Читать книгу Götterhämmerung & Walkürentritt - Olaf Schulze - Страница 6

Hammers Fehlen

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chon eine ganze Weile schien heute eine angenehm wärmende Frühlingssonne auf die kleine Kreisstadt mitten in Deutschland. Die Menschen gingen gut gelaunt ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Jedenfalls die meisten.

‚Unglaublich‘, dachte die junge Frau, die vor dem Schaukasten des Theaters stand und das Spielplanplakat studierte. Sie presste ihre Finger so fest an die Glasscheibe, dass die Fingerspitzen schmerzten. ‚Sie haben eine Walküre hier, wer hätte das gedacht!‘ Was auch immer der Begriff ‚Walküre‘ auf diesem Fetzen Papier zu bedeuten hatte, sie würde es herausfinden. Offenbar handelte es sich um ein öffentliches Haus, vor dem sie da stand. Es gingen Leute hinein und auch wieder heraus. Allerdings schritten sie nicht durch das große Portal, das auf mächtigen Säulen ruhte und über einen, die ganze Breite des Gebäudes einnehmenden Treppengang erreichbar war, sondern sie benutzten einen Nebeneingang auf der rechten Seite. Und es waren merkwürdige Menschenwesen unter den Ankömmlingen. Viel trugen gefährlich aussehende, abgerundete, schwarze Kästen, die dafür geeignet schienen, Neugeborene oder Waffen oder beides zu verbergen. Einige waren in bunte Tücher gehüllt und andere hatten große, geschmacklose Hüte auf dem Kopf. Das alles war für sie sehr aufregend und sie malte sich aus, wie die anderen zu Hause reagieren würden, wenn sie ihnen nach ihrer Rückkehr davon erzählte. Etwas Pelziges strich ihr um die Beine und eine feuchte Hundeschnauze berührte ihre linke Wade. Sie wirbelte herum und sah ein schmutzig-graues Tier, das sie entfernt an einen Hund erinnerte. Der Vierbeiner untersuchte intensiv ihre Bastsandalen. Was, bei allen Göttern, soll das für ein Vieh ein, fragte sich die junge Frau.

Unmittelbar hinter der Kreatur stand ein offenbar männlicher Einwohner dieses merkwürdigen Ortes, wobei sein Geschlecht hauptsächlich an seinem fehlenden Haupthaar erkennbar war, denn er war sehr beleibt und hatte eine so unförmige Figur, dass schlecht zu unterscheiden war, wo die Brust endete und der Bauch begann. Er war über 50 Jahre alt, hatte ein rosiges Gesicht und Wurstfinger, mit denen er eine lächerlich dünne, rote Hundeleine festhielt, die in einer kleinen Plastikbox endete. Hundeexperten warnten beständig vor solch unsinnigen Dingern, weil sich der Hundehalter damit ernstlich verletzen könnte, wenn sein Tier die erworbene Sozialisierung fahren ließ und davon stürzen wollte. Allerdings waren größere Temperamentsausbrüche als ein bettelndes Jaulen bei dieser Art Hund wohl kaum zu befürchten. Der Hundebesitzer schwitzte, als wäre er gerade einem heißen Bade entstiegen.

„Was machst du denn? Wotan, aus!“, keuchte er kurzatmig.

„Wie bitte?“, fragte die junge Frau entsetzt.

„Oh, ich meine meinen Hund, entschuldigen Sie vielmals“, antwortete der Dicke.

„Er heißt Wotan?“, wollte die Frau wissen. Ihr Gesicht drückte großes Unverständnis aus.

„Ja, wieso? Das ist doch nicht ungewöhnlich, oder?“, fragte der beleibte Mann nun erstaunt zurück. Die junge Frau konnte mit der rhetorischen Rückfrage nichts anfangen und beschloss, die beiden Wichte mit Missachtung zu strafen. Doch das wurde plötzlich schwierig.

„Ich glaube, dieser Hund wird mich gleich anpinkeln“, sagte die Frau und betonte das Wort ‚Hund‘ dabei so, als handele es sich um einen bedauerlichen Fehler der Schöpfung, auf den die Evolution ruhigen Gewissens verzichten hätte können. Im selben Moment hob der Diskutierte das rechte Hinterbein und wollte sich tatsächlich entleeren, als er sich von dem Fuß im Bastschuh plötzlich in die Höhe gehoben und einen knappen Meter entfernt wieder auf den Boden herabgelassen fühlte.

„Wuff?“, brachte der Hund erstaunt hervor und vergaß, was er eigentlich vorgehabt hatte.

„Das hat er noch nie gemacht“, staunte der dicke Mann, der sich die Stirnglatze mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch abwischte.

„Irgendwann ist immer das erste Mal“, dozierte die junge Frau und fasste ihr Gegenüber schärfer ins Auge. Der Mann war extrem kurzatmig, roch nach kaltem Zigarettenrauch und hatte mit seinen 60 Pfund Übergewicht höchstens noch zehn Jahre zu leben. Seine Herzkranzgefäße verkalkten unaufhaltsam. Bisher hatte noch kein Arzt diesen Prozess diagnostiziert und sie wusste, dass es auch keiner tun würde, bis es für eine Heilung zu spät sein würde.

„Interessieren Sie sich für das Theater?“, fragte der Dicke und entblößte eine Reihe gelbbrauner Zähne.

„Ja, vor allem für diese ‚Walküre‘ hier.“ Sie zeigte mit dem Finger auf die Schriftzeichen.

„Oh, das ist eine hervorragende Inszenierung!“, wusste der Mann aufgeregt zu berichten. Hektisch rieb er sich die Wange, die sofort rot wie eine Portion Kirschgrütze wurde. „Sie müssen wissen, mein Bruder spielt da mit. Er ist Komparse und steht in der Walhalla-Szene ganz vorne rechts am Bühnenrand. Ich habe die Oper schon dreimal gesehen.“

Die Frau merkte, dass ihr der Unterkiefer unkontrolliert heruntergeklappt war, wie bei einem kaputten Nussknacker.

„In der Walhalla-Szene?“, echote sie verblüfft.

„Ja, wenn Sie wollen, begleite ich Sie am Mittwochabend und zeige Ihnen die Oper und das ganze Theater und überhaupt.“

Sie starrte entgeistert in die wässrigen Augen des Dicken, die vom abgelagerten Fett schon zu Schlitzen verengt waren.

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen“, stieß sie jedes Wort einzeln heraus.

„Oh, entschuldigen Sie vielmals, ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt!“, tönte der Dicke entschuldigend. „Mein Name ist Lehmann, Lothar Lehmann.“

Steif verbeugte er sich und blickte die schöne, junge Frau erwartungsvoll an. Die begriff erst nicht, was er von ihr wollte und lächelte amüsiert zurück. Dann dämmerte ihr allmählich, worauf der Dicke wartete. Einen Namen, ihren Namen.

„Ach, äh, ja, so, Frieda … “ Sie blickte hilfesuchend auf den Theaterspielplan.

„Lusan, Frieda Lusan“, sagte sie schließlich.

„Na so ein Zufall!“, kreischte Lehmann, „So heißt doch auch eine Sopranistin hier am Theater. Sind Sie mit ihr verwandt? Auf Besuch in der großen Stadt?“

Frieda blickte ihn starr an.

„Ich dachte ja nur, wegen Ihrer Kleidung und der Frisur“, stammelte Lehmann, von dem durchdringenden Blick zutiefst verunsichert, der ihn aus den blauen Augen der hochgewachsenen Schönheit wie ein Laserstrahl getroffen hatte. Er merkte instinktiv, dass er etwas Falsches gesagt haben musste, denn die junge Dame zog die Stirn in Falten und schniefte bedrohlich durch die Nase. Ihre Worte schnitten wie frisch ausgepackte Rasierklingen in ein schlaffes Doppelkinn: „Was stimmt nicht mit meiner Kleidung und der Frisur?“

Dem dicken Lothar wurde es extrem heiß und er fühlte, wie sich sein Blutdruck zu ungeahnten Höhen aufschwang. Mühsam versuchte er, seine Gedanken zu ordnen und in brauchbare Worte zu fassen. Letzteres erwies sich allerdings als äußerst schwierig. „Zöpfe … armdick … Nachthemd“, murmelte er unverständlich.

„Wie meinen, Lehensmann?“, setzte die Frau, die sich Frieda nannte, unerbittlich nach.

„Die Zöpfe sind nicht so ganz, ich meine, das Kleid sieht aus wie … “, brabbelte Lehmann nuschelnd. Er wünschte, der gepflasterte Theatervorplatz würde sich öffnen, um ihn vorübergehend aufzunehmen.

“Könnten Sie etwas deutlicher werden!“, forderte Frieda ihn in einem Tonfall auf, der geeignet schien, größere Truppenverbände am Persischen Golf zu dirigieren. Der verwirrte Terrier lupfte eines seiner Ohren fragend gen Himmel. Friedas Brustkorb hob sich, ihr Busen ragte herausfordernd unter dem gescholtenen Bekleidungsstück hervor.

„Ach, was soll’s.“ Lehmann gab auf: „Ich meine ja nur, dass ich schon seit ewigen Zeiten niemand mehr mit solch dicken, streng geflochtenen Zöpfen gesehen habe. Und Ihr Kleid, entschuldigen Sie Verehrteste, aber es sieht aus wie ein Nachthemd.“

„Es würde mich interessieren, was Sie von der Ewigkeit wissen, Lehensmann?“, grollte Frieda und überprüfte den Sitz ihres Kleides.

„Mein Name ist Lehmann und nicht Lehnsmann“, versuchte der Gemaßregelte wieder Oberwasser zu erlangen.

„Und wenn schon“, polterte die junge Frau. „Haben Sie heute eigentlich schon mal in den Brunnen geschaut?“

„Bitte was?“, stotterte Lehmann.

„Ich meine, ob Sie heute schon mal Ihr eigenes Gesicht und Ihren Leib betrachtet haben?“, sagte Frieda schnell.

„Ähem, ich verstehe nicht ganz.“ Fragend blickte Lehmann die seltsame Dame an. Die rüstete sich zu einer geharnischten Antwort, besann sich dann aber anders und zwang sich zur Beherrschung.

„Wie auch immer“, Frieda wollte das Gespräch nun beenden. „Wir treffen uns also am Mittwochabend?“

„Pünktlich um sieben Uhr hier vor dem Theater, wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau“, rief Lehmann freudig. „Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich Sie einladen dürfte“, plapperte er aufgeregt weiter.

„Dieser Wunsch sei Ihnen erfüllt. Und nun lassen Sie mich bitte allein.“

Lehmann griff nach Friedas Hand, aber die war schon hinter dem ziemlich einfachen und plump nach unten fallenden Kleides verschwunden.

An Lehmanns Leine war nun ein seelenlos vor sich hin starrendes Tier befestigt, das nicht mehr wusste, woran es sein Hundeleben ausrichten sollte.

„Komm“, sagte Lehmann und zog an der Leine, die sich nach zehn Metern straffte und den schlaffen Wotan wie ein Plüschtier hinter sich her zerrte.


„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte der kleinere der beiden Männer und nestelte nervös an seinem Schulterumhang herum, der fast bis auf den Boden reichte.

„Ich habe die Reiseroute nicht bestimmt“, antwortete der andere mit einer Stimme, die so gefährlich knarrte wie eine gerade geöffnete Gefängnistür, durch die eine Horde wilder Barbaren ins Freie stürzt. „Ganz im Gegenteil habe ich mich mehrmals erkundigt, ob ihr Hilfe braucht“, fügte er hinzu, als sich die Gesprächspause unangenehm auszudehnen begann.

„Wenn du dich freundlichst erinnerst, ich war für die Reisebekleidung zuständig“, ergänzte der riesig wirkende Mann, als immer noch keine Antwort kam. Lässig stützte er sich auf sein großes Schwert, das gut geeignet schien, den ganzen sie umgebenden Wald in kürzester Zeit abzuholzen oder wenigstens so weit herunter zu schneiden, dass Fuchs und Hase schutzlos durchs Unterholz hoppeln müssten.

„Das macht mich auch nicht glücklicher“, schnappte der Kleinere jetzt zurück. „Dieser dämliche Umhang ist zu lang, das Schwert wiegt schwerer als ein Fass Met und der Helm drückt grausam am Schädel.“

Der Große blickte laut schnaubend möglichst weit weg.

„Aber das ist dem hohen Herrn ja egal, wie wir hier rumlaufen!“, setzte der Kleine seine Kritik fort. „Sich nach einem Gemälde anzuziehen, das in irgendeiner teutonischen Burg hängt und viel später gemalt worden ist, zeugt nicht gerade von göttlicher Eingebung“, schimpfte er. Jetzt reichte es dem Größeren endlich, denn er rammte sein Schwert etwa einen Meter tief in den Boden und donnerte los: „Ach, aber ist es denn nicht völlig egal, wie wir aussehen, wenn uns ohnehin niemand sehen kann? Ganz offensichtlich stehen wir doch hier an einem Weiher, den seit Jahrhunderten kein Mensch mehr betrachtet hat. Seit heute Morgen irren wir durch diesen Urwald und stoßen ab und an auf Ruinen einzelner Behausungen und Reste jämmerlicher Dörfer.“ Er klatschte eine Mücke auf seinem Brustharnisch breit und fuhr gereizt fort: „Manchmal glaube ich, wir sind vielleicht am richtigen Platz, aber mit dem Zeitpunkt unserer Reise stimmt etwas nicht.“

Der Kleine war inzwischen wieder losgegangen und hatte sich das Schwert über die Schulter geworfen. Resigniert schaute der größere der beiden Männer seinem Gefährten nach. Dann rückte er die Streitaxt in seinem Gürtel zurecht, zog das Schwert mit einem einzigen, dynamischen Schwung aus dem lehmigen Erdreich und machte sich ebenfalls auf den Weg. Er glaubte, früher schon einmal an dieser, jetzt so dicht bewaldeten Stelle mit dem winzigen Flüsschen gewesen zu sein, über den immerzu der Nebel waberte. Nur wann das war, wollte ihm einfach nicht einfallen. Seufzend kickte er einen Stein mit seinen Fellstiefeln aus dem Weg. Die nahegelegene Eiche, in die der Stein eindrang, ächzte bedenklich. In ihrem hohlen Inneren klammerte sich ein Eichhörnchen mit seinen Krallen verschreckt an das weiche Holz, als das Geschoss den morschen Stamm durchschlug.


Es war nun schon das dritte Mal, dass er im Schlaf gestört wurde. Langsam bereute er es, hier Platz genommen und nicht einfach zu Hause abgewartet zu haben, bis die erste Wut seines Vaters verraucht war. Allerdings wäre es zu Hause auch nicht wesentlich interessanter und hier konnte er sich wenigstens richtig ausschlafen. Er richtete sich ächzend auf und rieb sich die Augen. Es war erstaunlich, wie viel Staub und Körperschleim sich schon nach wenigen hundert Jahren in den Rändern der Augen ansammelte. Sein Bart war noch halbwegs vorzeigbar, so weit er das auf den ersten Blick beurteilen konnte. Das lange, rote, wallende Haupthaar wollte er am liebsten gar nicht sehen. Sicherlich hatte es wieder hässliche Liegestellen und die Lockenpracht war an seiner Schlafseite ruiniert. Er musste sich also so setzen, dass die ungebetenen Besucher diese Körperhälfte nicht wahrnahmen. Müde klopfte er seinen Bart aus und stäubte sein Gewand oberflächlich ab. Immer noch schlaftrunken erinnerte er sich an die letzten Besucher, die ihn für nichts und wieder nichts geweckt hatten.

Als Erstes kamen diese abgerissenen Gestalten, die ihn zu einem Kerl namens Thomas Müntzer führen wollten, der einen militärischen Aufstand angezettelt hatte. Es dauerte nicht lange, bis der Rotbart herausgefunden hatte, dass die heroischen Ziele der Besucher Blödsinn waren und undurchführbar obendrein. Leider glaubten ihm die Männer nicht, weshalb er seine Ruhe ernsthaft unterbrechen und nachts mit ihnen ins Feldlager dieses Müntzers schleichen musste. Diesem Herrn und seinem Generalstab hatte er die desaströsen Erfolgsaussichten eines bewaffneten Kampfes aufzeigen wollen. Das Heerlager präsentierte sich in einem erbarmungswürdigen Zustand, die Ausrüstung der unprofessionellen Krieger war katastrophal. Barbarossa teilte Müntzer in dessen Zelt seine Beobachtung unmissverständlich mit.

„Mit diesem Haufen werdet Ihr nichts ausrichten können, egal wie edel eure Ziele auch sein mögen“, warnte der Kaiser den kleinen Mann. Doch der wischte diese Bedenken rigoros vom Tisch. „Es geht nicht um den Edelmut unserer Ziele“, hatte Müntzer erwidert. „Denn der steht völlig außer Frage. Es geht um den Ausweg, der uns bleibt.“ Barbarossa starrte ihn erwartungsvoll an.

„Es gibt keinen“, schloss der Feldherr mit einem Anflug von Verzweiflung.

„Sagt uns, wie wir unsere Kinder ernähren sollen? Wir brechen zusammen unter der Last der Abgaben, wir hatten jahrelang schlechte Ernten. Frauen und Kinder verhungern zu Hause“, schaltete sich einer der Hauptmänner ein.

„Tut mir leid, aber Ernährungsfragen sind nicht mein Fachgebiet“, wehrte Barbarossa ab. „Ich kann euch nur als Kriegsexperte den dringenden Rat geben: Geht nach Hause und vergesst die Schlacht. Sollten eure Gegner halbwegs ausgebildete Soldaten sein, dann überlebt ihr den morgigen Tag nicht.“

Die versammelten Hauptleute begannen darauf hin, den Kaiser zu verhöhnen und seine Identität ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Müntzer war sehr nachdenklich geworden und hielt sich in dieser Auseinandersetzung zurück.

„Auf den weisen Rat eines toten Kaisers scheiße ich“, hatte einer der Heerführer aufgeregt gebrüllt.

„Ja, er soll sich wieder in seinen Berg legen und sein adliges Maul halten“, pflichtete ihm ein zweiter bei. Kaiser Barbarossa gähnte ausgiebig und blickte von einem zum anderen.

„Dann hättet ihr mich besser nicht wecken sollen“, sagte er. Seine Arroganz erregte einen der Bauernführer derart, dass er sich wütend auf den Kaiser stürzte. Er kam bis auf Armeslänge an den rotbärtigen Riesen heran, dann riss der plötzlich seinen Hammer hoch und traf den Bauern damit am Kopf. Zum Entsetzen aller Anwesenden brach der Getroffene nicht nur tot zusammen, sondern sein Körper verfiel in rasender Geschwindigkeit zum Skelett. Von diesem betrauernswerten Zustand wiederum verwandelte sich der eben noch so agile Bauernführer im nächsten Augenblick zu einem Häuflein Asche.

„Der Satan“, kreischte der Hauptmann, der gerade noch seine Därme über dem Kaiser Barbarossa entleeren hatte wollen. „Es ist der Beelzebub persönlich, rettet euch!“

Der Kaiser begriff, dass weitere Diskussionen hier zwecklos wären, weil sich eine Massenhysterie ausbreiten wollte. Er hatte sich darauf verlegt, den Anwesenden mit gezieltem Einsatz seines Hammers die Erinnerungen an diese Nacht zu nehmen und schickte sie einen nach dem anderen ins Reich der Träume.

„Lieber sterben wir, als uns dem Teufel oder den Junkern zu ergeben!“, rief einer noch heldenmutig, ehe sich auch um ihn die schwarze Dunkelheit des Vergessens ausbreitete.

Was das Sterben betraf, da sollte der Mann absolut recht behalten. Nur einen Tag später waren neben den Erinnerungen auch das Leben all derer ausgelöscht, die in dieser Nacht zugegen waren. Einzig Thomas Müntzer, der Anführer des Aufstandes, musste noch zwei weitere Tage leben und die Qualen der Folter ertragen, ehe er mit einer pompösen Hinrichtung vor den Toren Mühlhausens ins Jenseits befördert und von seinem Erdendasein erlöst wurde. Barbarossa hatte sich kaum wieder in seiner Höhle zur Ruhe gelegt, und nach seiner Schätzung konnten höchstens vierhundert Jahre vergangen sein, als die nächsten Verrückten seinen Schlaf störten. Es waren drei junge Männer, die auf ihn einen durchaus gepflegten Eindruck machten, wenn er vom Staub und Dreck der Höhle absah, der sich auf ihre Kleidung gelegt hatte. Sie sprachen sich untereinander mit ‚Genosse’ an und nannten sich stolz Tschekisten. Barbarossa hatte keinen Schimmer, um welche Art von Kisten es sich hierbei handelte. Auch schwadronierten die beiden agilen Wortführer ständig von anderen Genossen, deren Namen slawisch klangen und bei denen sie wohl für alle ihre Unternehmungen Rat einholen mussten. Der dritte, ein riesengroßer Bursche mit weit nach vorn gezogenen Schultern, als wollte er sich für seine Ausmaße entschuldigen und kleiner wirken, sprach überhaupt nicht und grinste nur. Nach einigem Hin und Her erklärten die zwei Redner dem sagenumwobenen Kaiser, dass er eine unerwünschte Person sei und das Land verlassen müsse. Belustigt von diesem Ansinnen fragte Barbarossa nach den Gründen für seine Ausweisung. Er sei ein typischer Vertreter der nun überwundenen Geschichtsphase der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und zudem ein adliger Despot, dessen Herrschaft ein für allemal abgelaufen sei, beschieden ihm die Männer. Zudem wäre es absolut sinnlos, auf eine Wiederauferstehung zur Restauration des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu warten, weil Deutschland zu großen Teilen schon von seinesgleichen gesäubert sei und die italienischen Genossen kurz vor einer Übernahme der Macht stünden. Es sei nur eine Frage der Zeit und bei einer der nächsten Wahlen würde der Sozialismus auch in Italien siegen.

Das aufgeregte Palaver der drei Männer ärgerte Kaiser Barbarossa allmählich und er bat seine Besucher, ihm stichhaltig zu erklären, warum er nicht in seiner Höhle bleiben könne. Die Regierung des Volkes ist angebrochen, schwatzten die Tschekisten weiter, und die würde sich nicht auf einen so lächerlichen Zeitraum wie eintausend Jahre beschränken, sondern die Diktatur des Proletariats würde ewig währen. Barbarossa tappte in finsterster Dunkelheit, was die Identität dieses Diktators namens Proletariat betraf, ließ sich aber nichts anmerken. Außerdem war er müde und wollte keine großartig intellektuellen Gespräche mit diesen aufgeregten Wichten führen. Ihm war bei aller Anstrengung seines enormen Geistes kein Unsterblicher dieses Namens bekannt. Das war jedoch nicht weiter verwunderlich, tröstete er sich schließlich, denn immerhin hatte er das gesamte letzte Jahrtausend verschlafen.

Die drei Genossen legten ihm Papiere hin, mit denen er sich von nun an legitimieren könne und die ihm eine Passage an die Staatsgrenze des Arbeiter- und Bauernstaates erlauben würden. Sie erwarteten, dass er ein Papier unterschrieb, in dem er versicherte, das Land in den nächsten 48 Stunden zu verlassen und sich eine neue Bleibe zu suchen. Er könne beispielsweise bei den Revanchisten im Teutoburger Wald weiter schnarchen, schlugen sie ihm vor. Barbarossa schien es geraten, wenigstens teilweise auf ihre Forderungen einzugehen und unterschrieb das Papier. Vom Stamm der Revanchisten, die da im Teutoburger Wald hausen sollten, hatte er noch nie zuvor gehört. Barbarossa ahnte, dass während seines kurzen Schlafs da draußen eine rasante Entwicklung vonstatten gegangen sein musste und die Menschen vermutlich immer verrückter wurden. Was sollte es sonst mit der ‚internationalen Solidarität‘ und ‚unverbrüchlichen Freundschaft mit unseren sowjetischen Brüdern‘ auf sich haben? Er beschloss dennoch, die drei Männer zu verschonen, denn er glaubte, es sei seinem eigenen Seelenheil abträglich, wenn er bei jedem Erwachen Menschenwesen tötete oder ihnen den Verstand raubte. Zumal ihm letzteres bei diesen Wirrköpfen ohnehin überflüssig erschien. Dann manipulierte er die Besucher mit Hilfe seines Hammers so, dass sie ihrem Genossen Oberstleutnant berichteten, er sei unverzüglich nach ihrem Besuch in den Teutoburger Wald zu den Revanchisten und Kriegstreibern im Imperialismus aufgebrochen.

Seitdem war es still geblieben in seiner Höhle und er hatte geschlafen. Nach seinem eigenen Ermessen konnte es nun trotzdem noch nicht Zeit zum Aufstehen sein.

Schon waren die Schritte so laut geworden, dass der ungebetene Gast jeden Moment aus dem dunklen Gang auftauchen konnte, als Barbarossa die dicke, goldene Halskette einfiel. Er legte sich die Insignien der Kaiserwürde schnell um und stülpte sich die imposante Krone auf den Kopf. Während er noch an sich herum zupfte, kam das Licht der Fackeln aus dem Höhleneingang immer näher. Sekunden später trat der Fremdling aus dem Schatten des Ganges.

Barbarossa blinzelte ihm verblüfft entgegen. Wenn ein Chronist zugegen gewesen wäre, hätte er vielleicht blumigere Worte gefunden und geschrieben: Der große Kaiser Barbarossa war sprachlos und erstarrte offenen Mundes vor ungläubigem Erstaunen.


Lothar Lehmann war glücklich. Er hatte eine Frau kennen gelernt. Er hatte schon früher einmal eine Frau kennen gelernt, aber das war sehr lange her. Eigentlich hatte er schon zweimal eine Frau kennen gelernt, wenn er es ganz genau betrachtete. Aber das mit der zweiten Frau war so lange her, dass ihm ihr Name nicht mehr einfallen wollte. ‚Ewig ist das schon her‘, sinnierte er, während ihn seine Füße automatisch in den Brettel-Fritz trugen.

Dieses alte Gasthaus hatte früher einmal den Namen ‚Zum Alten Fritz‘ gehabt. Warum die Schenke so hieß, wusste heute keiner mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Der Legende nach soll ein Preußenkönig auf seiner Reise durch den Harz einst darin genächtigt haben. Es ist aber ebenso gut möglich, dass diese Geschichte ihre Entstehung einem langen Winterabend ohne Gäste in der Gaststube verdankt. Während der Zeit der kommunistischen Diktatur hatte der Wirt die Insignien des preußischen Imperialismus selbstverständlich ausmerzen müssen, was er dadurch bewerkstelligte, dass er das Wort ‚Alten‘ mit einem großen Brett zunagelte. Fortan hieß die Kneipe bei ihren Gästen ‚Zum Brettel-Fritz‘. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Experiments hatte der Wirt das verwitterte Brett sofort wieder abgemacht, aber den Namen Brettel-Fritz wurde er nicht mehr los.

Lothar Lehmann setzte sich auf einen der Barhocker. Um diese Tageszeit war im Brettel-Fritz noch kein Betrieb, der Wirt schlief noch oder machte Einkäufe oder was ein Wirt sonst am Nachmittag um drei Uhr tut. Lothar war das Herz so voll, er musste sich jemandem mitteilen. Außer dem arbeitslosen Horst Kindler war niemand im Gastraum, den er kannte. Der saß allein an einem der Ecktische und betrachtete düster sein Bierglas. Hinter dem Tresen stand Ramona, die Aushilfskellnerin, die am Mittag den Laden aufschloss und den Nachmittag über die wenigen Gäste bediente, die nichts Besseres zu tun hatten als schon am hellerlichten Tag mit dem Trinken zu beginnen.

„Hallo Ramona, mach mir ’n Bier, ich setze mich bei Horst“, sagte Lehmann und bemerkte sofort, dass er eine falsche Präposition verwendet hatte. So etwas nervte ihn bei anderen Leuten immer furchtbar, weil Lehmann die Meinung vertrat, es ginge nichts über die exakt angewendete, deutsche Grammatik. Wieso ihm das eben passiert war, konnte er sich nicht erklären. Ramona bemerkte nichts und überprüfte demonstrativ den Glanz ihres Nagellacks im Licht der Tresenbeleuchtung. Lehmann war aufgeregt. Seltsame, ungeahnte Gefühle durchforsteten seine Magengegend, machten am Darm kehrt und fleuchten zurück zum Herzen, woher sie nach Lothar Lehmanns Verständnis auch gekommen sein mussten. ‚Oh, wie wohl ist mir am Morgen‘, wollte er singen, verwarf den Gedanken aber angesichts der vorgerückten Tageszeit als unsinnig.

„Na, Horst“, eröffnete er stattdessen freudig und laut das Gespräch. „Was macht die Kunst? Hast du wieder ein großes Projekt am Laufen?“

Lehmann konnte den Angesprochenen eigentlich nicht leiden, aber er war momentan der einzig verfügbare Bekannte im Brettel-Fritz. Er wusste auch, dass man Horst Kindler erst einmal selbst erzählen lassen musste, ehe man ihm etwas mitteilen konnte. Kindler war von sich sehr überzeugt und meinte, er könne in dieser Stadt vom Bürgermeister über den Theaterintendanten bis hin zum Sparkassendirektor alle ersetzen und würde diese Jobs hundertprozentig besser machen als die Pfeifen, die gerade tatsächlich damit beschäftigt waren. Er würde es nämlich so gut machen, dass für die ganze Welt offensichtlich würde, was er alles drauf hatte. Aber hier waren einfach alle gegen ihn, es lief eine Riesenverschwörung in diesem Kaff, in dem er vor über 44 Jahren geboren worden war. Irgendwann würde er es den ganzen angepassten und faulen Bonzen zeigen, die ihm keine Chance gaben und ständig nur Zeugnisse und Referenzen sehen wollten. Dabei hielt er sich für einen Verfolgten des stalinistisch-kommunistischen Regimes. Schon als Kind in der Schule hatten ihn diese verdammten, bolschewistischen Lehrer betrogen und ihm schlechte Zensuren gegeben. Nur weil er als einziger die Wahrheit gesagt und nicht bei den Genossen gekratzt hatte.

So oder so ähnlich erzählte Horst Kindler seine Lebensgeschichte, der Grad an Ausschmückungen war abhängig vom Alkoholpegel und der Anzahl spendabler Zuhörer. Wenn er keine Lust hatte, über sein erlittenes Ungemach zu lamentieren, brachte er sein Leben kurz und bündig auf den Punkt und benötigte dafür nicht mehr als zwei Worte: „Tolle Wurscht!“

Heute war er von diesem finalen Punkt der Kommunikationsverweigerung nur ein kurzes Stück entfernt und antwortete Lehmann: „Ach, lass mich in Ruhe, alter Sacktreter.“

Lothar schielte auf Kindlers Zettel und erkannte drei Striche. Also, so schätzte er, saß Kindler seit gut einer Stunde hier. Da hätte er die Frau ja fast sehen können, von seinem Platz am Fenster aus.

„Hast du die Frau mit dem komischen Kleid und den dicken, blonden Zöpfen auf dem Theatervorplatz gesehen?“, fragte er Kindler aufgeregt.

„Meinst du diese Ausgeflippte mit den zwei dicken, blonden Zöpfen und dem komischen Kleid?“, fragte der zurück und als Lehmann heftig mit dem Kopf nickte, sagte Horst Kindler: „Nee, die hab ich nicht gesehen.“

Er lachte laut meckernd über seinen tollen Witz, als er Lehmanns hoffnungsvolles Gesicht sich in eine enttäuschte Grimasse verwandeln sah. Lehmann hasste diesen primitiven Humor, der immer wieder bezeugte, was für ein niveauloser Einfaltspinsel dieser Kindler war. Keine Bildung, kein Benehmen, kein Esprit. Vermutlich hätte sich die geheimnisvolle Fremde mit so einem wie Kindler überhaupt nicht eingelassen und wenn Kindler sie nach der Uhrzeit gefragt hätte, dann hätte sie ihn vorsichtshalber belogen, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.

„Tja, mein lieber Kindler“, grinste Lehmann angestrengt. „Da hast du was verpasst.“

„Ach, verpiss dich“, brummelte Kindler, trank einen Schluck Bier und beobachtete Lehmann aus den Augenwinkeln.

„Na, nun sag schon was mit der Alten war“, ermunterte er Lehmann schließlich.

Aber Lehmann schwieg und tat so, als wäre er beleidigt. Er spielte das nicht gut, denn obwohl er so gern ein Schauspieler geworden wäre, hatte er stets ein sehr mangelhaftes Talent bewiesen. Er war ein Übertreiber, der immer gleich ins Melodramatische abrutschte und den Anschein erweckte, als wäre er eben einem Courts-Mahler-Roman entsprungen.

‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut’, musste Kindler auf einmal denken und wusste überhaupt nicht, warum. Wahrscheinlich aber, weil dieser Lehmann wieder große Oper spielte. Und als hätte der seine Gedanken gelesen, platzte Lehmann heraus: „Ich gehe jedenfalls am Mittwoch mit ihr in die Oper. Und überhaupt ist sie die interessanteste und spannendste Frau, die mir je begegnet ist.“

Kindler machte sich auf einen langen Nachmittag gefasst und wog die Chancen ab, das eine oder andere Bier spendiert zu bekommen, wenn er nur so tat, als höre er diesem dicken Spinner geduldig zu.

Unter dem Tisch träumte ein kleiner Hund von einem großen, weißen, mehrere Zentimeter langen, röhrenförmigen Teil mit Verdickungen an beiden Enden. Im Traum versuchte er sich zu erinnern, was er damit anfangen könnte. Warum er es vergraben und nach einer Woche wieder ausbuddeln würde. Es wollte ihm einfach nicht einfallen.


Das Eichhörnchen hatte sich von dem Schock erholt und schaute jetzt neugierig durch das Loch, das der Stein in den morschen Stamm geschlagen hatte. Wer hatte ihm diesen Schrecken eingejagt? Es waren Zweibeiner! So, wie sie die Alten manchmal noch beschrieben hatten. Zweibeiner, die früher hier alles umgekrempelt hatten, die Wälder abgeholzt, die Auen trockengelegt, die Wiesen mit hartem, stinkenden Zeug zugeschmiert hatten. Nun waren also zwei von denen, die seit vielen Generationen nicht mehr gesichtet worden waren, wieder da. In der letzten Zeit hatten die Erinnerungen an ihre Gräueltaten nur den Jungtieren als schreckliche Drohung bei ungebührliches Verhalten gedient. Der eine der beiden Aufrechten war riesengroß. Er hatte einen mächtigen, metallischen Kopf mit zwei Hörnern dran, aus seinem Gesicht ragten lange, gelbe Haare, die ihm bis auf die Brust reichten, die auch aus Metall war. Vom Hals her breitete sich über den ganzen Rücken ein flügelähnlicher Körperteil aus, der fast bis auf den Boden reichte. Beim kleineren der beiden, dem rote Haare aus dem Gesicht wuchsen und wallendes Kopfhaar unter dem Metall hervorquoll, reichte der weiche Körperteil wirklich bis auf den Boden. Das schien ihm nicht zu gefallen, denn mit einer Vorderpfote versuchte er es immer wieder anzuheben. Die andere Vorderpfote hielt einen großen, länglichen Gegenstand, der in der Sonne silbern glitzerte. Der große Mensch hatte ein ganz ähnliches Ding in der Pfote, aber das war noch gewaltiger, als der Stock vom Rothaarigen. Der besaß auch zwei Hinterpfoten aus dickem Fell, das aussah, als sei es ihm gar nicht selbst gewachsen. Jähes Entsetzen durchzuckte das Eichhorn, als es begriff: Die Zweibeiner hatten Vierbeiner getötet und gehäutet. Oder hatten sie die Tiere vielleicht gar nicht getötet und gleich gehäutet? Ein eiskalter Schauer ließ den Leib und vor allem den buschigen Schwanz des Nagers vibrieren. Um die Mitte ihres Körpers hatten die schauderhaften Wesen ein schlangenartiges Ding gewunden. Dort hinein hatten sie ihre schrecklichen, spitzen Totschläger gesteckt. Der obere Teil ihrer Hinterpfoten steckte in irgendetwas, was bei genauerer Betrachtung auch ein ehemaliges Tier sein konnte. Alles, was die Alten erzählt hatten, stimmte also. Bis auf den Geruch, der war anders, als das kleine Nagetier es gelernt hatte. Das kalte Grauen kletterte zum Eichhörnchen in den Baum, packte es am Hals und überredete es, sich nicht weiter um die Zweibeiner zu kümmern und stattdessen einen längeren Waldlauf im gestreckten Galopp zu unternehmen. Und zwar entgegengesetzt der Richtung, die von den Zweibeinern eingeschlagen worden war.

‚Die wollen auch nicht weiter auf der Evolutionsleiter hochklettern‘, dachte der kleine Krieger, der die Gedanken des Eichhorns belauscht hatte. Es war müßig, sich um die spirituelle Vervollkommnung der Tiere zu kümmern. Sie waren einfach nicht entwicklungsfähig oder sie stellten sich bewusst blöd. Vermutlich letzteres, das war schön bequem und man musste sich nicht für den Weltenlauf verantwortlich fühlen, dachte er und stapfte betrübt über so viel mangelndes Pflichtbewusstsein hinter dem Großen her. Sie hatten eine Lichtung erreicht und beide untersuchten den Erdboden mit ihren Schwertern nach Spuren menschlicher Siedlungen.

„Heiliger Donner aller Götter!“, brüllte der Große plötzlich. „Es ödet mich an, wie ein tumber Bauer durch den Wald zu latschen und jeden Meter baumlosen Bodens umzuwühlen wie ein wildes Schwein. Wo bei Wotan sind wir hier gelandet?“

„Ich denke mich an diese Stelle zu erinnern“, warf der Kleine beschwichtigend ein.

„Hier war die Thingstelle in früheren Zeiten, ich spüre es bis in die Knochen, dass hier die Götter angebetet wurden.“

„Bei aller Hochachtung für deinen außergewöhnlichen Spürsinn“, sagte der große Krieger sichtlich um Fassung ringend, „sag mir doch einfach, wann hier eine Thingplatz war. Dann können wir uns gemütlich ausrechnen, in welchem Jahr wir gelandet sind. Wenn wir wenigstens ein paar Spuren von Steinkreisen gefunden hätten, aber hier erinnert nichts mehr an uns und kaum etwas an das ganze Menschengeschlecht. Also Bruder, befleißige dich doch gefälligst mir zu verraten, wann und wo wir sind.“

„Wie ich dir sage, an das wo habe ich deutliche Erinnerungen. Einstens war hier ein Thing, später kamen die Slawen, noch später die Franken und Sachsen. Die Götter wissen, was noch für Horden hier durch sind, schlussendlich kamen die Christen vom anderen Rand dieser Berge und bauten in der Nähe eine Burg. Dann entstand eine Stadt, von hier aus wurden deutsche Könige berufen, sogar Kaiser. Ein gewisser Barbarossa hatte ganz in der Nähe eine Pfalz und soll der Sage nach in einem Berg liegen und schlafen“, erklärte der rothaarige Kämpfer jetzt.

„Was heißt hier der Sage nach!“, brauste der große Krieger auf und sein blonder Bart wehte im aufkommenden Lüftchen. „Wir sind hier der Mythos. Wir machen ihn und wir sind er. Wer hat diese Sage von dem schlafenden Kaiser erfunden?“

„Das ist eine lange Geschichte“, seufzte der andere abwehrend. „Gut, dann erzähl sie mir“, knarrte der Große und setzte sich auf einem Mooskissen zurecht.

„Was, jetzt? Muss das sein?“, nörgelte der Rotschopf.

„Wir haben ja sonst nichts Besseres vor“, erwiderte der große, blonde Recke. „Und verlaufen haben wir uns auch, machen wir eben eine Pause.“

„Na schön“, seufzte sein Begleiter und fing an, die ganze lange Geschichte des Stauffenkaisers zu erzählen, von seiner Jugend, seiner Heirat, seinen Feldzügen, seiner Diplomatie in Italien und anderswo und schließlich von seinem Auszug nach Jerusalem zum dritten Kreuzzug.

„Wir hatten damals große Hoffnungen in den Kaiser gesetzt“, fuhr der Erzähler fort. „Er schien uns die letzte Möglichkeit zu sein, das ganze germanische Göttergeschlecht in den Herzen der Menschen am Leben zu erhalten. Nur wenn es uns gelungen wäre, ihn vom Christentum abzubringen, dann hätte Walhalla eine Chance als Weltreligion gehabt. Unsere Sache stand auch nicht schlecht, denn der Kaiser hatte andauernden Streit mit den Vertretern der christlichen Kirche. Mehrere Päpste hätte er am liebsten auf sein langes Schwert gespießt, aber letztendlich war er doch zu festgelegt in seinem Glauben. Odin persönlich leitete damals die Operation und hatte seinen Sohn Thor ausgeschickt, den Kaiser mit dem roten Bart zu bekehren. Leider war der große Donnerer wenig erfolgreich und Friedrich I., wie der Barbarossa in Wahrheit hieß, hing nach wie vor an diesem jammervollen Gott, dessen Sohn sich kampflos ans Kreuz nageln hatte lassen. Er glaubte uns nicht und hielt uns für Scharlatane und so schlug ihm Thor schließlich einen Wettkampf auf neutralem Boden vor, nämlich im Wasser.“

„Im Wasser?“, schnappte der Zuhörer jetzt wie ein Fisch auf dem Trockenen.

„Der Kaiser liebte das Schwimmen. Ja, ich kann sagen, er konnte vorzüglich schwimmen. So verabredete er also mit Thor ein Wettschwimmen. Gewänne der Kaiser, so hätte Thor ihm göttliche Macht verleihen müssen und bei einem Sieg Thors wollte der Kaiser den alten Göttern wieder huldigen. Beim ersten Hahnenschrei stürzten sie aus der Burg, in der sie auf der Reise genächtigt hatten, und begaben sich zum nahe gelegenen Fluss. Thor war damals als Getreuer des Kaisers unterwegs und niemand weiter begleitete die beiden. Und sie warfen sich in die wilden Fluten des reißenden Stroms, dessen Name mir momentan entfallen ist – warte, ich komm gleich drauf … “, grübelte der Rotbärtige.

„Es ist mir sehr egal, wie diese verwunschene Brühe geheißen wird!“, fauchte sein Zuhörer.

„Na gut, wie du meinst“, beschwichtigte der kleinere Recke, „Sie hatten sich also einen bestimmten Punkt ausgemacht, den es zu erreichen galt. Wer als Erster einen rauen Felsvorsprung erklomm, der deutlich sichtbar aus dem brodelnden Fluss ragte, der sollte der Sieger sein. Odin hatte getobt, als er von dieser Wette hörte, aber da war es schon zu spät. Und es war auch nicht die befürchtete Blamage eines Göttersprosses gegenüber einem sterblichen Menschen die eintrat, sondern das Ende aller religiösen Hoffnungen. Kaiser Barbarossa erlitt einen Herzanfall und ertrank in den Wellen. Salef!“

Der Erzähler machte eine Pause und schaute den anderen triumphierend an.

„Was, Salef?“, fragte der große Kämpfer verständnislos, „Was soll das heißen?“

„Der Fluss. Er heißt Salef und liegt in Kleinasien“, memorierte jetzt der Erzähler.

„Aha“, brummte der Große, ohne sonderliche Begeisterung.

„Thor gewann das Rennen locker und zieht heute noch den rotbärtigen Kaiser mit seinem Sieg auf. Der staunte anschließend nicht schlecht, als er nach seinem Tode nicht bei seinem Wüstengott landete, sondern direkt in Walhalla, wie all die anderen germanischen Fürsten auch. Um aber die Hoffnung nicht vollends aufzugeben, dass die alten Götter eines Tages zurückkehren würden, schuf Odin den Mythos vom schlafenden Kaiser, der einstmals erwachen wird, wenn das Reich ihn braucht. Mit Reich meint Odin aber nichts anderes als Walhalla. Thor sollte diese Rolle spielen und als Barbarossa in einer Höhle liegen. Das war Odins harte Strafe für seinen albernen Schwimmwettkampf. Und deshalb sind wir wahrscheinlich auch hierher geschickt worden, um zu sehen, ob die Zeit nun reif ist.“

„Ja, nur wann sind wir hergeschickt worden?“, knurrte der blonde Riese wieder. Der rothaarige Kämpfer gewann langsam den Eindruck, dass sie sich im Kreis zu drehen begannen. Und das nicht unbedingt räumlich.


Frieda, wie sie sich nun selbst nannte, lief anfangs ziellos durch die alten Straßen der merkwürdigen Stadt und dachte über die Worte des dicken Mannes nach. Von streng geflochtenen Zöpfen hatte er gesprochen und dass ihr Kleid wie ein Nachthemd aussähe. Nun ja, es war schlicht, das stimmte, aber Nachthemd, das ging ihr entschieden zu weit. Die Frauen, die ihr begegneten, hatten nicht solche Kleider an. Einige trugen sogar zerrissene Obergewänder und andere hatten Beinkleider wie Männer an. Dann gab es noch welche, die außer einem breiten Gürtel gar nichts an den Beinen trugen. Und die Haarfrisuren waren ganz anders, das stimmte. Doch Frieda hatte auch schon Mädchen mit Zöpfen gesehen. Die waren nicht so dick wie ihre, aber immerhin. Sie suchte nach einem Marktstand, an dem sie eventuell etwas anderes zum Anziehen bekommen konnte, als ihr Blick durch ein Fenster fiel und sie mehrere Frauen sah, die auf Stühlen saßen und sich offenbar von anderen Frauen die Haare schneiden ließen. Spontan betrat sie das Haus. Im Eingangsbereich erwartete sie eine junge Frau mit hellblauen Haaren.„Hallo“, flötete sie. „Was kann ich für Sie tun?“

Frieda schaute sich nur um und schwieg, denn sie hatte keine Ahnung was diese Person für sie tun konnte.

„Waschen, fönen, legen?“, fragte die Empfangsdame jetzt erneut und lächelte Frieda an.

„Sie haben ja tolles Haar. Ist das alles echt?“, plapperte sie weiter. Frieda verstand nicht, was die junge Frau meinte und schluckte verwirrt.

„Verstehen Sie unsere Sprache nicht?“, plauderte die andere fröhlich. „Leider beherrsche ich nicht allzu viele ausländische Worte. Du juh spick inglisch?“

„Ich verstehe Sie sehr gut“, sagte Frieda. „Ich war nur in Gedanken. Empfehlen Sie mir eine andere Frisur?“

Die Haarscheniderin konnte ihr Glück kaum fassen, an dieser prächtigen Mähne herumschnipseln zu dürfen und antwortete angesichts der sehr hohen Rechnung, die sie dafür zu stellen gedachte, freudig erregt: „Ich kann Ihnen ja mal einige Varianten vorstellen.“

„Gut“, sagte Frieda und nahm vor einem der Bildschirme in einem bequemen Sessel Platz.

Zwei Stunden und vier Computeranimationen später stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich von einem Teil ihres Haupthaares verabschieden. Nebenbei bekam sie von der geschwätzigen Haarschneiderin viele Tipps, wie sie sich anziehen könnte. Auch was eine Dame im Theater tragen sollte, wusste die redselige Frau bis ins kleinste Detail zu beschreiben. Obwohl sie nach eigenen Angaben schon seit mehreren Jahren nicht mehr dort gewesen sei, kannte sie sich immer noch gut aus. Vor allem deshalb, weil sie eine Menge Kundinnen hatte, die regelmäßig die Premieren besuchten und dafür ständig auf der Suche nach neuer Garderobe und unbekannten Frisuren waren. Premieren waren Zusammenkünfte in diesem Haus, das sie hier Theater nannten, bei denen es darauf ankam, ein teureres Kleid als die Frau vom Chef ihres Mannes zu tragen und natürlich eine auffälligere Frisur. Die Frauen hüllten sich in Samt und Seide, ließen sich aufwendig frisieren und benötigten vor einem Besuch des Theaters mehr Zeit für die Pflege ihrer Fingernägel, als sie im letzten Jahr für die Erziehung ihrer Kinder aufgewendet hatten. Wenn das alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war, hüllten sie sich zusätzlich in eine wohlriechende Wolke feinster Düfte und gingen ins Theater. Hier gab es drei Möglichkeiten, den Abend zu genießen. Erstens bei der Ankunft, dem rituellen Ablegen des Mantels und der ersten Präsentation der Garderobe. Zweitens in der sogenannten Pause, in der sie durch das gesamte Gebäude defilierten, sich möglichst oft vor Spiegeln drehten und an einem überteuerten Glas ‚Schampanja‘ nippten und drittens nach der Aufführung, wenn der Mantel zeremoniell wieder übergestreift wurde und man im Triumphzug das Theater verließ, um beim Italiener um die Ecke zu dinieren. Verschönern konnte dieses Erlebnis noch ein gut bekleideter, sauber rasierter Mann an der Seite dieser Frauen, aber das wäre nicht zwingend erforderlich, sagte die Haarschneiderin. Frieda dachte an Lehmann und überlegte, ob seine Begleitung ein Gewinn wäre. Sie könnte ja Geschichten erzählen, beteuerte die unablässig schwatzende Frau aus dem Frisiersalon und fing sofort an, ihre Versprechung in die Tat umzusetzen, während sie das dicke, blonde Haar unter einer Brause mit lauwarmem Wasser einweichte. Frieda war es recht, dass sie nicht viel reden musste und binnen kürzester Zeit eine unglaubliche Menge wichtigster, fraulicher Informationen erhielt. Ihre Laune besserte sich von Minute zu Minute. Allmählich machte ihr dieser Ausflug Spaß. Und bei den Göttern, das war es genau, was sie haben wollte – viel Spaß.


„Kindler, schwanke nicht so herum!“, forderte Horst Kindler sich selbst auf. Nach etlichen Stunden im Brettel-Fritz machte er sich auf den Heimweg zu seiner bestimmt schon ungeduldig wartenden Frau. Eigentlich hatte er nur am Mittag die Schuhe zum Schuster schaffen sollen. Das hatte er gemacht. Und Geld hatte er auch kaum ausgegeben. Schlimmstenfalls würde er ihr erzählen, er habe in der Kneipe Fußball geguckt. Er war stark angetrunken und allerbester Laune, denn während der diversen Gläser Bier, die der dicke Lehmann ihm spendiert hatte, war ihm eine prima Idee gekommen. Er würde seine überragenden Fähigkeiten als Hobbyfilmer dazu benutzen, ein Video der aktuellen Götterdämmerungs-Inszenierung des Stadttheaters zu drehen. Das ließe sich dann zweifellos an die Stadtverwaltung verkaufen oder ans Tourismus-Amt oder irgendwen sonst, den er überzeugen würde. Und dass er die Leute überzeugen würde, daran bestand für Horst Kindler überhaupt kein Zweifel. Schließlich wusste er mit Qualität zu begeistern, das war allgemein bekannt. Und er war in diesem Provinzkaff hier mit Sicherheit der beste Filmemacher.

Jedenfalls der beste, den er kannte.

Einen Haufen Geld würde er damit verdienen, jawohl, einen schönen Batzen rabenschwarzen Geldes, denn Kindler plante die immensen Einnahmen weder dem Finanzamt noch dem Arbeitsamt mitzuteilen. Seine finanziellen Sorgen hätten ein Ende, seine Frau brauchte nicht mehr herumzujammern und dürfte ihm das Geld für die Kneipe nicht mehr vorzählen, nur weil sie noch eine Stelle als Verkäuferin im Supermarkt hatte und er nichts.

Und dieses Weibsstück, von dem Lehmann dauernd gefaselt hatte, sollte angeblich genauso aussehen wie eine echte Walküre. Lehmann hatte sich ausgeschüttet vor Lachen und immer wieder gerufen: „Sieht aus wie eine echte Walküre und läuft hier so einfach durch die Stadt. Einfach so!“

Mehr fiel ihm nicht ein, dem Spinner. Aber ihm, Horst Kindler, war etwas eingefallen. Etwas Geniales war ihm eingefallen. Man müsste die Geschichte weiterspielen, die germanischen Götter durch die Altstadt laufen lassen und dann filmen. Eine so tolle Idee ließe sich bestimmt an RTL oder SAT1 verkaufen. Und er würde Regie führen und die Stadt käme wieder zu Ansehen und landesweiter Geltung und aller Dank gebührte ihm, Horst Kindler. Jawohl, genauso würde es sein. Und dann würden sie ihn bitten, ob er nicht Bürgermeister werden wollte. Aber er würde es nicht machen. Er würde sie erst zappeln lassen und ihnen Hoffnung machen und dann würde er sagen: „Nein, ich mache euch nicht die Drecksarbeit. Lange genug habt ihr auf mir herum getrampelt, ihr alle, ihr verschlagenen Opportunisten, Weicheier, Feiglinge. Ihr könnt mich alle mal, jawohl. Horst Kindler macht euch nicht den Dummen!“

Und dann würde er gehen, einfach so, seine Sachen packen und nach Hollywood auswandern und dort sein Glück als Filmemacher finden. Er rechnete sich in der Traumfabrik gute Chancen aus, wobei ihm die zwölf Bier kräftig halfen, die er intus hatte. Seine Hauptsorge war nur, ob er all die klugen Gedanken, die er gerade hatte, nicht morgen schon wieder vergessen hätte. Das war ihm leider schon einige Male passiert.

„Videofilm Walküre!“, lallte er deshalb auf dem Heimweg immer wieder vor sich hin. Wer ihm so begegnet wäre an diesem Frühlingsabend, der hätte es bei seinem Anblick nicht für möglich gehalten, dass da eben ein künftiger Erfolgsregisseur an ihm vorbeigetorkelt war. Eher hätte der gewöhnliche Betrachter auf einen armen Irren getippt, der neben offensichtlich schweren Gleichgewichtsstörungen auch einen Großteil seiner Zehen durch Amputation eingebüßt hatte.

Er schwankte wirklich sehr, der Herr Kindler.


„Ich weiß immer noch nicht, was das alles soll. Schleppen wir die Steine hier her, nur weil dort ein früher ein Steinbruch war oder … “, der große Krieger ließ den enormen Hinkelstein zu Boden krachen und wischte sich plötzlich begreifend den Schweiß von der Nase, „Oder willst du allen Ernstes einen Steinkreis errichten?“

„Früher oder später würdest du darauf kommen. Ich habe fest darauf vertraut“, antwortete der Rotbart und Stolz schwang in seiner Stimme. „Mein Bruder ist eben kein Dummkopf, auch wenn er sich für die astromysterischen Fragen nicht sonderlich interessiert“, sagte er zufrieden.

„Du willst mir nur schmeicheln, damit ich die Brocken allein weiter schleppe. Daraus wird nichts, Herr Bruder. Du kommst schön mit zum Steinbruch.“ Der Große packte den Stein etwa in der Mitte mit beiden Händen, hob ihn scheinbar mühelos hoch und wuchtete ihn dann auf die Stelle, an die der Kleinere mit seinem Schwert ein Kreuz geritzt hatte.

„Übrigens habe ich am Steinbruch ein bemaltes Schild gefunden“, fügte der große Recke betont beiläufig hinzu.

„Ach!“, sagte der kleinere Bruder erstaunt und als er sich von der Nachricht erholt hatte, säuselte er zuckersüß: „Und das beliebst du mir erst jetzt zu sagen, wo wir den Steinkreis so gut wie fertig haben. Vielleicht könnte uns das Schild ja Auskunft darüber geben, wo und wann wir hier sind. Oder glaubst du, es macht mir Vergnügen, mich an die ganzen komplizierten Anweisungen zu erinnern, wie ich diesen Steinkreis zum Arbeiten bringen kann, Bruder Magni?“

„Ha, jetzt hast du meinen Namen gesagt, Modi. Die Götter werden uns strafen, wenn sie erfahren, dass wir unsere Namen genannt haben. Odin hat ausdrücklich darauf bestanden, dass wir dem Ingo Knito huldigen“, erwiderte der Magni genannte Riese.

„Wem sollen wir huldigen?“, wollte Modi wissen. „Mir ist kein Mann dieses Namens bekannt.“ „Ich weiß auch nicht, wer dieser Ingo Knito ist, aber Odin hat ihn mehrfach erwähnt“, bellte Magni zurück.

„Letzten Endes spielt das auch keine Rolle. Zürnen werden die Götter so oder so, wenn sie erfahren, dass wir unsere Namen genannt haben“, versuchte Modi seinem verwirrten Bruder eine sprachliche Brücke zu bauen.

„Aber bloß dann, wenn sie überhaupt erfahren, wo und vor allem wann wir hier sind“, brummte Magni. Modi rollte mit den Augen und bemerkte, dass sein linkes Augenlid zu zucken begann. Das war ein schlechtes Zeichen, denn er war nervös und konnte sich nur noch schlecht konzentrieren, wenn er dieses Zucken bekam. Er bemühte sich um Fassung und schlug einen freundlichen Ton an, in dem ein gerüttelt Maß an Resignation mitschwang. „Lass uns einfach weitermachen und zusehen, dass wir hier fortkommen. Was steht denn auf dem Schild?“, begehrte er zu wissen.

„Keine Ahnung“, antwortete Magni. „Ich konnte die Runen nicht lesen. Habe nie zuvor so entstellte Schriftzeichen gesehen.“

„Gut, lass uns nachschauen“, schlug Modi vor und beide stiefelten in Richtung Steinbruch, weg von der Lichtung, auf der schon eine beträchtliche Anzahl gigantischer Steine einen soliden Kreis bildeten, der an die weltberühmte Anlage in Stonehenge erinnerte.

Bald waren die beiden Brüder am Steinbruch angelangt und Magni deutete mit der Schwertspitze auf ein verwittertes, halb von Moos bewachsenes Schild.

rztba YR RTT

stand darauf und Modi musste seinem kräftigen Bruder zähneknirschend zustimmen, dass es keinen Sinn ergab. Immerhin erkannte er die Buchstaben, offensichtlich waren sie nicht in China oder Persien gelandet. Die Landschaft deutete allerdings auch nicht darauf hin, sondern eher auf Ausläufer eines kleineren, mitteleuropäischen Gebirges. Während er das Moos von dem rechteckigen Schild kratzte, sinnierte er über die Variante nach, dass sie in China gelandet wären und fand den Gedanken nicht erheiternd. Als er alle Buchstaben freigekratzt hatte las er

Freizeitbad THYRA GROTTE

und war beruhigt. Er stieß einen wohligen Seufzer aus, der einen mittleren Windstoß entfachte und um ein Haar einen Specht aus einem nahestehenden Baum schüttelte. Magni erkundigte sich neugierig: „Na und, was hast du herausgefunden?“

„Wir sind entweder in der Nähe eines Bades oder irgendwer hat das Schild hier weit mit sich herumgeschleppt. Dann sind wir nicht in der Nähe dieses Bades. Ich gehe aber davon aus, dass niemand zum Spaß ein Schild mit sich herumträgt, auf dem steht, wie ein Bad heißt. Das ergibt ja keinen Sinn.“

„Wie heißt denn das Bad?“, wollte Magni wissen.

„Thyra Grotte“, antwortete Modi und nun war es an Magni tief zu seufzen.

„Willst du damit andeuten, es hätte irgendwann Leute gegeben oder würde sie später geben, die nach dem dreimal verfluchten Thrym ein Bad benannt hätten oder noch benennen wollen?“, donnerte er los und weil sich Modi sehr viel Zeit mit der Antwort ließ, fügte er an: „Und es könnte sein, die lebten hier? So wünschte ich ihnen, dass sie schon vor langer Zeit ausgestorben wären, denn andernfalls werde ich das Ende ihres Stammes in kurzer Zeit besiegeln und zwar gründlich!“

Sein lautstarker Zorn hatte den ganzen Waldabschnitt erbeben lassen und rund um den Steinbruch stürzten vereinzelt Steine und tote Vögel zu Boden. Der eine oder andere Hase brach auf, sein Heil in einer mehrtägigen Flucht zu suchen um diese Gewitterstimme nie wieder hören zu müssen. Ein verzweifelter Maulwurf stellte einen neuen Tiefen- und Geschwindigkeitsrekord im senkrechten Buddeln nach unten auf und stieß, als er sich so weit unten wähnte wie vor ihm noch kein Tier gewesen wäre, auf mehrere verängstigte Mäuse und Hamster, die sich aneinander klammerten.

„Was du dich nur so aufregst“, beschwichtigte Modi nun Magni. „Wir wissen doch überhaupt nicht, ob der Eisriese damit gemeint ist. Und außerdem: Thrym hat längst sein armseliges Leben unter Vaters Hammer ausgehaucht. Erinnerst du dich nicht mehr daran?“

„An die Geschichte, wie unser Vater Thor sich mit einer List den von Thrym gestohlenen Hammer zurückgeholt hat, erinnere ich mich sehr wohl. Ich weiß nur nicht, woher du die Sicherheit nimmst, dass dieses Ereignis in der Vergangenheit liegt, denn wir wissen ja nicht, wann wir gerade sind“, fauchte Magni seinen Bruder an.

„Das ist wirklich ein Problem“, erwiderte Modi geduldig und bemerkte, dass es äußerst langweilig war, immer wieder auf dieses eine Thema zurückkommen zu müssen.

„Jedoch besagt das Schild eindeutig, dass wir auf germanischem Boden stehen und diese Gewissheit erfreut mich ungemein. Wenn wir den Steinkreis benutzen können, werden wir auch wissen, wann wir sind. Dann können wir geeignete Schritte einleiten und entweder die hier lebende Bevölkerung massakrieren, weil sie Thrym anbetet oder, was wesentlich wahrscheinlicher ist, in die Zeit gehen, in welche Odin uns geschickt hat. Im Übrigen sollten wir uns beeilen fertig zu werden ehe die Sterne aufgehen, sonst sitzen wir morgen immer noch hier und fragen uns, wann wir sind.“

Magni hievte sich wortlos einen riesigen, langen Stein auf den Rücken, der glänzend als Querstein geeignet war, und stapfte zurück zur Lichtung. Modi nahm sich ein ähnliches Exemplar vor und folgte keuchend seinem Bruder. Als sie wenig später den Bau vollendet hatten, begann Modi mit den Feinabstimmungen und kramte nach seinen Erinnerungen an die geheimen Worte, indem er mit den einfacheren Dingen begann. Er murmelte unablässig Sprüche und Reime, die ihre Existenz der Beschäftigung von Göttern und Menschen mit der Astronomie und verwandten Wissenschaften verdankten:

„Eber, Riese, Himmelskuh zählen wir dem Winter zu.

Hase, Wolf und Menschenpaar stellen uns den Frühling dar.

In Hahn und Hengst und Ährenfrau

die Sommersonne steht genau.

Schwalbe, Hirsch und Bogenschütze

sind des Herbstes feste Stütze.“

war nur ein Beispiel der großen Gelehrsamkeit, die Modi nun an den Tag legte.

Magni hatte ein Feuer entfacht und suchte nach den passenden und für die Rituale geeigneten Holzscheiten. Beziehungsweise half er einigen jungen Bäumchen dabei, sich mittels seines gigantischen Schwertes in bestens geeignete Holzscheite zu verwandeln. Modi brabbelte immer noch vor sich hin und vervollkommnete die Ausrichtung des Kreises. Er peilte mit Daumen und zugekniffenem Auge die oberen Spitzen der Felsbrocken an. Hin und wieder nickte er zufrieden oder strich sich über den Bart. Er prüfte die Abstände der Steine voneinander und verglich ihre Höhe. Er änderte gegebenenfalls, wo es noch nicht so richtig passte, und frohlockte endlich: „Nun brauchen wir nur noch auf die Dunkelheit warten“. In einem didaktischen Duktus begann er seinen, an einen Baumstamm gelehnten Bruder Magni aufzuklären: „Bei der Betrachtung des Sternenhimmels sehen wir, dass die Sterne im Laufe der Nacht zu wandern scheinen. Am Abend sieht man andere Sterne als am frühen Morgen, im Winter andere als im Sommer. Die Sterne aber, welche sich in der Nähe des Himmelspols befinden, gehen niemals hinter den Horizont und sind somit das ganze Jahr sichtbar. Der Kreis, der diese Sterne umschließt und scheinbar von anderen trennt, ist der innere Himmelskreis. Das sind diese Steine hier, siehst du?“ Modi zeigte mit dem Schwert auf die betreffenden Felsbrocken. „Diesen Bereich nannten die Menschen dann Asgard, die Götterheimat.“

„Wieso nannten?“, unterbrach ihn Magni, „Vielleicht werden sie es erst in ein paar tausend Jahren so nennen, schließlich wissen wir nicht, wann wir sind.“

Modi hasste seinen Bruder manchmal für seine schreckliche Sturheit, aber er wusste wohl, dass es das Beste war, solche Sticheleien einfach zu ignorieren.

„Der Sommerhimmel bedeutete ihnen Midgard oder er bedeutet es ihnen heute noch oder er wird es ihnen einst bedeuten, nämlich ihren eigenen Wohnsitz.“ Modi richtete sein Schwert auf die besagten Steine und funkelte Magni an. Der hatte sich hingesetzt, reinigte sein Schwert mit einem Batzen Moos und machte den arglosesten Eindruck, den dieser Wald jemals gesehen hatte und noch sehen würde.

„Der Winterhimmel ist ihnen ein Gleichnis für Utgrad, das Reich der Riesen. Der helle Stern, den man später als den Polarstern bezeichnen wird, nannten sie in früheren Zeiten Wotans Auge. Getrennt werden die Reiche der Menschen und der Riesen durch den Weltenreif Draupner, den sie heute die Milchstraße nennen und den wir hier mit den Querverbindungen dargestellt haben. Alles, was wir nun tun müssen, ist warten, dass es dunkel wird. Dann bestimme ich schnell den Stand der Sterne und leite mit Hilfe des Steinkreises die Konstellationen ab, errechne den ewigen Wert und beziehe ihn auf die Helligkeit unserer Fackeln dort hinten und schon wissen wir, wann wir sind.“

„Hm“, brummte Magni und das Zwiegespräch war jäh beendet.

Eine knappe Stunde später war es stockdunkel. Der Himmel über den Hügeln und Wiesen des südlichen Vorharzes war mit dicken Wolken verhangen. Und so blieb er auch, bis ein neuer Morgen graute.


Es war nicht ganz einfach, den geheimen Eingang zur wahren Schlafstätte des Kaisers Rotbart im Kyffhäusergebirge zu finden und er befand sich nicht in der Höhle nahe Bad Frankenhausen, durch die täglich Touristenströme zogen, um den in Stein gehauenen Thron des sagenhaften Herrschers zu sehen. Die Besucher wären verwundert gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass sie dem wirklichen Schlafplatz sehr nahe waren. Die echte Barbarossa-Höhle befand sich 30 Meter unter dem steinernen Sitz, war aber nicht mit der darüber liegenden Höhle verbunden. Ein langer, schmaler, dunkler Gang führte dort hinein. Es bedurfte vieler Anläufe, einer soliden weidmännischen Ausbildung und eines guten Auges oder einer gehörigen Portion Glück, wollte ein Mensch das Eingangsloch aufspüren. Knochen und Skelette von Menschen und Tieren säumten den Weg im Eingangsbereich, denn eine Umkehr war nicht möglich. Ein uralter Fluch war dafür verantwortlich, dass man diesen Weg nur in eine Richtung beschreiten konnte. Wer es dennoch versuchte, kam nicht weit und blieb gelähmt im Höhlengang kleben, bis zum bitteren Ende. Das war der Hauptgrund, warum der Kaiser nicht viele Besucher empfangen musste. Eigentlich waren bis heute überhaupt nur die Bauern Müntzers und diese Tschekisten zu ihm vorgedrungen. Bis jetzt.

Im Eingangsrahmen stand ein großer, sehr herrisch wirkender Mann in einem weiten, blauen Mantel. Er trug einen breitkrempigen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte und der voller Spinnweben und staubbedeckt war. Auf jeder seiner Schultern saß ein unnatürlich großer und tiefschwarzer Rabe. Neben seinen Beinen standen links und rechts zwei furchterregend große Wölfe, welche die Lefzen hochzogen und bedrohlich knurrten. Der Mann hob den Kopf und sah aus seinem einen noch intakten Auge in den Saal.

„Oh Gott! Oh Vater! Oh Gottvater!“, stammelte der Kaiser Barbarossa und rutschte auf seinem Empfangssessel zusammen wie ein Ballon, der ein Stachelschwein gestreift hat.

„Es ist schmutzig hier!“, grollte der einäugige Odin wie eine, in sicherer Entfernung zu Tale stürzende, Gerölllawine. „Deinen Gruß hatte ich mir nach über tausend Jahren enthusiastischer vorgestellt. Aber ich kann damit leben, mein Sohn.“

Der so angesprochene Barbarossa, der in Wirklichkeit Odins Sohn und der Donnergott Thor war, zappelte auf seinem Stuhl herum, als gelte es einer Hundertschaft von Skorpionen auszuweichen.

„Bist du gekommen, mich von dieser Maskerade zu erlösen?“, fragte er vorsichtig. Thor wusste sehr genau, dass dies mit Sicherheit nicht der Grund war, weshalb sein Vater aus Walhalla herabgestiegen war. Wenn ihm der Alte eine Nachricht hätte schicken wollen, so wäre einer seiner Wölfe oder Raben ausreichend gewesen, dachte Thor. Nun hatte der oberste aller Götter aber gleich alle vier Tiere mit in diese Höhle gebracht und trug in seiner Rechten zu allem Überfluss den Speer Grungnir, der sein Ziel niemals verfehlte. Thor schwante nichts Gutes. Wenn sein Vater in vollem Ornat anrückte, dann musste etwas Bedeutendes und sehr Beunruhigendes vorgefallen sein. Huginn, derjenige der Raben, der die Gedanken verkörperte, funkelte Thor aus seinen pechschwarzen Augen feindselig an und Munnin hackte sich gerade genüsslich eine große Spinne von seinem Federkleid, um sie kurz darauf seelenruhig zu verzehren. Der Rabe Munnin wirkte alles in allem eher unbeteiligt. Er stand für die Erinnerung und Thor dämmerte es, dass Erinnerungen wohl nicht das Thema der nächsten Minuten wäre. Aber er brauchte Zeit, sich vom ersten Schock zu erholen und seine grauen Zellen wieder neu zu postieren, auf dass er der Auseinandersetzung mit seinem Erzeuger gewachsen wäre.

„Natürlich nicht!“, brüllte Odin. „Und du weißt das ganz genau!“

„Ähem, ich freue mich immer, dich zu sehen, mein Vater, äh, Gott, ich meine – Gottvater“, ruderte Thor hilflos durch das ihm momentan zur Verfügung stehende Vokabular.

„Lass uns die Sache verkürzen“, schaltete sich Odin wieder ein und Thor stellte für sich fest, dass sein Vater noch immer kein Freund der großen Worte und des langen Herumredens war und deshalb gleich auf den Punkt kommen würde.

„Du weißt“, sagte Odin, „dass ich noch nie ein Freund der großen Worte und des langen Herumredens war und deshalb immer gleich auf den Punkt komme.“

„Ja, ich weiß“, sagte Thor wahrheitsgemäß.

„Ich habe nur eine einzige Frage, mein Sohn.“

„Und die wäre, ich meine, bitte, ähem, frag ruhig“, versuchte Thor seinen Vater nur sehr halbherzig zu animieren.

„WO IST DEIN HAMMER?“, schrie der mächtigste aller Götter und betonte die Vokale überaus lange und schrill.

Thor schaute erschreckt an seiner Bettstatt hinunter und stellte fest, dass Mjöllnir, sein alles zerschmetternder Donnerhammer, nicht mehr an der Stelle lag, wo er hätte sein sollen. Thor registrierte mit einem leichten Anflug von Panik, wie sich seine eben neu formierten grauen Zellen schnell wieder hinwarfen und Deckung hinter den Schädelknochen suchten.


Sabrina saß an ihrem Arbeitsplatz vor dem PC mit der Layout-Software, in der sie ihre Artikel gleich in der richtigen Länge einfügen konnte. Eine Tasse kalten Kaffees stand neben ihr und der tägliche, obligatorische Polizeibericht flimmerte grünlich auf ihrem Bildschirm, als fürchte er seine eigene Veröffentlichung. Wenn es wenigstens ein ordentliches Zeilenhonorar dafür gegeben hätte.

Sie hatte aber als fest eingestellte Redakteurin kein Zeilenhonorar als Berechnungsgrundlage ihrer journalistischen Arbeit. Und ihre Bezahlung hatte sie sich während des Studiums auch anders vorgestellt. Mit diesen paar Euro konnte sie jedenfalls noch keine Familie gründen. Ihren Eltern gefiel es überhaupt nicht, dass sie mit 28 Jahren noch keine feste Beziehung eingegangen war und wie Sabrina ihre Mutter kannte, machte die sich bestimmt große Sorgen um den Fortbestand der Familie. Doch Sabrina hatte sich erst einmal andere Prioritäten gesetzt und wollte in der Lokalredaktion der Kreisstadt weiterkommen und Karriere machen. Dann, später einmal, wenn sie bei einem renommierten Blatt beschäftigt war, würde sie eine eigene Familie planen. Je mehr sie aber über diesen, ihren Lebensplan nachdachte, desto unsicherer wurde sie, ob er tatsächlich so perfekt war, wie er ihr noch vor wenigen Jahren beim Studium erschienen war. Inzwischen entließen die großen Verlage und Zeitungen reihenweise ihre Redakteure. Und das waren keine schlechten Vertreter ihrer Zunft, die sich nun um die verbliebenen Plätze an der printmedialen Futterkrippe balgten. Manchmal dachte sie, es wäre besser gewesen, sie hätte damals zur Paläographie gewechselt und würde nun in einer heimeligen Forscherstube eines renommierten Museums sitzen und alte Schriftzeichen des Mittelalters entziffern. Stattdessen lief sie jeden Tag in die langweilige Redaktion der einzigen Tageszeitung vor Ort und wertete Polizei- und Feuerwehrberichte aus. Die Masse der Nachrichten beinhaltete Pressemeldung der Stadtverwaltung mit dem Inhalt, wann welche Straße voraussichtlich für wie lange wegen Bauarbeiten vom Straßenverkehr ausgeschlossen sein würde. Die von ihr zu erfassenden Leserbriefe drehten sich inhaltlich um Hundekot auf öffentlichen Plätzen oder Beschwerden darüber, dass die Sperrung einzelner Straßen nicht pünktlich genug in der Zeitung angekündigt worden war.

Ihr gegenüber saßen ihre Kollegin Henriette Wildt und der junge Fotograf Enrico Neumeister, ebenfalls auf ihren Drehstühlen, und versuchten die morgige Lokalausgabe mit brauchbaren Beiträgen und Fotos zu füllen. Henriette hatte gerade einen Leser am Telefon, der sich offenbar über die schlechte kulturelle Grundversorgung im gesamten Landkreis unter besonderer Berücksichtigung der viel zu dünn gesäten Volksmusikveranstaltungen im Gegensatz zum ewigen Bumbum-Geratter der jungen Generation in diesen grässlich lauten Diskotheken erregte. Am Beginn des Anrufes, der schon einige Minuten zurücklag, hatte Henriette immer laut die wilden Anschuldigungen des Anrufers wiederholt, damit die beiden anderen in der engen Redaktionsstube auch etwas zu lachen hatten. Aber solcherlei Scherze sind kurzlebig und auch Henriettes Gesicht deutete inzwischen nicht mehr auf irgendeine Form von Vergnügen hin. Sabrina sah zum Fenster hinaus, genauer gesagt spähte sie durch einen Schlitz der fast geschlossenen Jalousie und dachte an gar nichts. Ein Zustand, der sich immer dann bei ihr einstellte, wenn sie den Polizeibericht bearbeiten musste. Wie aus weiter Ferne hörte sie Henriette sagen: „Ich bin ganz Ihrer Meinung, das ist wirklich bedauerlich. Ich werde Ihre Anregungen mit in die Redaktionskonferenz nehmen und ganz bestimmt darüber schreiben. Ja, wenn ich es Ihnen doch sage. Verlassen Sie sich auf mich. Nichts zu danken. Wiederhören. Idiot.“

Sie hatte den Hörer auf die Gabel geknallt und stand ruckartig auf.

„Was man sich hier alles bieten lassen muss! Was denkt sich denn dieser Blödmann, was wir hier den ganzen Tag über machen? Er hat doch allen Ernstes behauptet, wir würden absichtlich nichts über Volksmusik bringen, weil wir Absprachen mit den örtlichen Diskotheken hätten und uns von denen bezahlen ließen.“

Henriette war richtiggehend aufgebracht, was ihr nicht oft passierte, denn sie hatte einen eher ausgeglichenen Charakter. Böse Zungen bezeichneten sie als phlegmatisch, ein noch geringerer Teil der Einwohnerschaft hielt sie für schlichtweg faul und desinteressiert. Diese wenigen Leute unterstellten ihr, sie würde in den Redaktionsstuben des Kreisanzeigers nur auf die nahende Rente warten, die in überschaubarer Zeit ihrem journalistischen Treiben ein Ende setzen sollte. So drückte es jedenfalls Henriette selbst aus und wurde nicht müde, ihren baldigen Ruhestand immer wieder ins Gespräch zu bringen. Das hatte zur Folge, dass sie auch in der Redaktion mit keinen großen Sonderaufgaben mehr betraut wurde. Denn sie ging ja ohnehin bald in Rente. Wann genau das war, wusste außer ihr kaum jemand.

Sabrina konnte Henriette gut leiden, ihr gefiel die bedachte, nichts überstürzende Art der älteren Kollegin und ihr Scharfsinn, wenn es um Falschmeldungen ging. Henriette Wildt ließ sich so leicht nichts vormachen. Sie konnte wunderbar im Stile der Yellow-Press schwadronieren und sich über Nebensächlichkeiten unendlich ausbreiten. Sie sagte dann für gewöhnlich: „Nur immer her mit der Nachricht, auch wenn sie noch so unbedeutend ist. Ich blase sie auf, bis sie platzt.“

Aber sie setzte keine Falschmeldungen in die Welt. Für Sabrina war sie eine Arbeitskollegin, von der sie etwas lernen konnte. Und viel konnte sie bei diesem kleinen Wurstblatt nicht lernen. Henriette streifte sich ihren Mantel über und verabschiedete sich zu einer Pressekonferenz im Landratsamt. Auch Enrico nutzte diesen Termin, um aus dem muffigen Büro zu entkommen.

Sabrina hatte den Aufbruch der beiden kaum registriert und starrte immer noch aus dem Fenster, als ihr Telefon klingelte. „Kreisanzeiger, Donath, guten Tag“, sagte sie freundlich. „Was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Häusler und ich bin Mitarbeiter der unteren Denkmalbehörde im Landratsamt Nordhausen. Wir sind gerade bei einer hobbymäßigen, archäologischen Untersuchung im Kyffhäuser und haben dort eine bemerkenswerte, offensichtlich sehr alte Streitaxt gefunden. Genauer gesagt sieht das Ding aus wie ein Hammer. Sind Sie daran interessiert?“

Sabrina war auf dem besten Weg in die Hörmuschel zu kriechen, sie hegte mehr Interesse an dieser möglichen Story, als sie für einen Sechser im Lotto gezeigt hätte. Dennoch bemühte sie sich eine routinierte Professionalität auszustrahlen und antwortete so kühl und nüchtern sie nur konnte: „Das klingt interessant. Wann und wo kann ich den Fund sehen?“

„Wie wäre es mit sofort?“, fragte der Denkmalpfleger Häusler zurück.

„Das passt mir prächtig“, sprudelte Sabrina viel zu schnell hervor. „Ich bin auf dem Weg. Wo finde ich Sie?“

Am anderen Ende entstand eine Pause, die Sabrina im Bereich einer jungen Unendlichkeit ansiedelte, aber in Wahrheit nicht länger als fünf Sekunden währte. Dann hörte sie klare, detaillierte Instruktionen, wo sie sich einfinden sollte.


Gernot Hübner schaltete sein Handy aus. Er war zufrieden. Schon viele Jahre hatte er seit dem Umsturz der Konterrevolution und dem damit verbundenen Untergang der DDR mit sich gerungen, was er mit dieser merkwürdigen Axt anfangen sollte. Seitdem er sie Anfang der Achtzigerjahre von dem Spezialauftrag aus der Höhle im Kyffhäusergebirge mitgebracht hatte, drängte es ihn regelrecht physisch, sie wieder los zu werden. Dabei würde er immer noch seine gesamte Ordensammlung hergeben, wenn er erfahren könnte, was damals in dieser stürmischen Oktobernacht eigentlich passiert war. Gemeinsam mit zwei anderen Genossen hatte er einem anonymen Hinweis aus der Bevölkerung nachgehen sollen, nachdem sich in den Bergen ein Mann verbarg, der wie der rotbärtige Kaiser Barbarossa aussah und sich verdächtig benahm. Sie hatten tatsächlich einen versteckten Höhleneingang gefunden und waren hinein gegangen. Seine nächste Erinnerung war, wie er wieder in der Einsatzzentrale stand und sein höchst zufriedener Oberstleutnant ihn auszeichnete für die ehrenhafte Ausführung seines Auftrages. Als er schließlich nach Hause gekommen war, hatte er diese riesige Axt auf dem Rücksitz seines Moskwitschs gefunden. Er hatte sie in einem alten Öllappen im Garten vergraben, doch über die Jahre wurde um diese Stelle das Terrain immer größer, auf dem einfach nichts wachsen wollte. So hatte er das Ding schließlich an einem alten, stillgelegten Kiesschacht nahe der Kreisstadt Nordhausen vergraben, wo ohnehin nichts wuchs.

Als die Westdeutschen dann wie die Vandalen über seine sozialistische Heimat herfielen, begann sein eigentlicher, innerer Kampf. Gernot wusste wohl, dass er das Gerät gewinnbringend verkaufen könnte. Nein, nicht an die Holländer, die alles mit sich schleppten, was über dreißig Jahre alt war und dafür nur ein Spottgeld bezahlen wollten. Er würde auf die passende Gelegenheit warten, beschloss er. Lieber schlug er sich noch einige Jahre so schlecht und recht durch. Dieses garantiert sehr wertvolle, alte Stück sollte seine Rentenversicherung sein. Schließlich hatte er seine Knochen immer hingehalten zu DDR-Zeiten und niemand hatte es ihm gedankt.

Aber die Gelegenheit kam nicht und die Jahre vergingen. Gernot wurde immer verbitterter. Sozialhilfeempfänger war er und seine geheimen Reserven neigten sich schon bedrohlich dem Ende entgegen. Da war ihm die Idee gekommen, so zu tun, als hätte er die Axt eben erst gefunden. Dann würde sich herausstellen, wer sich mit wie viel Geld dafür interessierte. Die kleine Redakteurin, die er da gerade an der Strippe hatte, war sofort auf seine Geschichte angesprungen und nun musste er sie nur überreden, das wahrscheinlich frühmittelalterliche Teil zu fotografieren. Er würde ganz ruhig abwarten, welche Reaktionen die Veröffentlichung auslösen würde. Notfalls wäre er gezwungen, die Journalistin rund um die Uhr zu beschatten, aber darin hatte er ja Erfahrung.

In der Ferne hörte er einen Motor brummen und sah auf seine Uhr. Das konnte sie schon sein, wenn sie sich beeilt hätte. Er kletterte vorsichtig von seinem präparierten Fundort hinauf auf den kleinen Felsvorsprung, von dem aus man die Straße überschauen konnte. Ein Kleinwagen näherte sich der Haarnadelkurve und Gernot Hübner, der sich am Telefon als Häusler vorgestellt hatte, griff in seine Jackentasche. Hier befand sich ein Opernglas, womit er das ankommende Auto unter die Lupe nehmen wollte. Das Opernglas hatte sich in der engen Tasche verklemmt und Gernot zerrte wütend und ruckartig daran herum. Zu ruckartig für den vorgeschobenen, Jahrtausende alten Teil der Felsplatte, wie sich unmittelbar darauf herausstellte.

„Verdammt“, fluchte der ehemalige Stasi-Offizier und polterte zusammen mit mehreren Zentnern lockeren Gesteins den Steilhang hinunter. Es war der letzte Fluch, der ihm in seinem siebenundvierzigjährigen Leben vergönnt war.


Sabrina erreichte keuchend vom steilen Aufstieg den Punkt, den ihr der Anrufer beschrieben hatte. In einer kleinen Mulde lag tatsächlich ein großer Hammer oder ein Beil. Es war alles so, wie es der Mann am Telefon beschrieben hatte. Nur von dem Anrufer selbst war weit und breit nichts zu sehen. Sie hatte ihren Elektroschocker in der Hand, die in der rechten Manteltasche steckte. Wenn sie hier einer austricksen wollte oder noch Schlimmeres mit ihr vorhätte, dann würde er sich wundern.

Nach einer Stunde Wartens war Sabrina dann klar, dass der mysteriöse Anrufer nicht nur mal eben für kleine Jungs hinter die Büsche gegangen war. Sie nahm ihr Handy und rief in der Redaktion an.

„Wo bist du, Schätzchen?“, fragte Henriette gelassen. „Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht.“

Sabrina erzählte ihr die ganze Geschichte und Henriette fing an zu lachen.

„Da hat dich aber einer hochleben lassen, Sabrina“, prustete sie in den Hörer. „Die untere Denkmalschutzbehörde macht doch nie und nimmer hobbymäßige Ausgrabungen. Und selbst wenn, dann würden sie bei einem interessanten Fund sonst wen anrufen, aber nicht uns.“

„Ich verstehe nicht“, sagte Sabrina, die sich darüber ärgerte, dass sie von Henriette ausgelacht wurde. „Der Hammer liegt aber hier vor mir, das wenigstens wirst du mir doch glauben?“, schimpfte sie in ihr Mobiltelefon.

„Sei nicht sauer, Schätzchen“, sagte Henriette jetzt aus Sabrinas Hörer.

„Ich will dich nicht beleidigen. Wenn ich es mir recht überlege, ist es das Beste, wenn du sofort von dort verschwindest. Wer weiß, was für ein Verrückter dir da einen Streich spielen will.“

Henriette klang plötzlich wirklich besorgt und Sabrina wurde mit einem Schlag ihre heikle Situation bewusst. Ganz allein stand sie auf einem einsamen Felsvorsprung in menschenverlassener Gegend. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie beeilte sich zu sagen: „Du hast völlig recht, Henriette, ich haue hier ab. Bis gleich!“

„Bring die Axt mit, Sabrina!“


„Wir haben es eben erst erfahren, dass der Donnerhammer verschwunden ist, während du hier schliefst. Huginn sah ihn, als er das Kyffhäusergebirge überflog. Und wie du weißt, irrt er sich nie. Ich glaube aber, Mjöllnir ist diesmal in nicht so großer Gefahr wie damals bei Thrym, dem Eisriesen. Vermutlich hat ihn ein Sterblicher, der doch ohnehin nichts mit ihm beginnen kann und sehr wahrscheinlich einer von denen, die du hier empfangen hast.“

Odin saß auf einem Felsvorsprung und Huginn flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Thor war die ganze Geschichte sichtlich peinlich und er dachte angestrengt nach, was zu tun sei, ohne allerdings dabei irgendein brauchbares Ergebnis zu erzielen.

„Dann werde ich ausziehen und ihn zurückholen wie einstens, da ich als junges Weib verkleidet den Riesen narrte“, warf er sich schließlich in die Brust, weil er fest daran glaubte, dass Angriff die beste Verteidigung sei. „Wie ein Sturmwind werde ich über die Sterblichen hinwegfegen und alle töten, die sich mir entgegenstellen“, legte er in heroischem Tonfall nach, als er sah, dass sein Vater nicht reagierte und angestrengt schwieg.

„Und was wirst du tun, wenn sich dir gar kein Sterblicher entgegenstellt?“, hakte Odin ein. Thor meinte, einen leicht aggressiven Unterton aus der Replik seines Vaters herausgehört zu haben und beschloss, lieber nicht nach Widerworten zu suchen.

„Es hat keinen Sinn, wild um sich zu schlagen und Wut bringt uns hier nicht weiter“, fuhr der Göttervater unbeirrt fort. „Ganz im Gegenteil müssen wir listig vorgehen. Ich habe schon deine Söhne Magni und Modi in Bewegung gesetzt und unweit der Stelle, an der wir hier sprechen, operiert Freya inkognito.“

„Sie tut was?“, fragte Thor bestürzt.

„Sie ermittelt im Verborgenen!“

„Oh, da bin ich aber beruhigt“, atmete Thor auf.

„Du wirst dich ebenfalls in diese Stadt Nordhausen begeben, wo wir den großen Donnerhammer vermuten. Ihr holt ihn auf die gleiche Weise wie damals zurück. Verkleidet euch und erregt möglichst wenig Aufsehen. Das können wir momentan nicht gebrauchen und es darf aus dieser Aktion nicht das Ragnarök, die Götterdämmerung, entstehen.“

Thor stand da wie ein mit verdorbenem Met begossener Bär und brummte zustimmend.

„Du weißt, dass der Zeitfaden an einem Spinnrad der drei Nornen entsteht. Manchmal kann er sich verhaken und dann kann es passieren, dass sich bereits geschehene Ereignisse wiederholen. So ist es nun mit dem Raub Mjöllnirs passiert. Ich hoffe nur, die Heimholung Mjöllnirs gehörte nicht zu den ewig zyklisch wiederkehrenden Dingen“, seufzte der oberste Gott.

Der tiefschwarze Rabe Huginn setzte sich wieder auf Odins rechte Schulter und steckte den Kopf ins Gefieder, wie es sein Artgenosse Munnin schon seit einer ganzen Weile auf der linken tat. Thor erahnte, dass ihr Gespräch damit beendet war und ihm eine anstrengende und aufregende Zeit bevorstand. Er griff sich seine eisernen Handschuhe und beeilte sich, seinem Vater aus der Höhle zu folgen.


Frieda glaubte anfänglich, das Gewand sei nicht in ihrer Größe vorrätig gewesen und sie müsse deshalb ein so kurzes Teil anziehen. Die Haarschneiderin nannte es erst Minikleid und später, recht anzüglich grinsend, „das kleine Schwarze“. So konnte Frieda nun nicht nur ihre eigenen Knie sehen, sondern auch einen Großteil ihrer Oberschenkel. Aber, so stellte sie wohlwollend fest, die konnten es mit allen anderen Frauenbeinen, die hier in der Vorhalle des Theaters herumliefen, ohne weiteres aufnehmen. Ihr blieben die bewundernden Blicke vieler Männer nicht verborgen. Auch nicht die neidvollen und hasserfüllten von deren Eheweibern. Neben ihr schwitzte Lothar Lehmann in einem hochgeschlossenen, schwarzen Zweireiher. Er hatte eine rote Fliege um seinen fetten Hals gewürgt und trug ein schneeweißes Oberhemd. Allerdings roch er schon jetzt entsetzlich nach Schweiß und Frieda mochte nicht daran denken, wie das später im prall gefüllten Zuschauerraum sein würde. Die Friseurin hatte ihr den ganzen Ablauf und alle Räume wahrhaft haarklein beschrieben, sodass Frieda sich nur wundern konnte, wie exakt alles stimmte. Jetzt bogen sie in den Saal ein und hier staunte Frieda über die imposante Bühne, die von einem schweren, samtroten Vorhang verhüllt war, auf dem verschiedenfarbige Scheinwerfer faszinierende Lichtspiele zauberten. Die Bühnenportale waren in schlichtem Grau gehalten und ragten hoch in den Raum. Zwei Ränge überdachten das Parkett zur Hälfte und in der Mitte der Saaldecke prangte ein beeindruckender, gläserner Kronleuchter. Die Sitzreihen waren mit ebenfalls samtigen, in bordeauxrot gehaltenen Sesseln versehen, die man nach unten klappen musste, wenn man darauf sitzen wollte. Von allen Seiten strömten Menschen in festlicher Garderobe zu ihren Plätzen. Der Raum war erfüllt von Getuschel und Gewisper, hin und wieder erklang ein lautes Lachen.

„Im ersten Teil kann sich Wotan also am Ende dank Loges Hilfe gegen Alberich durchsetzen und sie kehren mit ihm zurück auf ihre Burg. Hier nehmen sie Alberich alles wieder ab; den Nibelungenhort, den Tarnhelm und am Ende den Ring. Jetzt verflucht Alberich den Ring und steigt hinab nach Nibelheim“, dozierte Lehmann mit feuerrotem Kopf und steifbeinig stolzierend wie ein Torero, der eben eine Wagenladung wilder Stiere in Hackfleisch verwandelt hatte. Er ging an Friedas linker Seite und war fast einen Kopf kleiner als sie, was auch an Friedas sehr hochhackigen Schuhen lag.

„Und das kann man alles singen?“, staunte Frieda und schüttelte ihre aufwendig toupierte Löwenmähne nach hinten.

„Nun, nicht jeder. Oder genauer gesagt: Nur gut ausgebildete Sänger vermögen Wagners genialer Musik gerecht zu werden. Wagner ist sehr schwer zu singen und für das Orchester nicht leicht zu musizieren“, antwortete Lehmann und schielte aus den Augenwinkeln selbstgefällig nach zwei jungen Männern, die ihn neidisch anstierten. Ja, so ein Superweib hatte hier niemand an seiner Seite. Lehmann war absolut glücklich.

„Wann hat die Oh-pär denn angefangen?“, wollte Frieda wissen.

„Angefangen, wieso angefangen?“ Lehmann war verwirrt.

„Na, die Musiker spielen doch schon und im Übrigen nicht sehr schön, muss ich sagen“, warf Frieda ein.

„Aber nein“, lachte Lothar Lehmann. „Die spielen noch nicht, die stimmen nur ihre Instrumente.“

„Warum können sie das nicht in ihrer Garderobe machen, wo sie niemanden stören mit ihrem Gequietsche?“, wollte Frieda wissen.

„Ja, nun, äh … “, machte Lehmann und bemerkte, dass er keine Antwort geben konnte. „Ich habe keine Ahnung!“, sagte er schließlich überrascht.

Sie hatten ihre Plätze erreicht und setzten sich. Friedas Kleidchen rutschte an den Beinen hoch. Lehmann wurde es bei diesem Anblick heiß und kalt, doch gnädigerweise verdunkelte sich der Zuschauerraum kurz darauf. Das Gezischel und Gemurmel der Operngäste erstarb so allmählich, wie sich der Saal verfinsterte. Ein Mann im schwarzen Anzug rumorte im Orchestergraben herum und bahnte sich einen Weg an den Bühnenrand. Die Zuschauer klatschten und der Mann verbeugte sich in Richtung des tiefschwarzen Saals. Er wandte sich dem Orchester zu und bedrohte es mit einem kleinen Stöckchen. Bald schon fuchtelte er ausgelassen mit den Armen in der Luft und schwenkte den kleinen Stab fröhlich hin und her, während das Orchester sich tapfer durch die komplizierten Wagnerschen Noten manövrierte.

„Der Dirigent“, hatte Lehmann Frieda zugeflüstert und sie hatte stumm genickt.

Einige Reihen dahinter stand ein Mann von seinem Klappsessel auf und stellte sich an einen der seitlichen Ausgänge. Er hielt eine Videokamera vor seinem Gesicht. Es war Horst Kindler, der seinen hervorragenden Plan aus der letzten Nacht in die Tat umsetzen wollte. Er hatte keine Drehgenehmigung von der Theaterleitung eingeholt und sich schon vorsichtshalber zurechtgelegt, was er denen erzählen würde, die ihn blöd anmachen wollten. Er war schließlich der Einzige, der überhaupt etwas unternahm. Ohne ihn würde die Stadt und ihr komisches Theater nie in die überregionalen Schlagzeilen kommen. Und da wäre es ja wohl eine Frechheit, wenn er sich noch aufwendig vorher seine Arbeit genehmigen lassen müsste, die er unentgeltlich und aus lauter Enthusiasmus hier leistete.

Im verantwortlichen Musikverlag und auch in der örtlichen Theaterleitung hätten die Verantwortlichen eventuell eine, in einigen Punkten differierende Haltung zu Kindlers Überlegungen eingenommen, aber der Zuschauerraum war dunkel und von beiden Institutionen niemand anwesend. Während das Orchester sich bravourös durch die Ouvertüre tastete, dachte der filmende Kindler mit erheblichem Respekt an die unglaubliche, blonde Sexbombe, die mit dem dicken Lehmann gekommen war. Hatte der alte Halunke also doch nicht zu dick aufgetragen. Kindler verstand nur überhaupt nicht, was eine solche Frau mit einem Typen wie Lehmann anfing.

Noch einige Reihen dahinter massierte sich Sabrina Donath die Schläfen. Sie hatte Kopfschmerzen von der ganzen Aufregung im Kyffhäusergebirge. Körperlich erschöpft war sie auch, denn die Streitaxt hatte ein beträchtliches Gewicht und es waren gut und gerne zwei Kilometer vom Plateau bis zu ihrem kleinen Renault gewesen. Sie merkte schon in den Unterarmen, was sie da morgen für ein prächtiger Muskelkater erwartete. Die alte Axt hatte sie erst einmal in der Redaktion gelassen. Henriette wusste auch nicht zu sagen, ob das Ding wertvoll war oder nicht. So blieb ihr nichts anderes übrig, als in den nächsten Tagen den Direktor des städtischen Heimatmuseums darüber zu befragen. Eigentlich war sie ziemlich kaputt und hatte keine Lust gehabt, sich einen tonnenschweren, stundenlangen Wagner anzutun. Aber in der Wochenendausgabe war ihre Kunstkolumne fällig und andere kulturelle Ereignisse hatte es in dieser Woche einfach nicht gegeben. Neben ihr saß Enrico mit schussbereiter Kamera und großem, aufgeschraubtem Objektiv. Er selbst machte auch nicht den frischesten Eindruck, sein Kopf prallte in unregelmäßigen Abständen gegen ihre Schulter, um dann erschreckt zurückzuschnellen. Hoffentlich fängt er nicht an zu schnarchen, dachte Sabrina.

Frieda versuchte der Handlung auf der Bühne zu folgen, was durch mehrere Aspekte erschwert wurde. Die Musik war zu laut.

Die Texte der Sänger waren unverständlich.

Sie spielten keine Geschichte, sondern standen steif herum, klopften sich hin und wieder auf die Brust und rollten furchterregend mit den Augen.

Bisher hatte Frieda folgendes gesehen:

Ein Mann kam schwankend auf die Bühne und sang auf eine Frau ein, die dort schon wartete. Dann erschien ein weiterer Mann, der viel tiefer sang und scheinbar den ersten nicht leiden konnte. Der wiederum zog, als er allein auf der Bühne war, eine Schwerterattrappe aus einer Baumattrappe und anschließend, als hätte sie darauf gewartet, kam die Frau wieder und die beiden fassten sich beim Singen an den Händen. Den weiteren Verlauf der Handlung hätte Frieda auf Nachfrage nicht mehr exakt wiedergeben können, denn ihr waren die Augen zugefallen und sie schlummerte selig.

Ihre nächste Erinnerung war eine wohltönende und sogar verständliche Baritonstimme, die gerade sang:

„not tut ein Held,

der, ledig göttlichen Schutzes,

sich löse vom Göttergesetz.

So nur taugt er zu wirken die Tat,

die, wie not sie den Göttern,

dem Gott doch zu wirken verwehrt.“

Langsam sickerte das Gehörte in Friedas Bewusstsein, ohne dass sie einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Worten herstellen konnte. Sie dachte eine Weile nach und kam zu dem Schluss, dass der Sänger gemeint haben musste, er suche einen Helden, der irgendeinen Auftrag ausführen sollte, den die Götter nicht selbst erledigen wollten. Das erinnerte sie an ihren eigenen Auftrag, den sie hier erfüllen musste, und sie schlug vorsichtig ein Auge auf und blinzelte ins grelle Bühnenlicht. Dort standen jetzt andere Sänger und … bei Odin, das sollte der Göttervater selbst sein! Und das Weib an seiner Seite sollte wohl ihre Schwester Fricka darstellen. Frieda, die eigentlich die Fruchtbarkeitsgöttin Freya war, erschauerte. Das war Blasphemie, das war ganz eindeutig Blasphemie!

„Oh, ihr Götter!“, stöhnte sie und rutschte auf ihrem Sitz herum. Ihr Kleid zog sich noch weiter in Richtung Bauchnabel zurück und Lehmann, von ihren Worten aus dem pompösen Kunstgenuss gerissen, war es plötzlich unmöglich, den Blick von Friedas Schoß zu wenden.

„Jetzt reicht es aber!“, schrie Freya, die auch als Kriegsgöttin einen wohlklingenden Namen hatte. „Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!“

Als sie jetzt sah, wohin Lehmann unverwandt starrte, sprang sie auf und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige mit ihrer kleinen, schwarzen Lederhandtasche. Ein Raunen ging durch das Publikum, der Dirigent wandte den Kopf mit verstörtem Blick.

„Schauen Sie mich nicht so an!“, brüllte die erzürnte Göttin und zwängte sich aus ihrer Sitzreihe heraus. Kaum hatte sie das geschafft, bückte sie sich, ergriff ihren hochhackigen linken Pumps wie eine Schlachtaxt und schleuderte ihn dem verdutzten Orchesterleiter mit voller Wucht ins Gesicht. Es war ein Volltreffer. Dem Musikdirektor wurde plötzlich schwarz vor Augen. Eine Reihe goldener, ausgestanzter Weihnachtssterne drehten sich in dieser Finsternis kurzzeitig vor seinem geistigen Auge im Kreise und dann wurde es Nacht. Der Obermusiker plumpste wie ein prall gefüllter Kartoffelsack kopfüber in Richtung erste Geigen, wo er krachend auf seiner japanischen Konzertmeisterin zu liegen kam. Pling, schnarrte deren Violine und die Seelen mehrerer tausend Euro machten sich auf die Reise in das wunderbare Nirwana des Mammons. Die letzten Instrumente, die bisher tapfer den Anschein einer geordneten Wagneraufführung aufrecht erhalten hatte wollen, brachen jämmerlich mitten im Ton ab. Auf der Bühne glotzte das Sängerpärchen verdutzt in das große, schwarze Loch, aus dem jetzt ein kleiner Gegenstand herangepfiffen kam und den Wotan-Darsteller an der Schulter traf. Es war Freyas rechter Schuh. Wenig später hatte die aufgebrachte Blondine die Bühne erklettert und wäre fast in den Orchestergraben gestürzt, wo eine weinende Japanerin die Reste ihres italienischen Streichinstrumentes wie ein Baby im Arm hielt. Bei den beiden Bühnensolisten angelangt rief Freya: „Ihr jammervollen Gestalten wollt doch nicht die obersten Götter vorstellen?“

Die beiden Gesangssolisten hatten schon eine längere Bühnenlaufbahn in der Provinz hinter sich, in deren Verlauf sie einigen unbegreiflichen Situationen ausgesetzt waren, allerdings konnten sie sich an keinen vergleichbaren Vorfall in ihrer Karriere erinnern. Völlig verunsichert wussten sie nicht, ob die Dame im schwarzen Minikleid eine wirkliche Konversation führen wollte oder die Frage rein rhetorischer Natur war. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war eine schmetternde Breitseite mit der Handtasche der aufgeregten Besucherin, die den verdutzten Wotan voll auf die Nase traf. Letztere rettete sich vor weiteren Angriffen durch sofortiges, heftiges Bluten. Und wirklich schien das, aus dem Riecher des Sängers schießende Blut, Freyas Angriffslust abrupt zu bremsen.

„Und du willst meine Schwester Fricka sein?“, höhnte sie bedrohlich laut schnaubend. Die Fricka-Darstellerin war vor Entsetzen erstarrt und wimmerte leise vor sich hin: „Tun Sie mir nichts, um Gottes willen, tun Sie mir nichts.“

„Und um wessen Willen?“, wollte Freya wissen. Die Fricka-Frau glotzte sie verständnislos an. Mit weit geöffnetem Mund hörte sie aus der Gasse den verzweifelten Inspizienten kreischen: „Vorhang, Technik, Vorhang!“

Freya wurde sich langsam ihrer Situation bewusst und es tröpfelte die Erkenntnis in ihren Verstand, dass sie gerade einen großen Fehler beging. Sie schaute sich verwirrt auf der Bühne um. Was hatte sie geritten und wie kam sie hierher? Da erblickte sie plötzlich am Kostüm Wotans ein Detail, das ihr bisher nicht ins Auge gefallen war. Sie fürchtete ernsthaft um ihren Verstand. Dort hing im Gürtel des schmerbäuchigen Götterdarstellers nichts anderes als Mjöllnir. Es war nicht zu fassen, Thors furcht- und segenspendender Hammer baumelte von dieser Witzfigur herab, die sich immer noch laut jammernd die Nase hielt. Freya schrie schrill auf: „Wie kommst du zu Thors Hammer, du ekle Missgeburt?“

Sie schickte sich an, das blutverschmierte Gesicht des Sängers mit Kratzspuren ihrer frisch manikürten Fingernägel zu versehen. Seine Kollegin knickte theatralisch in die Knie und ließ sich sachte in eine rettende Ohnmacht gleiten.

Freya zerrte den Hammer aus dem Gürtel.

Der Vorhang fiel.

Sabrina staunte.

Lehmann rieb sich die Wange.

Horst Kindler filmte.

Enrico drückte auf den Auslöser.

Der Dirigent träumte von der Mailänder Scala.

Die japanische Geigerin verwünschte Europa.

Der Inspizient plumpste auf seinen Stuhl.

Das Publikum klatschte.

Erst verhalten, dann immer stürmischer.

Götterhämmerung & Walkürentritt

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