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Der sinkenden Sonne nach II

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Wie jämmerlich und zwergenhaft sich der Trupp ausnahm, als er durch die endlose Einöde am Himmelsrand entlang kroch! Keine Spuren von Weg oder Steg. Und hatte sich das Gras erst wieder aufgerichtet, so vermochte niemand mehr zu sagen, woher das Häuflein Menschen gekommen oder wohin es gegangen war. Der Per Hansen mit Weib und Kindern, mit Wagen und Kuh und allem, was sein war, hätte soeben vom Himmel herabgefallen sein können. Jedenfalls schien er jetzt vorzuhaben, in den Himmel hineinzuwandern; denn der Kurs blieb stets der nämliche: geradeaus auf den westlichen Himmelsrand zu.

Einsam karrte sich der Zug weiter in die blaugrüne Unendlichkeit hinein, — immer tiefer hinein, und abermals tiefer hinein.

Und es ging der sinkenden Sonne nach.

Jetzt waren sie schon über drei Wochen unterwegs. Sie hatten Blue Earth durchfahren, Chain Lakes hinter sich gelassen, waren eines Tages in Jackson am Demoines River eingezogen. Menschenalter schienen seither verstrichen. — Von dort war es weiter gegangen nach Westen, bis nach Worthington; darauf an den Rock River. Und dann hatte der Per Hansen westlich vom Rock River plötzlich die Spur verloren. War auch später nicht wieder auf sie gestoßen.

Und wußte jetzt nicht, wo er sich eigentlich befand. Aber er hatte es gewissermaßen im Gefühl, daß Split Rock Creek Creek = Bach. hier so irgendwo herum lag, in der Westsonne. Und kam er überhaupt einmal an den, dann war er auch der Mann, sich weiter zurechtzufinden! — War nur so merkwürdig, daß er nicht schon längst beim Split Rock Creek war? Hätte eigentlich schon seit etwa drei Tagen dort sein müssen. Und immer noch nicht die leiseste Andeutung!

Die Wagen knirschten und krachten. Per Hansens Augen suchten und suchten; das bärtige Antlitz wandte sich von Südwest nach Nordost und wieder nach Südwest. Zwischendurch suchte er die Ebene ab von sich bis zum Himmelsrand. Dann wieder schnupperte er, etwa wie ein Tier, das Witterung sucht. Unablässig guckte er auf die alte Silberuhr in seiner Linken, ließ den Blick spähend über den halben Horizont gleiten.

Die Uhr ging jetzt schon auf sechs; seit drei Uhr heute nachmittag war er des Kurses wieder sicher gewesen; denn da hatte er mit Hilfe von Uhr und Sonne Peilung genommen. — Ja, hier hieß es, unbekümmert die Zeit ausnutzen.

So wanderten sie schweigend vorwärts. —

Endlich sagte er zu dem Buben hinter ihm, ohne aber seinen Schritt zu mäßigen:

»Treib du jetzt eine Weile die Ochsen an, du Ola; und schwätz dabei ein wenig mit der Mutter, daß ihr die Zeit nicht so lang wird. — Und halt derweile Ausguck, so gut du kannst.«

»Ich bin aber noch gar nicht müd!« zauderte der Bub.

»Geh du nur! Ich spür‘s doch auch; wollen uns bald ein Mus kochen. Mußt aber noch eine Weile aufs Abendrot zusteuern.«

»Glaubst du, wir erreichen die anderen heut abend?« Der Bub zögerte noch immer.

»Aber nein! Bist nicht gescheit! Die sind weit voraus. — Schau gut um dich, und entdeckst du Verdächtiges, so rufe.«

Der Per Hansen sah wieder auf die Uhr und schritt unverdrossen weiter. Der Ole sträubte sich nicht mehr, trat neben die Fährte und wartete auf den nachfolgenden Wagenzug. Der Große-Hans sprang schnell herunter, und der andere kletterte hinauf.

»Habt ihr etwas von ihnen entdeckt?« fragte die Mutter.

»O nein — vorläufig noch nicht,« sagte der Olamann leichthin.

»Kriegen wir sie überhaupt je wieder zu Gesicht, dann mag es auch noch eine Weile währen!« sagte sie vor sich hin. »Hier geht‘s gewiß bis ans Ende der Welt und noch ein Stück weiter!«

Der Große-Hans, der noch neben dem Wagen herlief, hörte es und sah auf; kindliche Unerschrockenheit strahlte von dem braunen Gesicht, — wie konnte die Mutter nur alles so trüb ansehen! »Aber wenn die und wir immer der Sonne nachfahren, dann müssen wir ja doch am selben Orte landen? — Die Sonne, die hält Kurs!«

Das hatte er gestern abend den Vater sagen hören. Er fand das so sonnenklar, erstens, weil der Vater es gesagt, zweitens, weil es sich so selbstverständlich und richtig anhörte. — Aber jetzt lief er zum Vater vor und faßte dessen Hand; so fühlte er sich am besten geborgen.

Die beiden wanderten nebeneinander her; bisweilen lugte der Bub verstohlen in das Gesicht über ihm, das so ernst und unerschütterlich war wie die Prärie selber. Er hätte eigentlich gern ein wenig geplaudert, aber es fiel ihm nichts ein, was sich männlich genug ausgenommen hätte. — Allmählich aber schien ihm das Schweigen doch gar zu lang zu werden; er versuchte so ganz nebenher und möglichst wie der Vater, ein paar Wörter fallen zu lassen:

»Wenn ich erst groß bin und Pferde habe, dann baue ich einen Weg über dies ewige Flachland hier, und dann — und dann ramme ich Pfähle ein, nach denen sich die Leut richten können. — Glaubst du wohl, daß das geht?«

Ein Lächeln blinkte in dem Bart: »Aber gewiß, Großer-Hans, das bringst du alleweil fertig. — Vielleicht, daß ich dann auch die Zeit hab, dir ein paar Arbeitsschichten dabei zu helfen!«

Der Bub merkte am Tonfall, daß der Vater gut aufgelegt war, und das stimmte ihn so fröhlich, daß er sich vergaß und tat, was die Mutter nicht leiden konnte: er fing an zu pfeifen, und er versuchte ebenso große Schritte zu nehmen wie der Vater. Aber bei ihm sagte das Gras bloß: »Swisch-ih, swisch-ih!«

Und weiter ging es nach Westen — tiefer hinein ins Abendrot.

Die Mutter hatte Klein-Annemarie auf den Schoß genommen und lehnte sich zurück; das tat dem müden Rücken wohl. Das Spielen und Kosen und Plaudern des Kindes ließen sie Sorge und Furcht vergessen — und die Unendlichkeit, die sie von allen Seiten umdrohte. — Der Ole neben ihr lenkte die Ochsen wie ein Großer; und woran es auch liegen mochte: er brachte den Ochsenbeinen mehr Beweglichkeit bei als sie — das sah sie selber; seine geschwinden Augen ließen nichts in der Nähe oder Ferne unbeachtet.

Die große Ebene stieg jetzt am Horizont an; es glich eigentlich einer Schwellung unter der Haut. Der Per Hansen hielt scharf auf den höchsten Punkt zu, obgleich es ein wenig vom Kurse abwich.

Die Nachmittagsbrise flaute ab. Die Sonne verlor unmerklich ihren Goldglanz, bekam ein rotes Licht, das seltsam und matt erglänzte und doch noch viel Macht besaß, — verglomm dann in Rotviolett. Sie wuchs zu gewaltiger Größe an, sank der Ebene näher und näher, sank mit eins fröstelnd geschwinde. — Die Erhabenheit des Abends nahm sie alle gefangen; die Ochsen schüttelten die Ohren, Buntscheck machte sich Luft in einem langgedehnten Brüllen, das in der Stille zähe dahinstarb. Gerade als die Sonne ihr Auge schloß, wuchs die gewaltige Einöde empor. Es wurde plötzlich so öde über der Landschaft; etwas Kaltes, Erloschenes verwebte sich mit der Stille. Hinter ihnen lag jetzt tief grüne Widde Die Bezeichnung für die weite öde norwegische Hochebene, hier von den norwegischen Fischerwirten auf die Prärie angewandt. mit schwarzblauem Dunkel darüber. — — — Dicht über der Höhe in Nordwest schwebten leichte Gutwetterwolken; sie hatten sich mit blankgeputzte Goldkanten geschmückt, die milde leuchteten. Die Wolken schwebten so leicht dahin, als wären sie ohne Schwere.

Die Mutter saß wieder aufrecht; das Kind hielt sie noch immer auf dem Schoß. Per Hansen und der Große-Hans schritten weit voran durch den Abend.

Während der beiden letzten Tage war der Per immer gar so weit vorausgegangen, und sie meinte zu wissen weshalb.

»Per,« rief sie müde, »rüsten wir nicht bald zur Nacht?«

»O gewiß.« Er ging jedoch keineswegs langsamer.

Die Mutter weinte jetzt leise. Der Olamann tat, als merke er nichts, obwohl er große Klumpen im Halse hinabwürgen mußte; er spähte unermüdlich umher.

»Vater!« rief er nach einer Weile, »ich sehe im Westen Wald!«

»Ho, wirklich, du Gernegroß? Den haben der Große-Hans und ich schon lange gesehen!«

»Wo ist er, wo?« fragte der Große-Hans eifrig.

»Da unten links am Höhenzug fängt er an und zieht sich nach hinten herum. — Sieht übrigens nicht gerad nach viel was aus.«

»Glaubst du, Vater, daß sie dort sind?«

»Aber nein! — Doch haben wir die Richtung.«

»Sind die anderen hier gewesen?«

»Freilich, — jedenfalls nicht weit ab. — Ein Bach soll da sein, der so etwas wie Split Rock Creek heißt, oder wie‘s der Kuckuck auf Englisch nennen mag.«

»Wohnen hier Menschen, glaubst du?«

»Menschen? Bist nicht gescheit, Bub! In diesen Gegenden gibt‘s überhaupt keine Menschen!«

Die blaudunkle Finsternis legte sich jetzt schnell und dicht um die kleine Schar; man konnte die Nacht kommen fühlen; sie atmete Kühle aus.

Endlich blieb Per Hansen stehen: »Nein, jetzt aber stopp; am Ende krepieren wir sonst noch mitsamt den Tieren.« Damit wandte er sich nach den Ochsen um, streckte die Arme seitwärts wie Querbalken an einem Kreuz, rief ein langgezogenes »Ho-o!« — und damit hatte das Karren für diesen Tag ein Ende.

Das Schweigen der Prärie

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