Читать книгу Tod und Schatten - Ole R. Börgdahl - Страница 4

Samstag

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»Hallo, bist du noch dran, Mia? Hallo?«

Es blieb einige Sekunden stumm. Marek hielt sich das Telefon dichter ans Ohr. Er hörte Schritte und dann wie eine Tasse oder ein Becher neben dem Telefon abgestellt wurden.

Mia schluckte herunter. »Entschuldige«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich habe mir meinen Kaffee aus der Küche geholt, bevor er ganz kalt wird.«

»Du trinkst jetzt noch Kaffee?«, fragte Marek und sein Ton klang beinahe vorwurfsvoll.

»Ja, das tue ich«, entgegnete sie energisch und kam gleich wieder auf das Thema zurück, über das sie noch vor zwei Minuten gesprochen hatten. »Und du weißt genau, dass die Stelle bei dir in Berlin eine höhere Eingruppierung hat?«

»Auf jeden Fall. Was hast du jetzt an der Hochschule, Entgeltgruppe 7? Die Stelle beim LKA hat die Eingruppierung 8 oder sogar 9a.«

Mia überlegte. »Die Frage ist nur, ob sie mich nehmen.«

Marek hörte, wie sie noch einen Schluck Kaffee trank. »Verwaltung ist Verwaltung«, sagte er. »Du hast natürlich einen anderen Verantwortungsbereich. Da gibt es schon Unterschiede, ob man beim Landeskriminalamt oder bei einer Schule arbeitet.«

»Mehr Verantwortung?«, wiederholte Mia.

»Nicht so wie du denkst. Die Aufgaben sind hoheitlicher. Die Arbeit ist nicht schwieriger, nur wichtiger«, versuchte Marek zu erklären.

»Ich weiß nicht, dass macht mir immer etwas Angst. Ich habe es ja eigentlich gut, da wo ich bin.«

»Wie oft hast du dich über deinen Chef beschwert«, warf Marek ein. »Und immer dieser Kleinkram. Klausurnoten in Tabellen eintragen, Formulare ausfüllen, nur damit immer genug Kreide in den Klassenzimmern bereitliegt.«

»Ich habe noch nie Kreide bestellt. Außerdem geht er doch nächstes Jahr in Rente.«

»Wer?«, fragte Marek.

»Na der Alte.«

»Siehst du, da haben wir es doch, der Alte. Und über deine Kolleginnen hast du doch auch immer so oft geflucht und außerdem ...«

»Und was außerdem?« Jetzt wurde es Mia wieder bewusst, warum Marek sie angerufen hatte.

Marek stutzte. Er überlegte, um die richtigen Worte zu finden, aber er fand sie nicht. Er räusperte sich. »Schau mal, ich bin seit einem halben Jahr wieder in Berlin. Wir hatten doch gar nicht ...«

»Doch, das hatten wir«, unterbrach Mia ihn, »und du weißt genau, dass das nicht an Berlin liegt und daran, dass ich in Münster geblieben bin.«

»So habe ich das doch nicht gemeint«, beschwichtigte Marek. »Ich dachte nur, wenn wir ... du musst schon verstehen, dass ich nicht jedes Wochenende nach Münster fahren konnte. Ich muss manchmal auch samstags und sonntags arbeiten, in Bereitschaft sein, so ist der Job eben.«

»Marek! Hallo! Versuchst du dich jetzt zu rechtfertigen? Das brauchst du nicht.« Mia machte eine Pause, holte bedächtig Luft. »Wir sind nicht mehr zusammen, hörst du. Wir waren uns doch einig. Natürlich würde mich Berlin reizen, aber du darfst doch nicht glauben, dass ich deinetwegen nach Berlin komme, wenn ich es überhaupt mache, das mit der Stelle, meine ich. Natürlich ist es schön, dass du dort bist, aber doch auf eine andere Art.«

»Entschuldige Mia, ich wollte nicht ... Ich weiß das ja auch alles. Es ist nur ... Wir hätten das damals anders machen sollen. Ich wusste doch, dass ich nur ein Jahr in Münster sein würde. Ich hätte mir dort etwas suchen müssen. Oder in München. Du weißt doch noch, dass die mich damals in München haben wollten, auch ohne Master. Und du wärst näher bei deiner Mutter gewesen.«

»Ja Marek, das weiß ich«, sagte Mia jetzt ernst, »aber auch München hätte nichts geändert. Wir hatten schöne Monate, aber jetzt ist es Vergangenheit. Es ist aus und das ist eben so, das passiert, es hat halt nicht mehr gepasst. Das hast du doch auch verstanden.«

»Aber mal ganz unabhängig davon, der Job beim LKA würde dich schon interessieren, oder was meinst du?« Marek versuchte das Gespräch jetzt wieder in eine andere Richtung zu lenken.

»Vielleicht«, antwortet Mia zögerlich. Sie holte noch einmal tief Luft. »Schau mal Marek, es ist doch schon nach neun. Wir haben Samstagabend. Ich werde gleich abgeholt. Hast du denn nichts mehr vor, heute Abend? Ich überlege es mir. Entgeltgruppe 9a sagtest du, das klingt doch nicht schlecht. Ich überlege es mir wirklich.«

»Das ist gut«, sagte Marek sofort. »So machst du es. Es ist deine Entscheidung und du hast recht, es hat nichts mit mir zu tun. Ich würde mich nur freuen, wenn du ... aber das ist jetzt ganz egal. Ich lege auf. Soll ich jetzt auflegen?«

»Ja!«

»Dann lege ich jetzt auf, Mia.«

»Ja, bitte, Marek, ich werde gleich abgeholt.«

»Dann wünsche ich dir einen schönen Abend.«

Mia seufzte. »Unternimmst du nichts mehr?«

»Doch, doch«, erwiderte Marek wenig überzeugend.

»Dann leg doch jetzt auf, bitte.«

»Mia?«

»Ja?«

»Ich lege jetzt auf.«

Marek drückte die Taste, starrte aber noch einige Sekunden auf das Smartphone. Er stellte den Fernseher wieder auf laut. Der Naturfilm über die Küsten Grönlands lag in den letzten Zügen. Er zappte in den Programmen zurück. In einer amerikanischen Krimiserie wurden die Bösen gerade von einer Meute Polizeiwagen verfolgt. Beim nächsten Klick erschien ein Stand-Up-Comedian, der das Publikum mit seinen Pointen belustigte. Auf dem Ersten schließlich lief eine der Samstag-Abend-Unterhaltungs-Shows. Das Frühlings-Sommer-Herbst-Fest der Volksmusik oder so ähnlich. Marek drückte schnell hintereinander zwei Programmtasten. Eine Casting-Show, in dem sich ein Nerd gerade vor der gestylten Jury und dem deutschen Fernsehpublikum blamierte. Es war zumindest so amüsant, dass Marek einige Minuten auf dem Kanal blieb und auch nicht umschaltete, als die Werbung begann. Ein Kaugummi, das das Zähneputzen ersetzen sollte. Marek prüfte instinktiv seinen eigenen Atem, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Es folgte eine Bierwerbung. Es sah einladend aus, aber Marek wusste, dass er kein Bier im Hause hatte, nicht im Keller und schon gar nicht im Kühlschrank.

Er dachte an Kaffee. Mia trank abends nur Kaffee, wenn sie glaubte, dass es eine lange Nacht werden würde. Disco, Geburtstag einer guten Freundin, Konzert oder irgendeine andere Feier. Marek starrte noch einmal auf sein Smartphone. Ein, zwei Sekunden, dann zuckte er zusammen. Es klingelte. Hatte seine Beschwörung funktioniert? War doch niemand gekommen, um Mia für den Samstagabend abzuholen? Hatte sie es sich anders überlegt? Marek zögerte, wollte den Moment, wollte die Gedanken nicht zerstören. Dann griff er zu. Der erste Blick auf die angezeigte Telefonnummer war keine wirkliche Enttäuschung. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich noch einmal zurückrufen würde, nicht am Samstagabend, nicht, wenn sie eine Verabredung hatte. Marek nahm das Gespräch an.

»Kriminalkommissar Quint«, meldete er sich vorschriftsmäßig.

*

Auf dem Weg nach Friedenau musste Kriminalkommissar Marek Quint tanken. Dann benötigte er immer noch gut eine halbe Stunde von Frohnau zum Friedrich-Wilhelm-Platz. Er fuhr zweimal an der neogotischen Kirche vorbei, bis er die richtige Straße fand. Einer der beiden Streifenwagen vor dem Gebäude hatte das Blaulicht eingeschaltet gelassen. Marek Quint parkte neben einem dunkelgrünen Mercedes Sprinter des Tatorterkennungsdienstes. Auf dem Bürgersteig stand zudem noch ein weißer Hyundai H-1 der Charité Mitte. Die Gerichtsmedizin war also auch schneller vor Ort, als der Ermittler des Berliner Landeskriminalamtes. Marek Quint stieg aus, hob das rotweiße Absperrband an und betrachtete sich die beiden Eingänge. Neben einem großen Schaufenster führte eine Glastür direkt in das Ladenlokal. Die Leuchtreklame darüber war in gelb gehalten, passend zum Namen des Geschäftes. Sonnenklar Reisen. So simpel wie vielsagend. Das Schaufenster und die Eingangstür waren aber verhangen. An einigen Stellen am Rand der dunklen Tücher bahnte sich das gleißende Licht von Halogenstrahlern den Weg auf die Straße. Mareks Schatten wurde gegen den geschlossenen Kasten des Hyundais geworfen.

Er versuchte gar nicht erst, die Ladentür zu öffnen, sondern wandte sich gleich ein paar Meter weiter dem Hauseingang zu. Das große Klingelschild verwies im ersten Stock auf eine Anwaltskanzlei. Stolle & Partner, Rechtsanwalt. Über dem Messingschild mit schwarz eingelassener Schrift, war ein weiterer, eher schmuckloser Klingelknopf montiert. Marek musste sich vorbeugen, um den Namen hinter der verkratzen Plastikabdeckung lesen zu können, aber es gab nichts zu lesen. Wenn es jemals einen Namen gegeben hatte, war dieser in dem blauen Rand der durchsichtigen Abdeckung verlaufen. Er holte sein Notizbuch hervor, um wenigstens den Namen der Kanzlei zu notieren. Er musste kurz überlegen, wie die Straße hieß, in der er sich befand. Lediglich die Hausnummer hatte er im Kopf behalten. Nach einem letzten Versuch, doch noch die ehemals blaue Schrift des schäbigen Klingelknopfes zu entziffern, drückte er die Türklinke und trat in einen langen Flur, an dessen Ende ein Streifenpolizist auf ihn aufmerksam wurde. Dann wurde unmittelbar neben dem Mann eine Tür geöffnet. Der Beamte stand kurz im hellen Licht, bis sich ein grober Schatten in den Flur schob.

»Da prescht die Einheit Kowalski wieder vor«, donnerte es leicht gedämpft durch den Hausflur.

Kriminalhauptkommissar Ulrich Roose zog sich den Mundschutz unters Kinn, ging durch den Flur und trieb Marek durch die Eingangstür zurück auf die Straße. Draußen ging Roose voran und zum Fahrzeug des Tatorterkennungsdienstes. Er öffnete die große Schiebetür und stieg in den dunkelgrünen Transporter ein. Ein paar Handgriffe und er reichte Marek einen Overall, Einmalgamaschen, Mundschutz, einen Satz Latexhandschuhe und sogar eine kleine Taschenlampe.

»Die Klamotten aber bitte erst im Haus anziehen«, wies Ulrich Roose an.

Marek nickte. »Weiß ich doch.«

Ulrich Roose schaute ihn kommentarlos an, sprang dann aus dem Transporter und ließ die Schiebetür mit einem Dröhnen ins Schloss fallen. Mit leicht gesenktem Kopf folgte Marek dem breiten Kreuz des Kriminalhauptkommissars. Im Flur hatte sich der Streifenpolizist nicht vom Fleck gerührt. Er öffnete schon einmal die Tür, die ins Reisebüro führte. Marek blieb hinter Ulrich Roose stehen, zog sich den Overall, die Gamaschen und zuletzt die Handschuhe über. Die kleine Taschenlampe und den Mundschutz hatte er auf den Boden gelegt, nahm die Sachen jetzt wieder auf und steckte sie in eine Tasche des Overalls. Ulrich Roose drehte sich um und kontrollierte an seinem Gegenüber den Sitz der Schutzkleidung. Er deutete auf den Kopf.

»Die Kapuze nicht vergessen, und wenn Sie drin sind, bitte auch den Mundschutz vor. Wo haben Sie den Mundschutz?«

Marek tippte auf die Tasche des Overalls und machte sich dann an der Kapuze zu schaffen. »Können Sie mich kurz briefen?«, bat er, während er auch den Kragen des Schutzanzuges bis ans Kinn schloss.

»Briefen?«, wiederholte Ulrich Roose.

»Ja, was erwartet mich hier?«

»Eine Leiche.«

»Das weiß ich ja bereits«, erwiderte Marek. »Was weiß ich noch nicht?«

Ulrich Roose zupfte an seinem Mundschutz, der noch über seinem Kinn hing. »Die Kollegen waren gegen 21:00 Uhr vor Ort. Ein Passant hatte Licht im Schaufenster des Reisebüros gesehen. Lichtkegel wie von Taschenlampen. Der Spaziergänger hat an einen Einbruch gedacht und die Polizei gerufen.«

»Wurden die Täter noch angetroffen?«

»Nein, niemand. Die Streife wollte auch schon wieder abziehen, weil in dem Reisebüro keinerlei Aktivitäten mehr zu sehen waren und nichts auf einen Einbruch hindeutete. Unser aufmerksamer Bürger hat aber darauf bestanden, dass er etwas gesehen habe. Die Kollegen sind dem dann doch nachgegangen. Die Eingangstür in den Hausflur war nicht verschlossen, genauso wie die Tür hier. Das war ja schon einmal verdächtig, haben sich die Kollegen gedacht. Womit sie nicht gerechnet haben, war der Leichenfund.«

»Wann waren Sie und Ihre Leute vor Ort?«

Ulrich Roose überlegte. »Gegen 21:30 Uhr. Meine Leute haben das aber genau protokolliert. Auf dem Weg hierher habe ich selbst noch einmal versucht Sie zu erreichen, nachdem mir die Zentrale gesagt hat, dass beim KK Marek Quint von der Einheit Kowalski das Telefon ständig besetzt ist.«

Marek zuckte halbherzig mit den Schultern. »Jetzt bin ich ja da. Was haben Sie sonst noch an Fakten? Wissen Sie schon etwas über die Leiche?«

Ulrich Roose nickte. »Männlich, Schussverletzungen, soweit ich gesehen habe. Identität unbekannt.«

»Keine Papiere?«, fragte Marek.

»Wir haben zumindest noch keine gefunden.«

»Wem gehört der Laden, kann es der Besitzer sein oder ein Angestellter?«

»Tja, das dürfen Sie mich nicht fragen, Herr Kriminalkommissar. Das ist ja wohl Ihr Fachgebiet. Ich liefere nur die Spuren ab.«

Marek nickte. »Konnte denn der Zeuge den Toten nicht identifizieren?«

»Der hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Streife hat hier gleich alles abgesperrt. Die haben nur die Personalien des Mannes aufgenommen und ihn gehen lassen.«

»Verstehe.« Marek holte sein Notizbuch hervor, klappte es auf und dann gleich wieder zu. »Adresse und Name des Zeugen wurden also protokolliert. Dann zeigen Sie mir mal Ihre Leiche.«

»Mit größtem Vergnügen, Herr Kollege«, sagte Ulrich Roose und lächelte. »Hier entlang.«

Ulrich Roose trat zur Seite und gab den Blick auf den Raum frei, ließ Marek durch den Lichtspot hindurch den Tatort betreten. Die Einrichtung des Reisebüros bestand aus zwei Schreibtischen mit je einem großformatigen Monitor und ergonomisch geformten Bürostühlen davor. Hinter den Schreibtischen befand sich ein großes Regal, in dem griffbereit diverse Reiseprospekte lagen. Jeweils zwei Besucherstühle vor den beiden Schreibtischen schlossen das Ensemble ab. Marek schaute einmal in die Runde. Die freien Wände waren mit Plakaten verziert. Palmenstrände, ein Bergpanorama und der Blick auf das Heck eines Kreuzfahrtschiffes, das in den Horizont und in eine untergehende Sonne hineinfuhr. Vor dem großen Schaufenster, das jetzt mit dunkelgrauen Tüchern verhangen war, standen weitere Besucherstühle um einen kleinen Tisch gruppiert, der ebenfalls reichlich mit Prospekten ausgestattet war. Die Kollegen des Tatorterkennungsdienstes waren bereits bei der Arbeit. Zwei weiße Schutzanzüge hatten sich über den Raum verteilt, eine weitere Person hockte am Boden.

»Und da ist sie schon, unsere Leiche«, verkündete Ulrich Roose, nachdem er Mareks Blicke durch den Raum geduldig gefolgt war.

Der am Boden hockende Schutzanzug drehte sich in die Richtung, aus der gesprochen wurde. Hinter dem Mundschutz und der Kapuze konnte Marek nur ein Paar braune Augen erkennen, was ihn an seinen eigenen Mundschutz erinnerte. Er holte ihn aus der Tasche des Overalls und setzte ihn über Nase und Mund. Dann heftete sich sein Blick auf den Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Das Hemd der Leiche war aufgeknöpft, das Unterhemd nach oben geschoben. Vereinzelte Blutflecke waren auf dem weißen Stoff zu sehen. Auf der linken Brustseite war eine scharfkantige kreisrunde Wunde zu erkennen. Als Marek sich leicht nach unten bückte, sah er in Höhe der Achsel eine weitere Schussverletzung. An dieser Stelle war das zurückgezogene Oberhemd blutdurchtränkt. Marek richtete sich wieder auf, machte vorsichtig einen Schritt zur Seite und stellte sich an das Kopfende der Leiche. Die Hose des Mannes saß locker über der Hüfte, die Gürtelschnalle war geöffnet.

»Sie brauchen hier nicht wie auf Eiern zu laufen«, dröhnte Ulrich Roose. »Mit diesem Bereich sind wir schon fertig, sonst hätten wir die Frau Doktor noch nicht rangelassen.«

Marek blickte auf und sah sich um. Hinter ihm stand Ulrich Roose und neben ihm die jetzt sehr zierlich wirkende Person im Schutzanzug, die eben noch vor der Leiche gehockt hatte. Marek blickte noch einmal in die braunen Augen, die plötzlich ganz anders auf ihn wirkten. Sie nickte und deutete zur Tür. Sie gingen die wenigen Schritte, gefolgt von Ulrich Roose, der sie wieder mit seinem riesigen Körper abschirmte.

»Sander«, stellte sich die Ärztin vor, streifte ihre Latexhandschuhe ab, zog gleichzeitig ihren Mundschutz herunter und reichte Marek die Hand.

»Quint, LKA Berlin! Was haben Sie für mich?«, erwiderte Marek etwas steif und versuchte seine Überraschung einigermaßen zu verbergen.

Die Ärztin zögerte ein, zwei Sekunden, bis Marek begriff und ebenfalls seinen Mundschutz herunternahm. Sie nickte und ein kurzes Lächeln zog über ihren Mund. Ihr Gesicht war weiterhin von der Kapuze des Schutzanzuges umrahmt, so dass Marek ihre braunen Augen fixierte, als sie zu sprechen begann.

»Männliche Leiche, zwei Schussverletzungen im Torso, eine davon mit vermutlich unmittelbarer Todesfolge. Gemäß Rektaltemperatur und unter Berücksichtigung der Raumtemperatur am Leichenfundort, kann der Todeszeitpunkt derzeit auf 18:00 bis 20:00 Uhr eingrenzt werden. Nach einer ersten Leichenschau lassen sich vorläufig keine weiteren Verletzungen ausmachen.«

Schweigen. Marek nickte, er überlegte. »Wie alt schätzen Sie den Toten?« Es war die einzige Frage, die ihm einfiel. Die braunen Augen fixierten ihn, als wenn er einen Fehler gemacht hätte.

»Herr Kollege, die Frau Doktor Sander hatte gerade einmal zwanzig Minuten«, rief Ulrich Roose. »Sie müssen schon die Obduktion abwarten. Jedenfalls ist es kein natürlicher Todesfall, dass sollte Ihnen vorerst genügen.«

Dr. Kerstin Sander wandte ihren Blick von Marek ab und sah Ulrich Roose lächelnd an. »Da haben Sie recht, vor der Obduktion gebe ich immer nur ungern Prognosen ab.« Dann sah sie wieder zu Marek. »Er wird keine zwanzig mehr gewesen sein und auch noch nicht über fünfzig. Mehr kann ich leider nicht sagen.«

»Dann haben wir das ja geklärt«, ging Ulrich Roose erneut dazwischen. »Wir würden jetzt ganz gerne die Leiche loswerden, Frau Doktor Sander. Meine Leute haben noch einiges zu tun.«

Kerstin Sander nickte. »Ich warte nur noch auf den Transport zur Charité.« Sie sah noch einmal zu Marek und ging dann zurück zu dem Toten.

»Wo ist denn eigentlich ihr Kollege«, wandte sich Ulrich Roose wieder an Marek. »Kowalski hatte doch noch einen Ermittler in seiner Operativen Einheit.«

»Der kommt noch«, antwortete Marek. »Inzwischen müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«

»Das mache ich ja schon die ganze Zeit«, lachte Ulrich Roose. »Aber hier sollten Sie sich bitte in der nächsten halben Stunde nicht herumtreiben. Wir müssen noch ein bisschen Gas geben.«

»Was ist mit dem Gebäude?«, fragte Marek. »Sind noch Personen im Haus? Was ist mit der Anwaltskanzlei und ganz oben gibt es doch eine Wohnung?«

»Niemand da, aber Sie können das gerne noch einmal überprüfen«, erklärte Ulrich Roose.

»Und was ist mit dem oder den Tätern, wie können die entkommen sein?«

»Durch den Flur.« Ulrich Roose zeigte auf die Tür. »Die sind aber vermutlich nicht vorne, sondern hinten raus. Da ist ein gepflasterter Hof, von dem aus man in eine der Seitenstraßen gelangt. Den Hof haben wir schon abgesucht, allerdings ohne Spurenbefund. Das Umfeld nehmen wir uns vor, wenn wir hier fertig sind.« Ulrich Roose überlegte. »Ach ja, hätte ich fast vergessen. In der Tür zum Hof steckte von innen ein Schlüssel, der auch zu den beiden Türen passt, durch die man ins Reisebüro kommt. Vielleicht hat den jemand stecken lassen.«

»Sehr unvorsichtig«, folgerte Marek. »Und was ist mit den oberen Stockwerken? Da haben Sie noch nichts gemacht?«

»Ich habe eine Begehung im Treppenhaus gemacht«, erklärte Ulrich Roose. »Es gibt aber keinen Hinweis, dass sich der Tatort auf den ersten und zweiten Stock des Gebäudes ausdehnt.«

»Ich kann aber doch noch einmal nachsehen?«, fragte Marek zögerlich.

»Sie dürfen natürlich alles, nur im Moment nicht hier im Wege stehen«, antwortete Ulrich Roose lachend. »Falls wiedererwarten da oben doch jemand ist, erschrecken sie niemanden mit ihrem Aufzug. Eine Leiche reicht uns für heute.«

Marek nickte. Er drehte sich um und ging durch die Tür zurück in den Flur. Der Beamte, der dort immer noch wartete, trat bei Seite, als Marek den Weg Richtung Hinterhof einschlug. Als Marek durch die Hintertür trat, schaltete der Polizist sogar das Licht ein, das auch draußen brannte. Der Hof war mit Waschbetonplatten gepflastert. Direkt dahinter gab es einen Querweg, der parallel zur Häuserzeile der Straße verlief. Links und rechts vom Hof waren die Grundstücke durch mannshohe Mauern abgetrennt. Marek ging bis zum Querweg und schaute sich zu beiden Seiten um. An einem Ende zog ein Paar Scheinwerfer durch die angrenzende Seitenstraße, gefolgt von einem dunklen Kombi, der vorbeifuhr. Am anderen Ende des Querwegs blieb es dunkel.

Er ging zurück ins Gebäude. Er fand links vom Flur abgehend das Treppenhaus. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Die Treppenstufen knarrten, es war ein steiler Aufstieg, wie in einem alten Haus nicht anders zu erwarten. Der Flur im ersten Stock war großzügig, die Wände weiß gestrichen. Auch hier verkündete ein Messingschild mit eingelassener schwarzer Schrift die Sozietät Stolle & Partner. Daneben die Eingangstür. Ein Türblatt aus Mahagoni mit Messingbeschlägen. In der Mitte eine große Aussparung, eine getönte Glasscheibe, durch die der Blick auf einen Empfangstresen fiel. Innen war der Fußboden des Vorraums schwarz gefliest. Über den Fliesen und dem Empfangstresen lag eine dünne Staubschicht. Der Empfangstresen war bis auf eine zusammengefaltete Plastiktüte akkurat abgeräumt. Marek zog am Griff der Tür. Es war verschlossen. Das ins Türblatt eingelassene Sicherheitsschloss sah massiv aus und war vor allem unbeschädigt.

Er nahm die Treppe in den zweiten Stock. Auf dem letzten Stück war der Handläufer locker, hielt aber gerade noch. Die Treppenstufen wirkten abgenutzt, das Knarren schien bedrohlicher geworden zu sein. Der Flur im zweiten Stock war etwas kleiner, die Wohnungstür weit weniger repräsentativ. Die Farbe auf dem braungestrichenen Türblatt löste sich an einigen Stellen bereits ab und offenbarte ein trockenes, rissiges Holz. Marek überprüfte das Schloss. Es war zerkratzt, zeigte aber ebenfalls keine Spuren einer gewaltsamen Öffnung. Die Wohnung war fest verschlossen. Der Klingelknopf rechts neben der Tür war ohne Namensschild ausgeführt. Marek ging mit dem linken Ohr näher an das Türblatt heran und drückte die Klingel. Ein Dreitongong erklang. Das Geräusch war überraschend. Es schien in der Wohnung zu verhallen, dann war es wieder still. Marek drückte ein zweites Mal und horchte erneut in die Stille, an der sich auch nach einer halben Minute nichts änderte. Er ging einen Schritt zurück und schaute über sich. In die hohe Decke des Flures war eine Bodenklappe eingelassen. Er streckte sich nach oben, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte die Arretierung der Klappe zu erreichen, aber es fehlte gut ein halber Meter.

Er machte sich auf den Rückweg nach unten. Er kam an der messingbeschlagenen Eingangstür der Anwaltskanzlei vorbei, die in dem kahlen Treppenhaus wie das Tor zu einer anderen Welt wirkte. Er zögerte kurz, ging dann aber weiter. Ein Knarren der letzten Treppenstufe und Marek stand wieder unten im Flur. Das Licht war inzwischen ausgeschaltet, der Beamte hatte seinen Posten verlassen. Die Seitentür ins Reisebüro war verschlossen. Marek öffnete sie vorsichtig. Ein Sichtschutz war errichtet worden, dahinter erhellte das Blitzlicht von Kameras die Zimmerdecke. Er sah sich um. Auf der rechten Seite, im hinteren Bereich des Reisebüros gab es zwei weitere Türen.

Die eine führte in einen kleinen Sanitärraum mit Waschbecken, Toilette und sogar einer Dusche, bei der allerdings der Duschvorhang fehlte. Marek trug noch seine Schutzkleidung und öffnete daher auch die zweite Tür. Er betrat eine Küche. Es gab eine Kaffeemaschine, daneben eine Mikrowelle, ein Tisch, zwei Stühle, eine Geschirrspülmaschine in Sparversion. Alles war in einer schlicht weißen Küchenzeile integriert. Am hinteren Ende der Küche gab es einen geschlossenen, bodentiefen Schrank. Als Marek nähertrat stellte er allerdings fest, dass es sich nicht um einen Schrank handelte. Er drückte den schmalen Griff herunter und zog die vermeintliche Schranktür auf. Ein leichter Zug kühler Luft kam ihm entgegen, er nahm sofort den Geruch von Heizöl wahr. Das Licht aus der Küche fiel auf eine hölzerne Kellertreppe, die steil in die Tiefe führte.

Er suchte nach einem Lichtschalter. Außen gab es keinen. Er tastete die Innenseite neben der Türzarge ab, fand aber auch hier nichts. Er zog seine kleine Taschenlampe aus dem Overall und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl warf einen Spot auf den Betonfußboden am unteren Ende der Kellertreppe. Er überlegte kurz ob der Bereich zunächst von Ulrich Rooses Leuten gesichert werden sollte. Er setzte einen Fuß auf die erste Treppenstufe und beugte sich vor. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe huschte über ein grobes Tischbein und über das untere Brett eines an der Wand stehenden Regals. Pappkartons warfen Schatten auf den grauen Betonboden.

Marek folgte dem Strahl seiner Taschenlampe. Die Treppenstufen waren schmal, aber aus massivem Holz. Er tauchte in den Keller ein. Die Luft wurde deutlich kühler, je tiefer er kam. In seinem Augenwinkel nahm er Leuchtdioden wahr. Der Strahl der Taschenlampe traf den Block einer Ölheizung, die Öltanks waren nicht zu sehen. Marek leuchtete einmal im Rund die Wände ab. Es gab keine Nische, keinen angrenzenden Raum, in dem die Tanks untergebracht waren. In seinem eigenen Haus hatte er vor ein paar Monaten die Ölheizung durch eine Gastherme ersetzen lassen. Die drei kleinen Öltanks waren zerlegt worden. Der gewonnene Platz im Keller stank noch immer nach Öl und war vorerst nicht zu gebrauchen. Die Heizung in dem Gebäude, in dem er sich jetzt befand, wurde offenbar von einem Außentank versorgt.

Er kehrte mit dem Strahl der Taschenlampe auf das hölzerne Regal zurück, dass er schon vom oberen Treppenabsatz aus gesehen hatte. Die unteren Böden waren durchgehend leer. Auf den Böden in Sichthöhe standen Kartons mit Reiseprospekten und Werbebannern. Einen der Kartons schaute er sich näher an. Er fand Dekorationsmaterial für das Schaufenster des Reisebüros, einen aufblasbaren Wasserball in dunkelblau mit weißer Werbeaufschrift, zwei Sonnenhüte und mehrere Einweckgläser mit feinkörnigem Sand. Er setzte seine Erkundung fort. Gleich neben dem Regal stand eine Werkbank. Eine massive Schraubzwinge, ein Becher mit Schraubendrehern, ein Farbtopf mit mattweißer Heizkörperfarbe. Er zog die beiden Schubladen der Werkbank auf, fand weiteres Werkzeug. Mehrere Sägen, einen Hammer, einen Satz Metallfeilen. In einem ausrangierten Besteckkasten lagen Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen.

Die Abmaße des Kellerraums ließen darauf schließen, dass das Gebäude nur teilunterkellert war. Marek drehte sich wieder zur Treppe um. Er leuchtete einmal durch die offenen Stufen. Unter der Treppe waren weitere Kartons gelagert. Die Verpackung eines Fernsehers und eines Kugelgrills, wie die farbigen Abbildungen auf den Pappen erkennen ließen. Weiter hinten standen noch gewöhnliche Umzugskartons. Marek ging seitlich hinter die Treppe. Der Strahl der Taschenlampe reflektierte vom Boden. Ein roter Fleck auf dem Beton fiel ihm auf. Er leuchtete gezielt darauf. Es waren zwei, drei, fünf Flecken und ein weiterer, den er mit seinem rechten Schuh bereits verschmiert hatte. Er dachte nicht gleich an Blut, als er mit der Fingerspitze auf einen der intakten Flecken tippte und die haftengebliebene Substanz zwischen Zeigefinger und Daumen verrieb. Er roch an seinen Fingern und sofort spürte er den Geschmack von Eisen im Mund, der sicherlich durch die reine Einbildung noch verstärkt wurde.

Er benutzte wieder die Taschenlampe und sah erst jetzt, dass die Umzugskartons unter der Treppe wie eine Wand aus Pappe angeordnet waren. Er zog den untersten Karton etwas vor, der darüber geriet ins Wanken. Er fing ihn ab, zog dann beide Kartons unter der Treppe hervor. Die Taschenlampe erleuchtete den Hohlraum. Marek blickte auf einen gekrümmten Rücken, ein grünes Hemd oder eine Bluse, blaue Jeans. Die Beine waren angewinkelt. Die Person dort in der Nische hatte halblange, dunkelbraune Haare, die die Schulter bedeckten. Nach dem ersten Moment der Überraschung drückte er sich am Treppenholm zurück und richtete sich wieder auf. Er stellte sich vor die Treppe, blickte nach oben und rief. Er hörte selbst nicht, was er rief, er hoffte nur, dass man ihm die Panik in seiner Stimme nicht anmerkte. Irgendwann erschien die Gestalt von Ulrich Roose oben an der Treppe und verdunkelte den Lichtausschnitt.

*

Auf der Werkbank im Keller stand jetzt ein Halogenscheinwerfer, der auf einem Stativfuß befestigt war, und das ausleuchtete, was sich unter der hölzernen Kellertreppe abspielte. Ulrich Rooses Männer hatten die Kartons vorsichtig herausgezogen und in einer freien Ecke des Kellers gestapelt. Ulrich Roose selbst beugte sich unter die Treppe, um sich ein erstes Bild von der Spurenlage zu machen. Vorsichtig begann er den dort liegenden Körper abzutasten. Er zuckte plötzlich zurück und hätte sich beinahe den Kopf am Treppenholm gestoßen.

»Sie atmet«, rief er in Richtung von Dr. Kerstin Sander, die neben Marek stand. »Der Körper ist auch noch ganz warm.« Dann sah Ulrich Roose Marek an. »Haben Sie das denn nicht überprüft.«

»Ich ...« Marek zögerte.

Ulrich Roose gab ihm keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. »Sie müssen doch prüfen, ob Sie eine Leiche oder eine verletzte Person vor sich haben.«

Marek blieb stumm. Im Falle eines Leichenfundes musste die Gerichtsmedizin warten, bis der Tatorterkennungsdienst alle Spuren aufgenommen hatte. Doch jetzt war Kerstin Sanders Einsatz als Ärztin gefragt. Ulrich Roose erhob sich und stellte sich zu seinen Leuten in eine Ecke des Kellers. Kerstin Sander nahm seinen Platz unter der Treppe ein. Gegen jede Regel der Spurensicherung bewegte sie den Körper, drehte die Frau auf den Rücken, beugte sich über sie. Marek war vorgetreten und beobachtete ihr Handeln. Er nahm den Halogenscheinwerfer von der Werkbank und folgte ihren Bewegungen. Sie nickte ihm kurz zu. Er hielt den Scheinwerfer noch ein Stück tiefer. Kerstin Sander verschaffte sich einen Eindruck von den Verletzungen der Frau. Sie nahm als erstes den Hals Puls, untersuchte dann mit routinierten Handgriffen den Kopf, die Schultern, den Rumpf und schließlich die Beine. Sie tastete die Knochen ab, um erste Hinweise auf Frakturen zu erhalten.

»Haben wir eine Decke?«, fragte Kerstin Sander. »Wir müssen sie auf eine Decke legen. Der Boden hier ist verdammt kalt. Und wir brauchen natürlich einen Krankentransport.«

Ulrich Roose stieß einen seiner Leute an. Der Mann ging zur Treppe, stieg mit vorsichtigen Schritten über die Szene hinweg nach oben. Kerstin Sander öffnete ihren Koffer. Sie hatte nicht viel für die Lebenden dabei, fand aber genug Verbandsmaterial für eine erste Wundversorgung. Während ihres Handelns sah sie einmal kurz in die fragenden Gesichter von Ulrich Roose und Marek.

»Offensichtlich eine Schussverletzung an der Hüfte, auf der rechten Seite. Nicht unerheblicher Blutverlust.« Sie deutete in die hinterste Ecke unter der Kellertreppe. »Hier ist ziemlich viel Blut, sie hat aber noch einen recht guten Puls.« Kerstin Sander machte eine Pause, als sie eine Kompresse auf die Wunde an der entblößten Hüfte der Frau drückte. »Dann hat sie noch Abschürfungen an den Händen und Prellungen am Rumpf und vermutlich auch an den Beinen. Knochenbrüche konnte ich keine feststellen. Wo bleibt die Decke?«

Aus der Küche über ihnen waren eilige Schritte zu hören. Ulrich Roose trat unten an die Treppe und blickte hinauf. Er hob die Hände und fing nacheinander zwei Wolldecken auf.

»Krankenwagen ist unterwegs«, kam es von oben. »Ich warte draußen auf der Straße.«

»In Ordnung«, sagte Ulrich Roose und reichte Kerstin Sander die Decken.

»Danke, hier muss mal jemand mit anpacken.«

Marek hielt noch immer den Scheinwerfer. Ulrich Roose gab dem anderen Techniker Zeichen. Kerstin Sander rutschte auf Knien zur Seite, nachdem sie die Decken ausgebreitet hatte. Ulrich Roose trat hinter die Frau, griff ihr vorsichtig unter die Arme. Auf der anderen Seite wurden die Beine der Frau angehoben.

»Wenn sie auf der Decke liegt, müsst ihr die Zipfel eindrehen und ihren Körper hochnehmen«, dirigierte Kerstin Sander die beiden Männer vom Tatorterkennungsdienst. »Wir sollten sie schon einmal nach oben bringen.«

Ulrich Roose nickte.

*

Eine Viertel Stunde später war wieder Ruhe eingekehrt. Nach der Erstversorgung wurde die verletzte Frau aus dem Keller in den mittlerweile bereitstehenden Krankenwagen geladen, der dann mit Blaulicht, aber ohne Sirene abgefahren war. Zeitgleich war auch der Leichenwagen eingetroffen. Dr. Kerstin Sander hatte ihre Arbeit beendet und sich bei Ulrich Roose und seinen Leuten verabschiedet. Marek hatte sich bereits zurückgezogen. Er saß alleine in der kleinen Küche. Er hatte sich auf einen der Küchenstühle gesetzt und hielt einen Personalausweis in Händen. Ulrich Roose hatte unter der Kellertreppe eine Damenhandtasche gefunden, darin nur eine Geldbörse, ein Paket Papiertaschentücher und ein blauer Baumwollschal. Der Ausweis stecke in der Geldbörse zusammen mit siebzig Euro in Scheinen und einem Euro siebenunddreißig in Münzen. Sonst befand sich nichts in der Geldbörse, kein Führerschein, keine EC- oder Kreditkarte, nichts.

Die Frau hieß Claudia Witte. Marek wendete den Personalausweis. Es war noch das alte, etwas größere Format. Ulrich Roose hatte die Straßenanschrift bereits überprüft. Claudia Witte kam aus dem Bezirk Pankow, wohnte dort im Stadtteil Prenzlauer Berg. Auf dem kleinen Zettel, den Ulrich Roose aufgeschrieben hatte, stand auch eine Telefonnummer. Marek zog sein Handy hervor, wählte aber zunächst eine Nummer aus seinem Telefonverzeichnis. Bevor er die Telefontaste drückte, schaute er auf seine Armbanduhr.

Es war kurz nach halb elf, Samstagabend. Vielleicht war Kriminaloberkommissar Thomas Leidtner auch nicht zu erreichen, vielleicht hatte er sein Telefon ausgeschaltet. Gut, sie hatten Bereitschaft, aber es war Samstagabend. Was machte Leidtner am Samstagabend. Marek wusste es nicht. Über Privates hatten sie seit Wochen nicht gesprochen und in der Zeit vor Kowalskis Weggang kannten sie sich noch nicht so gut. Marek war der Neue. Er hatte zusammen mit einem anderen Neuen bei Kriminalhauptkommissar Jürgen Kowalski angefangen, aber der andere Neue hatte nach wenigen Tagen die Operative Einheit innerhalb des LKA 1 gewechselt, Personalmangel. Und dann kam die Sache mit Kowalski. Irgendjemand im Präsidium hatte gleich gemeint, dass Kowalski so schnell nicht wiederkommen würde.

In den ersten Wochen hatten sie auch ohne Führung genug zu tun. Die Abarbeitung der alten Fälle, die Unterstützung anderer Teams bei ein paar größeren Operationen. Mit der Zeit war aber dann doch zu spüren, welchen Stellenwert ihre Operative Einheit ohne Kowalski hatte. In diesem Zustand verbrachten sie jetzt bereits fast drei Monate. Und in den letzten vier Wochen hatten Thomas Leidtner und er überhaupt keinen richtigen Fall mehr zugeteilt bekommen. Sie halfen jetzt nur noch aus, übernahmen größtenteils Sekundärermittlungen, befragten Zeugen, werteten die Ergebnisse des Tatorterkennungsdienstes aus oder schrieben Berichte. Diese Sache hier würden sie wahrscheinlich auch abgeben, an ein erfahreneres Team abgeben, obwohl Thomas Leidtner ein erfahrener Ermittler war.

Leidtner war ein richtiger Polizist, der nach seiner Ausbildung erst bei der Bereitschaftspolizei angefangen hatte und sich jeden Karriereschritt hart erarbeiten musste. So kam es Marek zumindest vor, wenn er den Gesprächen der älteren Kollegen zuhörte, den Kommissaren, die eine ähnliche Laufbahn hinter sich hatten. Ein studierter Polizist war da etwas, das nicht richtig passte, nicht zur Polizei passte. Aber sie wurden immer mehr und besetzten nach und nach die Stellen, die die richtigen Polizisten erst nach zehn oder fünfzehn Dienstjahren einnehmen konnten, wenn dann nicht schon jemand dort saß, jemand wie Marek. Gehobener Dienst bereits am ersten Arbeitstag.

Marek drückte die Telefontaste. Das Telefon klingelte. Wenigstens war der Anrufbeantworter nicht eingeschaltet. Marek zählte mit, dreimal, viermal. Bei jedem weiteren unbeantworteten Klingeln wollte er auflegen, tat es aber nicht. Sieben. Es klickte, ein dumpfes Hallo, ein Schaben, dann war das Hallo klarer zu hören. Thomas Leidtner nannte seinen Namen, hatte offenbar keine Ahnung, wer ihn anrief.

Marek musste sich räuspern. Er schluckte noch einmal. »Hallo Thomas, ich bin’s, Marek.«

Sie duzten sich wenigstens noch, musste Marek denken, als er die Worte ausgesprochen hatte.

Es dauerte ewige zwei Sekunden. »Hallo!«, antwortete Thomas tonlos, sonst nichts.

Es vergingen wieder Sekunden, bis Marek erneut ansetzte. »Entschuldigung für die späte Störung. Was machst du gerade?«

»Ich habe ein Bier stehen lassen.«

»Ach, du bist unterwegs und nicht zu Hause.«

»So sieht es aus.«

»Das ist natürlich blöd.«

»Ist bloß ein Alkoholfreies.« Thomas machte eine kurze Pause. »Haben wir einen Einsatz?«

»Ja, das heißt ...«

»Soll ich kommen?«, unterbrach Thomas Marek. »Wo bist du, worum geht es?« Leidtners letzte Worte wirkten jetzt etwas dynamischer.

»Nein, ist schon fast vorbei hier.«

»Was für ein Einsatz, Mord? Wer ermittelt?«

»Ja, Mord. Bei einem Streifeneinsatz wurde eine männliche Leiche mit Schussverletzungen aufgefunden. Tatort ist ein Reisebüro in Friedenau, aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch eine lebende Person vorgefunden.«

»Du?«, fragte Thomas.

Marek ärgerte sich über seine Formulierung, gab dann aber eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse des Abends. Thomas hörte zu, bis Marek geendet hatte.

»Und bis Montag führen wir die Ermittlungen?«, fragte er schließlich.

»Warum nur bis Montag?«, entgegnete Marek.

»Wäre ja mal was Neues«, stellte Thomas fest. »Ein Toter, eine Überlebende. Beide mit Schussverletzungen. Das hört sich doch nach einer größeren Sache an.«

Dann sah Marek plötzlich seine Chance, ein gemeinsames Ziel. »Du hast recht, aber bis Montag haben wir ja noch genug Zeit, um Fakten zu schaffen.«

»Fakten«, wiederholte Thomas. Seine Stimme klang erneut tonlos.

»Ja, Fakten. Ich will bis Montag schon etwas vorlegen können. Leider ist die Identität des Toten noch unbekannt. Da sind wir auf die technischen Kollegen angewiesen. Bei der Frau haben wir zumindest einen Namen und eine Adresse. Dann noch der Tatort selbst. Wem gehört das Gebäude? Wer betreibt das Reisebüro? Wer arbeitet dort?« Marek räusperte sich. »Ich möchte, dass du schon einmal so viel wie möglich herausbekommst«, sagte er fest. »Über das Reisebüro und über diese Claudia Witte. Sie war bewusstlos, als ich sie gefunden habe. Mit etwas Glück können wir sie vielleicht schon morgen verhören. Da sollten wir vorbereitet sein.«

»Und du willst heute noch etwas von mir hören?«, fragte Thomas.

Marek wollte schon wieder einlenken, blieb dann zu seiner eigenen Überraschung fest. »Ja, trinke dein Bier aus, verabschiede dich von deinen Freunden und mach dich an die Arbeit. Ich fahre jetzt zum Krankenhaus.«

Thomas hatte offenbar keine Einwände. »Was ist mit dem Tatort?«, fragte er stattdessen.

»KHK Roose ist mit seinem Team noch hier. So schnell werden die nicht fertig. Wenn du die ersten Infos hast, können wir uns am Tatort treffen.«

Thomas schien zu überlegen. Marek war sich nicht sicher, ob er seinen Kollegen mitgerissen hatte. Vielleicht klang es mehr nach Befehlen, als nach Vorschlägen, die er ihm unterbreitet hatte.

»Gut, mal sehen was ich so finde«, erklärte Thomas schließlich. »Ich melde mich wieder.«

Sie beendeten das Gespräch. Marek hielt sein Smartphone noch ein paar Sekunden am Ohr, nahm es herunter, schloss kurz die Augen und atmete dabei tief ein. Dann blickte er auf Ulrich Rooses Zettel, tippte die Nummer von Claudia Witte ins Telefon und ließ es klingeln. Er zählte diesmal nicht, gab es aber nach einer gefühlten Ewigkeit auf.

*

Auf seinem nächtlichen Weg zur Charité kam er an drei Berliner Sehenswürdigkeiten vorbei. Nachdem er den Großen Stern passiert hatte, ließ er die Siegessäule hinter sich und fuhr auf der Straße-des-17.-Juni dem Brandenburger Tor entgegen. Danach passierte er über die Ebertstraße und die Dorotheenstraße auch noch das Reichstagsgebäude. Als er schließlich die Spree überquerte, wurde aus der Wilhelmstraße die langgezogene Luisenstraße. Er fuhr fast einen Kilometer lang geradeaus und erreichte an der Nummer 65 den großzügigen Eingangsbereich der Rettungsstelle des Universitätsklinikums Charité-Mitte.

Er parkte seinen Audi neben einem Krankenwagen und ging direkt unter der Leuchtschrift ins Gebäude. Er musste einer Rollstuhlfahrerin Platz machen, die ihm entgegenkam und die Rettungsstelle gerade verließ. Dann war er doch überrascht. Im Wartebereich zählte er ein gutes Dutzend Leute. Eine junge Frau mit einer bandagierten Hand lächelte ihn an. Marek lächelte zurück. Er sah sich noch einmal um, ging dann auf sie und ihre Freundin zu.

»Entschuldigung, wo geht es hier zur Notaufnahme?«, fragte er die Frau mit dem Verband.

»Das ist doch die Notaufnahme«, antwortete die Freundin an ihrer Stelle und schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln.

»Und wo meldet man sich an?«

»Ach so«, sagte wieder die Freundin und zeigte auf eine Glastür am Ende des Ganges. »Da müssen Sie klingeln.«

Marek bedankte sich. Er ging an den Wartenden vorbei, fand neben der Glastür den Klingelknopf mit dem Hinweis: Nach 23:00 Uhr bitte klingeln. Er sah auf seine Armbanduhr, es war tatsächlich schon Viertel vor zwölf. Dann klingelte er. Es dauerte eine halbe Minute, bis ihm der Summer die Tür öffnete. Im Empfangsraum saßen noch einmal vier Patienten. Marek ging direkt zum Tresen. Eine Krankenschwester hatte ihm bereits ein Formular und einen Kugelschreiber durch die Öffnung ihres Glaskastens geschoben. Marek schüttelte den Kopf und zeigte ihr seinen Polizeiausweis.

»Mein Name ist Quint. In der letzten Stunde wurde ein Notfall eingeliefert. Der Name ist Witte, Claudia Witte.« Den Namen sprach er etwas leiser aus. »Ich möchte bitte den behandelnden Arzt sprechen. Und können Sie mir auch schon einmal sagen, wo die Patientin untergebracht ist.«

»Untergebracht?«, wiederholte die Krankenschwester und zog Formular und Kugelschreiber auf ihre Seite der Glaswand zurück.

»Ja, auf welcher Station liegt Frau Witte, Claudia Witte. Und wer behandelt sie?«, erklärte Marek noch einmal.

Die Krankenschwester sah erst einen Stapel Papiere durch, die vor ihr auf dem Tisch unter dem Tresen lagen. »Hier ist sie nicht«, kommentierte sie. »Mit V oder mit W?«

»Bitte? Ach so, ja, mit W, Witte, Vorname Claudia mit C.«

Sie blätterte noch einmal den Stapel durch, schüttelte dann den Kopf. »Wenn die Aufnahme in der letzten Stunde war, müsste ich die Patientin hier finden.«

»Sie ist bestimmt nicht hier über den Tresen gegangen«, vermutete Marek.

Die Krankenschwester sah ihn an. »Nicht über den Tresen gegangen?«, wiederholte sie fragend.

»Ich meine, sie ist wahrscheinlich durch die Hintertür ... Also, sie ist mit einem Krankenwagen eingeliefert worden. Zwei Beamte, zwei Polizeibeamte haben sie begleitet.«

Die Krankenschwester zuckte mit den Schultern. »Ich kann im Computer nachsehen, aber ich glaube ...« Sie beendete den Satz nicht, zog sich die Tastatur heran und begann zu tippen. Nach wenigen Sekunden schüttelte sie erneut den Kopf. »Nein, keine Witte, bei uns liegt keine Frau Witte.«

Marek überlegte. »Vielleicht wurde sie ja noch nicht registriert.« Er senkte wieder seine Stimme. »Es handelt sich schließlich um einen Polizeieinsatz. Wo kommen denn hier die Krankenwagen an, vielleicht kann ich da mal nachfragen?«

Die Krankenschwester hatte sich von ihrem Stuhl erhoben. »Ich weiß nicht, ich könnte Sie nach hinten durchlassen, zur Ambulanz, aber ...«

Dann wurde Marek plötzlich bewusst, wie er hier auftrat. Er entschuldigte sich bei der Krankenschwester, ging ein paar Schritte in eine Ecke des Empfangsraumes, zog sein Telefon hervor und wählte die Nummer der Zentrale. Er ließ sich zur Handynummer von Ulrich Roose durchstellen. Es klingelte fünfmal.

»Ja, Roose!«, donnerte es.

»Quint hier. Ich bin gerade in der Notaufnahme der Charité in der Luisenstraße ...«

»Was machen Sie da denn?«, unterbrach Ulrich Roose Marek.

»Das frage ich mich gerade auch. Wissen Sie, wohin unser Opfer gebracht wurde?«

»Welches Opfer?«

»Claudia Witte.«

»Sie meinen das lebende Opfer«, stellte Ulrich Roose fest. »Luisenstraße, das ist doch die Rettungsstelle der Charité.«

»Ja eben«, bestätigte Marek. »Hier ist sie aber offenbar nicht. Ich bin am Empfang, oder muss ich woanders hin?«

»Ich würde sagen, Sie müssen ganz woanders hin.« Ulrich Roose lachte kurz auf. »Aber das können Sie ja vielleicht nicht wissen.«

»Stimmt, weiß ich auch nicht«, entgegnete Marek. »Also, wo muss ich hin?«

»Kennen Sie die Gewaltschutzambulanz in der Birkenstraße?«

»Birkenstraße, Gewaltschutzambulanz?«, wiederholte Marek. »Das werde ich schon finden.«

»Birkenstraße 62«, erklärte Ulrich Roose. »Ich werde Sie da gleich mal ankündigen. Fahren Sie jetzt gleich los?«

»Bin schon unterwegs«, versicherte Marek und bedankte sich bei Ulrich Roose.

*

Das Navi seines Dienst-Audis führte ihn am Fritz-Schloss-Park vorbei in die Birkenstraße. Wie es Ulrich Roose versprochen hatte, wartete bereits jemand und öffnete den Schlagbaum, der auf das Gelände des ehemaligen städtischen Krankenhauses Berlin-Moabit führte. Der Mann im weißen Kittel wies ihm sogar einen Parkplatz zu. Gemeinsam gingen sie durch einen Seiteneingang in das Gebäude und von dort direkt in eines der Behandlungszimmer. Marek sah sich um.

»Wo ist sie?«

»Wir haben sie bereits auf die Station gebracht«, erklärte Dr. Mewes. »Ich habe verstanden, dass Sie sich nach ihrem Zustand erkundigen wollen.« Dr. Mewes zog Marek einen Stuhl heran. Sie setzten sich. Der Arzt nahm eine dünne Akte vom Tisch, der hinter ihnen an der Wand stand, und klappte sie auf.

»Die Patientin heißt Witte, Claudia Witte«, begann Dr. Mewes. »Vierunddreißig Jahre alt, um 22:47 Uhr hier eingeliefert. Wir haben eine Schusswunde und diverse Sekundärverletzungen versorgt. Eine Bluttransfusion war nicht notwendig. Die Befunde sind nicht lebensbedrohend, daher ist auch keine intensivmedizinische Behandlung notwendig.«

»Was heißt Sekundärverletzungen?«

»Frau Witte hat vor allem Schürfwunden erlitten. Wir sind es hier gewohnt, solche Verletzungen genau zu dokumentieren.«

»Was heißt hier?«

»Sie befinden sich in der Gewaltschutzambulanz der Charité Berlin. Neben der Erstversorgung der Patienten nehmen wir auch rechtsmedizinische Aufgaben wahr.«

»Was muss ich mir darunter vorstellen?«

Dr. Mewes zögerte kurz, als wenn er sich über die Frage wunderte. »Das bedeutet, dass wir bei den Opfern, bei denen fremd- oder nicht fremdverschuldete Gewalteinwirkungen nachgewiesen wurden, die Verletzungsmuster dokumentieren und gerichtsverwertbare Gutachten erstellen.«

»Okay, verstehe. Was ist mit der Schussverletzung?«

Dr. Mewes nickte. »Eine Fleischwunde an der rechten Hüfte, die wir nähen konnten, nachdem wir festgestellt haben, dass das Projektil nicht im Körper verblieben ist.«

»Und wo ist das Projektil?«

»Wieder ausgetreten. Ein Streifschuss, wenn Sie so wollen.« Dr. Mewes deutete auf seine linke Seite in Hüfthöhe. »Etwa hier. Da liegen ja bekanntlich keine lebenswichtigen Organe, da liegen eigentlich gar keine Organe. Ein Streifschuss eben. Wir haben die Patientin anschließend narkotisiert gelassen.«

»Narkotisiert?«, wiederholte Marek. »Ist Frau Witte denn während Ihrer Behandlung einmal wach geworden, konnten Sie mit ihr sprechen?«

Dr. Mewes schüttelte den Kopf. »Der Zustand, in dem die Patientin aufgefunden wurde, also die Bewusstlosigkeit, gründet sich wahrscheinlich auf einen Schockzustand und weniger auf die Kopfverletzungen, die sie wohl durch einen Sturz erlitten hat. Ein Schockzustand führt meistens erst verzögert zur Bewusstlosigkeit. Die Bewusstlosigkeit kann dafür aber anhaltender sein. Frau Wittes aktueller Zustand ist selbstverständlich auf die von uns eingeleitete Narkotisierung zurückzuführen.«

»Das würde passen«, stellte Marek fest.

»Was würde passen?«, fragte der Arzt.

»Die Sache mit der verzögerten Bewusstlosigkeit. Wir haben Frau Witte unter einer Kellertreppe gefunden. Sie hat sich anscheinend selbst dort in Sicherheit gebracht.«

»Und ist erst dann weggetreten«, ergänzte Dr. Mewes. »Das kann durchaus sein. Wahrscheinlich wird sich die Patientin aber genau an dieses Ereignis später nicht mehr erinnern können.«

»Wo Sie gerade beim Thema sind, wann kann ich mit Frau Witte sprechen?«

»Oh, das kann ich jetzt noch nicht prognostizieren«, sagte Dr. Mewes abwehrend.

»Morgen?«

»Ich würde sagen, dass morgen eindeutig noch zu früh ist. Sie müssen der Patientin mindestens vierundzwanzig Stunden geben.«

»Also am Montag?«

»Das müssen Sie am Montag mit dem behandelnden Arzt besprechen«, schlug Dr. Mewes vor.

»Dann sind Sie nicht der behandelnde Arzt?«, fragte Marek.

»Ich bin hier vor allem in der Ambulanz tätig. Die Stationsärzte übernehmen in der Regel die Patienten, sobald wir die Erstversorgung abgeschlossen haben.«

»Welche Station?«

»Das habe ich Ihnen aufgeschrieben.« Dr. Mewes reichte Marek einen Zettel. »Sie können dort am Montag bestimmt mehr über Frau Wittes Zustand erfahren.«

»Jetzt kann ich nicht mehr auf die Station?«, fragte Marek. »Wo sind die beiden Beamten, die Frau Witte hierher begleitet haben?«

Dr. Mewes zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich leider nicht.«

»Wo ist das?« Marek hatte sich bereits erhoben und deutete auf den Zettel, den er noch in der Hand hielt.

Dr. Mewes hatte sich ebenfalls erhoben. Er nickte in Richtung Zimmertür. »Wenn Sie hier heraus sind, gehen sie links den Flur entlang, nehmen den Fahrstuhl in den zweiten Stock und dort wieder links. Sie müssen sich auf der Station bei der Nachtschwester melden.«

*

Marek bedankte sich, verließ das Behandlungszimmer und folgte der Wegbeschreibung. Er fand ohne Probleme zur Station, wollte gerade in das Schwesternzimmer gehen, als er die beiden Polizisten hinten im Gang vor einem der Krankenzimmer sitzen sah. Er nickte der Nachtschwester zu, hielt ihr seinen Polizeiausweis durch die große Scheibe des Schwesternzimmers kurz hin und ging direkt zu den Kollegen. Sie erhoben sich gleich. Marek gab ihnen die Hand.

»Ist sie da drin?«, fragte er und holte sein Notizbuch hervor. Er notierte sich neben der Stationsnummer auch die Zimmernummer.

Einer der Beamten schaute daraufhin ebenfalls zur Tür des Krankenzimmers. »Da ist sie rein und nicht mehr raus«, bestätigte er und grinste.

»Ausgezeichnet.« Marek deutete auf die Tür. »Kann man da mal reinschauen?«

Der Polizist zuckte mit den Schultern. Marek ging zur Tür, blickte noch einmal zum Schwesternzimmer, doch dort war niemand zu sehen. Dann drückte er vorsichtig die Tür auf und sah ins Dunkel des Zimmers. Er konnte das Bett schemenhaft erkennen und dass jemand darin lag. Es roch nach Desinfektionsmitteln. Er verharrte einige Sekunden, dann schloss er die Tür des Krankenzimmers wieder.

Er wandte sich an die beiden Polizisten. »Scheint alles in Ordnung zu sein. Wie lange habt ihr noch Dienst?«

»Eigentlich bis sechs Uhr früh, aber wir haben das mit dem Revier schon geklärt. Wir werden um vier abgelöst, dann kommen schon die Kollegen der Frühschicht und dann so weiter.«

»Danke. Welches Revier seid Ihr?«

»Wir kommen aus der Villa, Polizeiwache Abschnitt 42, in der Hauptstraße.«

»Sagt mir was«, antwortete Marek lächelnd. Dann biss er sich auf die Unterlippe. »Wisst Ihr auch, wo der Leichentransport hingegangen ist?«

Diesmal sprach der andere der beiden Polizisten. »Der Tote wurde doch auch hierhergebracht«, erklärte er. »Also nicht direkt hierher, sondern ins Institut für Rechtsmedizin. Das ist gleich nebenan. Ich glaube es gibt im ersten Stock sogar einen direkten Durchgang in die Rechtsmedizin.«

*

Auf der Tafel neben der verschlossenen Glastür stand: Haus N, Institut für Rechtsmedizin, Abteilung Forensische Pathologie - Bitte benutzen Sie den Eingang Birkenstraße 62. Marek zögerte. Er konnte hinten im Gang Licht brennen sehen und darum drückte er den Klingelknopf und wartete. Nach zwei Minuten drückte er die Klingel erneut. Auf dem Gang hinter der Glastür tat sich nichts, niemand reagierte. Es gab auch keine Gegensprechanlage, über die er sich bemerkbar machen konnte. Da das Klingeln offenbar nichts bewirkte, klopfte er gegen die Glastür. Zunächst etwas verhalten und dann so kräftig, dass ihm die Fingerknöchel wehtaten. Bitte benutzen Sie den Eingang Birkenstraße 62, las er noch einmal den Hinweis auf der Tafel. Dann zuckte er zusammen.

»Hey!«, ertönte es.

Marek drehte sich um. Ein Mann in Uniform näherte sich von hinten.

»Was wollen Sie denn da, warum klingeln Sie Sturm, wissen Sie wie spät es ist?« Der Uniformierte ließ kurz seine Taschenlampe aufblitzen und blieb dann vor Marek stehen.

»Ich bin vom LKA.« Marek hielt dem Mann seinen Ausweis vors Gesicht. »Ich muss in die Gerichtsmedizin. Arbeitet denn da keiner mehr, da brennt doch Licht.« Er zeigte in den Gang hinter der Glastür.

Der uniformierte Wachmann nickte. »Ach so, Polizei. Da hätten Sie sich eigentlich unten bei uns anmelden müssen.«

»Sorry, das wusste ich nicht. Mein Name ist Kriminalkommissar Marek Quint. Es geht um ein ...«

»Ich weiß schon. Die Frau Doktor Sander ist heute Abend noch mal reingekommen, mit einem Neuzugang.«

»Mit einem Neuzugang?«

»Ach sie wissen schon«, sagte der Uniformierte. »Die Frau Doktor kam gleich nach dem Leichenwagen.«

»Ach, jetzt verstehe ich. Genau deswegen bin ich hier. Dann ist Dr. Sander noch bei der Arbeit.«

»Ich denke schon.«

Der Wachmann zückte eine Magnetkarte und zog sie durch das Lesegerät. An der Glastür summte es. Marek drückte die Tür auf.

»Soll ich Sie hinbringen?«, fragte der Wachmann.

Marek schüttelte den Kopf. »Ich folge einfach dem Licht.«

»Aber erschrecken Sie mir die Frau Doktor nicht«, sagte der Wachmann.

Er tippte sich zum Abschied an die Schläfe, drehte sich um und ging über den Flur davon. Marek betrat das Institut für Rechtsmedizin durch den nicht offiziellen Eingang. Der lange Gang, den er von der Tür aus gesehen hatte, endete in einem Treppenhaus. Dort brannte das Licht über zwei Etagen bis hinunter in den Keller. Er stieg hinab. Zwischen dem Erdgeschoss und dem Keller tauchte er in einen schweren Geruch ein. Es hatte etwas von Desinfektionsmitteln, aber es war noch etwas Anderes, etwas, das er nicht identifizieren konnte. Er konnte nicht einmal sagen, ob es unangenehm war, oder doch, nein, es war unangenehm. Unten im Keller des Instituts für Rechtsmedizin lagen die Kühlräume und gleich nebenan wurden die Obduktionen durchgeführt. Ein weiterer Gang, der bis zu den Wänden hoch gefliest war. Marek ging an den chromglänzenden Metalltüren vorbei, die sich links und rechts entlang des Ganges aneinanderreihten. In einige der Metalltüren waren runde Scheiben eingelassen. Dahinter war es schwarz, mit einer Ausnahme.

Er blieb vor der Tür stehen und schaute durch das runde Fenster. Der Obduktionsraum war hell erleuchtet. Ganz rechts auf dem Obduktionstisch lag eine entkleidete Leiche. Marek sah allerdings nur den Kopf und die Beine der Leiche, weil sich jemand mit dem Rücken zu ihm über den Rumpf gebeugt hatte. Die Person trug grüne Laborkleidung und blaue Latexhandschuhe. Das Haar war unter einer weißen Kunststoffhaube versteckt, die Gummiriemen des Mundschutzes liefen über den Hinterkopf. Die Person in Grün ging einen Schritt nach links und beugte sich über die Oberschenkel der Leiche. Weitere Schritte nach links zur Begutachtung der Unterschenkel und der Füße. Die Zehen der Leiche wurden gespreizt und ebenfalls einer genaueren Untersuchung unterzogen.

Marek klopfte schließlich gegen die Glasscheibe der Tür. Dr. Kerstin Sander blickte auf, schien ihn aber nicht zu erkennen. Sie streifte den rechten Handschuh ab, zog den Mundschutz herunter, ging zur Tür und öffnete.

»Ich soll Sie nicht erschrecken, meinte der Wachmann, der mich ins Gebäude gelassen hat.«

Kerstin Sander schüttelte den Kopf. »Wenn Sie anklopfen, dann erschrecke ich mich auch nicht.« Sie lächelte. »Ich hatte mal einen Chef, so einen Grafzahl-Typ, der hat sich während meiner Obduktionen immer von hinten angeschlichen. Da habe ich mich nie dran gewöhnt.«

»Grafzahl-Typ?«, fragte Marek.

Kerstin Sander nickte. »Spitze Nase und immer in Schwarz gekleidet. Zahlen hat er allerdings nicht verkauft.« Sie lachte. »Haben Sie Zahlen dabei?«

»Nein, leider nicht. Ich hatte gehofft, dass Sie noch etwas für mich haben.« Marek deutete zum Obduktionstisch. »Ist er das?«

»Ja, das ist er. Ich habe schon mit der äußeren Leichenbeschau begonnen. Das kann man auch alleine machen.« Sie zeigte ihm das kleine Aufnahmegerät, dass sie in der linken Hand hielt. »Wollen Sie mal hören?«

»Warum nicht«, sagt Marek.

Kerstin Sander schüttelte aber den Kopf. »Das war ein Spaß. Das Band wird abgetippt, dann können Sie alles in Ruhe nachlesen. Ich werde Ihnen aber die wichtigsten Fakten direkt an der Leiche erklären.«

Sie drehte sich um und ging zurück zum Seziertisch. Marek musste ihr folgen.

»Sehen Sie ihn sich an. In voller Blüte. Er hat viel für seinen Körper getan. Leider konnte das nichts gegen eine Schusswaffe ausrichten. Bei der Untersuchung der Körperöffnungen gab es keine Befunde.«

»Was wären das für Befunde?«, fragte Marek und sah dabei Kerstin Sander direkt an, nicht allein, um den Blick auf die Leiche zu vermeiden.

Sie wandte sich jedoch ab und zeigte an dem Toten, was sie meinte. »Man untersucht nach Frakturen, zum Beispiel am Kopf oder an den Gliedmaßen. Ist der Schädel noch intakt? Gibt es äußere Verletzungen und so weiter? Dann schaut man sich die Körperöffnungen an, ob dort jemand etwas eingespritzt hat oder ob es Vergiftungserscheinungen an den Schleimhäuten gibt.« Sie deutete auf Nase, Mund und Augen. »Gerade bei den Augen muss man genau hinschauen«, erklärte sie und zog das untere Lid des Toten herunter.

Marek blickte nur einmal kurz hin.

Kerstin Sander lächelte. »Das ist wohl nichts für Sie, aber Sie wissen schon, dass im Falle einer ungeklärten Todesursache die Kriminalpolizei bei der inneren Leichenschau anwesend sein muss. Haben Sie daran schon einmal teilgenommen?«

»Ehrlich gesagt nicht, also nicht direkt«, antwortete Marek zögerlich. »Ich war einmal dabei, aber da waren eine Glasscheibe und ein halbes Dutzend Rücken zwischen mir und der Leiche.«

»Ein paar Tage hier unten und Sie gewöhnen sich daran. Aber jetzt will ich Sie nicht weiter quälen. Wir haben bei unserem Toten zwei Schussverletzungen. Ich kann jetzt schon sagen, dass es sich bei der einen Verletzung um einen Herzschuss handelt, womit wir die Todesursache haben, also nicht sehr spannend. Die erste Schussverletzung hat dagegen nicht viel angerichtet. Es sieht zwar wie ein Lungentreffer aus, ich habe allerdings keine Anzeichen gefunden, dass die Lunge verletzt wurde. Außerdem war es wahrscheinlich ein Durchschuss, da ich kein Projektil orten konnte. Näheres kann ich da aber erst nach der inneren Leichenschau sagen.«

»Wann machen Sie die?«, fragte Marek. »Heute noch?«

Kerstin Sander schüttelte den Kopf. »Wenn ich einen Sektionsassistenten bekomme, dann vielleicht morgenfrüh, spätestens aber am Montag. Da die Todesursache ja schon bekannt ist, brauchen Sie nicht dabei zu sein.« Sie stutzte. »Ach ja, eine Sache habe ich dann doch noch, die Sie schon einmal wissen sollten.« Sie griff über die Leiche nach einer metallenen Nierenschale, die auf der anderen Seite des Obduktionstisches stand. »Das hier habe ich aus den Schusswunden gefischt.«

In der Nierenschale lagen blutig gefärbte Stoffstücke. Kerstin Sander nahm die Pinzette und hob eines der Stoffstücke an, das sich zu einem langen dünnen Faden über der Schale abwickelte.

»Was soll das sein?«, fragte Marek.

»So hat man im Mittelalter Wunden versorgt.«

»Bitte?«

»Das war ein Scherz«, sie lachte. »Also man hat das damals schon so gemacht, die Wunden ausgestopft, aber in unserem Fall wollte jemand verhindern, dass die Wunden nachbluten. Im Durchschuss waren diese Stoffbänder sogar von beiden Seiten des Schusskanals eingeführt.«

»Sie meinen, dass jemand versucht hat, ihn noch ärztlich zu versorgen?« Marek deutete auf die Leiche.

»Einen Toten ärztlich versorgen?« Kerstin Sander schüttelte den Kopf. »Und dann noch auf diese Weise. Nein, da wollte jemand die Leiche beseitigen und verhindern, dass es währenddessen allzu viele Blutspuren gibt.«

Marek holte sein Notizbuch hervor.

»Das brauchen Sie nicht aufzuschreiben«, sagte sie. »Das nehme ich alles im Sektionsprotokoll auf. Die Stoffbänder bekommt Roose obendrauf und auch das Projektil aus der Herzwunde, sobald ich die innere Leichenschau abgeschlossen habe.«

»Ein bisschen was aufschreiben hilft mir aber beim Denken, auch wenn es später in den Berichten auftaucht.« Marek besah sich noch einmal die blutigen Stoffbänder. »Sind die aus Baumwolle, Mullbinden vielleicht?«

»Das kann schon sein. Vielleicht stammen sie aus dem erste Hilfekasten im Reisebüro.«

Marek blickte auf. »Haben Sie dort einen Erste-Hilfe-Kasten gesehen?«

»Nein, ich habe nur vermutet, dass dort einer sein könnte. Oder der Stoff stammt aus einer Verbandstasche, die später im Auto des Täters gefunden wird. Auf jeden Fall sind das Spuren, die der Tatorterkennungsdienst verwerten kann.«

Kerstin Sander hatte inzwischen eine Rollbahre an den Obduktionstisch geschoben. Sie gab Marek ein Paar der blauen Latexhandschuhe. »Zu zweit geht das einfacher, oder macht es Ihnen etwas aus?«

Marek schüttelte den Kopf und zog die Handschuhe über.

»Sie können die Füße nehmen«, erklärte Kerstin Sander. Sie selbst griff dem Toten unter die Achseln. »Fertig?«

Marek nickte konzentriert. Sie hoben den Körper an und luden ihn auf die Bahre.

»Die Handschuhe können Sie in den Eimer werfen und dort drüben ist ein Waschbecken.«

»Was machen Sie jetzt noch hier?«, fragte Marek, nachdem er die Handschuhe entsorgt hatte und dabei war, sich die Hände sehr gründlich zu waschen.

»Ich räume noch kurz auf und dann mache ich auch Schluss.«

»Soll ich Sie noch irgendwohin mitnehmen?«

Kerstin Sander sah auf die Uhr. »Nicht nötig, ich werde in zwanzig Minuten abgeholt.« Sie legte ein weißes Laken über den Toten, stellte sich vor die Rollbahre und begann zu schieben. »Können Sie mir bitte die Tür öffnen.«

Marek ging voraus. Kerstin Sander fuhr mit der Leiche auf den Flur. Er öffnete auch noch die Tür zu einem der Räume mit den Kühlfächern und hielt sich bereit, ihr noch weiter zu helfen, als sein Telefon plötzlich klingelte.

»Gehen Sie ruhig schon, ich schaffe den Rest alleine«, sagte Kerstin Sander und öffnete eines der Kühlfächer.

Marek zögerte einen Moment. »Gut, dann danke ich Ihnen erst einmal. Ich melde mich wieder.«

»Machen Sie das.«

Das Telefon klingelte zum dritten Mal. Marek wandte sich ab, eilte über den Flur und nahm das Gespräch erst ab, als er schon im Treppenhaus auf dem Weg nach oben war.

»Hallo?«, meldete er sich.

»Bist du am Tatort?«, fragte Thomas.

»Nein, ich bin noch im Krankenhaus. Ich habe mit dem Arzt gesprochen, der unser Opfer versorgt hat. Es sieht wohl ganz gut aus. Sie wurde auf eine Krankenstation verlegt. Und dann bin gerade in der Gerichtsmedizin gewesen, wegen der Leiche.«

»Das kannst du mir später alles genau erzählen«, sagte Thomas schnell. »Ich habe nämlich schon etwas über dein Reisebüro.«

»Okay, schieß los.«

»Der Inhaber heißt Lorenz Mittag, ist sechzig Jahre alt, Wohn- und Geschäftsadresse in der Buchtstraße 23, in 12161 Berlin-Friedenau.«

»Gut, Lorenz Mittag«, wiederholte Marek. Er war im Treppenhaus stehengeblieben, hatte wieder sein Notizbuch hervorgeholt, drückte es gegen eine Wand und schrieb. »Nichts über Kinder oder Angehörige oder seine Familienverhältnisse?«

»Nein, da habe ich noch nichts. Für eine vollständige Recherche muss ich Montag meinen Kontakt beim Personenerkennungsdienst einschalten. Aber wichtiger ist doch jetzt die Frage, ob dieser Lorenz Mittag unsere Leiche sein kann?«

»Du sagst, der Mann ist sechzig Jahre alt. Der Tote ist deutlich jünger. Aber es wäre schon gut, wenn wir so schnell wie möglich alle Fakten hätten. Was hast du also noch?«

»Zwei Telefonnummern.«

»Und, hat er sich gemeldet?«

»Natürlich nicht und das kann ein Problem sein, denn eine Nummer gehört zu der Wohnung in der Buchtstraße und diese Nummer ist ständig besetzt.«

*

Marek schaffte es in zwanzig Minuten zurück nach Friedenau. Als er das Reisebüro durch den Seiteneingang betrat, kam ihm einer von Ulrich Rooses Kriminaltechnikern entgegen. Er deutete auf das Treppenhaus.

»Die sind schon nach oben gegangen.«

Marek machte auf dem Absatz kehrt und eilte ohne eine Antwort zu geben zur Treppe. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal, hastete ohne Stopp an der Anwaltskanzlei vorbei und erreichte den zweiten Stock. Ulrich Roose setzte gerade eines seiner Instrumente an. Thomas Leidtner war bereits vollständig eingekleidet, Overall, Gamaschen, Handschuhe. Den Mundschutz hatte er noch nicht angelegt.

Er warf Marek einen kurzen Blick zu. »Der Schlüssel von unten hat nicht gepasst.«

Dann wandte er sich wieder der Tür zu, drückte gegen das Türblatt, nachdem Ulrich Roose das Schloss geöffnet hatte. Der zweite Kriminaltechniker reichte seinem Chef die Taschenlampe. Ulrich Roose ging als erster in die Wohnung, gefolgt von Thomas und dem Kriminaltechniker. Marek blieb draußen auf dem Treppenabsatz stehen. Er war nicht angemessen gekleidet, falls es sich bei der Wohnung tatsächlich um einen Tatort handeln sollte. Er horchte auf Geräusche aus der Wohnung, aber die Männer sprachen nicht. Dann hörte er doch Schritte. Der Kriminaltechniker erschien an der Tür.

»Sie können reinkommen, hier ist nichts.«

Marek nickte und folgte dem Mann in die Wohnung, durch einen dunklen Flur und in die Küche. Dort standen Ulrich Roose und Thomas vor einem altmodischen Tastentelefon, dass an der Wand befestigt war. Der Hörer hing herunter bis auf den Boden. Die Spiralleitung hatte sich vollständig gedehnt. Thomas nahm den Hörer und legte ihn auf die Gabel. Im nächsten Moment rutschte der Hörer wieder ab. Ulrich Roose fing ihn auf, legte ihn erneut auf die Gabel, rückte ihn zurecht, bis es hielt. Thomas nickte und wählte eine Nummer auf seinem Handy. Das Wandtelefon fing augenblicklich an zu klingeln.

»Das ist dann die eine Nummer«, kommentierte er. Er ließ es noch zweimal klingeln, legte auf und wählte auf seinem Handy gleich eine zweite Nummer, die er von einem Zettel ablas. »Jetzt muss mal einer suchen, ob das hier irgendwo bimmelt.«

Marek drehte sich um, ging über den Flur in eines der Zimmer. Es war ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett. Die Möbel waren alt, die Tür des Kleiderschrankes hing etwas schief. Er öffnete den Schrank. Es roch frisch, ein dunkler Anzug, eine helle Leinenhose, Oberhemden auf Bügeln. Er ging die Fächer mit der Unterwäsche durch, fand aber nichts. Die Nachtschränke hatten keine Schubladen, in den Fächern der Kommode standen ein halbes Dutzend Paar Schuhe, in der Schublade darüber ein Haufen feinsäuberlich eingerollter Socken.

»Haben wir denn schon einen Durchsuchungsbefehl?«

Thomas stand plötzlich hinter Marek, der sich nicht umdrehte während er die Socken durchwühlte.

»Ich dachte, ich hätte es klingeln gehört«, antwortete Marek und richtete sich wieder auf.

Er verließ das Schlafzimmer, ohne auf Thomas zu achten. Die nächste Tür vom Flur aus führte ins Bad. Es gab eine Waschmaschine, einen Toplader. Marek nahm den Deckel des Wäschekorbs ab und sah hinein. Der Korb war leer. Dann wandte er sich um, sah sich die Tuben an, die auf der Ablage über dem Waschbecken standen. Er nahm die Zahnpasta und drehte am Verschluss. Es knackte, die Zahnpasta war innen angetrocknet. Thomas und auch Ulrich Roose standen draußen im Flur und beobachteten Mareks Handeln. Er sah die beiden Männer an und hielt die Tube hoch.

»Lange nicht benutzt, würde ich sagen.«

Ulrich Roose nickte. »Das sieht hier überall so aus, das zeigt schon der Staub.«

»Was ist mit dem Staub?«, fragte Marek. Er hatte gerade eine Flasche Haarwasser geöffnet, deren Verschluss ebenfalls knackte. Diesmal war es aber das Frischesiegel.

»Es fehlen die Spuren im Staub«, erklärte Ulrich Roose. »Es ist ja in Ordnung, wenn jemand nur einmal im Monat Staub saugt und durchwischt, es soll ja solche Menschen geben. Wer sich in so einer Wohnung bewegt, verwirbelt den Staub oder wischt ihn partiell weg, wenn er eine Zeitschrift anfasst oder mit der Kleidung über eine Fläche streift. Das alles findet sich hier nicht. Der Staub liegt in der ganzen Wohnung wie unberührter Schnee oder besser gesagt lag, denn wir haben hier bereits ein wenig Unordnung gemacht.«

»Wie lange?«, fragte Marek.

»Das ist schwer zu sagen, mindestens aber eine Woche.«

»Ich würde ja sagen, der Reisebürofritze ist verreist«, warf Thomas ein. »Allerdings stehen da im Abstellraum zwei schicke Koffer. Hat jemand mehr als zwei Koffer, wenn es nicht gerade eine Großfamilie ist?«

Marek zuckte mit den Schultern. »Wo sind die Koffer?«

Thomas deutete mit dem Daumen hinter sich. Marek verließ das Badezimmer. Die beiden Männer machten ihm Platz. Er ging über den Flur, öffnete die Tür, auf die Thomas gedeutet hatte. Der Abstellraum war klein, aber aufgeräumt. Ein Staubsauber, ein Bügelbrett, ein Eimer mit Lappen und Putzmitteln darin. Auf einem breiten Regal waren die beiden Koffer übereinandergestapelt. Marek suchte nach dem Adressschild, aber der dafür vorgesehene Anhänger war unbeschriftet. Er verschloss die Tür des Abstellraums wieder und wandte sich an Thomas.

»Lässt du es noch läuten?«

Thomas nickte und hielt sein Telefon hoch. Marek nahm sich den nächsten Raum vor. Es war offenbar das Gästezimmer. Ein Bett mit Nachttisch, ein schmaler Schrank, leer. Er ging ans Fenster und sah hinaus auf die Straße. Dann ging er auf den Flur zurück, überlegte kurz und öffnete eine Tür mit einem Lichtausschnitt aus Silvitverglasung. Er betrat ein großes Wohnzimmer. Es gab mehrere Sideboards, aber keinen richtigen Wohnzimmerschrank, dafür aber in einer Ecke einen ovalen Esstisch mit sechs Polsterstühlen. Auf der anderen Seite des Raumes standen ein niedriger, länglicher Tisch vor einem Ledersofa und drei dazu passende Sessel. Einen Fernsehapparat gab es in dem Raum nicht. Es hingen auch keine Bilder an den Wänden und nirgends lag etwas herum, keine Zeitschriften, keine Post oder sonstige Papiere. Marek durchsuchte die Sideboards. In einem fand er Geschirr und Besteck, die anderen beiden waren vollständig leer. Thomas und Ulrich Roose standen in der Wohnzimmertür.

»Die Küche hast du auch noch nicht so genau angesehen, schätze ich«, sagte Thomas.

»Und was habe ich da verpasst?«

»Der Kühlschrank läuft, aber es gibt außer einer Flasche Mineralwasser nichts zu kühlen, keine Lebensmittel, die jemanden versorgen, der hier in dieser Wohnung lebt.«

»Also lebt hier auch zur Zeit niemand«, stellte Marek fest.

»Und jetzt?«, fragte Ulrich Roose.

Marek zuckte mit den Schultern. »Es hätte ja sein können, Gefahr in Verzug. Die Wohnungstür können Sie aber doch wieder ordnungsgemäß verschließen?«

Ulrich Roose nickte. »Aber ich muss das hier natürlich protokollieren.«

»Selbstverständlich.« Marek sah Thomas an. »Wenn der Eigentümer des Reisebüros verschwunden ist, dann macht es ihn doch wohl zum Tatverdächtigen?«

»Kann schon sein«, antwortete Thomas. »Aber Lorenz Mittag kann lediglich verreist sein und hat mit all dem hier nichts zu tun.«

»Dann müssen wir es weiterprobieren, ihn zu erreichen.« Marek zeigte auf Thomas‘ Handy.

*

Ulrich Roose hatte oben die Wohnungstür wieder verschlossen und einen Kontaktaufkleber hinterlassen, auf dem er Mareks und Thomas‘ Telefonnummern geschrieben hatte. Unten im Flur empfing sie der zweite von Ulrich Rooses Technikern und deutete mit dem Daumen hinter sich ins Reisebüro. Ulrich Roose nickte und wandte sich an Marek und Thomas.

»Bevor sich die Herren aus dem Staub machen, habe ich noch eine Kleinigkeit.«

Marek nickte, Thomas, der schon auf dem Weg zum Ausgang war, drehte wieder um. Sie folgten Ulrich Roose ins Reisebüro. Einer der Kriminaltechniker holte eine UV-Lampe und schaltete das Licht im Reisebüro aus. Mit der UV-Lampe leuchtete der Mann den Boden ab.

»Hier hat die Leiche gelegen«, kommentierte Ulrich Roose. »Wir hatten eigentlich mehr Blutspuren erwartet, aber mit dem bloßen Auge war ja nicht viel zu erkennen. Selbst mit dem Luminoltest ist das Ergebnis mager.«

»Und das heißt?«, unterbrach Marek Ulrich Roose.

»Das hat natürlich nicht viel zu bedeuten, wenn kaum Blutspuren gefunden werden. Interessanter ist das Aussehen dieser Blutspuren.«

Der Kriminaltechniker schwenkte noch einmal die UV-Lampe über den Boden.

»Wischspuren«, folgerte Thomas sofort.

»Richtig!«

»Sind vielleicht die Kollegen der Streife da durchgerannt?«, fragte Marek.

»Auch, wenn das mal vorkommt«, antwortete Ulrich Roose, »so waren die Beamten, die den Toten entdeckt haben, doch sehr, sehr vorsichtig.« Er schüttelte den Kopf. »Da hat jemand saubergemacht, und zwar äußerst gründlich und professionell. Aber das ist noch nicht alles.«

Der Kriminaltechniker mit der UV-Lampe schaltete wieder das Licht im Reisebüro ein. Marek, Thomas und Ulrich Roose folgen ihm zu einer Wand, an die zwei Spurenkennkarten geklebt waren. Eine Karte zeigte auf ein Loch in der Tapete.

»Mit bloßem Auge ist das nicht richtig zu erkennen, aber wir haben es natürlich genauer untersucht. Eines der Projektile, die unser Opfer getroffen haben, war wohl ein Durchschuss, der in dieser Wand gelandet ist. Es steckt da auch noch drin, aber jemand vor uns hat versucht, es zu bergen, ohne gleich die Wand einzureißen. Das Einschussloch ist minimal aufgeweitet und es sind Spuren eines Werkzeugs zu erkennen, ebenfalls nur minimal. Der Versuch, das Projektil zu bergen wurde aber offenbar abgebrochen. Wie gesagt, steckt unser Freund hier noch drin.«

Ulrich Roose nickte seinem Techniker zu, der sofort Meißel und Hammer zur Hand hatte. Er bearbeitete nicht das Einschussloch, sondern setzte den Meißel gut zehn Zentimeter daneben an. Ohne Rücksicht traktierte er die Wand mit drei, vier Schlägen. Dann klopfte er vorsichtig an das Mauerstück zwischen Einschussloch und dem entstandenen Krater. Es klang hohl. Als nächstes hatte der Techniker eine lange, spitze Pinzette in der Hand, die er in das Einschussloch einführte und das Projektil ohne Mühe herauszog. Er wandte sich an die drei Beobachter seines Handelns.

Ulrich Roose übernahm die Pinzette und überlegte kurz. »Das habe ich mir schon gedacht, Kaliber 9mm, würde ich sagen.«

Marek schüttelte den Kopf. »Gut, gut, aber was bedeutet das nun alles?«, fragte er und sah Thomas an, der die Antwort offenbar schon kannte.

»Wissen Sie, was Cleaner sind?«

Marek schüttelte den Kopf.

»Sowas kenne ich nur aus amerikanischen Krimiserien«, sagte stattdessen Thomas.

»Mag sein, aber auch die Drehbuchautoren holen sich ihre Ideen aus dem richtigen Leben«, erklärte Ulrich Roose. »Also, bevor die Kavallerie hier war, haben sich Profis am Tatort zu schaffen gemacht. Zu unserem Glück sind sie aber mit ihrer Arbeit nicht fertig geworden, ansonsten hätten wir wohl keine Leiche gefunden, vermutlich auch die Frau im Keller nicht, und es gäbe keinen Hinweis auf ein Verbrechen und somit auch keinen Grund für mich und meine Leute hier zu sein.«

»Also, wenn diese Cleaner ihre Arbeit beendet hätten, dann hätten Sie keine Spuren gefunden?«, fragte Marek.

»Wir finden eigentlich immer etwas«, sagte Ulrich Roose, »da können die Cleaner noch so gut sein. Allerdings können wir nur etwas finden, wenn wir wissen, dass wir suchen müssen. Wenn solche Proficleaner ihre Arbeit beenden können, dann haben sie in der Regel eine Komplettreinigung des Tatortes gemacht. Dazu gehört sogar die Desinfektion und eine Geruchsreinigung, bei der spezielle Mittel verwendet werden, die es normal nicht zu kaufen gibt. Das wichtigste ist allerdings die Beseitigung von Beweismitteln. Fingerabdrücke, Fußspuren, Haare, Fasern, Blut. Alles wonach wir suchen, alles was einen Tatort sprechen lässt.«

»Und die Leiche«, ergänzte Marek.

Ulrich Roose nickte. »Aber so weit ist es ja zum Glück nicht gekommen. Unsere Leiche haben sie uns gelassen.«

»Sie waren aber offensichtlich auch schon an der Leiche dran«, sagte Marek. »Sie haben das Blut entfernt und wollten verhindern, dass es beim Transport der Leiche zu weiteren Blutspuren kommt.«

»Das könnte sein«, stimmte Ulrich Roose zu, »obwohl die Cleaner selbst dabei keine Spuren hinterlassen haben.«

»Doch, es gibt Spuren«, sagte Marek. »Ich war bei Frau Dr. Sander im Institut. Die Schusswunden der Leiche wurden mit Mullbinden oder so etwas ausgestopft.«

Ulrich Roose nickte. »Ein weiterer Beweis für die Anwesenheit von Cleanern, obwohl das nicht zu dem passt, was wir vorhin noch in der Küche des Reisebüros gefunden haben.«

Wie auf Stichwort präsentierte einer der beiden Kriminaltechniker eine durchsichtige Plastiktüte, in der sich eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer befand. Ulrich Roose nahm die Waffe entgegen und zeigte sie Marek und Thomas.

»Das ist eine Beretta 92. Wir haben sie zwar noch nicht richtig untersucht, aber ich bin mir etwas unsicher, ob mit dieser Waffe heute überhaupt geschossen wurde.«

Thomas holte sein Smartphone aus der Jackentasche und wollte die Waffe in Ulrich Rooses Hand fotografieren.

»Das Ding können Sie stecken lassen«, sagte Ulrich Roose. »Ich schicke Ihnen beiden ohnehin gleich ein paar digitale Eindrücke von unserer Leiche, dem Tatort und der Waffe hier.«

Thomas nickte. »Das ist sehr gut.« Er überlegte. »Aber das ist noch nicht geklärt, ob es die Tatwaffe sein kann?«

»Das kann erst im Labor vollständig geklärt werden. Eines ist jedoch sicher, das Kaliber, das wir eben gerade aus der Wand geholt haben ist ein 9mm-Projektil und so eines passt meines Wissens auch in unsere Beretta.«

»Kaliber 9mm ist aber doch recht gewöhnlich«, sagte Marek.

»Das stimmt und das wird uns die Suche nach der Tatwaffe nicht leichter machen«, bestätigte Ulrich Roose.

Tod und Schatten

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