sprachen zu sprechen. Offensichtlich haben ihn seine Fahrten zu einem Linguisten gemacht.

Als das Boot zurückkommt, sagt Rook, dass die Inselbewohner keine der zwölf Sprachen, die er kennt, sprechen. Es klingt wie unsere Sprache, sagt er, ist es aber in Wirklichkeit überhaupt nicht. Er scheint glücklich darüber. Er zieht ein kleines Instrument heraus und spielt eine Aufnahme eines Mannes ab, der sagt:

Geiselklänge oder vielmehr Stille in Geiselhaft von unablässigem Klang, Dunkelheit gefangen im Innern von Straßenlichtern, Uhrenlicht, Bremslichter, Mondlicht, Klang und Licht, von Erdbeben und Motoren gekidnappte Unbeweglichkeit.

Dann eine Frauenstimme:

Auf Flüssen von Blut treibende Städte, auf in die unschuldige Luft entlassenen Fluten, aber gab es jemals irgendwo eine unschuldige Zeremonie zu überfluten? Die Seufzer, die Schreie, die ekstatische Flut, der Schwall, das Getöse.

Die Stimme eines Kindes sagt:

Nichts da nichts da, nun hört dies hier. In jüngster Zeit der Lauf des Blutes, der inwendige Wind, der die ganze Zeit mein Rückgrat hinabheult, aber nur ab und zu gehört und dann zu laut, um durchzudringen, so denn besänftigt mit einem Kunstwort und Gesängen.

Schließlich wieder der Mann:

Wir verweilten und schlugen die Stunden tot, eine nach der anderen, Stück für Stück, bis alles vorbei war, schwarze Spinnensonne, rivalisierende Monde, die näher kommende Umlaufbahn des fröhlichen Insekts, abgeworfene Flügel, breite Kiefer, pelzige Antennen eines Halbgottes. Gleichgültigkeit gegenüber dem Ewigen, wenn es Ewiges gibt. Was man lieben kann, flieht, was man –

Severn dreht ungeduldig das Tonbandgerät ab.

Erzähl die ganze Geschichte, Rook, sagt er. Wir waren trotzdem in der Lage zu kommunizieren. Handzeichen mögen nicht so raffiniert sein wie Sprache, aber wir drangen zu ihnen durch. Ich zeichnete ein Bild unseres Ziels in den Sand und sie zeigten nach Osten.

Das Deck der Lizzy Madge ist überfüllt. Jeder schaut nach Osten. Nichts als Horizont.

Na gut, sagt die Frau, die Klavier spielte, auf geht’s.

Sie ist still, aber jeder hört ihr zu. Sie klingt reich. Vielleicht deshalb. Deshalb hört jeder zu, meine ich. Sie ist irgendwie königlich, groß, ihr langes grauschwarzes Haar in einem dicken Zopf über der Schulter, ihre grauen Augen haben die Form von Falkenschwingen, ihr Mund eine dünne stolze Linie.

Ja, sagen sie alle, auf geht’s.

Sie bewegen sich rasch, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Rook fragt Kapitän Severn, ob wir noch etwas länger bleiben können, um mehr von der fremden Sprache aufzunehmen, aber der Anker ist bereits gelichtet.

Severn wendet sich an Rook und sagt, Es scheint, die übereinstimmende Meinung ist gegen dich.

Du meinst, Chisholm ist gegen mich, sagt Rook und schaut zu der reich klingenden Frau, die wieder Klavier spielt.

Sie ist diejenige, die mein Boot gechartert hat, sagt Severn und macht sich auf zur Brücke.

Nein!

Ich höre meine Stimme, bevor ich weiß, dass es meine ist.

Ihr könnt nicht abhauen. Dies ist der Ort, nach dem ihr sucht!

Severn bleibt stehen und starrt mich an. Jeder tut das. Blinder vagabundierender Passagier schreit Kapitän an. Aber was kann ich sonst tun? Das Boot wendet und Stadt reißt mich mit solch einer Kraft zurück Richtung Insel, dass ich glaube, erbrechen zu müssen.

Und woher willst du wissen, wonach wir suchen?, fragt Severn.

Es spielt keine Rolle woher, sage ich. Das ist es.

Schweigen von Severn – die Nase hart und scharf wie ein Messer. Er dreht sich um und geht weg, die anderen zurück an die Arbeit, das Boot fährt davon. Wir fahren nicht zurück. Es ist zu spät für mich, um zur Insel zu schwimmen. Ich würde es niemals schaffen. Ich werde zurückkommen, denke ich. Ich werde dieses Boot wenden. Irgendwie. Es ist, wie zwei Schwerkraftpole zu haben, die mich in zwei verschiedene Richtungen ziehen. Es gibt die übliche Kraft, die mich hinabzieht, und dann die Insel, die mich seitwärts zerrt. Ich fühle mich krank; ich lehne mich gegen das Seitendeck und greife nach den Bildern in meinem Kopf, um mich zu stützen.

Unfall

Warteraum

Planeten

Flüchtling

Vogel, Axt, Federn …

Die Bilder trösten mich. Sie sind wie polierte Steine, ganz Oberfläche, kein Schmerz oder Benommenheit, nur schwacher Herzschmerz. Der Schmerz des fehlenden Ganzen. Es gibt Stücke eines größeren Bildes, einer anderen Geschichte. Zu welcher Geschichte gehören sie? Meiner Geschichte. Was ist meine Geschichte? Sie ist immer noch außer Reichweite, aber der Schmerz, sie zu missen, stellt mich wieder her, vertreibt die Übelkeit.

Chisholm spielt Klavier und schaut mich an. Auch ihr Otter. Freundlich? Unfreundlich? Kann ich nicht sagen. Ich schaue weg, wenn sie schauen.

DAS TROMMELN von Beifall, der in alle Richtungen durcheinanderwirbelte, ließ mich im Konzertschuppen aufwachen.

Die Show war vorbei und Willard verbeugte sich. Er war nicht in die Luft geflogen.

Das Schießpulver war ein Blindgänger, sagte Apollo angewidert, als ich in der Menge auf die Geschwister traf. Willard hat überlebt, aber nicht für lange, schwor Artemis. Nicht für lange.

Iris fand mich und schubste mich aus dem Schuppen, verzweifelt bemüht zu verschwinden, bevor die bekümmerten Befragungen durch all die besorgten Bürger einsetzten, die durch Willards Bekanntgabe vor dem Konzert über ihren Zustand alarmiert worden waren.

Wie kann er es wagen, murmelte sie, während ich damit kämpfte, den Hügel hinab mit ihr Schritt zu halten. Wie kann er es wagen, ich würde niemals um Wohltätigkeit bitten.

Ich konnte nicht sagen, ob sie von Willard sprach oder von Myles wegen der Preisgabe ihrer Diagnose. Vielleicht von beiden. So oder so hatten wir Myles hinter uns gelassen – ein vertrautes Szenario, in dem sich Myles immer nach seinem eigenen Zeitplan bewegte. Wenn er sich in lebhafter Konversation befand, mit einer Menge an verfügbarem Getratsche, war er nicht bereit, solch ein Parlieren abzubrechen, nur weil Iris heimgehen wollte, was sie normalerweise tat. Noch war Iris gewillt zu warten, bis er seine Unterhaltung beendete, weil sie das alles schon zuvor gehört hatte, und auf alle Fälle hatte sie an jenem speziellen Abend einen Grund, auf ihn sauer zu sein. Und wie gewöhnlich war ich verpflichtet, sie nach Hause zu begleiten, was für mich in Ordnung war, weil es Bücher zu verschlingen gab. An jenem Abend las ich noch einmal Die Schatzinsel. Aber dieser Tag muss zu viel für mich gewesen sein, denn kaum hatte ich mich im Bett verschanzt und den Band geknackt, als sich meine Augen zu schließen begannen und ich mich in hellem Wasser schaukelnd wiederfand.

ICH HELFE Quill in der Küche. Weil sie mich gefunden hat, denkt Quill, sie muss sich um mich kümmern. Rook ist ihr Assistent. Bevor er mich in der Küche arbeiten lässt, trimmt und wäscht Rook mein Haar, wäscht mein Gesicht, schneidet meine Nägel.

Wo kommst du her?, fragt er.

Das weiß ich nicht, sage ich. Er schaut mich an und lächelt. Nicht ganz ein Grinsen, fällt mir auf, mehr ein trauriges Lächeln und irgendwie auch fröhlich. Er hat schiefe Zähne und eine schiefe Nase und alles in allem ist es ein hübsches Gesicht. Das meint Quill. Ich sehe, wie sie ihn von der Seite ansieht, überrascht, als ob sie vergessen hätte, warum sie schauen wollte.

Und jeder weiß, dass Rook Quill liebt. Er verbirgt es, schafft es aber nicht. Sie streiten über alles – wie man Gemüse zerkleinert, wie man Reis kocht, ob der Himmel klar oder wolkig ist. Manchmal wird der Streit heftiger. Quill geht mit noch dunkleren dunklen Augen davon. Rook folgt, sagt, es tue ihm leid, obwohl es ihm nicht leidtut.

Ich frage Rook, warum sie streiten.

Du weißt schon, sagt er.

Vielleicht, aber nicht ganz, sage ich.

Es ist, sagt er verbittert, weil Quill mit Severn verlobt ist und die Verlobung nicht lösen will.

Warum nicht?

Aber er stakst davon, ohne zu antworten.

In den folgenden Tagen streiten sie weiter, aber wenn jemand anderer mit ihnen streitet, schließt sich die Lücke zwischen ihnen vollkommen.

Eines Morgens kommt ein kleiner zittriger Mann zur Kombüsentür. Er will mit Quill über Zwiebeln reden.

Du verbrauchst sie zu schnell, sagt er, das Schiff wird innerhalb von Wochen völlig zwiebellos sein. Beabsichtigst du, am ganzen Schiff Skorbut heraufzubeschwören?

Quills kleines rundes braunes Gesicht wird rot.

Du kannst dich von mir aus dritter Maat nennen, sagt sie, aber du bist ein Narr!

Rook stellt sich zwischen die beiden.

Nolan, das war dein Fehler, sagt er. Wenn du der Vorratsliste, die wir dir gegeben haben, Beachtung geschenkt hättest, wäre es kein Problem.

Nolan redet über Statistiken und Budgets und dann hält er inne, weil er mich sieht. Seine Augen weiten sich und er lächelt. Seine Zähne sind weiß und gerade. Er schüttelt langsam meine Hand. Seine Hand ist dünn und stark.

So schön dich kennenzulernen sagt er, und starrt mich an.

Ich hasse ihn.

Ich mag keine Zwiebeln, sage ich. Hilft das?

Er lächelt wieder. Er lacht. Es ist ein großes Lachen. Er zieht sich aus der Kombüse zurück.

Land!, schreit jemand aus dem Ausguck und läutet die Glocke.

Noch eine Insel. Die Motoren aus, Anker hinab, und Severn und Rook besteigen die Barkasse.

Heiße Winde zerhacken die Wellen zu Weiß. Weiße Wolken im blauen, blauen Himmel. Auch die Insel ist weiß – kleine weiße Häuser auf der Spitze weißer Klippen, die zu einem grünen Tal hin abfallen. Quill schaut durch ein Teleskop. Sie sagt, das Tal ist voller Weinberge und die Straßen des Klippengipfeldorfes haben Cafés, in denen Menschen Wein trinken.

Ich hoffe, dies ist der Ort, sagt sie.

Aber er ist es nicht. Severn und Rook kommen frustriert zurück. Die Inselbewohner haben sie ausgelacht, als sie sagten, wonach sie suchten.

Er existiert nicht, sagen sie.

Und als Rook ihnen von der Insel, auf der wir gerade gewesen waren, erzählte, lachten sie abermals.

Die existiert auch nicht, sagten sie und tranken weiter ihren Wein.

Nun schauen alle an Bord der Lizzy Madge einander an.

Wenn die Insel, die wir gesehen haben, nicht existiert, sagt Nolan, dann ist das die Insel, nach der wir suchen.

Offensichtlich, sagt Chisholm. Sie sagt es ruhig, aber jeder hört sie. Und ich sehe, dass sie mich wieder ansieht. Jeder tut das.

Kapitän Severn gibt Order, das Schiff zu wenden. Die Mannschaft rennt.

Chisholm kommt zu mir. Ihr Otter folgt.

Woher hast du das gewusst?, fragt sie. Ihr Otter klettert auf ihre Schulter. Seine langen Schnurrhaare zucken.

Irgendetwas ist in ihrer Stimme, irgendein Klang, den sie versucht herauszuhalten. Sie ist mir nahe und starrt. Ich kann nicht sagen, was sich hinter diesen grauen Falkenaugen abspielt, und ich schere mich nicht darum. Zumindest glaube ich das, obwohl ich wahrscheinlich sollte.

Ich bin mir nicht sicher, sage ich.

Sie bewegt sich nicht, ihre Augen bewegen sich nicht. Ihr Gesicht bewegt sich nicht.

Dann dreht sie sich plötzlich um und geht davon. Sie berührt Severns Arm, als sie an ihm vorbeigeht. Der Otter gleitet hinab und umkreist ihre Füße. Severn lässt, was er gerade macht, sein und folgt Chisholm. Es sieht aus, als hätte er keine Wahl, als wäre er unglücklich. Als er geht, drehen sich seine Augen zu Quill, die am Bug des Bootes mit dem Rücken zu ihm steht und zusieht, wie die Insel kleiner wird. Für einen Augenblick kann ich sie sehen, wie er sie sehen könnte, eine junge Frau mit langem Haar, so glatt, dass es aussieht wie Tee, der aus einer Tülle kommt. Jetzt, wo ich daran denke – auch ihre Haut ist glatt und teefarben.

Quill ist Chisholms Tochter, sagt Rook, der plötzlich neben mir steht. Seine Stimme klingt wie Säure, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sein Gesicht verzerrter als sonst ist. Er muss gesehen haben, wie Severn Quill beobachtet hat.

Sie sehen sich nicht ähnlich, sage ich.

Nein, sagt Rook. Auch völlig unterschiedliche Charaktere. Quill ist selbstverständlich Quill, wie du weißt. Aber Chisholm – nun ja, du hast es gesehen. Sie will deine Seele umkrempeln.

Weiß Quill davon?, frage ich, und mache mit meinem Kinn eine Bewegung in Richtung Chisholm und Severn, die nun aus dem Blick verschwunden sind.

Rook schüttelt still den Kopf.

Warum sagst du es ihr nicht?

Er lächelt mich traurig an und schüttelt wieder seinen Kopf. Dann dreht er sich eine Zigarette, zündet sie an und schlendert hinüber, um sich neben Quill ans Vordeck zu lehnen.

Diese Insel mag vielleicht nicht diejenige gewesen sein, nach der wir suchen, sagt Rook, aber ihre Geologie scheint von der fraglichen verlorenen Zivilisation beeinflusst worden zu sein, denn laut den Alten hatte jene Originalsprache sowohl eine hieratische als auch eine demotische Form – die demotische wurde von der menschlichen Zunge gesprochen, aber die hieratische wurde mit Schatten und Licht, mit Wasserfällen und Vogelgesängen oder dem Brechen von Wellen in die Landschaft geschrieben. Die Felszungen und Klippen der Insel wurden auf subtile Weise verändert, die charakteristisch ist für diese Sprache, um deutlicher zu den Sternen zu sprechen. Und dies mag weder eine kapriziöse poetische Laune gewesen sein noch eine metaphysische Geste, sondern vielmehr ein merkantiler Zeichenträger oder, noch besser, alle drei zusammen.

Weiß Rook überhaupt, was er da sagt? Ich glaube nicht. Ich glaube, er sagt irgendwas, nur nicht, was er fühlt. Oder vielleicht sagt er, was er fühlt, aber auf eine sehr seltsame Weise. Oder vielleicht sagt er, dass er nicht sagen kann, was er fühlt oder dass der einzige Weg, es zu sagen, dieser ist.

Und gewiss, fuhr er fort, war es genau die Geräumigkeit solcher Signifikanten, die der lokalen maritimen demotischen Sprache erlaubten, zu einer polyglotten zu werden, die sich aus Anleihen jeder anderen Sprache in der Welt zusammensetzt.

Aber nein, sagt Quill, es ist eben genau keine Patchwork-Sprache, sondern vielmehr ein direkter Nachfahre der originalen demotischen, aus der alle anderen entsprangen. Sie trägt alle Zeichen jener quicklebendigen ersten Sprache, deren Grammatik sich wie die Gezeiten verändert, deren Beziehung zwischen Wort und Objekt, welches es bezeichnet, bloß symbolisch ist, sich jeden Augenblick ändern kann, und in den meisten Fällen unmittelbar erfunden wird. Diese Sprache könnte man Griechisch oder Englisch, Chinesisch oder Hebräisch nennen, denn man könnte in jeder dieser Sprachen einen Text lesen oder Gesprochenes hören. Zum Beispiel kann sogar die banalste Werbung in der originalen demotischen Sprache als etwas völlig anderes neu gelesen werden – ein Gebet, ein Liebeslied, eine Klage oder eine Einkaufsliste. Ihre Regeln sind elastisch, intuitiv, dennoch streng, insofern als von einem Augenblick zum anderen es akkurate und inakkurate Bedeutungen des Ausdrucks gibt.

Quill gibt vor, nicht zu verstehen, was er zu sagen versucht, oder vielleicht gibt sie es nicht vor. Vielleicht hat sie keine Ahnung, was vorgeht.

Rook wendet sich von der Insel ab und wirft vier Messer in die Luft. Die Messer sind lang und scharf. Sie blitzen auf, während sie sich drehen, bevor er sie auffängt und eines nach dem andern wieder zu einem Rad aus Klingen hinaufwirft. Rook sagt, er versteht, dass diese Sprache synthetisch ist und mit den klassischen Fällen von Nominativ, Akkusativ, Genitiv und so weiter dekliniert wird.

Blablabla ! Ich wartete und hoffte zu hören, wie er durch seinen eigenen Wortschild bricht, in der Hoffnung, dass er das sagen wird, was er sagen muss.

In der Tat, sagt Quill, das ist sie, und dennoch sind ihre Kategorien zahlreicher, als man erwartet, und ziemlich anders, denn es gibt weder Geschlechter noch Einzahl und Mehrzahl. Und die Deklinationen werden musikalisch gebildet – ein Wort, gesprochen im tiefsten Register, ist, wie man erwarten könnte, Unterirdisch; im höchsten Register ist es Außerirdisch; sanfte Aussprache ist Engelsgleich; stumm mit den Lippen geformt ist es Göttlich; glottal gesprochen mit offen hängendem Mund, ist es Organisch; und das Synthetische wird durch einen nasalen Ton angezeigt.

Mein Kopf tut weh, mein Herz wird schwer.

Und in geschriebener Form?, fragt Rook, als ein Messer fällt und das Deck erdolcht.

Die Kategorien werden durch Farbe und Buchstabenform bezeichnet, sagt Quill, die immer noch zur Insel zurückschaut.

Aber, sagt Rook, kann man sich auf irgendwas davon verlassen? Denn gewiss gab es keine vorhandenen Primär-Dokumente und nur die Kommentare gelehrter Antiquare, die sich auf Hörensagen und Legenden verließen.

Rook winkt mir zu, als er dies sagt, und ich begreife, dass er nichts sagen wird. All das war ein Weg, es nicht zu sagen. Nicht weil er fürchtet, sich selbst zu offenbaren, sondern weil er fürchtet, sie zu verletzen.

Als Quill sich umdreht und ihr Fernglas sinken lässt, sagt sie, Rook, ich weiß sehr wohl, dass du das alles bereits weißt.

Weiß sie es also? Versteht sie?

Du hast mich aus der Reserve gelockt, fährt sie fort, um mir zu schmeicheln, aber ich habe bei deinem Spielchen mitgemacht, weil ich nicht dir zuliebe gesprochen habe, sondern wegen des Mädchens.

Und sie sieht mich an und lächelt.

MÄDCHEN?

Von seinem Platz, eingekeilt unter dem Kombi, schoss die erstaunte Stimme meines Vaters herauf zwischen Rohren und Reifen und Motorblock. Ich erklärte ungeduldig, dass ich ein Mädchen war, bevor ich geboren wurde. Ich konnte es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er überrascht war. Dass ich in der Geschichte ein Mädchen war, war ein Element, das als unerwartete Wendung daherkam, sogar für mich, ihren Urheber. Aber sobald es offengelegt war, schien es unvermeidlich, ja sogar logisch. Ja, unausweichlich logisch, letzten Endes. Von Myles kam keine Antwort, während er mit der Schraube an der Ölwanne kämpfte und leise fluchte und das Objekt aufforderte zu kapitulieren. Ich beobachtete seine Füße, die alles waren, was man von ihm sehen konnte. Sie ruckelten und zuckten vor Anstrengung. Schließlich bemerkte er mein Schweigen, entsann sich, wo wir waren, wiederholte das Wort Mädchen in verwirrtem Ton und drängte mich fortzufahren. Ich drehte den Kassettenrekorder ab, den er auf dem Motorblock unter der offenen Haube platziert hatte. Die verschlafene Sonne war untergegangen und ein dünnes kaltes Nieseln begann aus der Dunkelheit heraus zu Boden zu fallen. Myles verkündete, eine Taschenlampe und einen größeren Schraubenschlüssel zu benötigen.

Ich bedeckte meinen Kopf mit meinem Mantel und eilte zum Verschlag, wo Myles sein Werkzeug aufbewahrte. Er rief meinem Rücken, der sich zurückzog, zu, dass der Schraubenschlüssel gleich am Eingang links über meinem Kopf zu finden sei, die Taschenlampe sollte auf der Tischsäge liegen. Meine Stimmung, ohnehin schon am Boden, fiel in den Schlamm, durch den ich patschte, denn selbst bei Tageslicht fand ich die Instruktionen meines Vaters selten hilfreich und mich in seiner Werkzeughütte zurechtzufinden war ein fruchtloses Unterfangen. Ich trat durch die Tür und rannte in ein altes Fenster hinein, das jüngst bei einem Garagenverkauf enthusiastisch erworben worden war. Da ich dabei eine Scheibe zerbrochen hatte, sammelte ich vorsichtig die Stücke ein, mit vor feuchter Kälte schmerzenden Fingern, verstaute das Glas in einer Ecke und fing mir nun den Schrei meines Vaters Stimme ein, die ungeduldig wissen wollte, warum ich so lange brauche. Ich schrie zurück, dass ich suche, aber stattdessen grübelte ich die ganze Zeit, ob er gesagt hatte, zu meiner Linken und oben oder oben und zu meiner Linken und hieß das, links, wenn ich hineinkomme oder hinausgehe. Diese subtilen Unterschiede sollten keine Rolle spielen in einem Raum, der dem Inneren eines Wagens entsprach, und dennoch hätte mir in Wahrheit in diesem Chaos kein Maß an erklärender Präzision helfen können.

Der Lichtspot, den die ausgehende Taschenlampe (welche ich nicht auf der Tischsäge, sondern auf dem Schraubstock gefunden hatte) warf, fiel auf ungeordnete Haufen alter Marmelade-Gläser voller unsortierter rostiger Nägel, Bolzen und Schrauben, von mir im Laufe mühsamer schweißtreibender Nachmittage aus geborgenem Holz entfernt. Von den Balken hingen Winkel, Wasserwagen, Kabel und Ketten in solchem Überfluss, dass ein Weiterschreiten in jede Richtung riskant für den Kopf war. Eine Ansammlung von Kettensägenblättern war in verschiedenen Graden von Verwahrlosung verstreut und auf der schmalen Wippfläche der Tischsäge saß Myles antike elektrische Schleifmaschine, ein Gerät, mit dem er Aufgaben bewerkstelligte, die üblicherweise die Verwendung von fünf oder sechs anderen Werkzeugen miteinschloss. Der ferne Donner seiner Stimme erreichte mich wieder und, Niederlage empfindend, sackte ich zusammen, aber ich konnte nicht mit leeren Händen zurückkehren. Meine Stirn krachte gegen einen baumelnden Rohrschlüssel, aber was Schraubenschlüssel betrifft, kam dieser nicht in Frage, weil ich aus früheren Versuchen, ihn als Ersatz anzubieten, wusste, dass er nutzlos war (warum er dann in dieser Hütte verblieb, weiß ich nicht). Nein, dieses Mal war das Beste, was ich anbieten konnte, ein Hammer – meinem Großvater, Padraig, bekannt als ein Chicago-Schraubenzieher. Es war Padraig, der erst vor ein paar Monaten, während eines seiner monatelangen Aufenthalte, dessen zersprungenen Griff mit einem Stiel aus geschnitztem Holz ersetzte.

Obwohl als Urlaube angekündigt, waren sie, wie ich später erfuhr, Liegekuren, oder, genauer gesagt, Trockenzeiten. Einmal im Jahr wurde er zu unserem abgelegenen Flecken geschickt, weit weg von Bars oder Läden oder Trinkkumpanen, und obwohl er mir von Zeit zu Zeit Geld in die Hand drückte und vorschlug, dass ich mit dem Rad um eine Flasche Whisky oder Gin oder was auch immer im Angebot war zum nächsten Verkäufer fahre – ein Plan, dessen Undurchführbarkeit ich aufgrund meiner Minderjährigkeit immer wieder erklären musste –, werkte er die meiste Zeit über mit offenkundiger Zufriedenheit herum und reparierte Werkzeug und baute Bänke und kam in regelmäßigen Abständen ins Haus, um sich hinzusetzen und die Vorbereitung seines Frühstücks, seines Lunchs, seines Tees, seines Abendessens abzuwarten, die ihm von meiner Mutter, die seine patriarchalen Erwartungen an sie nur eine Spur weniger irritierend fand als die Annahme meines Vaters, dass sie diese erfüllen würde, gereizt serviert wurden.

Und, nachdem er fertig war mit seinem gekochten Ei, seinem Toast und seinem Tee, setzte er an mit seinem Repertoire an Geschichten, indem er irgendwen, der in Reichweite war – für gewöhnlich mich –, aufhielt mit Erzählungen über hierophantische Heilige mit der Fähigkeit, ganze Inseln mit ihren wundersamen Mänteln zu bedecken oder ihre Spazierstöcke dreißig Meilen weit zu werfen, ohne ins Schwitzen zu geraten, oder er erzählte von Kanonenkugeln, die auf Abwegen aus einer wütenden Seeschlacht zwischen einer spanischen Galeone und einem britischen Kriegsschiff in den Garten eines Vorfahren prallten, oder von berühmten revolutionären Märtyrern, gejagt, gehängt, erschossen oder geköpft. Und das Beste von allem und am öftesten wiederholt waren die Berichte über Schwindler, die er selbst gekannt hatte – Männer, die ihr Köpfchen einsetzten, um die großen Herren auszubooten –, die Eigentum, das sie nicht kaufen konnten, durch Strohmänner kauften, die Tiere jagten, die sie nicht jagen konnten, indem sie Tarnungen trugen, die verborgene Täler fanden, um den Whisky herzustellen, dessen Herstellung ihnen verboten war. In jenen Jahren hörte ich immer noch mit großer Neugier zu und erst viel später, als ich sie alle sehr oft zum wiederholten Male gehört hatte, fing ich an, den Erzähler geduldig zu ertragen oder ihn nach weiteren Details zu fragen oder schlichtweg den Kanal zu wechseln zu meinem eigenen inneren Monolog. Aber bei einer Gelegenheit rüttelte er mich wach, mit einer nie zuvor erzählten und nie mehr wieder wiederholten Geschichte.

Ich erinnere mich, dass es eine Sommernacht war und dass in der Ferne ein Donnerwetter grollte. Iris und Myles waren mit jemandem am Küchentisch – vielleicht Bill und Bernadette. Padraig saß im Schaukelstuhl, neben einer Fensterscheibe, die offen stand, und ich hockte in der Nähe auf einem Stuhl. Wir saßen dort zusammen und betrachteten die Blitze und in der Stille, zwischen den Donnerschlägen, konnten wir das Gezeter von Moskitos an der Scheibe hören. Und Padraig fing unerwartet an zu sagen, dass er dreimal in Irland auf Pilgerfahrt gegangen war, jedes Mal drei Tage gefastet hatte, während er die Stationen des Kreuzes auf seinen Knien abgegangen und die ganze Nacht in der Basilika den Rosenkranz gemurmelt hatte. Und die ganze Zeit über fragte: Sollte er nach Amerika gehen? Aber Gott gab keine Antwort. Er fragte den Gemeindepfarrer, der nicht ermutigend war. Fragte einen Monsignore, der ähnlich abratend war. Er hatte eine Frau und sechs Kinder; er hatte einen Job, zu einer Zeit, als die Jobs rar waren in der Republik. Nicht nur das, es war ein Regierungsjob – er war ein Mitglied der Gardai, ein Bulle. Das war eine sichere Anstellung. Aber die Bezahlung war armselig und er fiel dauernd bei den Aufstiegsexamen durch. Vor allem war er der Überwachung abgeneigt: Strafen an jugendliche Mädchen auszuteilen, weil sie im Dunkeln ohne Radlicht fuhren, sicherzustellen, dass Farmer Adlerfarn von ihren Feldern fernhielten, illegale Schnapsbrennereien aufzustöbern, Pubs zu schließen, weil sie nach der Sperrstunde offen hatten – es war belangloses Zeug, wo er sich doch nach Abenteuer sehnte. Als er aufwuchs, hörte er von Nachbarn, die am Yukon ein Vermögen gemacht hatten und mit Gold beladen zurückkamen. Sein eigener Onkel war ein Neunundvierziger1 gewesen, bevor er sich in den Norden aufmachte, und nun sagten sie, er würde den Großteil von British Columbia besitzen. Den Großteil von British Columbia und ein Gutteil von Alberta noch dazu. Padraig wollte die Chance nützen. Also bestieg er den Mount Errigal, den höchsten Gipfel in Donegal. Auf dem Gipfel sprach er in alle vier Richtungen einen Rosenkranz, gemäß den Vorschriften der Pilgerschaft. Er nahm das Bild in sich auf, das vor ihm hingeschleudert war – grüne Felder und Steinmauern, die in Richtung des brutalen Nordatlantiks schossen. Dann stieg er ab. Auf halbem Wege bückte er sich, um eine Jacke aufzuheben, die er auf seinem Weg hinauf zurückgelassen hatte. Als er dies tat, spürte er Gott, der zu ihm sprach. Die Antwort, endlich.

Wie?, fragte ich. Wie hat Gott zu dir gesprochen?

Es war ein Schauer. Er spürte einen Schauer über sich kommen.

Ein Schauer. Die Zufälligkeiten, die von diesem Schauer abhingen, überwältigten mich. Von diesem Schauer hing meine Existenz ab. Ohne diesen Schauer würde ich nicht im Dunkeln dieser Werkzeughütte stehen und auf diesen Hammer hinabgaffen, mit ziellosen Gedanken, wieder Myles Stimme hörend, die nun an der Kippe zur Verzweiflung stand. Ich schüttelte mich frei aus der Gedankendrift und ging wieder zurück zum Wagen. Myles war über den Hammer nicht erfreut – warum konnte ich in dieser Hütte nie etwas finden, wunderte er sich. Hatte ich nachgesehen, wo er mir aufgetragen hatte? Umkreisten meine Gedanken die Ionosphäre? Seine Stimme war durch den Motorblock, den sie passierte, gedämpft und dann schoss sie plötzlich in einem fließenden Strom von Flüchen in die Höhe, weil er den mühseligen Bolzen mit dem Hammer drosch und es dabei zuwege brachte, seinen Daumen zu plätten. Das dreckige Motoröl begann sich über ihn zu ergießen, und während er fluchte, kämpfte er damit, Padraigs Nachttopf unter den Abfluss zu schieben. Schließlich tauchte er auf – Brillengläser, Gesicht und Shirt schwarz von zäher Flüssigkeit, die Augen verschleiert vor Wut. Er sah mich nicht an, sondern stapfte davon, beklagte die Notwendigkeit von Autos, die Unzulänglichkeit ihres Designs, die Tyrannei des Materials.

Eine Stunde später kauerten wir drei rund um den Holzofen und warteten, dass das Abendessen sich briet. Unter den brennenden Scheiten im Innern des Ofens hatte Myles drei Kartoffeln platziert, eingehüllt in Folie, zusammen mit zwei Dosen B&M Schwarzbrot, obwohl man gemäß den Vorschriften in New England Dosenbrot nur mit Bohnen und Hotdogs essen sollte.

Das Problem war das Geld, wie immer. Wie bekommt man es, wie behält man es. Myles wollte reisen – Iris wollte fließendes Wasser. Im Sommer badeten wir hinter dem Garten in einer Wanne, gefüllt mit sonnengewärmtem Wasser – und das war Luxus neben den wenigen Gallonen Eis im Winter, die auf der Herdplatte geschmolzen und unter die Arme geplatscht wurden. Die Dollars, die mein Vater durch das Anstreichen von Häusern verdiente, verbrachten nur kurze Zeit in der Bank neben Iris’ Redaktionsgehältern, bevor das Girokonto von den Banalitäten des Stroms und Lichts ausgeblutet war. Die Ersparnisse für Wasserpumpe und Kupferrohre waren gerade in das neue Getriebe des Autos geflossen. Und in der Zwischenzeit forderte Willard im Gegenzug für das Privileg, im Radius seiner Weisheit zu wohnen, sein Recht auf Frondienst auf seiner Farm.

Und zwischen Ölwechseln, Elend und Meditation existierte ein Nährboden, der nur selten ans Licht kam, aber wenn, dann könnte er sich so angehört haben:

Myles: Ich kann nicht ewig Häuser anstreichen. Ich bin ein dichtender Mystiker, gezwungen zu belangloser körperlicher Arbeit durch die Bedürfnisse einer Familie, einer Familie, auf die ich es niemals abgesehen hatte, für die ich aber in ehrenhafter Weise die Verantwortung übernahm.

Iris: Ich bin zu jung – für dich, für die Ehe, für ein Kind. Die Biologie hat mich an eine Familie gefesselt, bevor ich die Chance hatte, jene Künstlerin zu werden, die zu sein ich mir erträumte.

Ich: Da dies alles meine Schuld ist, werde ich dafür sorgen, dass es eure Mühe wert ist. Ich will euch eine Geschichte erzählen, eine Fabel von Heldentaten, von List, Beharrlichkeit und dem rücksichtslosen Ehrgeiz, euer Kind zu werden. Sie wird eindrucksvoll und wundersam sein und in Stein gemeißelt, und wenn sie zu Ende ist, werdet ihr verstehen, warum ich euch zwingen musste, mich in diese Welt zu setzen.

Aber trotz all meiner Bemühungen war das Gewässer, das über diesem Untergrund strömte, rauer als jemals zuvor, dank des sich zusammenbrauenden Nicht-Themas Krebs. Iris weigerte sich immer noch, ihre Diagnose zu besprechen, aber der Ölwechsel war in Vorbereitung auf eine Fahrt erledigt worden. Wir fuhren ins Massachusetts General Hospital in Boston, wo Iris über einen Freund eines Freundes eines Freundes eines Freundes Kontakt mit einem Onkologen aufgenommen hatte. Iris machte sich wegen der Fahrt Sorgen und Myles machte sich Sorgen um Iris, aber keiner der beiden war gewillt, über diese Ängste zu reden, also stritten sie stattdessen über Geld.

Aber dann hörten sie auf und ich sah, wie sie mir ihren Blick zuwandten, weil ich zu sprechen begonnen hatte.

DREI TAGE nachdem wir die Insel der weißen Häuser verlassen hatten, kamen wir in die Gewässer, wo wir die erste gesehen hatten. Aber sie ist nicht hier.

Es ist romantisch, über eine verschwundene Insel nachzusinnen, aber beschwerlich, sie zu suchen, sagt Rook.

Aber sie ist hier, sage ich. Ich kann sie spüren.

Kapitän Severn geht auf der Brücke seine Logbücher durch und sieht kaum auf, als ich eintrete.

Die Insel, sage ich.

Ja?

Ist unter uns.

Jetzt sieht er auf und sein Gesicht verschließt sich wie ein Buch, das zuklappt. Sogar seine Augen verschließen sich irgendwie, obwohl sie offen bleiben. Er sieht aus, als würde er sich selber von innen erwürgen.

Ich zeige hinunter.

Er steht auf. Wird er mich hinauswerfen? Er dreht an einigen Knöpfen seines Sonargerätes.

Da ist etwas, neun Klafter unter uns.

Severn klettert in das Zwei-Personen-U-Boot, das an Deck aufbewahrt wird. Nolan, klein und drahtig, klettert mit einer großen Kamera nach ihm hinein. Offenbar ist er nicht nur der dritte Maat, sondern dokumentiert die Expedition auch.

Der Kran lässt die zwei ins Wasser hinab und sie tauchen unter. Hier oben ist es plötzlich sehr still. Glattes, glattes Wasser. Einige Leute lehnen sich über die Reling und schauen hinab. Andere rauchen und starren auf den Horizont oder die Vögel, die uns gefunden haben, sogar hier, mitten im Ozean. Vielleicht verwirrt sie die versunkene Insel genau wie uns. Die Stimmung so düster wie die Wolken.

Chisolm und ihr Otter tauchen neben mir auf.

Ich habe gehört, du warst diejenige, sagt Chisolm, die wusste, dass die Insel unter uns ist.

Ich nicke. Mir fällt auf, dass sich ihre Augen verändert zu haben scheinen, größer geworden sind, weicher, weich genug, um mein Starren abzuschwächen, ja sogar zu absorbieren.

Wer bist du?, fragt sie und auch ihre Stimme hat sich verändert, sie ist nicht länger distanziert, sondern jetzt warm und neugierig, fast mütterlich. Ihr Otter, den sie Lutra nennt, ringelt sich um ihre Schultern wie ein großer fluffiger Schal, seine schwarze Nase ruht neben ihrem Ohrläppchen. Meine Finger jucken, wollen sein Fell streicheln. Vielleicht liegt Rook falsch, was sie betrifft. Und vielleicht ist ihre Macht über Severn ein Zauber der Güte und des Verständnisses, keine kalte Berechnung.

Ich weiß nicht, wer ich bin, sage ich. Ich weiß nur, ich muss auf diese Insel gelangen.

Chisolm will etwas sagen, aber genau in diesem Moment taucht das U-Boot wieder auf. Severn und Nolan klettern an Bord und berichten, dass die Insel sehr wohl hier ist – im Scheinwerferlicht des U-Bootes sahen sie fliegende Fische über den Docks schwärmen und Haie an den steinernen Eingängen riechen. Kein Zeichen von den Einwohnern.

Was nun?, sagt jemand. Es herrscht lange Stille.

Es gibt eine Zeile in der prophetischen Überlieferung, sagt Chisolm, in der erklärt wird, dass sich die Insel der Toten zu einem Feuer im Himmel erhebt.

Von der Crew kommt zustimmendes Gemurmel, aber Severn scheint ungerührt.

Worauf bezieht sich das?, fragt er. Auf die Sonne? Offensichtlich nicht. Welches andere Feuer könnte es meinen?

Kometen, sagt Rook.

Na gut, sagt Severn sauer, hauen wir ab und kommen dann wieder zurück, wenn ein riesiger Stein aus dem All wie vorgesehen auftaucht, in hundert Jahren oder so. Oder noch später. Es könnten tausend Jahre vergehen, bevor diese Insel wieder auftaucht, um Luft zu schnappen.

Dann sprechen alle gleichzeitig und ich fühle, wie ich mich auflöse, verliere, was noch zu verlieren ist. Meine Bilder flitzen an mir vorüber:

Warteraum

Brot

Regenbogen

Brennholz

Vogel

Schatz

Pistole

Geist

krank

Duell

Buch

Mädchen

Eines fehlt noch. Ich krame danach in meinem Kopf, aber das Gebrabbel der Crew macht denken unmöglich. Ich stehle mich davon. Ich muss Stadt finden, bevor ich mich auflöse.

Ich muss jetzt etwas tun.

Nahe dem Heck des Bootes hockt das einmotorige Wasserflugzeug der Expedition auf seinen Kufen. Ich finde die Bremskeile und entferne sie, dann öffne ich die Cockpithaube und klettere hinein. Woher weiß ich, was ich tue? Meine Finger bewegen sich aus eigenem Antrieb, geleitet von irgendeiner obskuren Kraft oder allein durch Muskelgedächtnis. Aber Gedächtnis woran? Wann bin ich zuvor in einem Flugzeug gewesen? Keine Zeit für Zweifel oder Nachdenken. Ich schnalle mich an, starte den Motor und sehe zu, wie vor mir der Propeller verschwimmt. Dann rolle ich die Schienen entlang und in die Luft.

Ich kann spüren, wie sich die Luft unter den Flügeln des Flugzeugs und in meinen Lungen zusammenpresst, uns hochhebt, hoch, hoch. Auch mein Herz hebt sich. Ich fliege !

Während ich eindrehe, sehe ich die schwach beleuchtete Crew der Lizzy Madge chaotisch und aufgeregt auf dem Deck herumlaufen. Ich kann ihre Schreie nicht hören, aber ich weiß, sie müssen schreien. Ich wende mich von ihnen ab, um mich auf die Flugbahn zu konzentrieren. Ich weiß, was ich tun muss. Indem ich den Steuerknüppel zurückziehe, zwinge ich das Flugzeug in den Steilflug. Ich klettere höher zu den Sternbildern, höher in die Dunkelheit. Die Nacht ist schwarz und silbern und still, abgesehen von dem Brummen des Motors, den ich an seine Grenzen bringe. Die Temperaturanzeige zementiert sich in der roten Gefahrenzone ein, trotzdem steige ich weiter in die dünne, kalte Luft. Ich finde einen Gurt und binde den Steuerknüppel in seiner Position fest, dann schnalle ich mich ab, mache den Fallschirm ausfindig und lege ihn an. Unter meinem Sitz ertaste ich das Leuchtpistolen-Kit. Ich lege eine Patrone ein und stecke den Rest in die Taschen, klemme die Pistole in meinen Hosenbund. Dann öffne ich die Klappe.

Sowie sie entriegelt ist, reißt sie der Wind weg und ich werde beinahe von der Kraft der bitterkalten, harten Luft aus dem Cockpit geblasen. Mein Gesicht und meine Finger werden fast unverzüglich taub, aber irgendwie ziehe ich mich aus dem Cockpit und, indem ich mich an jeden Griff, den ich finden kann, anklammere, krabble ich hinab zum linken Schwimmkörper und stelle mich darauf. Der Wind schreit mir in die Ohren, in die Augen. Ich sollte voller Angst sein, stattdessen bin ich aber voll wilder Freude. Dies ist der Weg, der einzige Weg vorwärts, und ich habe überhaupt nichts zu verlieren.

Mich mit einer Hand festhaltend, ziehe ich die Leuchtpistole heraus, ziele auf den Treibstofftank und feuere. Einen Augenblick lang kann ich nicht sagen, ob ich ihn getroffen habe oder nicht, dann aber leuchtet das Signal in hundert Fuß Entfernung auf. Ich lasse mich nieder, um mich auf den Schwimmkörper zu setzen, und umklammere ihn mit meinen Beinen, während ich die Pistole nachlade und gegen den Wind und die Taubheit in meinen Fingern ankämpfe. Nun ist das Leuchtsignal geladen, aber eine plötzliche Böe wirft mich kopfüber um. Ich habe nicht die Kraft, mich in dem schrecklichen Wind aufzurichten. Von der Unterseite des Schwimmkörpers hängend, den ich nur mit Mühe mit meinen Beinen festhalten kann, benütze ich beide Hände, um auf den Treibstofftank zu zielen und zu feuern. Ich glaube, ein kleines Loch im Metall zu sehen, aber bevor ich mich vergewissern kann, reißt mich ein weiterer Stoß los, der Wind reißt mich weg, und ich falle.

Im freien Fall auf dem Rücken liegend, öffnet sich mir plötzlich die Nacht und all die Sterne stürzen herein, als ob ich aufwärtsfiele, als ob ich flöge, vom Wind ins Weltall geschleudert. Etwas streicht über mein Gesicht – Federn? Weit über mir steigt das Flugzeug immer noch empor, empor, explodiert.

Ich bin weit genug darunter, um zu sehen, wie sich der Feuerball in purpurnen und gelben Flammenwellen nach außen bauscht, mehrere Sekunden bevor ich den Knall der Explosion höre.

Das Flugzeug schneidet einen brennenden Abwärtsbogen in den Himmel, schlitzt die Schwärze auf. Wird es funktionieren? Es muss funktionieren.

Ich drehe mich herum und sehe der Peitsche aus eiskalter Luft ins Auge, und der gigantischen Leere des dunklen Ozeans, der sich drohend unter mir auftut. Ich ziehe die Leine und spüre einen großen Ruck, als sich der Wind legt und ich am Ende eines driftenden Fallschirms baumle.

Weit unter mir schlägt das Flugzeug ohne ein Geräusch auf das Wasser auf. Flammen schießen über die Wellen, dann verschwinden sie langsam mit dem brennenden Wrack und der Ozean ist wieder schwarz, abgesehen vom Deck und den Mastleuchten der Lizzy Madge, Winzigkeiten in der Dunkelheit. Ich lade ein weiteres Signallicht und feuere. Wie zornig sie sein müssen. Sie werden mich für verrückt erklären, für gefährlich. Sie werden mich hierlassen wollen, damit ich ersaufe. Aber Chisolm wird sie nicht lassen. Sie versteht nun, dass ich sie dorthin führen werde, wo sie hinwollen, weil ich verzweifelt genug bin, zu tun, was niemand von ihnen zu tun wagt. Als die kalten Wellen höher werden, um mich zu kriegen, schließe ich meine Augen und sammle meine Bilder:

ein Schatz von Silbermünzen,

ein Regenbogen aus Licht, der an einer Wand aufblitzt,

ein Geist mit einer Pistole, ein Schuss, eine Wunde,

ein Laib Brot, der vom Ofen her immer noch dampft, schmelzende Butter,

eine blasse Frau mit Schmerzen, im Bett.

Wenn ich jetzt nicht weine

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