Читать книгу Unter Musketenfeuer - Ole R. Börgdahl - Страница 4
Prolog
ОглавлениеMit der Flut und einer ordentlichen Brise zog die Kalmar an diesem frühen Julimorgen aus dem Hafen von Malmö auf die offene See. Ich war der einzige Passagier auf der kleinen Brigg, die eine Ladung von nicht ganz zweihundert Tonnen Mehl beförderte. Sowohl das Mehl, als auch meine Person, waren auf dem Weg in den Krieg gegen die Vorherrschaft Frankreichs über Europa. Die Kalmar sollte am späten Abend dieses Tages in Stralsund einlaufen.
Ich stand auf dem Achterdeck schräg hinter dem Rudergänger und beobachtete, wie die Seeleute aus den Höhen der Masten zurückkehrten. Die Kalmar hatte reichlich Tuch gesetzt, was mir die Absicht des Kapitäns bestätigte, die Fahrt zu beschleunigen, um nicht doch noch nachts in einen unbeleuchteten Hafen einlaufen zu müssen. Und so betrat der Kapitän jetzt auch das Achterdeck und begutachtete die gesetzten Segel. Er wandte sich daraufhin zum Rudergänger, kontrollierte den Kurs und gab dann seine Anweisungen an die Bootsmänner, die Mittschiffs ihre Leute auf Trab hielten. Der Kapitän sah schließlich zu mir. Ein strenger Blick, er schien nämlich nicht erfreut, mich auf dem Achterdeck zu sehen. Wir hatten vor der Abfahrt kurz gesprochen und ich hatte gemerkt, dass er den Umgang mit Passagieren, mit Zivilisten nicht gewohnt war.
Ich nahm den Auftritt des Kapitäns zum Anlass, mich zurückzuziehen. Auf der Kalmar wurde mir natürlich kein Logis zugewiesen, dafür war unsere Reise zu kurz. Ich hatte meinen Seesack im Vorschiff verstaut und so verließ ich das Achterdeck und machte mich auf den Weg dort hin. Ein Matrose rempelte mich an und ich glaubte, es war Absicht, aber ich nahm es hin, sah mir den Kerl noch nicht einmal richtig an. Im Vorschiff lehnte ich mich dann an Steuerbord auf die Reling, an der Stelle, an der ich auch mein Gepäck zwischen Schanzkleid und Decksplanken verkeilt hatte. Später würde ich mich genau an dieser Stelle langlegen und so die Zeit totschlagen.
Doch jetzt war mein Blick auf die offene See gerichtet und ich begann in meinen Gedanken zu versinken. Wie lange hatte ich auf diesen Augenblick, auf diese Reise gewartet. Wie hatte sich mein vorbestimmter Weg geändert. Oder lag nur eine kurze Episode vor mir, wollte mir mein Vater diese eine Freiheit geben, damit nach meiner Rückkehr das Feuer in mir endgültig erloschen und ich bereit und fähig für die Aufgaben war, die zu Hause zu meiner Bestimmung gehörten.
Die Werft meines Vaters war meinem älteren Bruder Elias versprochen. Er hatte längst den ersten Schritt getan, dieses Erbe anzutreten. Er führte die Bauaufsicht, war Herr über die Werkstätten, ging voll und ganz in der Arbeit auf. Er besaß nicht meine Leidenschaft für das Abenteuer, war bodenständig, seit einigen Jahren verheiratet und Vater einer Tochter. So sah sein Glück auf Erden aus.
Also war das Erbe des Vaters vergeben und so wäre für mich der Weg frei gewesen, meinen eigenen Zielen und Träumen zu folgen. Doch schon vor sehr langer Zeit wurde anders entschieden. Mein Onkel Victor Lund, der mit einer Schwester meines Vaters verheiratet war, besaß eine gewaltige Lehmgrube, deren Erträge in der eigenen Ziegelei verarbeitet wurden. Onkel und Tante waren kinderlos und hier sollte ich das Erbe antreten, eine Fabrik leiten, in die nächste Generation überführen.
Elias und ich waren auf unsere Bestimmungen vorbereitet worden, waren gemeinsam drei Jahre in Stockholm zur Schule gegangen, hatten das ehrwürdige Laboratorium mechanicum besucht, hatten alles gelernt, was die heimischen Gewerke der Werft und der Ziegelei uns nicht beibringen konnten. Mathematik, Geodäsie, Geographie, Baukunst, Mechanik, Maschinenkunde und vieles mehr. Mich hätte es damals schon zum Militär gezogen, um eine gleiche und bessere Ausbildung zu erhalten, denn die Ingenieurskunst findet sich von ihren Grundlagen bis zur Vollendung in den Ingenieurscorps, bei den Artilleristen, den Festungs-, Wege- oder Brückenbauern.
Ich wäre auf diese Weise meinem Abenteuer nähergekommen und in die Kriege gegen Russland und Dänemark gezogen. Elias und ich hatten es uns gerade in Stockholm eingerichtet, hatten die vom Vater ausgesuchte Unterkunft bezogen, begannen uns in der Schule zurechtzufinden, als nun das Jahr 1808 mit dem Zwischenfall an der Grenze zu Finnland begann. Ich hatte schon nach einem Weg gesucht, mich unseren Truppen anzuschließen, hatte einen Plan, zum finnischen Oulu überzusetzen und an den Schlachten teilzunehmen. Die Gefechte bei Pyhäjoki, Siikajoki, Revolax und Pulkkila, deren Namen erst Monate später im Lande bekanntwurden, wären meine Feuerprobe und vielleicht auch mein Tod geworden.
Und dann bedrohte Dänemark, von Seeland aus, schwedischen Boden. Hier ließ sich auch Elias mitreißen. Die königlich-schwedische Südarmee stand zwischen Malmö und Helsingborg und war bereit, unsere schonische Heimat zu verteidigen. Für uns waren es unruhige Wochen in Stockholm. Wir wollten uns einziehen lassen, fassten dann aber den Entschluss, selbst ins Aufmarschgebiet zu reisen und uns dort anzudienen. Erneut war der Gang der Ereignisse schneller als unser Handeln. Eine britische Flotte, unsere Verbündeten, verhinderte den dänischen Landgang, der über den Öresund angedacht war. Wochen später erklärten uns die Briefe des Vaters die Lage in der Heimat. Der dänische Krieg fand weit oben in Norwegen statt und brachte am Ende für keine Seite einen Sieg.
Anders sah es mit dem russischen Krieg aus. Unser König verlor Finnland. Und dazu kam, dass mein Studium in den Jahren von 1808 und 1809 gelitten hatte, und das, obwohl ich in keinen der Kriege gezogen war. Elias hatte in dieser Zeit mehr Disziplin bewiesen. Ich musste einiges aufholen, was mir auch gelang, blieb dennoch ein Jahr länger als der Bruder in unserer Hauptstadt. Und als ich das Ende meiner Ausbildung erreicht hatte, konnte ich das erlernte Wissen sogleich anwenden. Mein Vater ließ es zu, dass ich doch noch zu den Soldaten ging. Ich unterschrieb für sechs Monate beim Kanalbau, reiste von Stockholm nach Mem und ließ mir die Landvermesserausrüstung in die Hand drücken. Und während ich den Verlauf des wichtigen Göta-Kanals präzisierte, begannen hinter mir die Soldaten zu graben. Ich war wie ein Heerführer ihnen immer voraus.
Die Arbeit befriedigte mich erstaunlicherweise sehr und füllte den Rest des Jahres 1811 aus. Ich hatte bereits die Papiere zur Unterschrift vor mir, um für ein weiteres halbes Jahr zu verlängern, als ein Brief meines Vaters neue Pläne notwendig machte. So blieb ich nach dem Weihnachtsfest in Lomma, meinem Geburtsort. In der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach den Kriegen, waren die großen Betriebe in Malmö eine schwere Konkurrenz für die Werft meines Vaters. Elias war kein Kaufmann, dafür aber der bessere Ingenieur. So kam mir die Aufgabe zu, für Verträge zu sorgen. Ich ging dabei auch den Weg über den Öresund nach Seeland, weil sich das Verhältnis zu Dänemark etwas stabilisiert hatte. Dennoch war Feindseligkeit zu spüren, wo immer ich den Mut hatte aufzutreten.
Mut kann aber etwas bewirken und so zog ich Aufträge in unsere Werft, die Elias nicht glücklich machten. Er musste all sein Talent aufbringen, um die Versprechen einzulösen, die ich den neuen Kunden gegeben hatte. Die Hanson-Werft musste drei Frachtsegler in vier Monaten bauen, einen davon als Zweimaster. Es wurde eng auf der Werft, wir warben Arbeiter aus Malmö an, bezahlten gut, um überhaupt Leute zu finden. Im Mai bekamen wir dann Besuch aus Göteborg, der uns die Aufträge für zwei weitere Frachtsegler daließ, die bis zum September fertig sein mussten. Wie mir unter vorgehaltener Hand mitgeteilt wurde, sollten diese Schiffe nach Sankt Petersburg fahren, um die Beute der Franzosen abzuholen.
Es war seit Anfang des Jahres 1812 kein Geheimnis mehr, dass l'Empereur sich auf das russische Reich stürzen wollte. Die Welt und einige Investoren erwarteten einen großen Sieg. Ich hatte mich monatelang nicht mit Politik beschäftigt, doch plötzlich war wieder dieses Feuer da. Und ich fühlte mich mehr der französischen Sache verbunden, seit unser Thronfolger ein Franzose war.
Kronprinz Karl Johann, bürgerlich geboren als Jean Baptiste Bernadotte, ein ehemaliger Maréchal d’Empire und mit Wohlwollen Napoléons, zum Nachfolger unseres Königs gewählt und seit Ende des Jahres 1810 adoptierter Sohn. Seither versuchte ich mein Französisch zu perfektionieren, hatte mich seinerzeit in Stockholm in den Clubs und Kreisen aufgehalten, in denen man die Muttersprache unseres künftigen Herrschers sprach. Und ich hatte ihn in Stockholm auch einmal leibhaftig gesehen, zwar nur aus der Ferne, aber das hatte gereicht, um in mir eine Verbindung aufzubauen.
Die hohe Politik geht allerdings Wege, die sich dem gemeinen Volk erst erschließt, nachdem das Weltgeschehen seine Richtung bereits geändert hat. Im Jahre 1812 war ich der festen Überzeugung, Schweden stehe kompromisslos an Frankreichs Seite. Ich wollte mich daher auch der Grande Armée anschließen, deren Truppen in unseren pommerschen Besitzungen standen und dort wohl auf den Marschbefehl in Richtung des russischen Reiches warteten. Ich wusste damals nicht, dass dies schon der Bruch zwischen Bernadotte und Napoléon war, denn unser Kronprinz vertrat selbstverständlich schwedische und damit eigene Interessen.
Das Feuer in mir nahm mir die Sicht auf diese Dinge. Ich hatte meine Pflicht gegenüber Vater und Bruder erfüllt und schiffte mich ohne großen Abschied zu Malmö ein. Und so ereignete es sich, dass ich mich schon einmal auf dem Weg nach Stralsund befand, um in einen Krieg zu ziehen, und das nur wenige Monate zuvor. Ich bin damals allerdings weder in Stralsund noch in einem Krieg angekommen, obwohl ich Überlebender eines Gefechts war.
Es wird ein britisches Kriegsschiff gewesen sein, das unter falscher Flagge in der baltischen See operierte. Ich hatte die Ereignisse an Bord meines Schiffes erst wahrgenommen, als eine Breitseite des Gegners unser Deck verwüstete. Es führte schnell zum Enterkampf, an dem ich mich beteiligen wollte. Doch ehe es dazu kam, noch bevor ich eine Waffe fand und zur Hand nahm, ereignete sich eine gewaltige Explosion. Meine Erinnerung daran kam erst wieder zurück, als ich im Wasser treibend im Nichts erwachte. Der Pulvergeruch war noch schwach in der Luft zu schmecken, ansonsten waren das Meer und der Horizont leer.
Es war von beiden Schiffen oder gar von anderen Überlebenden des Unglücks nichts zu sehen. Ich gelangte später zu der Überzeugung, dass mein Schiff selbst ein Pulverfass gewesen war, was der Gegner nicht wusste und was beiden Kontrahenten zum Verhängnis geworden war. Da waren mir die zweihundert Tonnen Mehl doch lieber, auf denen ich jetzt saß, obwohl ich mich erinnere, dass es einmal in der Nähe von Helsingborg eine Staubexplosion in einer Mühle gab.
Ich trieb damals also hilflos in der kalten See und nur durch großes Glück gab das Meer ein paar Trümmer zurück, die aus den Tiefen des Seemannsgrabs an die Oberfläche gelangten. Darunter war ein fast unversehrtes Beiboot, das zu meiner Rettung wurde. Unter großen Mühen richtete ich das Boot wieder auf, gelangte hinein und trieb auf die dänische Küste zu. Ich landete auf der Insel Møn und schaffte es von dort über Kopenhagen nach Malmö zurück. Zehn Tage nach meiner Abreise meldete ich mich wieder bei meinen Angehörigen. Zurecht verlangte mein Vater, dass ich aus diesem Vorfall lerne. Ich blieb seither in Lomma, arbeitete an der Seite meines Bruders und bekam aus sicherer Entfernung die politischen Veränderungen des Weltgeschehens mit.
*
Ich hatte mich inzwischen auf Deck im Schatten des Schanzkleides ausgestreckt. Mein Seesack diente mir als Kopfstütze. Die Bewegungen des Schiffes waren ruhig, die Mannschaft nicht mehr so beschäftigt, wie zu Beginn der Fahrt. Als ich gerade einmal wieder die Augen geschlossen hatte, spürte ich, wie sich jemand neben mich stellte und leicht gegen meine Stiefelsohlen trat. Ich blickte auf, sah die Gestalt eines Mannes mit Mütze und dunkler Weste, der mich kopfschüttelnd betrachtete.
»Hast mich vorhin nicht erkannt, was?«, sagte er vorwurfsvoll.
Ich richtete mich auf, als er in die Hocke ging. Ich schüttelte den Kopf. Er nahm die Mütze ab. Erst jetzt konnte ich sein Gesicht richtig sehen, ich versuchte mich zu erinnern. Er kam mir jedoch zuvor.
»Björn Holm, ich bin auf der Odette gefahren, war einer von Lars Söders Piraten.«
Und jetzt erkannte ich ihn. Björn Holms Familie stammte aus Lomma, sein Vater war einer unserer Zimmerleute. Den Sohn hatte es aber zur Handelsmarine gezogen. Mir war schon bekannt, dass er schließlich auf der Odette angeheuert hatte.
»Piraten?«, wiederholte ich leise.
Er grinste. »Du weißt doch, was wir gemacht haben.« Björn Holm sah sich kurz um. »Aber das das hier keiner mitbekommt.« Er zögerte kurz, sah sich noch einmal um. »Du hast ihm doch damals auch geholfen, dem Lars?«, sagte er.
Ich überlegte. »Du meinst die Sache mit der Miliz?«
»Ja, das mit den verdammten Bluthunden. Vor zwei Jahren war das. Wir hatten unser Schmuggelgut gerade gelöscht. Lars hatte noch etwas in Malmö zu erledigen. Da hat ihn wohl jemand verpfiffen. Er ist nicht am Treffpunkt erschienen, da sind wir mit der Odette wieder raus aufs Meer.«
»Stimmt, ich habe ihm geholfen«, sagte ich zögernd.
Und natürlich erinnerte ich mich sofort an jene Nacht. Ein Zufall, dass ich überhaupt zu Besuch in Lomma war. Ich hatte mir vom Kanalbau eine Woche frei genommen. Es war schon nach zehn an diesem Abend. Ich wohnte in einem Nebengebäude auf dem Anwesen meiner Eltern, hatte bereits das Licht gelöscht und mich zu Bett begeben. Ich kann nicht sagen, woher Lars Söder wusste, dass er mich dort und an diesem Tag antreffen würde. Sein leises Klopfen holte mich aus einem merkwürdig unruhigen Schlaf. Ich erkannte ihn nicht sofort, als ich ihm die Tür öffnete.
Lars Söder stammte aus Malmö. Elias und ich hatten ihn aber erst in Stockholm kennengelernt, in unserem ersten Jahr auf dem Laboratorium mechanicum. Er war älter als Elias und ich. Er schloss die Schule lange vor uns ab und fuhr zur See. Erst später hörten wir, dass er sein eigenes Schiff hatte, die Odette. Der verbotene Handel war sein Geschäft, er soll sogar bis nach Amerika gefahren sein, brachte Kaffee, Tee, Tabak und Zucker mit. Bis zum Jahr 1811 konnte er seine Waren gefahrlos in Schweden anlanden. Das Risiko bestand nur, auf dem Weg dorthin abgefangen zu werden. Doch dann war auch das Königreich Schweden gezwungen, härter gegen Schmuggler vorzugehen, die Kontinentalsperre Napoléons durchzusetzen. Dem fiel Lars Söder zum Opfer.
In seiner Not und um der Verfolgung zu entgehen, zog er mich in die Sache hinein. Ich war natürlich bereit ihm zu helfen, nachdem er mich geweckt und mir seine Situation geschildert hatte. Er wollte ein Pferd, um zu entkommen. Ich konnte ihn aber nicht alleine gehenlassen, und so begleitete ich ihn. Wir ritten an der Küste entlang Richtung Norden. Wir versuchten Lars’ Verfolgern zu entkommen. Es gelang nicht. Die Miliz war vorbereitet, rückte auch von Helsingborg aus gegen den Schmuggler vor. Die Musketen krachten bereits hinter uns. Im schnellen Galopp erreichten wir wieder mehr Abstand zur Infanterie der Verfolger.
Lars strebte einem Treffpunkt zu. Er glitt schließlich vom Pferd, verabschiedete sich und stürzte ins Meer. Ich begriff es erst nicht, dann sah ich auf dem Wasser kurz ein Laternenlicht aufflackern. Draußen wartete ein Kutter und noch weiter draußen lag ganz sicher die Odette. Lars musste ein guter Schwimmer sein, um sich zu retten. Ich konnte ihm dabei nicht mehr helfen, ich musste mich selbst in Sicherheit bringen.
Ich nahm sein Pferd am Zügel und ritt in die Brandung hinein, damit sich für die Verfolger die Hufspuren verloren. Ich legte gut dreihundert Yards an der Küste entlang zurück. Erst dann ging ich wieder über den Strand auf das höhergelegene Land und in den Schutz eines Wäldchens. Ich konnte sie von dort aus gut sehen. Sie hatten Laternen und erkannten die Stelle, an der ich mit den Pferden ins Wasser gegangen war. Die Infanterie stellte sich zu Schützenreihen auf, Befehle wurden gegeben und erneut krachten die Musketen.
Ich schätzte die Zeit ab und fragte mich, ob Lars seinen Kutter erreicht hatte. Auf dem Meer war nichts zu sehen. Die Miliz schoss weiter, noch drei, vier Salven. Eine zweite Abteilung suchte den Strand ab. Die Laternen zeigten mir an, wo sich die Männer bewegten. Sie suchten weit ab von meinem Versteck und so blieb ich noch.
Es musste eine halbe Stunde vergangen sein, seit Lars über das Wasser entkommen war. Die Suchtrupps waren wieder zu den Schützen gestoßen, die Miliz hatte sich am Strand in Formation aufgestellt. Die Leute waren schon Abmarsch bereit, als es auf dem Meer plötzlich einen Lichtblitz gab, dem sofort ein Donnern folgte. Ich konnte das Pfeifen hören, dann klatschte die Kanonenkugel, die augenscheinlich von der Odette abgefeuert worden war, nur zehn, zwanzig Yards von der Brandungslinie entfernt ins Wasser. Die Infanterie begann zu rennen. Es machte für sie keinen Sinn, den Angriff mit ihren Musketen zu beantworten. Sie liefen eher Gefahr, weiteres Kanonenfeuer auf sich zu ziehen.
Ich blieb eine weitere halbe Stunde in meinem Versteck und sah auf dem Meer tatsächlich noch einmal einen Laternenschein. Der Moment reichte aus, um zu sehen, dass die Odette unter Segeln stand und sich von der schwedischen Küste entfernte.
»Dann stimmt es, dass du ihm den Hals gerettet hast«, stellte Björn Holm fest. »Er hat damals keinen Namen genannt ...«
»Es ging mir aber doch auch um meine Sicherheit«, unterbrach ich ihn. »Sie hätten das Pferd gefunden und wären dann auf uns gekommen, wenn ich Lars alleine hätte reiten lassen.«
Björn Holm nickte. »Das mag sein. Am Ende hat es ihn dann doch erwischt, ihn, alle Kameraden und die Odette auf den Grund des Meeres gebracht. Eine unserer Fregatten, ein Riese, gegen den die Odette keine Chance hatte. Die Bulletins haben ja alles groß gefeiert. Und heute pfeifen wir auf das was der Franzose sagt und helfen den Engländern und den Russen wo wir nur können. Es hat Lars zu früh erwischt.«
»Und du bist entkommen?«, fragte ich.
»Schicksal. Ich bin von Bord, hatte mir das Bein gebrochen. Einen Monat später ist es dann passiert.«
»Und jetzt?«
»Führe ich ein ruhiges Leben«, sagte Björn Holm. Er zögerte ein, zwei Sekunden. »Ich dachte du seist bald Herr über die Ziegelei und jetzt gehst du zu den Soldaten?«
»Woher weist du das?«, fragte ich.
»Man hört, was man hört. Du folgst dem Kronprinzen gegen diesen verdammten Napoléon.«
»Das werden wir noch sehen, ob es überhaupt wieder zum Krieg kommt«, antwortete ich ausweichend.
»Der Krieg geht weiter, ist ja nur ein Waffenstillstand.« Björn Holm lächelte. »Der Napoléon sammelt jetzt seine Kräfte und schlägt dann wieder zu, wie schon im Frühjahr. Da wird auch der Bernadotte, dieser andere Franzose, nichts daran ändern können.«
»Was weißt du denn davon?«, fragte ich vorsichtig.
»Was soll ich wissen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass die Preußen und die Russen in Sachsen stehen. Denen kam der Waffenstillstand ganz recht, aber das wird ihnen am Ende nichts nutzen, auch wenn wir ihnen mit den dreißigtausend Mann zur Seite eilen, die erst kürzlich ausgehoben wurden.«
»Dann bin ich wohl einer von den dreißigtausend«, sagte ich schnell.
»Das ist doch mein Reden. Aber du brauchst mir nicht zu sagen, warum du das machst, ich glaube ich weiß das schon.«
Björn Holm lächelte mich an und ich kommentierte seine letzten Worte nicht weiter. Er erhob sich unvermittelt, nickte mir zu und ging über das Deck nach Achtern. Er ließ mich mit meinen Gedanken zurück, denn jetzt kamen mir noch einmal die Umstände meiner Reise in den Sinn. Was hatte ich selbst unternommen und was waren die Konsequenzen.
Ich hatte schon im letzten Jahr einen Freund meines Vaters konsultiert, ihn um sein Protegieren gebeten, mich in eine militärische Stellung zu bringen. Ich wusste von Anfang an, dass dies nicht ohne den Segen meines Vaters gehen würde und so dauerte es noch, bis eine Entscheidung fiel. Die Politik spann sich inzwischen weiter. Erst Ende März dieses Jahres erschienen die Nachrichten in den seriöseren Gazetten. Im Vertrag zu Örebro hatte Jean Baptiste Bernadotte den Bruch mit Napoléon endgültig vollzogen. Schweden verpflichtete sich, der Koalition gegen Frankreich beizutreten. Für den bevorstehenden Feldzug sollten von unserer Nation eben diese dreißigtausend Mann gestellt werden. Dies ließ mich noch einmal aufbegehren und ich schrieb zwei Briefe an den Freund meines Vaters.
Aber ich hörte wieder lange nichts, dafür verfolgte ich die Kriegsnachrichten, die in diesem Frühjahr nicht sehr hoffnungsvoll ausfielen. In der Schlacht bei Großgörschen waren Preußen und Russen an Mannschaftsstärke gegenüber den Franzosen weit unterlegen, hatten aber die zahlenmäßig größere Artillerie. Napoléon hatte am Ende zwar die höheren Verluste holte aber dennoch den Sieg und brachte das Königreich Sachsen wieder unter seine Herrschaft. Den Koalitionstruppen blieb nur die Flucht über die Elbe nach Schlesien.
Über die Schlacht bei Bautzen, die ebenfalls von den Preußen und Russen gegen Napoléon und seinem Maréchal Ney bestritten wurde, hörte ich erst, als bereits der Waffenstillstand vom 4. Juni bekanntgeworden war. In Bautzen hatten die Franzosen abermals mit ihrer überlegenen Armee gewonnen, dennoch fragte sich jeder, warum es nicht das Ende der Koalition bedeutete und es noch zur befristeten Niederlegung der Waffen gekommen war. Es gab in den Zeitungen tatsächlich wilde Spekulationen, die mich aber nicht kümmerten, denn ich war fest davon überzeugt, dass ein Frieden bevorstand.
Und dann hieß es plötzlich, dass man mich für Stabsaufgaben in die neue Armee einberufen wolle. Es waren jetzt nicht mehr nur die ursprünglichen dreißigtausend Schweden, sondern unter dem Kronprinzen Karl Johann wurde die neue Nordarmee formiert, in der auch viele tausend Preußen, Russen und sogar einige Briten dienten.
Ich nahm dieses Angebot an, ohne zu wissen, welche Aufgaben mich in einem Stab erwarteten. Die Musterungsrolle, die mir meinen ersten militärischen Rang zuwies, trug ich bei mir, zusammen mit dem Befehl, dass sich Fänrik Falk Marten Hanson zwischen dem 6. und 8. Juli des Jahres 1813 in Stralsund bei der Eskadron des Kaptens Graf Claus von Hammar einzufinden habe.