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Einleitung: Ost--erweiterung

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In den Zügen des Ostens ist es viel günstiger, ein bisschen langsamer, aber auch nicht unpünktlicher als in denen der Deutschen Bahn.

Früher war Osteuropa weit weg. Hinter Frankfurt/Oder war alles „bäh!“ und löste diffus bedrohliche Vorstellungen aus. Polen! Pooolen? War das Land, in das sich die Autoschieber mit ihren Nutten über die A2 flüchteten. Um auf der Rückreise Zigaretten zu schmuggeln, die sie dann im wachsenden Bekanntenkreis vertickt haben. Das war Polen, Polenbanden, Klaupolen, Polenwitze wie dieser: Wie geht ein polnischer Triathlon? Zu Fuß zum Schwimmbad – und mit dem Fahrrad zurück! Das Freibad meiner Jugend trug auch deshalb den Beinamen „Danziger Bucht“.

Und dann sind da noch die vagen Erinnerungen an Champions-League-Spiele bei Wuuutsch Lodsch oder Widzew Łódź, Kloppereien bei Auswärtsspielen der deutschen Nationalmannschaft im ramponierten Stadion von Zabsch…, Zabrze, wenn auch mit gehöriger Beteiligung eigener Problemfans, für die das hier ein Abenteuerspielplatz war. Im Osten gab’s immer nur Ärger. Und Reisestrapazen, wenn es noch weiter ging, in die Ukraine oder gar nach Russland. Zu Dnjepr Dnjepropetrowsk oder Spartak Moskau. Dorthin musste immer der Koch vorgeschickt werden, mit vakuumverpackten Lebensmitteln.

Aber auf einmal kam der Osten näher, vor allem durch die Erweiterung der Europäischen Union. Selbst die Ukraine hat seit der Orangenen Revolution ein Gesicht, dazu passten auch die orangefarbenen Trikots von UEFA-Cup-Gewinner Schachtar Donezk. Die standen zwar eher für die Konterrevolution, aber wen interessierte das schon? Und Russland kam mit Gazprom über die Bundesliga, schloss einen Pakt mit Schalke 04 und bandelte mit Bayern München an. Mit seiner Neuauflage der sowjetischen Sportpolitik kam Russland plötzlich wieder über die ganze Welt. Die Olympischen Winterspiele 2014 wurden an Sotschi vergeben, die Fußballweltmeisterschaft 2018 an Russland. Polen und die Ukraine wurden Gastgeber einer Europameisterschaft, dem dort wichtigsten gesellschaftlichen Ereignis seit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Die beiden großen internationalen Fußballverbände, die UEFA, der europäische, und der Weltverband FIFA, öffneten mit ihren weitreichenden Entscheidungen einen gigantischen Markt, der von der deutsch-polnischen Grenze aus bis nach Wladiwostok, runter in die Krisenregion des Kaukasus und bis zur chinesischen Grenze reicht. Als Nächstes werden nun China selbst und Indien zu umsatzstarken Fußballmärkten gemacht. Es geht um Sportartikel, milliardenschwere Fernseh- und Markenrechte, um eine professionelle Erschließung der Champions und Europa League in eine Richtung, die vielen lange Zeit als nicht beachtenswert galt. Es geht um sehr viel Geld. Denn Fußball ist eine Konsumware, die jeder haben möchte, der in Europa mitmachen will. Längst wird die Hymne, die sich zu den Spielen der Champions League über Fernseher und Internet verbreitet, als verbindende europäische Hymne wahrgenommen. Das soll sie wohl auch. Freude schöner Götterfußball!

Denn die UEFA ist längst ein zentraler politischer Akteur auf dem Kontinent, der dort am meisten Macht hat, wo er eine greifbare Organisationsform für seine Mitglieder ist, die ansonsten in der Europäischen Union außen vor stehen. Wie in der Ukraine, wo UEFA-Präsident Michel Platini als eine Art europäischer Superstaatschef verstanden wird. Sein Verband wird dort in etwa so eingereiht: EU, UEFA, NATO. Und die prominenten Spieler aus den großen Ligen, wie beispielsweise Ronaldo, Messi, Rooney, sind europäische Identifikationsfiguren, selbst wenn sie aus Südamerika kommen. Die Champions League hat in vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas längst die starke Anziehungskraft übernommen, die in früheren Zeiten von der US-amerikanischen Popkultur ausgegangen ist. Ronaldo hat Michael Jackson, Madonna und Sylvester Stallone verdrängt. Auch der junge Traceur, der auf dem Theatervorplatz im ostukrainischen Charkow akrobatisch über die Betonklippen der sowjetischen Architektur springt, lebt keine amerikanische Straßenkultur nach: Er steckt in einem stylischen ausgehfähigen Trainingsanzug aus dem fränkischen Herzogenaurach und bewegt sich in der aus Paris stammenden Sportart Parkour. Europa gilt hier als sexy.

Andersherum sollte der Osten nun auch über den Sport in die Wohnzimmer des Westens gelangen. Polen war uns ja schon näher gekommen. Die Grenzkontrollen waren weggefallen, das Land erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung und die Autoschieber hatten sich zu selbstständigen Handwerkern fortgebildet. Ihre Frauen zu Pflegekräften oder Zahnärztinnen. Die A2 ging bald bis nach Warschau, mit Mc Donald’s und sich selbst reinigenden Toiletten am Fahrbahnrand, Ikea und Media-Markt hinter den Ausfahrten. Aber wie hat sich der Fußball abseits der neuen polnischen Autobahnen in diesen Jahren entwickelt? Was ist mit all den verkauften Spielen, der korrupten Liga, mit den gewaltbereiten Hooligans, mit Rassismus und Antisemitismus in den Stadien? Warum stecken ukrainische Oligarchen auf einmal so viel Geld in Fußballklubs? Und wieso heißt es beim russischen Verband, dass „Fußball Teil unserer Außenpolitik“ ist? Welche Ziele verfolgt der Kreml, wenn sich sein halbstaatlicher größter Erdgaskonzern der Welt, Gazprom, im Fußball einkauft? Und das nicht nur in Russland.

Ich bin in den vergangenen Jahren dem Fußball in Osteuropa hinterhergereist. Zunächst privat, wie Tausende anderer europäischer Fußballliebhaber auch. Nicht nur in Polen, der Ukraine und in Russland, auch in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Weißrussland und im Baltikum. Dann aber auch als Journalist, weil auf einmal ein Interesse am Fußball aus dieser Region aufkam. Vor allem in den drei hintereinanderliegenden größten Ländern Osteuropas wurden durch die Entscheidungen von UEFA und FIFA tiefgreifende Veränderungen ausgelöst, die den europäischen Fußball insgesamt verändern werden. Dieses Buch vermittelt einen Eindruck davon, in welche Richtung das geht.

In Polen verstärken die Veränderungen im Fußball die anhaltende Europäisierung und Demokratisierung einer dynamischen Gesellschaft. Denn der Fußball galt dort als letzte Bastion der ehemaligen sozialistischen Volksrepublik, durchdrungen von alten Seilschaften, Korruption, Vetternwirtschaft, Alkoholismus und Dilettantismus. Das ändert sich allmählich. In der Ukraine wirkt der Fußball ebenfalls als Verstärker – er manifestiert die herrschenden Verhältnisse. Dient als Machtmittel der Oligarchen, die das Land als ihre Privatangelegenheit behandeln und ausbeuten. Die großen Klubs Dynamo Kiew, Metallist Charkow, Dnjepr Dnjepropetrowsk, vor allem aber Schachtar Donezk sind reale Machtzentren. Unter ihren Wappen versammeln sich Politiker und Oligarchen zu privat geführten Clans, die den Staat korrumpieren und aushöhlen. Die Verbindung mit dem europäischen Fußball wirkt hier gleichermaßen den zarten Einflüssen einer demokratischen Kultur entgegen. Und Russland missbraucht den Fußball, wie den gesamten Sport, zu seiner weiteren Großmachtwerdung. Interessanterweise läuft die Professionalisierung des Spitzenfußballs genau in die gegenläufige Richtung. Am stärksten in Russland, danach in der Ukraine, aber schließlich auch in Polen. Stadien, Trainingsanlagen, das ganze sportliche Niveau ist in Russland längst mit West-Europa zu vergleichen, die Ausstattung der Klubs ist oftmals noch besser. Ebenso bei den Top-Klubs in der Ukraine – in Polen wurde erst ein Anfang zur Professionalisierung der Liga gemacht, als Teil der fortschreitenden Europäisierung dieses Landes. Aber vor allem Russland ist für ausländische Fußballer äußerst lukrativ: Transfersummen und Handgeld sind überdurchschnittlich hoch, Spielergehälter enorm und steuerfrei, das Leben luxuriös, die Liga stark und längst wettbewerbsfähig mit den großen Fußballnationen. Aber das Leistungsgefälle in Osteuropa steht dem Demokratiegefälle diametral entgegen: Der autoritäre Staat in Russland und die ukrainische Oligarchie treiben die sportlichen Leistungen an, weil sie dem Machterhalt der Eliten nutzen. Die Spieler werden als Leistungsdarsteller dieser Systeme instrumentalisiert. Damit muss jeder Fußballer leben, der sich für einen Wechsel zu Schachtar Donezk oder Rubin Kasan entscheidet.

Ich habe in den vergangenen Jahren für verschiedene Redaktionen Stadien in allen drei Ländern besucht, habe mit polnischen Hooligans gesprochen, mit korrupten Fußballtrainern, mit rechtsradikalen Ultras in der Ukraine und in Russland, mit schwerreichen Oligarchen, mit fürstlich bezahlten Fußballprofis, mit Funktionären und Politikern des Kremls. Dabei bin ich immer wieder durch jenen Teil Europas gereist, den sich nun auch viele andere über den Fußball erschließen. Tage, Nächte, Wochen, war ich mit Zügen unterwegs, die den dortigen Lebensrhythmus aufnehmen, bin Zehntausende Kilometer mit dem Auto abgefahren, bin geflogen und gelaufen, immer wieder durch das Tor zum Osten.

Olaf Sundermeyer

Berlin, im Winter 2012

Tor zum Osten

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