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Neun Tage bis zum Blutfreitag
ОглавлениеRituale.
Sebastian Seegmüller liebte diese gleichförmige Abfolge von wiederkehrenden Handlungen, sie erfüllte ihn mit Freude und innerer Ruhe. Er ließ kurz den Blick zur Decke der Basilika wandern. Im spärlichen goldenen Abendlicht, das durch das Gloriloch oberhalb des Hochaltars fiel, sah er Schemen der Bilder und Fresken des Malers Cosmas Damian Asam. Der Stadtpfarrer Weingartens lächelte, allein das Wissen um die Anwesenheit der Figuren machte ihn glücklich. Dieser Moment des Tages gehörte nur ihm und den Himmelswesen. Feierlichen Schrittes näherte er sich dem Heilig-Blut-Altar, strich mit den Fingerkuppen über die polierte Fläche, genoss die Kälte, die der Stein ausstrahlte. Er deaktivierte die Alarmanlage, atmete tief ein und aus, um den für ihn so wertvollen Augenblick weiter hinauszuzögern. Gleich würde er die Heilig-Blut-Reliquie aus dem Glaskasten im Altar nehmen, um sie wie jede Nacht im Tresor zu deponieren. Sein Herz schlug schneller, als wolle es dieser Zeremonie Tribut zollen.
Wenige Tage trennten Seegmüller und die Teilnehmer vom Blutfreitag, an dem der Blutritt zelebriert wurde. Wie in jedem Jahr hatten sich mehr als 2.000 Reiter und Zigtausende Gläubige angekündigt, um am Tag nach Christi Himmelfahrt an Europas größter Reiterprozession teilzunehmen. Ganz Weingarten bereitete sich darauf vor. Unzählige Helferinnen und Helfer waren eifrig dabei, das Städtchen liebevoll herzurichten, an allen Ecken wurde geschmückt, gebohrt und gehämmert, Tierpensionen eingerichtet, Hindernisse entfernt, Tribünen erstellt, Rabatten bepflanzt und Schaufenster umdekoriert. Schließlich wurden namhafte Gäste erwartet, darunter der Ministerpräsident des Landes, der Erzbischof Anton Timmermann und eine Abordnung aus Weingartens italienischer Partnerstadt Mantua. Dort war vor fast 1.000 Jahren die Reliquie wiedergefunden worden, von dort aus war ein Teil nach Weingarten gelangt und die beiden Städte verband seither die Verehrung des Heiligen Blutes.
Seegmüller hob das goldene Kreuz aus seiner Tagesbehausung, in das die Ampulle mit Erde eingearbeitet war, die Jesu Christi Blut getränkt hatte. Vorsichtig, ehrfürchtig und in dem Bewusstsein dieses ganz besonderen Aktes.
Rituale.
Mit ihnen geht eine zerbrechliche Sicherheit einher. Es kann ja nichts passieren, so wie die Tage, Wochen, Monate zuvor nichts passiert war. Doch die Gleichförmigkeit der Handlungen geht zulasten der Achtsamkeit, die Monotonie narkotisiert die Sinne. Wäre Sebastian Seegmüller weniger beseelt an seine allabendliche Aufgabe herangegangen, hätte er vielleicht den Schatten bemerkt, der sich durch das linke Seitenschiff lautlos auf ihn zuschob. Und womöglich wäre er vorsichtiger gewesen, als er durch einen langen Zischlaut und das Poltern, das klang, als sei eine Dose zu Boden gegangen, aus seinen Gedanken gerissen wurde.
Stimmen, er hörte Stimmen, leise, es schien, als kämen sie von draußen. Heisere, kurz gebellte Befehle, Lachen.
»Diese Schmierfinken, das werden sie nicht wagen«, fauchte der aufgebrachte Pfarrer und starrte in die Richtung, aus der die Töne an seine Ohren gedrungen waren.
In den letzten Tagen war es immer wieder vorgekommen, dass Gegner des Blutritts ihre Parolen an den Aufgang zur Basilika gesprüht hatten. Sogenannte Tierschützer, die nicht davor zurückschreckten, fremdes Eigentum zu beschädigen, nein, die sich in gottloser Weise an einer Kirche zu schaffen machten, um ihre törichten Sprüche zu verbreiten.
Seegmüller legte die Reliquie vorsichtig zurück in den Glaskasten und stürmte zum Ausgang. Es dauerte einen Moment, bis er den Schlüssel zum Tor der Basilika fand. Mit fahrigen Fingern nestelte er ihn hervor, steckte ihn ins Schloss. Draußen hörte er Schritte, die sich eilig entfernten, unterdrücktes Gekicher. Er riss die Tür auf, konnte jedoch nur die Umrisse zweier Gestalten erkennen, die im Schutze der Dämmerung verschwanden.
»Stehen bleiben!«, keifte er, rannte den Flüchtenden ein Stück weit hinterher, trat auf einen Gegenstand, der unter seiner Sohle wegrollte und ihn zu Fall brachte. Er gab ein quiekendes Geräusch von sich, schlug hart mit dem Hinterkopf auf einer Stufe der Kirchentreppe auf und verlor das Bewusstsein.
Der Gottesmann bekam also nicht mit, wie der Schatten die Basilika eilig verließ und von der hereinbrechenden Nacht verschluckt wurde.
Als Sebastian Seegmüller Minuten später wieder erwachte, sich aufrappelte, seinen Hinterkopf betastete und ungläubig die klebrige Flüssigkeit auf seinen Fingern betrachtete, durchfuhr ein Gedankenblitz das Gewölk des Schmerzes. Benommen, hinkend und ächzend eilte er in die Kirche, hin zum Altar. Er erstarrte: Der gläserne Schrein, der normalerweise das Kostbarste beherbergte, was Weingarten besaß, war leer. Die Reliquie des Heiligen Blutes war verschwunden.
»Also, wenn ihr mi nemme brauchet, gang i jetzt.«
Polizeiobermeister Ernst Fritz legte zwei Finger an eine imaginäre Mütze, nickte seinen Kolleginnen zu, nahm seine Aktentasche vom Schreibtisch und schritt zur Tür.
»Eine gute Zeit und viel Spaß beim Blutritt. Ein bisschen neidisch bin ich, das muss ich zugeben«, erwiderte Kommissarin Laura Behrmann. Sie lächelte ihren Kollegen an, der bedauernd die Schultern hob.
»I dät mi freia, wenn Sie dabei wäret, Laura. Aber Sie wisset jo, Fraua dürfet net mitreita.«
»Wieso eigentlich nicht? Ich muss gestehen, diese ganze Blutrittgeschichte ist mir völlig fremd«, mischte sich Hauptkommissarin Greta Gerber in das Gespräch ein. Sie tippte den letzten Satz ihres Protokolls, sah vom Bildschirm auf und musterte den Kollegen. Er strahlte eine gewisse Vorfreude aus, seine sonst eher knorrige Art war einer lebhafteren gewichen. Seit Tagen sprach er mit zunehmender Begeisterung von dem Ereignis, ließ sie an seiner Freude teilhaben. Die Hauptkommissarin konnte dies nicht nachvollziehen. Obwohl sie schon mehrere Jahre in Biberach lebte, hatte sie nie genug Zeit gefunden, um sich mit diesem oberschwäbischen Brauch auseinanderzusetzen.
»So will’s die Tradition«, nuschelte POM Fritz, dem anzusehen war, wie unangenehm er das Thema fand. »Wega mir könntet Fraua mitreita, aber die katholische Kirche isch da ja a bissle oiga und vielleicht au a bissle rückständig.«
»Das kann man wohl sagen. Deswegen bekommt die katholische Kirche mächtig Druck von Institutionen wie Maria 2.0«, fiel ihm Laura Behrmann ins Wort.
»Maria 2.0? Klingt nach einem Computerspiel mit christlicher Mission. Wer die meisten Kinder unbefleckt empfängt, hat gewonnen«, spöttelte Hauptkommissarin Gerber und wandte sich dem Papierstapel zu, den sie neben ihrem Laptop angehäuft hatte. »Protokolle, nichts als Protokolle. Und ausgerechnet jetzt nehmen Sie Urlaub, Herr Fritz«, seufzte sie und öffnete eine Akte.
»Von wegen Computerspiel«, ereiferte sich Laura Behrmann und strich sich energisch eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Das sind gläubige Damen aller Altersklassen, die sich für die Rechte der Frauen in der katholischen Kirche einsetzen. Im Mai 2019 haben die sogar zum Streik aufgerufen. Die besuchten keinen Gottesdienst mehr, verweigerten Gemeindeaufgaben und haben mit Informationsständen vor den Kirchen auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht.«
»Jaja, schon gut.« Greta Gerber winkte ab. Sie war nicht sonderlich gläubig und setzte sich wenig mit Religion auseinander. Ihr einziger Berührungspunkt mit klerikalen Belangen bestand darin, dass sich Biberachs Gemeindepfarrer Andreas Goettle ungefragt in polizeiliche Ermittlungen einmischte und immer wieder auf dem Polizeirevier auftauchte, um Missstände anzuprangern. Und auch wenn sie dem rührigen Gesellen einen gewissen Erfolg als detektivische Spürnase zusprechen musste, wäre es der Hauptkommissarin lieber, wenn er sich aus ihrer Arbeit heraushalten würde.
»Bemühen Sie sich nicht, Laura. Ich kapiere diese Diskussionen eh nicht und halte sie nicht für zeitgemäß. Und irgendwie habe ich den Eindruck, dass dem Blutritt etwas Mittelalterliches anhaftet. Klingt ein bisschen nach Kreuzzug.«
Polizeiobermeister Fritz lief rot an, die Spitzen seines Schnurrbarts zitterten vor Erregung. »Ha, so bled … So darf mr net davon schwätza. Der Blutritt isch a Prozession. Des genaue Gegateil von em Kreuzzug. Schließlich gilt die Reliquie für alle Katholika als vereinendes Symbol. Des isch an ganz großer Moment, wenn man den Sega vom Blutreiter kriagt. Des isch a Glaubensbekenntnis und macht oin au ehrfürchtig.«
»Schließlich enthält die Reliquie den mit Jesu Blut getränkten Boden von Golgatha«, ergänzte Laura Behrmann. Ihre Wangen waren gerötet, wie immer, wenn sie sich für ein Thema engagierte.
Greta Gerber sah ihre Kollegin fragend an.
»Sagen Sie bloß, Sie kennen die Geschichte nicht, die hinter dem Blutritt steckt. Also das ist eine ziemlich große Wissenslücke, wenn man hier in der Region wohnt.«
Der vorwurfsvolle Ton ihrer Kollegin ließ Greta aufhorchen.
»I erklär’s Ihne. Also ’s war ja so. Als der Jesus am Kreuz g’hanga isch …«, begann Polizeiobermeister Fritz mit seiner Erklärung, wurde jedoch von seiner Chefin schroff unterbrochen: »Bitte die Kurzfassung, Herr Fritz, ich habe zu tun.«
»Des kosch net kurz verzähla. Des isch a jahrhundertealte G’schicht«, maulte der Gemaßregelte beleidigt.
»Ich versuch es, so kurz es geht«, sprang Laura Behrmann ein. »Nachdem Jesus gekreuzigt worden war, stieß ihm ein römischer Legionär eine Lanze in die Seite, um sicherzugehen, dass er tot war …«
»Longinus hot der g’hoißa. So viel Zeit muas sei«, murrte Fritz, verstummte jedoch, als er von einer Büroklammer getroffen wurde, die Greta Gerber auf ihn abgefeuert hatte.
»Einige Blutstropfen liefen Longinus über das Gesicht und erleuchteten ihn. Er wurde gläubig. Daraufhin vermischte er einige Blutstropfen mit der Erde von Golgatha und füllte sie in ein Kästchen. Er wurde von den Aposteln getauft und reiste nach Mantua …«
»Des liegt in Italien.«
Greta Gerber sandte POM Fritz einen genervten Blick.
»Genau, er fuhr nach Mantua in Italien. Um dort die Lehre Christi zu verkünden. Das gefiel einigen Leuten nicht und so wurde er, wie viele Christen damals, verfolgt. Vor seinem Tod versteckte er das Kästchen und irgendwann entdeckte man einen Teil der Reliquie und Knochen von diesem Longinus …«
»1048 war des. Jetzt hot der Papst Leo g’sagt, des Heilige Blut g’hört nach Rom, aber die Leut in Mantua waret dagega …«
»Leute, echt«, ächzte die Hauptkommissarin. »Ich wollte die Kurzfassung. Also bitte, Laura. Wenn es möglich ist, fassen Sie die nächsten tausend Jahre in drei Sätzen zusammen.«
»Also gut: Ein Teil der Reliquie blieb in Mantua, der andere ging nach Rom. Dann kam Heinrich III. und erhielt einen weiteren Teil, vermachte ihn Balduin von Flandern, der schenkte ihn einer Verwandten, die übergab die Reliquie einem Abt des Klosters Weingarten.«
»Am Tag nach Christi Himmelfahrt war des, dem Blutfreitag. Deshalb wird an dem Tag die Prozession g’feiert.« Der sonst so zurückhaltende und förmliche Polizeiobermeister Fritz strahlte.
»Okay, verstehe. An diesem Tag kommen Tausende von Reitern und Zuschauern, um diesen Event mitzuerleben. Und unser Herr Fritz reitet mit. Na, da wünsche ich viel Spaß.« Greta Gerber lächelte ihren Mitarbeiter an, der jedoch keine Anstalten machte zu gehen.
»Letztendlich hot mr die Basilika zu Weingarten gebaut, um der Bedeutung des Heiligen Bluts gerecht zum werda. Die isch genau halb so groß wie der Petersdom in Rom. Und an der großa Orgel wurde ein Werkstück vom Teufel eingefügt, um se wie a menschliche Stimme klinga zum lassa. Der Orgelbauer Joseph Gabler hot dafür sei Seele verkauft und wäre fast zum Tode verurteilt worda.«
»Die Vox humana«, flüsterte Laura Behrmann ehrfürchtig.
»Eine Orgel, die wie eine menschliche Stimme klingt. Habe ich leider nie gehört, aber ich habe mir fest vorgenommen, das nachzuholen. Das muss gigantisch sein.«
»Des lohnt sich wirklich. 6.666 Pfeifa, do woisch, was Sache isch. Die blost dir des Hirn von älla bösa Gedanka frei.«
Greta Gerber lachte: »Ihr beide solltet euch in Weingarten anstellen lassen, um Touristenführungen anzubieten. Was ihr alles wisst. Seid mir nicht böse, auf mich warten andere Geschichten. Die von unseren Kunden, und die sind alle sehr gegenwärtig. Aber erst hole ich mir eine Tasse Kaffee.«
Sie verließ das Büro, zurückblieben der verdutzte Fritz und Laura Behrmann, die den Kopf schüttelte.
»Wie kann man an Landesgeschichte so uninteressiert sein. Das hätte ich von der Gerber nicht erwartet.«
»Da kannsch nix macha. Bloß weil du em Hennastall wohnsch, kasch no lang koine Oier lega.« POM Fritz zuckte die Schultern.
»Was soll denn das heißen?«, hakte seine Kollegin nach.
»Ha ja, sie wohnt zwar scho a paar Johr hier, kennt sich vielleicht au a bissle aus, aber am End merksch halt, dass se aus Freiburg kommt. Sie isch und bleibt a Badenerin.«
Störgeräusche.
Schrill, unverhofft und keinesfalls erwünscht überfallen sie unbescholtene Zeitgenossen und rauben ihnen die Konzentration auf das Wesentliche. Und wenn Pfarrer Andreas Goettle eines nicht leiden konnte, war es, von dem Telefon aus der inneren Einkehr gerissen zu werden. Er schreckte auf aus seiner transzendenten Meditation, die ein Unwissender Schlaf genannt hätte, und sah sich benommen um. Er saß in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer, das Buch von Don Camillo und Peppone, der Roman von dem knitzen Pfarrer, der stets Konflikte mit dem etwas einfältigen Bürgermeister austrug, war ihm entglitten und lag mit den Seiten nach unten neben ihm. In der spärlichen Beleuchtung seiner Stehlampe erkannte er, dass die Standuhr gegenüber 22 Uhr anzeigte. Das Telefon klingelte unermüdlich.
»Wer ruft denn so spät no a?«, murmelte er und ließ ein ruppiges »Herrschaftszeita, Frau Münzenmaier, ganget Se an Ihr Telefon. Des isch ja net zum Aushalta« folgen.
Die Küchentür flog geräuschvoll auf, gefolgt von den schlurfenden Schritten seiner Haushälterin, die brabbelnd an ihm vorüberzog. »Hockt in sei’m Sessel wie der Graf Rotz ond schickt mi en der Gegend rom. Sie könntet ja au ans Telefon ganga. Des isch ja net emmer für mi.«
»Awa, mir g’hört der Apparat bloß, wenn i die Rechnung zahla darf. I woiß gar net, wie des Deng fonktioniert«, grantelte Goettle.
»Stellet Se sich no recht bled a«, maulte Renate Münzenmaier und nahm mit einem unwirschen Gruß ab. Der Pfarrer beugte sich ein wenig nach vorn, um besser hören zu können, mit wem sie sprach. Neugierde war ihm ja eigentlich fremd, aber es war nie verkehrt, Augen und Ohren offen zu halten. Der gewohnte Wortschwall seiner Haushälterin blieb aus. Ganz gegen ihre Gewohnheit verharrte sie zunächst stumm und gab dann Schreckenslaute von sich.
»Isch ebbes passiert?«, rief Andreas Goettle. Er bekam keine Antwort. Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel und ging hinaus in den Flur. Renate Münzenmaier stand mit offenem Mund und totenblass da, presste den Hörer ans Ohr und lauschte. Als sie den Pfarrer sah, winkte sie ihn zu sich her.
»Des isch jo unfassbar. Da fehlet mir die Worte. An kloina Moment. I geb Ihnen den Herrn Pfarrer.«
Sie reichte den Hörer an ihren Dienstherrn weiter, schlug sich die Hand vor den Mund und beobachtete, wie Andreas Goettle das Gespräch übernahm.
»Hallo, wer isch denn do? Ah, der Herr Blutreiter persönlich. Gibt’s a Problem? Sen Ihne die Gäul durchganga?«, witzelte er. Frau Münzenmaier sah, wie das Lächeln in seinem Gesicht erfror und immer mehr in sich zusammenfiel, um schließlich dem Entsetzen Platz zu machen.
»Des isch jetzt net Ihr Ernschd«, keuchte Biberachs Gemeindepfarrer. »Des isch ja a Katastrophe von ungeheuerlichem Ausmaß. Da muas mr sofort die Polizei informiera …«
»Nein, keine Polizei«, tönte es schrill aus dem Hörer. Den Rest konnte Renate Münzenmaier nicht verstehen.
Andreas Goettle lauschte seinem Gesprächspartner, nickte und beendete das Gespräch wortlos. Das Gehörte schien ihn zu bedrücken, ließ ihn schrumpfen, als wäre die Nachricht tonnenschwer auf seinen Schultern abgeladen worden. Mit sorgenvollem Blick wandte er sich an seine Haushälterin.
»Sie hen’s g’hört. Der Seegmüller isch in große Schwierigkeita. Packet Se mir a paar Sacha z’samme. I fahr für a paar Tag nach Weingarta. Ond schwätzet Se bloß mit koi’m über die Sach. Des darf niemand erfahra.«
»Wenn’s sei muss, schweig i wie a Grab. Aber Sie könnet net oifach nach Weingarta fahra. Sie hen nächschde Woch die Anhörung. Wega Ihrer Amtsenthebung«, insistierte Renate Münzenmaier. Sie wusste, dass dieser Einwand Andreas Goettle nicht von seinem Entschluss abbringen konnte, dennoch war es ein gefährliches Spiel, wenn er diesen Termin bei Erzbischof Timmermann ungenutzt verstreichen ließ. Biberachs Gemeindepfarrer war beim Vorstand der Diözese Rothenburg in Ungnade gefallen, weil er nach dessen Ansicht durch seine zunehmenden detektivischen Ermittlungen seine Gemeindearbeit vernachlässigte. Außerdem war Goettle einer, der keine Gelegenheit ausließ, seinen Dienstherrn zu kritisieren und Reformen für die katholische Kirche zu fordern. Das stieß dem konservativen Fundamentalisten Timmermann sauer auf, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Andreas Goettle am liebsten exkommuniziert.
»Des isch mir wurscht. Der Herr Erzbischof macht eh, was er will. Es gibt jetzt Wichtigeres, als über ebbes zum diskutiera, was scho längschd entschieda isch.«
Renate Münzenmaier seufzte. Sie würde den alten Querkopf vermissen, wenn es wirklich zum Äußersten kommen sollte. Und davon musste man ausgehen, wenn er diesen wichtigen Termin verstreichen ließ. Es war Goettles letzte Chance, sich zu rehabilitieren. Aber dafür hätte er sich zu mehr Linientreue verpflichten müssen und das kam für den umtriebigen Geist keinesfalls infrage. Er ließ sich nicht verbiegen, selbst durch eine drohende Arbeitslosigkeit nicht. Ihm war bisher immer etwas eingefallen, wie er sich zum Wohl der Menschen in Biberach engagieren konnte. Derzeit kümmerte er sich um den Lebensmittelnachschub des Tafelladens. Die Einzelhändler der Stadt unterstützten ihn durch Spenden, und wenn es knapp wurde, tauchte der Geistliche in die Abfalltonnen der Supermärkte, um Lebensmittel herauszufischen, die optisch kleine Mängel aufwiesen, ansonsten jedoch »pfennigguad« waren.
Schweren Herzens stieg Renate Münzenmaier die Treppe hoch, um den Koffer des Pfarrers zu packen.