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Sie beugte sich über den schlafenden Mann.

„Herr Kolustro, hören Sie mich?”

Sein fleischiger aufgedunsener Kopf lag, ihr sein grobporiges, von Nachtschweiß glänzendes Profil weisend, halb versunken in zwei Dutzend kleiner, rüschenbesetzter Daunenkissen. Tiefrot wie eine seltsame, abstoßende Blüte leuchtete er dort im Dämmerlicht des Schlafzimmers.

Pernilla Jörgensen betrachtete für einen geistesabwesenden Moment dieses phänomenale Profil, während in ihren Gesichtszügen Abscheu und schmerzliches Bedauern miteinander rangen. Noch immer, trotz all der vergangenen Jahre, trotz all der Veränderungen, denen Peter Kolustros Körper in jener Zeit unterworfen gewesen war, trotz alldem haftete seinem Gesicht - zumindest im Zustand des Schlafes - eine Erinnerung jenes unbekümmerten Charmes an, welcher ihr seinerzeit, als sie sich für die Stelle als Wirtschafterin bewarb, Hoffnungen machte, deren überspannte Kühnheit ihr schon bald klar werden sollte. Sie hätte gehen können ohne sich eine Blöße zu geben, denn sie war klug genug gewesen, ihre Gefühle nicht voreilig zu offenbaren. Aber sie war geblieben.

„Herr Kolustro?”, wiederholte sie lauter. „Hören Sie mich?”

Keine Reaktion.

Pernilla Jörgensen richtete sich auf und stemmte entschlossen die Hände in die Hüften. „Herr Kolustro!”, rief sie energisch. „Sie müssen jetzt aufstehen!”

In den Federbettgletscher geriet unwillige Bewegung, gleichzeitig ertönten schweres Prusten und tiefes Schnaufen.

„Was ist denn los, Penny?”, röchelte Peter Kolustro schließlich. „Warum wecken Sie mich?”

„Ihr Vater ist soeben gekommen und wünscht Sie zu sprechen.”

Peter Kolustro wälzte sich mühsam unter Grunzen und Pfeifen gegen den Widerstand der unzähligen Kissen, mit denen seine riesige Bettstatt wie mit Blütenblättern bestreut war, auf den Rücken. Er war sichtlich amüsiert.

„Sieh da, sieh da, der Herr Papa!”, grinste er. Um im nächsten Augenblick hinzuzusetzen: „Mein verehrter Herr Vater ist ein Arschloch!”

Peter Kolustro gähnte und streckte sich, knurrte und rieb sich die verquollenen Augen.

Er blinzelte. „Penny? Sind Sie noch da?”

Außer der gewaltigen Erhebung seines Bauches, über die hinweg er gerade eben noch zum geschnitzten Giebel seines Kleiderschranks hinüberpeilen konnte, vermochte er nichts zu sehen. „Penny, verdammt noch mal, wo stecken Sie denn schon wieder?”

Begleitet vom scharfen Geräusch entschlossen zurückgezogener Vorhänge loderte grelles Tageslicht ins Schlafzimmer.

„Penny!” Peter Kolustro stöhnte. „Wollen Sie mich umbringen?” Er kniff die Augen zu und tastete nach einem Kissen, das er sich mit beiden Händen aufs Gesicht drückte. „Können Sie mich nicht auf liebenswürdigere Weise daran erinnern, dass der Mensch dem Fluch unterliegt, die Gefilde des Schlafes verlassen zu müssen, nur um sich von der Welt im Allgemeinen und Eltern, Verwandten und so genannten Freunden im Besonderen so lange langweilen zu lassen, bis der Schlaf ihm erneut ein befristetes Asyl gewährt?”

„Sie wissen, dass ich es nicht mag, wenn Sie so abfällig über Ihren Vater sprechen”, entgegnete Pernilla. „Er ist ein sehr eleganter und kluger Mann ...”

„Man beachte die Reihenfolge”, grunzte Peter Kolustro durch das Kissen. „Wie spät ist es?”

„Gleich dreizehn Uhr.”

„Essen schon fertig?”

„Ach! Selbst Flüche können also ihre guten Seiten haben? - Sie sollten jetzt wirklich hinuntergehen. Ihr Herr Vater hat einen sehr aufgebrachten Eindruck gemacht.”

„Den macht er doch immer. Sagen Sie ihm, ich käme gleich. Und”, rief er ihr nach, „bringen Sie mir bitte einen Sherry herauf!”

Er blieb noch ein wenig so liegen, das Kissen auf sein Gesicht gedrückt. Dann warf er es mit einer resignierten, kraftlosen Bewegung beiseite und wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass er die nötige Kraft zum Aufstehen fand.

Schließlich raffte er sich im Gedanken an das Mittagessen auf, schlug das schwere Federbett beiseite, stemmte sich unter einigem Ächzen und Keuchen hoch und setzte sich zunächst auf die Bettkante, um dem Kreislauf Gelegenheit zu bieten, sich mit den dramatisch veränderten Blutdruckverhältnissen zu arrangieren. Es rauschte mächtig in seinen Ohren und sirrte und pfiff und pulste in Hals und Schläfen. Zudem war sein rechtes Knie, wie er mit einiger Verärgerung nach dem Abklingen der gewohnten allmorgendlichen Beschwernisse feststellen musste, und welches er mittels einer ebenso aufwendigen wie mühsamen Verrenkung rechts an seinem von dem apricotfarbenen Nachthemd verhüllten Bauch vorbei sehen konnte, rot geschwollen und heiß. Ein feines spitzes Stechen und Brennen in seinerlinken Großzehe kündigte bereits den ersten Gichtanfall des Tages an. Dessen ungeachtet schlüpfte er mit dem festen Vorsatz, die wenig Gutes verheißenden Ankündigungen seines Körpers so weit wie möglich zu ignorieren, in die Pantoffeln und stand auf. Ein Experiment, das ihm erst nach dem dritten Versuch gelang. Er keuchte und schwitzte und in seinen Sprunggelenken und Knien knarrte und quietschte es vernehmlich, während er, sich schrappend Bauch und Gesäß kratzend, zu dem Stuhl hinüberging, über dessen Lehne sein Morgenmantel hing.

Er hatte ihn gerade angezogen, als Pernilla Jörgensen mit dem Morgensherry zurückkam. Peter Kolustro war diesbezüglich kein Purist und so war es für ihn durchaus in Ordnung, dass sie den Sherry in einem großen Cognacschwenker servierte.

„Sie sollten jetzt wirklich endlich hinuntergehen!”, drängte sie. „Ihr Herr Vater ist außer sich!”

„Er ist so dürr, dass mir das wenig verwunderlich erscheint.” Er nahm das Glas vom Tablett und nippte am Sherry. „Was will er überhaupt?”

„Das hat er nicht gesagt.”

„Na”, seufzte Peter Kolustro und lächelte den Sherry an wie das Foto einer verflossenen Geliebten, „es wird sich wohl wieder einmal um die verdammte Galerie handeln.” Er leerte das Glas. „Was hat sich mein teurer Alfons denn heute Feines zum Diner einfallen lassen?”

„Das werden Sie sehen, wenn Sie unten sind.”

„Sie sind grausam, Penny!”

„Also bitte, Herr Kolustro!”

„Ja, ja, schon gut, ich komme ja schon”, knurrte er und folgte ihr hinaus auf den mit nachtblauem Satin ausgeschlagenen Flur zur „Eigernordwand”, wie er die ins Entree hinunterführendeTreppe nannte. Auf dem Treppenabsatz blieb er stehen und wischte sich mit einem schwarzen Seidentuch den Schweiß von der Stirn. Er hob den Kopf.

„Hmm! Das duftet ja ganz süperb!” Er witterte mit hektischen Kaninchennüstern. Dann verzog er das Gesicht. „Aber ... Brot?!” Pernilla drehte sich um und spitzte den Mund: „Boeuf en Crôute!”

„Aahhh! Meinen zarten Füßchen wachsen Flügel!”

„Dann ist es wohl besser, wenn Sie vorgehen.”

Peter Kolustro überhörte diese ungehörige Bemerkung und setzte das halsbrecherische Abenteuer des Treppenabstiegs fort.

In der großzügigen, holzgetäfelten Halle angekommen, wollte er sich gerade auf die beschwerliche Expedition ins Speisezimmer begeben, als sein Vater aus einer Nische trat. Herrmann Kolustro war auffallend schlank und knochig, dabei an die einsneunzig groß und für seine zweiundsiebzig Jahre noch von erstaunlicher Beweglichkeit. Er trug einen dunkelbraun gemusterten, dreiteiligen Anzug und nahtverstärkte braune Schuhe.

„Da bist du ja endlich!”, rief er in einer Mischung aus Zorn und Verstörung. Sein für gewöhnlich wie der helle Sandstein gotischer Dome in der Mittagssonne leuchtendes Gesicht war grau geworden. Seine Pupillen schwammen wie Ölflecke auf den Glaskörpern.

„Es ist eine Schande, wie du wieder aussiehst!”, raunzte er seinen Sohn an. „Schlafen bis in die Puppen und nichts anderes im Kopf als Fressen und Saufen!”

„Das Essen ist einer der vier Zwecke des Daseins”, begrüßte Peter seinen Vater. „Welches die drei anderen sind, darauf bin ich noch nicht gekommen."

Herrmann starrte ihn entgeistert an. „Was ist denn das schon wieder für eine ...”

„Soll Montesquieu gesagt haben. Mir persönlich scheint übrigens der zweite Zweck des Daseins das Schlafen zu sein.” Damit schlurfte Peter weiter über die gebohnerten Fliesen Richtung Speisezimmer.

„Das ist mir scheißegal!”, kreischte sein Vater. „Wir haben ganz andere Probleme! Gestern Nacht ist die Galerie abgebrannt!”

Peter Kolustro stockte kurz in seiner Bewegung, ein Lächeln wehte über sein Gesicht. Dann drückte er die Tür zum Speisezimmer auf. „Da ist doch nicht etwa dem lieben Konrad ein kleiner Fehler unterlaufen?”

Das Speisezimmer war ein schlichter rechteckiger Raum mit direktem Zugang zur Küche. Die Wände waren bis in Brusthöhe getäfelt, darüber bis unter die gelb gestrichene Decke, von deren Mitte ein Kronleuchter aus dem Zentrum einer Stuckrosette herabhing, mit grün changierendem Satin bespannt. An der Wand, dem von rosenholzfarbenen Raffgardinen eingefassten Fenster gegenüber, hing ein Arcimboldo, der das feiste, aus sämtlichen bekannten und einigen undefinierbaren Früchten zusammengesetzte Porträt eines jungen Mannes zeigte. Beherrscht wurde der ansonsten schmucklose Raum von einem gedrungenen Kastentisch aus dem fünfzehnten Jahrhundert, an dessen Kopfseite Peter Kolustros Sitzgelegenheit stand, ein Settée aus der Queen-Anne-Zeit.

Als die beiden das Speisezimmer betraten, erwartete sie bereits gute drei Dutzend Austern, die mit Zitronenachteln garniert und von zerstoßenem Eis gekühlt auf einer Edelstahlplatte derRechtfertigung ihres Todes harrten. Daneben eine geöffnete Flasche Weißwein und ein Glas.

„Was denn, willst du deine Gäste etwa in diesem Aufzug empfangen?”, fragte Herrmann Kolustro, den die zwar beiläufig geäußerte, doch von einer gewissen Genugtuung nicht ganz freie Bemerkung seines Sohnes verunsichert hatte.

„Was für Gäste? Das ist meine Vorspeise.” Peter Kolustro nahm Platz.

„Du bist wirklich ein Monster ...”, murmelte Herrmann.

„Und du solltest ein wenig höflicher sein, wenn du um finanzielle Unterstützung nachsuchst.”

Peter nahm sich eine Muschel, knackte sie mit dem Austernmesser, träufelte mit der Konzentration eines Chemikers, der aus einer Pipette einen Katalysator in ein Reagenzglas tröpfeln lässt, ein wenig Zitronensaft darüber und schlürfte sie aus. Ein verzerrtes Lächeln ging unterdessen durch Herrmann Kolustros Gesicht. Er war wirklich gekommen um seinen Sohn anzupumpen. Und ja, Konrad hatte tatsächlich einen Fehler gemacht. Einen derart schwerwiegenden Fehler sogar, dass der Fortbestand der Galerie auf dem Spiel stand. Hatte der Idiot doch glatt vergessen, die Bilder versichern zu lassen! Nun war es nicht so, dass Herrmann seinen Erstgeborenen verachtete, weil dieser so wenig „Kunstsinn” aufzubringen vermochte, wie er, fern jeder Ironie, das Vermögen zu bezeichnen pflegte, die Verkäuflichkeit von Bildern einzuschätzen - jedoch ...

„Soll Alfons dir einen Stuhl holen?”

„Es geht um die neue Ausstellung von Miss Belinda Fast. ‚Kosmische Welten - Bilder von den Rändern des Universums’. - Mein Gott!” Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ihre erste große Gesamtwerkschau - alles verbrannt!”

Peter Kolustro sah auf. „La belle Fast?”

„Du erinnerst dich also noch an sie?”

„Wie könnte ich sie vergessen!”, rief Peter. „Eine schwarzhaarige Irin mit gelben ...” Er stockte. „Ja”, sagte er dann und blickte für einen Moment versonnen auf ein Zitronenachtel, „ja, mit gelben Augen!” Er sah auf.

Vor etwa einem Jahr war sie auf Empfehlung einer großen internationalen Künstlervermittlungsagentur zu Herrmann Kolustro gekommen.

Belinda Fast hatte sich neben ihrem Studium an der Pariser Akademie der Schönen Künste mit mäßigem Erfolg als Porträtistin auf Flohmärkten und in U-Bahnstationen - so manches Mal gar als Straßenmalerin - finanziell mehr schlecht als recht über Wasser gehalten. Erst nachdem sie sich auf das Malen so genannter „kosmischer Fraktale” verlegt hatte, stellte sich der Erfolg ein, um den sich ein Geheimnis rankte - das Geheimnis ihres Verschwindens. Ganze drei Monate blieb Belinda Fast wie vom Erdboden verschluckt. Das war ein gutes halbes Jahr nach Aufnahme ihres Studiums. Niemand hatte auch nur den Schatten einer Idee gehabt, wo sie sich aufhalten könnte. Und dann war sie wieder da - ebenso plötzlich, wie sie ein Vierteljahr zuvor verschwand. Dass nie auch nur eine Silbe über ihren Aufenthaltsort über ihre Lippen gekommen war, machte die Geschichte vollends zum Mysterium und regte die Phantasie an. Einzig greifbare Tatsache war und blieb, dass Belinda Fast sich nach ihrem Wiederauftauchen zu gänzlich unerwarteten Höhenflügen in der Malerei aufmachte und bald selbst einen jener unerreichbar scheinenden Gipfel bildete. Mittlerweile erreichten ihre Bilder von „rückwärtigen Sternenkonstellationen” - wie sie selbst dereneigentümlichen Zauber umschrieb - Summen, die in den fünfstelligen Bereich führten.

Peter Kolustro blickte auf.

„Hat sie nicht ihren Spitznamen von Studenten dieser französischen Kunstakademie bekommen?”

„Hinzu kommt noch, dass sie aus Belfast stammt.”

„Wie konnte es überhaupt zu dem Brand kommen?”

„Die Feuerwehr fand im Hof zwei leere Benzinkanister.”

Peter Kolustros Augenbrauen rutschten hoch. „Brandstiftung?”

„Es sieht wohl danach aus. Die Untersuchungen laufen.”

„Alle Bilder?”

Herrmann, dem geschäftliche Misserfolge oder Pannen ebenso peinlich waren wie einem Exhibitionisten ein klemmender Reißverschluss, nahm Haltung an. Er nahm immer „Haltung” an, wenn andere sie verloren.

Peter Kolustro, nunmehr in Nachdenklichkeit versunken, wandte sich wieder seinen Austern zu - jetzt allerdings mit abgelenkter Nachlässigkeit. „Ein Glas Wein?”, murmelte er.

„Nein danke.”

Peter schenkte sich ein. „Ein exquisiter Chablis von Louis Michel.” Peter sah auf. „Er ist nie mit Holz in Berührung gekommen. Ich hasse diese Eiche-Vanille-Spielereien! Vergoren in Edelstahltanks und dann direkt auf Flaschen gezogen.” Er nahm einen Schluck. „Nichts auffallendes, aber von kräftiger Beschaffenheit, strenger Säure und trockenem, mineralischem Geschmack. - Wie hoch wird der Schaden geschätzt?”

„Zwanzig Millionen. Rund gerechnet.”

Peter lachte auf. „Sehr rund!”

„Nur für die Bilder ...” Herrmann Kolustro wurde mit einem Mal übel, denn in ihm war das Gorgonenhaupt der Erinnerung an jenen Abend vor gut fünfzehn Jahren wieder aufgetaucht. Sie hatten gegessen und über das Geschäft, die Galerie, gesprochen. Rasch hatte sich dieses Gespräch in einen heftigen Streit verwandelt, dessen melodramatischen Höhepunkt selbstverständlich Peter für sich beanspruchte. Ihm war ein natürliches Talent für derlei Auftritte bzw. Abgänge gegeben. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Konrad, der völlig unter dem Einfluss ihrer Mutter stand und wohl auch aus diesem Umstand heraus jene lächelnde Perfidie entwickelt hatte, mit der ein Kind zunächst gegen seine Geschwister und später gegen die Welt vorgeht. Konrads Phantasie war ein Grüner Tisch, an dem er unentwegt Manöver abhielt um Strategie und Taktik seines nächsten Schrittes zu planen. Jedenfalls - Peter hatte sich schwerhüftig erhoben und im Ton selbstgefälliger Herablassung gesagt: „Ach was! Zweifellos ist, sofern man nur über die hierfür notwendige, traurige Intelligenz verfügt, kaum etwas auf simplere Weise zu erlangen als finanzieller Reichtum!” Mit dieser hochgradig ehrverletzenden Behauptung hatte er das Haus verlassen. „Dann geh doch!”, hatte Herrmann Kolustro ihm noch nachgeschrien. „Dann geh doch! Werde REICH, das ist ja kein Problem für dich! Aber glaub’ ja nicht, dass dir einer von uns dabei helfen wird!”

Es sollte sich herausstellen, dass das auch gar nicht nötig war. Peter Kolustro hatte gegen Zahlung einer geringen Gebühr beim Gewerbeamt kurzerhand eine Handelsagentur, die „International Management”, angemeldet und sämtlichen ausländischen Botschaften seine Dienste als Waffenhändler angeboten. Das war im Sommer 1987, in jenen fernen Zeiten also, da die COCOMListe noch für außerordentliche Profite sorgte. Nur vier Jahre später hatte er sich, reich geworden, zur Ruhe gesetzt, und sich seinen ausgiebigen Mahlzeiten und dem Sammeln sowohl kost- als auch trinkbarer Weine widmen können.

„He, Väterchen, hast du was?”

„Wie?” Herrmann Kolustro hatte einen Entschluss gefasst. Mit einem Blick auf die Armbanduhr leitete er seinen Abgang ein. „Nein”, sagte er, „ich wollte dich nur informieren. Ich muss jetzt gehen. Es gibt noch eine ganze Menge zu tun, wie du dir denken kannst. Also dann, mach’s gut ...”

Peter Kolustro sah seinem Vater nach. Dann wandte er sich wieder dem Chablis und den Austern zu.

Es dauerte noch eine gute Viertelstunde bis Alfons, sein Koch, auftrug: Karpfen Bourgignon zunächst, dazu eine Flasche Château Ausone, danach Boeuf en Crôute mit demselben Wein.

Zu seinem größten Bedauern musste Peter Kolustro jedoch bald die Feststellung machen, dass sein Vergnügen heute durch besonders heftige Schwindelattacken getrübt wurde. Aus diesem Grund trank er wesentlich mehr als üblich. Das half zwar nichts, machte aber den Schwindel erklärlich und verwandelte ihn dadurch in etwas weniger Bedrohliches.

Nach dem Essen beschloss er sich mit zwei Flaschen Portwein in die Bibliothek zu begeben. Wegen seiner Koordinationsprobleme musste Alfons ihn auf diesem strapaziösen Gang begleiten. „Ich kann mir wirklich nicht erklären, was auf einmal mit mir los ist”, schnaufte Kolustro entschuldigend, während sie die Halle durchquerten.

„Soll ich nicht vielleicht doch besser einen Arzt kommen lassen?”

Das hätte der Koch besser nicht gesagt, denn wie jeder ungesund lebende Mensch hegte auch Peter Kolustro ein tief verwurzeltes Ressentiment gegenüber Ärzten. Und so wirbelte er mit einer Heftigkeit herum, dass es den armen Koch beinahe zu Boden geschleudert hätte und brüllte: „Niemals wird ein Arzt die Schwelle meines Hauses ...” Er japste. „Niemals! Diese Quacksalber! Knechte der Pharmaindustrie! Blutsauger!” Er hechelte und keuchte und schnaufte für einige Sekunden wie ein degenerierter Mops. Dann war es auch schon wieder vorbei. Das hieß, er spürte, dass er sich für den Moment nicht mehr erlauben konnte. Also sagte er: „Na kommen Sie, Alfons, vergessen wir die Bibliothek. Den Port kann ich ebenso gut im Schlafzimmer trinken.”

Das erste Glas Portwein entfaltete umgehend seine beruhigende, ausgleichende Wirkung. Es handelte sich um einen OLD TAWNY, dem feinsten aller „wood ports”, ein dreißig Jahre altes Spitzenprodukt von NOVAL AND TAYLOR. Dessen fast likörähnliche Glattheit im Abgang und wunderbar fein strukturierte Zartheit entrückten Herrn Kolustro jedes Mal aufs Neue und vermochten, ihn mit geradezu magischer Wirkung die Unbill der Welt vergessen zu lassen. Er genoss eine Flasche dieses Elixiers. Dann, von jäher Mattigkeit überfallen, legte er sich ins Bett und versank unmittelbar in tiefen Schlaf.

*

Irgendwann drang in die gedankenlose Finsternis seines Schlafes ein gleißender Lichtstrahl ein. Kolustro blinzelte verwundert und musste im nächsten Moment mit noch größerer Verwunderung feststellen, dass er sich in einer Art Tunnel oder Röhre befand. Das blendende Licht fiel von jenseits der Röhre ein. Und: Er warnicht allein! Drei oder vier Gestalten, von denen ein seltsam unbestimmbares Leuchten ausging, ganz als besäßen sie einen Kern aus rotglühendem Eisen, der durch die porzellanene Mattigkeit ihrer Haut und ihrer fließenden Gewänder hindurchschimmerte, sah er langsam auf das Licht zugehen. Peter Kolustro erschrak: Waren das ... Engel? Flügel hatten sie jedenfalls keine, soweit er es ...

„Ich begrüße Sie!”

Peter Kolustro drehte sich erschrocken um. Eines dieser Wesen hatte sich ihm unbemerkt von hinten genähert. Sein Gesicht sah aus wie das Dürer-Porträt eines Hermaphroditen. Wie die anderen trug auch er - es? - ein weich fließendes weißes Gewand. Er lächelte - nicht unbedingt freundlich, eher von enervierter Güte durchsetzt, sodass sein nächster Schritt schwer zu erraten war.

„Bin ich tot?”, fragte Kolustro.

„In einem Sinn, den Ihre Medizin ‚klinisch’ nennt - ja”, antwortete der Engel.

„Um Gottes Willen!”, entfuhr es Peter Kolustro.

Der Engel hingegen nickte nur und lächelte. „So könnte man es auch ausdrücken.”

„Und was ist mit Allah und all den anderen?”

„Ein Dichter Ihres Kulturkreises hat einmal gesagt, der Name sei nichts mehr als Schall und Rauch - und nicht einmal das gibt es bei uns.”

„Aber es ist schon ... ich weiß nicht ... beeindruckend oder ... überraschend? Ich meine, dass hier tatsächlich alles so aussieht wie auf dem Bild von Hieronymus Bosch.”

„Nein, nein”, lächelte der Engel mit angestrengter Milde, „umgekehrt wird ein ... ein ...”

„... ein Schuh daraus?”, wagte Kolustro vorzuschlagen.

„Ja genau”, bestätigte der Engel. „Entschuldigen Sie, ich habe immer gewisse Schwierigkeiten mit diesen abstrakten Dingen. - Nun, wenn Sie einen Tunnel erwarten, weshalb sollten Sie dann keinen kriegen? Seit vor einigen Jahren ein klinisch Toter, den wir zurückgeschickt haben, dieses Bild der menschlichen Öffentlichkeit mitgeteilt hat - warum nicht? Die wahre Erinnerung stellt sich ohnedies erst im klaren, reinen Licht des absoluten Seins ein. Und was Hieronymus Bosch angeht ...” Er stockte. „Tut mir leid, ich bin nicht befugt, weitere Angaben zu machen.”

„Schade ... Jedenfalls ist es tröstlich, dass es tatsächlich ein Leben nach dem Tod gibt.”

Daraufhin sah ihn der Engel lange schweigend an. Dann wurde er förmlich: „Ich habe den Auftrag, Sie über folgende Sachverhalte zu unterrichten: Man sieht Sie ...”

„Man?”, unterbrach Peter Kolustro unwillkürlich.

„Ich werde mich nicht in Details ergehen, Herr Kolustro!”

„Entschuldigen Sie.”

„Man sieht Sie”, nahm der Engel den Faden wieder auf, „als die Fleisch gewordene Durchkreuzung des göttlichen Willens. Mit anderen Worten: Sie sollten im Alter von fünfzig Jahren sterben. Das sind Sie ja auch - wenigstens beinahe. Obwohl wir hier selbstverständlich keine starren Regeln oder Gesetze kennen. Gott, wie Sie jenes ... wie Sie ... IHN nennen, ist das Gesetz. Ohne ein Morgen gibt es keine Berichtigungen, also auch keinen Irrtum, weder Kontinuität, Chronologie noch Regression, sondern nur die unverbrüchliche Tatsache des Seins als solchem, das seine Freiheit aus sich selbst heraus schöpft.” Es machte fast den Eindruck, als atme der Engel tief durch. „Obwohl dies allesso ist, haben Sie, Herr Kolustro, es gewagt, sich gegen das Natürliche aufzulehnen.”

„W-was soll ich ...?”

„Indem Sie das Natürliche dadurch negierten, dass Sie die Einrichtung des Schlafes, die normalerweise eine für den Menschen lebensnotwendige und natürliche ist, auf eine Weise pervertiert haben, die der Revolte bedenklich nahe kommt.” Der Engel wurde jetzt sehr ernst. „Ihr Leben, Herr Kolustro, ist dem Bösen geweiht!”

Peter Kolustro erschrak. „Was denn, böse? Ich? Was habe ich denn getan? ... Gut”, räumte er ein, „ich war manchmal vielleicht ein bisschen sarkastisch, möglicherweise auch zynisch - aber böse?”

„Sie verwenden den Begriff falsch”, erläuterte der Engel. „Verbrechen beispielsweise sind nicht widernatürlich, also auch nicht böse im eigentlichen Sinne des Wortes. Vielleicht kennen Sie den Ausspruch einer Seele, die vor einiger Zeit unter dem Namen Augustinus auf der Erde gelebt hat: ‚Nichts geschieht gegen die Natur!’ Sie aber haben einen Teilaspekt des Natürlichen, dessen, was Sie ‚Schöpfung’ nennen, dafür missbraucht, es widernatürlich werden zu lassen, und das muss bestraft werden. Sie haben sich Ihrem Schicksal durch Schlaf entzogen. Würden wir das durchgehen lassen, müsste ...” - der Engel lächelte - „ ... ja, dann müsste der Himmel einstürzen! Das nämlich ist das Böse: Die natürliche Ordnung stürzen zu wollen. Doch da Sie sich der Folgen Ihres Tuns nicht bewusst waren, wird Ihnen Milde zuteil und Sie dürfen zurückkehren.”

„Zurückkehren?” Obwohl Peter Kolustro diese Eröffnung einerseits schon erleichterte, empfand er auf der anderen Seite doch auch eine gewisse Enttäuschung. Sterben müsste erschließlich in jedem Fall. Nur wollte ihm scheinen, dass ihm der letale Abgang - oder doch zumindest der erste Schritt zu dessen Vollendung - diesmal recht gut geglückt war. Konnte er wissen, wie es beim zweiten Mal verlaufen würde? Womöglich unter Schmerzen in geistesverwirrtem Zustand? Dem Engel gegenüber, der ohnedies von seinen Vorbehalten zu wissen schien, äußerte er sich dazu freilich nicht. Es kam ihm schon auch ein wenig frivol vor, auf seinem Tod zu beharren.

„Ein Jahr und zehn Tage lang”, fuhr der Engel fort, „sollen Sie ohne Schlaf bleiben und so den Ausgleich wieder herstellen.”

„Ein Jahr?”, rief Peter Kolustro.

„... und zehn Tage”, vollendete der Engel, „ja.”

„Aber ich dachte, ich sollte mit fünfzig sterben? In einem Jahr ...”

„... und zehn Tagen ...”

„... bin ich einundfünfzig!”

„... und zehn Tage. - Wie ich schon sagte, es gibt bei uns keine starren Regeln und Gesetze im menschlichen Sinn, und der Begriff der Quantität ist hier sowieso völlig irrelevant. Es geht sozusagen um einen ausschließlich qualitativen ... sagen wir: Ausgleich. Leider darf ich Ihnen dazu nicht mehr sagen”, wehrte der Engel mit gebieterischer Geste ab. „Das Gespräch ist beendet. Leben Sie wohl, Herr Kolustro!”

*

Tiefe Dunkelheit fiel über Peter Kolustro und mit einem Entsetzensschrei fuhr er aus dem Schlaf. Das Herz schlug ihm wie wild im Hals und für zwei, drei Minuten pulsierten grässliche Hitzeschauer über seinen Körper. Er konnte währenddessen nur keuchend und am ganzen Leib zitternd dasitzen und das Endedes Anfalls abwarten. Dann war es einfach vorüber, ohne erkennbaren Anlass und so bestürzend plötzlich, dass Peter Kolustro für eine Weile befürchtete, dies sei nur das Vorspiel für weit schrecklicheres. Aber nichts geschah. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, kämpfte sich aus dem Bett und sah auf den Wecker. Er hatte durchgeschlafen - sechsundzwanzig Stunden! Dann war jetzt also schon der 19. Gerade noch rechtzeitig für die Weinauktion.

Peter Kolustro trat ans Fenster. Es war ein heller Tag, träge Spätnachmittagstimmung lag über der sich im milden Oktoberlicht sonnenden Gasse. Die gegenüberliegenden Fassaden, die durch die Licht- und Schattensilhouetten der diesseitigen Häuserzeile wie aus scharf zurechtgeschnittenen Flächen zusammengesetzt schienen, glühten in leuchtendem Orange, strahlendem Gelb, saftigem Grün und klarem Weiß. Der Himmel, schon ausgelaugt, wie gealtert und ermattet in dem bis zur Farblosigkeit des Hochsommers übersteigerten Blau, war dunstig umschliert. Es war vollkommene Stille.

Peter Kolustro öffnete das Fenster und atmete tief durch. Die Luft roch nach Erde und frisch gemähtem Gras und fast hätte er glauben können, es sei Frühling, wäre da nicht deutlich die Melancholie des Erinnerns in der ungewöhnlich warmen Luft gewesen. Er ging ins Bad und ließ sich Wasser ein. Und während er in der wabenförmigen, aus rotem Marmor gearbeiteten Wanne, in die zwei vergoldete Treppen hinunter führten, saß und mit dem Schaum spielte, dachte er: Ich hätte ihn fragen sollen, weshalb er keine Flügel hat ...

Kolustros Traum

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