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08:26 Uhr - Unverhofft kommt oft

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Bislang hat noch niemand die Polizei gerufen, wenn ich in meiner recht auffälligen Art Häuser beobachte, wenn ich ungebeten Grundstücke betrete oder mir sogar die Namen an den Türschildern notiere. In Nienstedten hielt ich mich an diesem Morgen vor allem an den vergitterten Toren der Grundstückseinfahrten auf. Ich hatte natürlich eine Liste der Immobilien, die zur Disposition standen. Ich weiß nicht immer, woher Gustav seine Informationen nimmt. Wenn ich bei meinen Recherchen doch mal den direkten Kontakt suche und mit den derzeitigen Besitzern eines Objektes spreche, habe ich oft den Eindruck, dass die Leute selbst noch nicht wissen, dass sie ihr Eigentum demnächst veräußern wollen. An diesem Morgen war ich aber nur Beobachter. Ich nahm ein paar Voice-Memos auf und fotografierte so unauffällig wie möglich. Gustavs Kunde suchte ein Grundstück in Elbnähe. Die Anforderungen waren nicht leicht zu erfüllen. Es sollte nach Möglichkeit unbebaut sein, was in Nienstedten so gut wie überhaupt nicht zu finden war. Der heutige Stadtteil war schon seit Ende des Neunzehntenjahrhunderts ein beliebter Villenvorort. Es gab daher auch viele alte Häuser und genau hier konnte sich ein Ansatzpunkt ergeben. Ich war auf der Suche nach einem geeigneten Grundstück, deren Immobilie für eine Totalsanierung, also für einen Abriss, infrage kam. Ich hatte mich natürlich auch mit der Geschichte des Stadtteils beschäftigt, weil einem dabei immer auch wichtige Informationen zufallen. Hierbei trifft man oft auf ehemalige Industrieansiedlungen. In der Regel sollte man sich von Grundstücken mit einer solchen Vergangenheit fernhalten und sich nicht von dem oftmals günstigen Preis verführen lassen. Das harmlose Wort Bodensanierung kann ganze Generationen ruinieren. Solche Fälle sind allerdings selten. In Nienstedten gab es so gut wie keine Industrie, abgesehen von der Elbschloss-Brauerei, deren Gebäude noch heute stehen und in luxuriöse Eigentumswohnungen und in den exklusiven Sitz einer Reederei umgewandelt wurden. Das wären für uns natürlich auch lukrative Objekte gewesen, aber hier war selbst Gustav einige Jahrzehnte zu spät gekommen. Für mich ist es kaum vorstellbar, dass diese Riesenstadt Hamburg vor hundert Jahren noch nicht die Einheit besaß wie heute. So wurde auch Nienstedten erst 1938 eingemeindet. Während des Krieges war Groß-Hamburg das Ziel der Alliierten Bomber. Nienstedten blieb aber weitgehend verschont. Dies war für meine Suche ebenfalls ein Vorteil, denn so gab es wieder mehr alte Objekte.

Ich war mit sieben Adressen angetreten, übrig blieben nach einer knappen halben Stunde nur noch zwei. Ich parkte meinen Century in der Nähe einer kleinen Kirche, direkt an der Friedhofsmauer. Ich sah auf die Temperaturanzeige meiner Armaturentafel. Draußen waren es achtzehn Grad Celsius. Ich beugte mich vor und schaute durch die Windschutzscheibe in den Himmel. Die Wolken hatten sich etwas aufgelockert. Während der Fahrt nach Nienstedten hatte es vorhin ein wenig geregnet. Auf meiner Motorhaube glänzten immer noch ein paar Tropfen. Ich lehnte mich im Fahrersitz zurück, holte mein Smartphone aus der Innentasche meiner Jacke und entsperrte das Display. Ich dachte darüber nach, dass es praktisch wäre, ein Voice-Memo als Dateianhang in einer Mail zu versenden. Sicher war so etwas möglich, ich hatte nur noch nicht herausgefunden, wie das ging. Ich tippte daher das klassische Mail in mein Smartphone, um Gustav das Ergebnis meiner Recherche mitzuteilen. Es waren nur wenige Zeilen, weil mir klar war, dass ich später noch mündlich Bericht erstatten musste. Ich drückte auf Senden und widmete mich noch einmal kurz den Nachrichten-Apps. N-tv berichtete über den erneuten Ausbruch von Ebola und in der Schlagzeile unmittelbar darunter stand etwas von bunten Möhren, die man in Sachsen-Anhalt züchtete. Welch ein Kontrast. Dann las ich im Abendblatt von einem Zwischenfall in einem Hamburger Mietshaus. Die Polizei hatte einen Mann in Notwehr erschossen. Der akribische Artikel versuchte die Hintergründe und den Tathergang aufzuzeigen. Auf New Yorks Straßen wäre das keiner Zeile wert gewesen. Es machte mich kurz nachdenklich, ich war von all dem schon sehr weit entfernt. Natürlich habe auch ich nicht jeden Tag Mord und Totschlag erlebt, aber die Kriminalität hat in den großen amerikanischen Städten einen anderen Stellenwert als hier. Ich blätterte weiter durch die Nachrichten. Ich schaute kurz auf, sah einen Wagen vorbeifahren, registrierte aber nicht, dass der Fahrer anhielt und in die Parklücke vor mir setzte. Ich war schon wieder in die digitale Welt vertieft, als es gegen die Seitenscheibe klopfte. Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich überrascht war. Vielleicht war ich nur überrascht, Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner gerade hier anzutreffen. Ich steckte das Smartphone weg und stieg aus. Er reichte mir gleich die Hand, deutete dann auf meinen Century.

»Ich dachte gerade noch, den Wagen kennst du doch«, begrüßte er mich.

»Na, von dem Modell gibt es mittlerweile aber eine ganze Menge in Hamburg, und gerade in Deep Black Perleffekt.«

»Mag sein«, sagte Bruckner, »aber diese Neunzehn-Zöller hat nicht jeder.« Er stieß mit der Schuhspitze gegen den Pneu meines linken Vorderrades.

»Gut, ich gebe zu, ich bin es«, erwiderte ich lachend. »Aber Sie sind umgestiegen, wie ich sehe. Was ist aus Ihrem Passat geworden?«

»Werkstatt! Jetzt fahre ich vorübergehend diesen Mondeo. Konnte es mir nicht aussuchen, obwohl der gar nicht so schlecht ist. Hat ordentlich Leistung unter der Haube, so wie es sich für die deutsche Polizei gehört.«

Bruckner holte einen dicken, schwarzen Kugelschreiber aus seiner Manteltasche, steckte ihn sich in den Mund und begann einmal daran zu saugen. Ich verstand erst, was das Ding war, als aus Bruckners Mund eine feine Dampfwolke entwich.

»Sind Sie vom Kaugummi auf Büroartikel umgestiegen«, fragte ich, obwohl ich schon ahnte, was Bruckner da in der Hand hielt.

»Das ist mein neuster Versuch«, erklärte er. »Elektrische Zigarette.«

»Habe ich mir schon gedacht. Die Dinger sind gerade modern.«

»Mag sein, aber das Prinzip gibt es schon seit den sechziger Jahren.«

Bruckner hatte auch hier gründlich recherchiert. Er setzte zu einem kleinen Vortrag über die elektrische Zigarette an.

»Es gibt welche mit echtem Tabak, aber das wollte ich nicht.« Er hielt mir seine schwarze E-Zigarette hin. »Bei meiner werden Aromastoffe verdampft, die einem den Tabak nur vorgaukeln.«

Ich nahm das Ding und sah es mir näher an. »Und das mit dem Vorgaukeln klappt bei Ihnen?«

Bruckner nickte. »Das ist zu fünfzig Prozent wie mit dem Kaugummi, man muss nur etwas zu tun haben, kauen oder saugen, das lenkt von der Schmacht ab.«

»Wie lange haben Sie das Ding denn schon?«

»Knapp zwei Monate«, antwortete Bruckner. »Ich brauche nur meine Tröpfchen und ab und zu eine Aufladung.« Er griff in seine Manteltasche und förderte ein Ladekabel hervor. »Irgendwie witzig, dass ich die E-Zigarette an den Zigarettenanzünder im Wagen anschließe.«

»Praktisch für unterwegs«, meinte ich und nickte.

»Sie sind ja auch wohl immer viel auf der Straße«, entgegnete Bruckner. »Haben Sie hier zu tun, verkaufen Sie hier eine Hütte.«

»Eine Hütte?«, fragte ich.

»Ein Haus, eine Villa«, klärte Bruckner mich auf und deutete auf das Grundstück gegenüber.

»Ach, eine Hütte!«, wiederholte ich. »Ich sondiere nur. Mein Schwiegervater hat einen Interessenten und ich suche ein geeignetes Grundstück, Elbnähe, unbebaut, zum Glück spielt Geld keine Rolle.«

»Das hört man gern.« Bruckner schnalzte mit der Zunge. »Dann laufen die Geschäfte gut?«

»Das klingt ja, als wenn Sie mit einem Drogendealer sprechen«, sagte ich.

»Oh, das sollte es aber nicht.« Bruckner ließ seine Stimme geknickt klingen. »Ich kann halt nicht aus meiner Haut heraus. Meine Frau beschwert sich auch schon immer.« Er schwieg noch einmal kurz. »Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie sich mal melden würden.«

Ich überlegte. Bruckner hatte natürlich recht. Er hatte mir drei oder vier Mails geschickt, das letzte noch Ende Juni. Er hatte vom Ausgang unseres gemeinsamen Falles berichtet. Es hatte zwei Monate gedauert, bis alle Opfer identifiziert waren. Achtzehn Personen, vier Frauen und vierzehn Männer. Zwei der Männer waren bereits verstorben, wobei die Todesursachen nicht mit den Experimenten in Verbindung gebracht werden konnten, die der Täter, an seinen Opfern vorgenommen hatte.

»Und wie geht es Dr. Dr. Strass?«, fragte ich. »Ist abzusehen, dass er sich bald für seine Verbrechen verantworten kann.«

»Überhaupt nicht«, sagte Bruckner. »Er liegt weiterhin im Koma. Ein Spezialist aus Bremen hat sogar attestiert, dass Strass praktisch Hirntod sei.«

»Das ist immer bitter«, meinte ich. »Was haben die Opfer denn sonst noch, wenn nicht die Bestrafung des Täters.«

»Bestrafung!«, erwiderte Bruckner. »Ich denke, Sie können aus Ihrer Praxis Dutzende Fälle aufzählen, bei denen der Täter davongekommen ist oder sich nie verantworten musste, sich der Justiz auf die eine oder die andere Weise entzogen hat.«

Ich nickte. »Mag sein. Strass hat sich der Justiz entzogen, das kommt schon hin, auch wenn es nicht ganz freiwillig war.«

»Ich hoffe Sie fühlen sich nicht mehr schuldig?«, sagte Bruckner überrascht.

»Mich schuldig fühlen, weil ich ihm sein eigenes Zeugs gespritzt habe«, sagte ich abwehrend. »Sie haben das nicht verstanden. Ich habe mich nie schuldig gefühlt. Ich bedauere seinen heutigen Zustand, das ist nicht schön und hätte auch nicht sein müssen, aber schuldig fühle ich mich ganz sicher nicht. Es war Notwehr und fertig.«

Bruckner nickte. »Ich dachte nur, aber auch egal. Sie hätten sich trotzdem mal melden können.«

»Stimmt, entschuldigen Sie!«

»Schon gut, entschuldigen brauchen Sie sich nicht«, meinte Bruckner. »Ich hätte mich vielleicht auch von der Sache ferngehalten, Sie haben ja schließlich einen ganz anderen Job.«

»Und Sie?«, fragte ich. »Was ist ihr neuster Job, was machen Sie hier in der Gegend? Gab es einen Mord? Es würde mich interessieren, wir wollen in Nienstedten schließlich einen guten Kunden ansiedeln.«

»Es interessiert Sie?«, fragte Bruckner nachdenklich.

»Nein, ich wollte nur höflich sein«, antwortete ich.

Bruckner zögerte. »Ich bin auf dem Weg zu einer Toten.«

»Also doch ein Mord?«, stellte ich fest.

»Wenn das so einfach wäre«, sagte Bruckner.

»Jetzt wollen Sie mich neugierig machen. Sie sind gar nicht an einem Fall dran.«

»Doch, doch!«, sagte Bruckner schnell. Er griff sich in die Jackentasche, holte sein Notizbuch hervor, blätterte und hielt mir die aufgeschlagene Seite hin. »Zu dieser Adresse muss ich.«

Ich beugte mich vor und las die Anschrift. »Das liegt direkt an der Elbe, eines der Elbgrundstücke. Sebastian von Treibnitz! Kenn ich nicht. Geht es um Frau von Treibnitz?«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Eine Angestellte.« Er blätterte eine Seite um und las mir den Namen vor. »Upp, Caroline. Es soll ein Unfall gewesen sein, mit einem Jagdgewehr.«

»Wer sagt das?«, fragte ich.

»Unsere Leute vom Kriminaldauerdienst. Es sind bereits Beamte Vorort. Mich hat man vor einer halben Stunde informiert. Ich habe Hartmann vorgeschickt. Sie kennen doch noch Florian Hartmann?«

»Wenn ich Nein sage, lassen Sie mich dann in Ruhe?«

»Sie haben doch gefragt, wohin ich des Weges bin«, sagte Bruckner beinahe empört, »ob ich an einem Fall dran sei.«

»Nein, nein, Sie haben angehalten«, erwiderte ich. »Ein netter Gruß im Vorbeifahren hätte es doch auch getan.«

Bruckner lachte kurz auf, dann wurde er gleich wieder ernst. »Es sieht nach Selbstmord aus.«

»Ein Jagdgewehr!«, sagte ich. »Eine Frau hat sich mit einem Jagdgewehr erschossen. So im Stile von Hemingway?«

»Ich wusste gar nicht, dass sich Hemingway erschossen hat.« Bruckner überlegte. »Doch stimmt, hat er. Ich verwechsele Hemingway immer mit Spencer Tracy.« Bruckner stutzte. »Was meinten Sie.«

»Das Jagdgewehr!«, antwortete ich. »Wenn Frauen sich erschießen, dann mit einer Pistole, wenn überhaupt. Selbstmord mit einer Schusswaffe ist nicht gerade typisch für eine Frau.«

»Interessanter Gedanke«, sagte Bruckner. »Dann sind Sie ja schon mitten im Fall.«

Er blätterte noch eine Seite in seinem Notizbuch um und begann sich etwas zu notieren.

»Schreiben Sie das auf?«, fragte ich.

»Ja, warum nicht? Mir wäre das nicht eingefallen, zumindest nicht sofort.«

»Sie wollen mich ködern«, rief ich. »Sie wollen mein Interesse wecken.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss jetzt arbeiten, ins Büro und heute Abend fahre ich nach Travemünde, Urlaub mit meiner Familie, man erwartet mich dort.«

»Sie machen Urlaub in Travemünde?«

»Nur ein paar Tage. Meine Frau und die Kinder sind schon dort.«

»Oh, wie geht es Ihrer Familie?«

»Danke, gut. Aber lenken Sie nicht ab«, erwiderte ich.

»Ich lenke gar nicht ab, ich bin nur höflich.« Bruckner ließ ein paar Sekunden verstreichen, bis er weitersprach. »Caroline Upp ist die Haushälterin derer von Treibnitz. Sie ist fünfunddreißig ...«

»Ich dachte sie sei tot?«, warf ich ein.

»Gut, sie war fünfunddreißig«, korrigierte sich Bruckner, »ledig, ja, mehr weiß ich noch nicht.«

»Mich würde das Anwesen interessieren«, sagte ich. »Wie heißen die Leute, von Treibnitz?«

*

Ich weiß nicht, ob Bruckner überrascht war, oder es als den Erfolg seiner Überredungskünste feierte. Eigentlich hatte er mich nicht überredet, und wenn doch, dann hatte er es sehr leicht. Ich folgte seinem roten Ford durch zwei Querstraßen und ein ganzes Stück am Elbufer entlang. Die Straße machte schließlich einen Knick, führte an einer weißen Mauer entlang, bis wir ein hohes gusseisernes Tor erreichten, das weit offenstand. Bruckner befuhr das Grundstück, ich folgte ihm mit meinem Century. Die Kiesauffahrt verlief in einem weiten Bogen bis hin zu der weißgetünchten Stadtvilla. Auf dem Grundstück gab es noch einen Garagentrakt und zwei Nebengebäude, die etwas von der Villa entfernt standen. Die Wege zwischen den Gebäuden waren ebenfalls mit Kies aufgeschüttet, mit weißem Kies. Weiße Gebäude mit roten Ziegeldächern. Der Garagentrakt hatte ein Flachdach. Bruckner verließ den Kiesweg, fuhr auf eine Rasenfläche und parkte dort, wo bereits zwei Streifenwagen und vier weitere Fahrzeuge standen. Die Nummernschilder verrieten die Polizeiwagen. Ein Transporter und zwei dunkelblaue Ford Mondeos. Der vierte Wagen hatte ebenfalls ein Hamburger Nummernschild. Es war ein wuchtiger Audi A8 ABT-Tuning in Silber mit Zwanzig-Zoll-Sportfelgen und verdunkelten Seitenscheiben. Der Wagen war rückwärts eingeparkt und so sah ich, dass in der Windschutzscheibe ein Aufkleber mit dem Äskulapstab haftete. Ich wunderte mich kurz über den protzigen Auftritt des Gerichtsmediziners. Ich fuhr an dem Audi vorbei und stellte meinen Century gleich hinter Bruckners Ford ab. Wir stiegen aus. Bruckner und ich sahen uns um. Der Park war riesig. Ich rechnete, begann im Kopf eine Aufteilung des Grundstücks, gab es aber auf. Einerseits war es Verschwendung, andererseits wäre es eine Sünde gewesen, eine solche Fläche auseinanderzureißen. Bruckner stieß mich an. Wir machten uns über den weißen Kies auf den Weg zur Eingangstreppe. Das Portal war nicht überfrachtet. Ein Vordach getragen von zwei Säulen, das ganze vier, fünf Meter hoch. Oben auf dem Vordach war die Balustrade eines Balkons zu sehen. Dahinter eine Reihe von bodentiefen Fenstern oder Türen mit weißen Holzrahmen und Sprossenscheiben. Das gesamte Gebäude hatte in den Fenstern diese Sprossenscheiben, die zum Stil passten. Vor zwei Jahren hätte ich die Bauausführung noch nicht unterscheiden können, doch jetzt war ich sicher, dass die Villa zum größten Teil im Jugendstil gehalten war. Die Treppe zum Portal hatte links und rechts eine geschwungene Balustrade, die mich an den Barkenhof in Worpswede bei Bremen erinnerte. Das Ganze war nur etwas mächtiger und größer und die beiden Säulen oben am Ende der Treppe fehlten dem Barkenhof natürlich. Gustav hatte im letzten Jahr tatsächlich ein Objekt in der ehemaligen Künstlerkolonie in Worpswede angeboten bekommen. Es gab einige Hamburger Interessenten. Am Ende hatte ein ehemaliger Kölner Sparkassenfilialleiter den Zuschlag für den sanierten Resthof am Ortsrand von Worpswede erhalten. In der Zeit nach dem Deal hatte ich mich dann etwas mehr mit dem Jugendstil beschäftigt.

Bruckner und ich stiegen die Treppe hinauf und ich erwartete im Haus weitere Merkmale des Jugendstils zu finden. Wir hatten kaum die Tür erreicht, als uns auch schon ein Uniformierter mit aufgeregtem Gesichtsausdruck entgegenkam. Bevor der Mann etwas sagen konnte, hatte Bruckner seine Dienstmarke aufblitzen lassen und wir durften ohne weitere Aufregung passieren. Meine Vermutung, was den Jugendstil betraf, schien sich zu bestätigen. In der großzügigen Diele standen zwei Stühle und ein schwarzes, gusseisernes Kaminbesteck. Die langen Griffe des Schürhakens, der Schaufel, des Besens und der Kaminzange wiesen die typischen Rundungen auf. Der Durchgang von der Diele zur Eingangshalle bestand aus einer Buntglaswand mit einer zweiflügeligen Glastür. Auf alles traf die Stilbeschreibung zu, die mir spontan wieder einfiel: dekorativ geschwungene Linien mit flächenhaften floralen Ornamenten. Eine schöne Umschreibung. Bruckner hatte hierfür keinen Blick. Er wandte sich an den Uniformierten, der ein kleinwenig strammzustehen schien, als er angesprochen wurde.

»Wo ist der Dauerdienst?«

Ich musste selbst überlegen, was Bruckner damit meinte. Der Uniformierte schien aber überhaupt keine Vorstellung zu haben, wonach er gefragt wurde. Der Mann war wirklich sehr jung. Bei einer anderen Gelegenheit hatte Bruckner einmal über seine jungen Kollegen gesagt, dass er nicht verstehe, warum man sie so früh aus der Kaserne der Bereitschaftspolizei herausließe.

»Ich ..., äh ..., meinen Sie die anderen Herren?«, war die durchaus berechtigte Gegenfrage des Polizisten.

Bruckner schüttelte den Kopf. »Wo müssen wir hin?«

Der junge Uniformierte hatte sich wieder gefangen. »Ich bringe Sie.«

Bruckner hatte nichts einzuwenden und wir folgten dem Mann. Er hielt uns einen Flügel der Glastür geöffnet und wir betraten die Eingangshalle. Es war so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ein großer, halbrunder Raum, der nach oben die erste Etage durchbrach und in seinem Zentrum durch einen ausladenden Kronleuchter beschirmt wurde. Es gab eine breite, geschwungene Treppe, die sich auf halbem Wege nach oben verjüngte, um dann auf dem Rest des Weges hinauf zur Galerie wieder breiter zu werden. Das Treppengeländer zog sich ebenfalls in einem eleganten, jugendstilhaften Schwung nach oben und wurde schließlich in die Balustrade der halbkreisförmigen Galerie aufgenommen. Ich hoffe diese Beschreibung gibt einen Eindruck der Schönheit.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann war mir wieder bewusst, dass ich nicht zu einer Objektbesichtigung hier war. Rechts von uns öffnete sich eine Tür. Drei Herren stürmten heraus und traten zu uns. Hartmann war mir noch bekannt. Der zweite Polizist in zivil wurde mir als Hermann Seitz vom Kriminaldauerdienst vorgestellt. Hinter ihm stand der dritte Mann. Mir fiel sofort der klassische Arztkoffer auf, den er in der rechten Hand hielt. Es war heutzutage nicht mehr praktisch mit diesen Taschen herumzulaufen, es sei denn, man war kein Arzt. Braunes, glattes Leder mit goldenen Beschlägen. Die Tasche und die gesamte Aufmachung des Mannes passten zu dem Audi, der draußen parkte. Bruckner wandte sich an Hartmann, der sofort mit seinem Bericht begann.

»Die Tote liegt in der Bibliothek. Die Leute aus dem Haus warten im Salon. Udo passt auf.«

Mit Udo meinte Hartmann seinen Kollegen Udo Galler, der ebenfalls beim Erkennungsdienst arbeitete. Hartmann selbst hatte, seitdem ich ihn kannte, immer eine Doppelfunktion gehabt. Bruckner setzte ihn als eine Art Assistenten ein. So war es schon vor ein paar Monaten, als ich das erste Mal mit Bruckner zusammengearbeitet hatte.

»Wie viele sind es?«, fragte Bruckner.

»Im Salon warten vier. Ich habe die Personalien bereits aufgenommen. Und auch schon ans Präsidium weitergegeben.«

»Wer sind die Leute?«

»Drei Hausangestellte und der Hausherr. Frau von Treibnitz ist auf ihrem Zimmer, der Doktor hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

Hartmann deutete auf den Mann mit dem Arztkoffer, der jetzt vortrat und Bruckner die Hand reichte.

»Dr. Loos«, stellte er sich vor.

Bruckner musterte ihn ein, zwei Sekunden. »Sind Sie der Hausarzt derer von Treibnitz?«

»Bitte?«, fragte Dr. Loos und er schien wirklich nicht verstanden zu haben.

»Ob Frau von Treibnitz Ihre Patientin ist, sind Sie deswegen hier?« Bruckner sprach bewusst langsam.

»Nein, nein, ich bin wegen der Leichenschau gekommen«, erklärte der Arzt.

Hartmann griff ein. »Der Doktor ist von einer der Angestellten gerufen worden.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Dr. Loos. »Die Köchin, Frau Salbert hat mich angerufen. Ich wohne hier in der Gegend. Frau Salbert und ich kennen uns. Ich sollte Erste Hilfe leisten, aber ich muss sagen, es war natürlich schon zu spät.«

»Dr. Loos hat den Tod der Toten festgestellt«, erklärte Hartmann. »Also die erste Leichenschau vorgenommen.«

»Das alles ist mir etwas unangenehm«, stammelte der Doktor. »Ich bin Hals-Nasen-Ohren-Arzt, leite eine Privatklinik. Das, was da mit der Frau geschehen ist, gehört sozusagen nicht in mein Fachgebiet.«

»Aber Sie konnten wenigstens ihr Ableben feststellen«, warf Bruckner etwas mürrisch ein.

»Es muss ein bisschen mehr gemacht werden«, antwortete Dr. Loos. »Ich bin mir schon meiner Pflicht bewusst.«

»Gut, Sie sind gleich noch dabei, wenn ich mir die Tote ansehe.«

»Ich habe Verpflichtungen«, begann Dr. Loos wieder zu stammeln. »Mir ist das alles wirklich sehr unangenehm. Können Sie nicht Ihre Kollegen von der Gerichtsmedizin hierherholen?«

»Kommt noch!«, sagte Bruckner weiterhin mürrisch. »Sie haben die Leiche als Erster untersucht, Sie bleiben bitte hier.«

Es vergingen zwei Sekunden, dann fügte Bruckner in milderen Worten noch etwas hinzu. »Bitte haben Sie Verständnis dafür, Herr Dr. Loos.«

Bruckner wandte sich wieder an Hartmann. »Ich überlege gerade, soll ich mit den Leuten sprechen oder erst die Leiche ansehen?«

»Die sollten sich noch ein paar Minuten beruhigen«, meinte Hartmann. »Wir haben sie ja regelrecht zusammengetrieben. Den Gärtner musste ich zweimal bitten, wieder ins Haus zu kommen.«

»Den Gärtner«, wiederholte Bruckner. »Da gibt es doch ein Sprichwort.«

»Oh, sonst sind die Phrasen doch immer von mir, Herr Kriminaloberkommissar«, entgegnete Hartmann.

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Also zuerst die Leiche. Spurensicherung schon abgeschlossen?«

»Nein, wie gesagt, die Leiche geht vor.«

»Wo ist das, diese Bibliothek?«

Hartmann zeigte auf die Tür, durch die er, Hermann Seitz und Dr. Loos vor zwei Minuten gekommen waren. Bruckner nickte. Hartmann ging voran, wir anderen folgten. Ich betrat das Zimmer als Letzter und schloss die Tür hinter mir. Hartmann und Galler hatten Scheinwerfer aufgestellt, die Hartmann jetzt wieder einschaltete. Ich hatte den Körper der toten Frau erst gar nicht wahrgenommen. Das grelle Licht tauchte alles in eine unwirkliche Welt, in eine Welt aus Sachlichkeit. Dieses Empfinden hatte ich früher auch schon immer im Leichenschauhaus, was es einem einfacher macht, die Grausamkeit des Todes von Gewaltopfern zu ertragen. Erst jetzt spürte ich die Hitze in dem Raum. Hartmann klärte uns gleich auf.

»Der Gaskamin war voll aufgedreht, warum auch immer. Das macht die Sache für den Pathologen nicht einfacher. Wir konnten natürlich nicht lüften.«

Bruckner nickte. »Wie weit ist der Bereich gesichert?«, fragte er.

Hartman zeigte in gerader Linie von der Tür bis zur Leiche. »Wir haben hier einen Korridor von zwei Metern Breite aufgenommen. Und um die Tote herum einen Halbkreis von ebenfalls zwei Metern.«

»Und die Spurenlage?«

»In der Nähe der Leiche vor allem Blut, menschliches Gewebe und verbrannte Stoffreste«, erklärte Hartmann. »Die Stoffreste stammen wohl von der Kleidung der Toten, soweit man das ohne Laboruntersuchung feststellen kann.«

»Sonst nichts?«

Hartmann schüttelte den Kopf. »Wir sind mit unserem Staubsauger über den Teppich gegangen. Ist so gut wie nichts hängengeblieben. Der Raum wird täglich gereinigt. Gibt ja auch genug Personal hier.«

»Wer sagt das?«, fragte Bruckner.

»Die Haushaltshilfe«, antwortete Hartmann. »Eine Frau Lankes. Ich habe mich sehr nett mit ihr über Staubsauger unterhalten. Hier im Hause bevorzugt man einen Vorwerk Kobold.«

»Kobold?«, wiederholte Bruckner.

»Der Mercedes unter den ...« Hartmann sprach den Satz nicht zu Ende, weil Bruckner schon die Hand hob.

»Ich glaube wir lassen die Phrasen«, sagte er mit einem Ton, der allerdings nicht sehr ernst klang.

Bruckner sah erst nach links und dann nach rechts, um die zwei Meter abzuschätzen. Hermann Seitz, der bislang noch überhaupt nicht gesprochen hatte, blieb wie eine Wache an der Tür stehen. Wir anderen gingen auf dem vorgegebenen Weg zur Leiche. Eine gute Minute lang ließen wir das Bild auf uns wirken. Dr. Loos begann schon unruhig zu werden. Bruckner ließ ihn weiter zappeln.

»Was wissen wir über die Dame?«

»Caroline Upp, fünfunddreißig Jahre alt, ledig. Die Information stammt von Herrn von Treibnitz«, erklärte Hartmann.

»Das weiß ich schon alles. Hast du nicht mehr zu bieten? Was ist mit Angehörigen, Eltern, Geschwister, sind Namen von Freunden bekannt und das alles? Mit wem haben wir es zu tun? Was sagt der Polizeicomputer?«

Hartmann pfiff durch die gespitzten Lippen. »Noch gar nichts. Die Überprüfung steht noch aus. Ich kann mich schließlich nicht zerreißen. Ich werde mich aber gleich noch einmal dahinterklemmen.«

Bruckner nickte, gab sich mit der Antwort vorerst zufrieden. »Was waren ihre Aufgaben?«, kam er gleich zum nächsten Punkt.

»So wie ich es verstanden habe, war Frau Upp die Hauswirtschaftlerin.«

»Was macht so jemand?«

»Weiß nicht«, sagte Hartmann.

Bruckner gab auch mit dieser Antwort vorerst zufrieden. Bisher hatte er in gewisser Weise nur über die Leiche hinweggesprochen. Jetzt ging er in die Knie. Ich selbst habe immer den Blick von oben bevorzugt. Bruckner hockte direkt vor dem Kopf der Toten, so hat jeder seine eigene Herangehensweise. Die Leiche lag auf dem Rücken vor einem geöffneten Schrank. Das rechte Bein war gerade gestreckt, das Linke leicht angewinkelt. Die Arme waren zu beiden Seiten des Kopfes nach hinten geworfen. Es sah tatsächlich so aus, als wäre die Tote mit großer Wucht umgestoßen worden und hatte dabei mit den Armen gerudert, um den Sturz noch zu verhindern. Dieses Bild täuschte selbstverständlich. Es war vielmehr die heftige Rückwärtsbewegung, die die Arme mit sich gerissen hatte. Es war also keine gewollte oder reflexartige Bewegung, sondern die reine Physik eines leblosen Körpers. Die Ursache für diese plötzliche Leblosigkeit zeichnete sich auf der Brust der Frau ab. Das blutdurchtränkte Kleid verbarg zunächst die schwere Verletzung. Bei genauerem Hinsehen konnte man aber den zerstörten Brustkorb erkennen. Ein gut fünf Zentimeter großes Loch, zerfetztes Fleisch, geborstene Knochen. Alles war bereits in Blut getaucht, sodass es wie eine einzige rote Masse wirkte. Ich blickte jetzt auch in das Gesicht der Toten. Erhebliche Blutspritzer an Kinn und Nase. An einigen Hautstellen gab es Verbrennungsspuren. Die Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Die Gesichtshaut wirkte insgesamt bläulich. Die braunen, halblangen Haare klebten in einer Blutlache am Teppich.

Bruckner gab dem Arzt ein Zeichen. Dr. Loos hockte sich ohne ein Zögern zu ihm auf den Boden.

»Was können Sie mir darüber sagen?«

Dr. Loos überlegte, als wenn er nach den richtigen Worten suchen musste. Dann legte er los.

»Schussverletzung aus nächster Nähe, vielleicht zehn, höchstens zwanzig Zentimeter«, war die erstaunlich knappe und präzise Antwort.

Dr. Loos war aber noch nicht fertig. Bruckner und er blieben in der Hocke, während der Arzt auf den Körper der Toten zeigte, um seine Erklärungen anschaulicher zu machen.

»Schrotmunition. Das Brustbein wurde aufgesprengt, hoher Blutverlust in relativ kurzer Zeit. Ich vermute auch gravierende innere Verletzungen.« Er machte eine Pause und sah Bruckner an. »Die Schrotkörner können an den Knochen abgeprallt und nach innen gedriftet sein. Daher vermute ich auch Verletzungen an weiteren Organen.«

»Was ist mit der Gesichtsfarbe?«, fragte Bruckner, dem der blaue Teint der Leiche ebenfalls aufgefallen war.

»Wie gesagt, es sind sehr wahrscheinlich weitere Organe vom Schrot durchsiebt worden«, antwortete Dr. Loos. »Und so vermutlich auch die Lunge. Die Schussverletzung muss nicht sofort tödlich gewesen sein. Die Verletzung und das viele Blut haben die Lunge außer Funktion gesetzt. Die Frau kann durchaus erstickt sein, bevor sie verblutet ist.«

Bruckner nickte. Er und Dr. Loos erhoben sich fast gleichzeitig. Bruckner wandte sich an Hartmann und mich. Ich ging um die Leiche herum, stellte mich Bruckner und Hartmann gegenüber. Gemeinsam sahen wir uns den Rest des Arrangements an. Dieses Wort ist sehr passend, finde ich. Nach dem Ereignis, das heißt nach dem Sturz und dem Tod der Frau, haben alle Gegenstände einen bestimmten Ort eingenommen. Die Feststellung, ob sich diese Orte physikalisch erklären lassen, oder künstlich hervorgerufen wurden, gehört zur wichtigsten Arbeit der Polizei und der Spurensicherung. Hartmann hatte sich bereits eine Meinung gebildet. Er ließ Bruckner und mir aber genug Zeit, damit wir selbst zu einem Bild kamen.

Der Schrank aus dunklem, poliertem Mahagoniholz, war etwa zwei Meter hoch und hatte zwei teilverglaste Türen, die auch den Unterschrank abdeckten. Beide Türen waren bis zum Anschlag geöffnet. Im Unterschrank befand sich eine Art Tresor. Bruckner zog an dem Metallgriff, der Tresor war aber verschlossen. Über dem Unterschrank, auf dem massiven Trennboden, standen drei Gewehre aufrecht in ihren Halterungen. Ein viertes Gewehr war nach vorne gekippt. Der Lauf zeigte schräg nach oben. Die Gewehre waren an den Abzugsbügeln durch ein kunststoffummanteltes Stahlkabel gesichert, das bei allen Waffen allerdings oberhalb des Abzugs verlief. Die Schlaufe am Ende des Sicherungskabels war über einen Riegel geschoben, der wiederum mit einem stabilen Vorhängeschloss versehen war. Bruckner betrachtete sich die Anordnung. Er beugte sich in den Schrank und prüfte das Vorhängeschloss, dessen Bolzen eingerastet war. Der Kolben des schräg nach vorne ragenden Gewehrs hatte die Innenwand des Schrankes gespalten.

»Rückschlagskraft!«, kommentierte Bruckner.

Er befühlte das Holz und kratzte am Gummiabrieb, den der Kolben hinterlassen hatte. Er zog den Kopf aus dem Schrank. Dann fiel sein Blick auf den kleinen Schlüssel, der auf dem Teppich, unmittelbar vor dem Mahagonischrank lag. Er deutete darauf.

»Das ist ein Bohrmuldenschlüssel«, erklärte Hartmann. »Der könnte für das Kabelschloss passen.«

»Nicht für den Schrank?«, fragte Bruckner.

»Den Schrank kann man nicht abschließen, hat kein Schloss und keinen Riegel.«

»Und! Passt der Schlüssel für das Sicherungskabel?«

»Wir haben ihn noch nicht angerührt«, antwortete Hartmann. »Wegen der Fingerabdrücke. Wir hatten noch keine Zeit, uns um die Fingerabdrücke zu kümmern.«

»Handschuh!«, forderte Bruckner.

Hartmann nickte und zog einen blauen Venylhandschuh aus seiner Jackentasche. Er reichte ihn Bruckner, der ihn sich über die rechte Hand streifte.

»Aber nichts verwischen«, warnte Hartmann.

Bruckner schüttelte verächtlich den Kopf, ging in die Hocke und nahm den kleinen Schlüssel vom Boden auf. Er hielt ihn vorsichtig am Schlüsselbart fest. Hartmann war schon zu seinem Koffer gegangen und kam mit einem feinen Pinsel und einem Fläschchen Rußpulver zurück. Bruckner hielt ihm mit spitzen Fingern den Schlüssel hin und Hartmann strich das Rußpulver auf. Anschließend pustete er und schüttelte gleich den Kopf.

»Ist wohl kaum brauchbar.«

»Nimm den Abdruck trotzdem«, forderte Bruckner ihn auf.

Hartmann hatte auch schon einen Klebestreifen dabei und fixierte das Reißpulver. Nachdem die Prozedur beendet war, wischte Bruckner über den Schlüssel, setzte sich wieder auf die Knie und beugte sich in den Schrank hinein. Er probierte es, ohne das Schloss des Sicherungskabels ganz zu öffnen.

»Passt!«, war die knappe Aussage.

Hartmann nickte. Bruckners Blick richtete sich auf den Tresor im Unterschrank. Er setzte den Schlüssel an, drehte ihn und öffnete die Tresortür.

»Na bitte!«

Er bückte sich noch ein Stück tiefer und blickte ins Innere des Tresors. Er griff hinein und holte eine angebrochene Packung Schrotmunition hervor.

»Da haben wir ja die Übeltäter«, kommentierte Bruckner seinen Fund. »Es fehlen allerdings sechs Patronen.« Er griff noch einmal in den Tresor und zog eine zweite Packung heraus. »Und da haben wir auch Kugelmunition.«

Bruckner schob die Patronenpackungen zurück in den Tresor, schloss den Tresor aber nicht wieder ab, sondern zog nur den Schlüssel und gab ihn Hartmann.

An dieser Stelle hätte man die ersten Spekulationen über die Geschehnisse vornehmen können, doch das war noch zu früh. Es waren noch nicht alle Fakten zusammen und so schwiegen Bruckner und Hartmann und ließen Spuren Spuren sein. Bruckners Blick richtete sich jetzt vielmehr auf die Gewehre.

»Was sind das für Waffen?«, fragte er nach kurzer Überlegung.

Hartmann schüttelte den Kopf. Dr. Loos, der noch immer am Kopf der Leiche stand, hob zaghaft den Arm.

»Entschuldigen Sie, ich kenne mich da aus.«

»Was heißt das, Sie kennen sich aus?«, rief Bruckner.

Dr. Loos kam ein paar Schritte näher zum Schrank. »Ich kenne nicht diese Waffen, aber ich kenne mich mit solchen Jagdgewehren aus.«

Bruckner nickte zustimmend. »Und das sind Jagdgewehre?«

»Jagdflinten, um genau zu sein«, bestätigte Dr. Loos beinahe eifrig. Er deutete in den Schrank. »Die Erste, das ist eine Bernadelli, eine Blockflinte. Das sieht man an den übereinanderstehenden Flintenläufen. Ein wirklich schönes Stück.« Er räusperte sich. »Daneben haben wir eine Beretta Perennia, auch eine Blockflinte. Und daneben, die Dritte, das ist ein Drilling, eine Sauer & Sohn 3000 Luxus. Wissen Sie, was ein Drilling ist?«

»So in etwa«, antwortete Bruckner.

»Also der Drilling ist eine kombinierte Waffe mit zwei Schrot- und einem Kugellauf. Darum auch die Kugelmunition im Tresor. Wer in seinem Revier mit verschiedenen Wildarten zu tun hat, wird immer mit einem Drilling unterwegs sein. Er wird die klassische Kugelmunition vor allem für Schalenwild einsetzen, während für das Niederwild Schrotmunition benötigt wird.«

Bruckner hatte sich wieder zum Schrank umgewandt, während Dr. Loos sein Wissen preisgab. »Gut, gut, ich glaube ich habe verstanden.« Er zeigte auf die Waffe ganz Rechtsaußen, die weiterhin nach vorne gezogen war.

»Und diese hier?«

»Eine Blaser F3 Competition. Die Competition hat einen sehr langen Lauf. Das Projektil erfährt dadurch eine höhere Beschleunigung.« Dr. Loos zögerte einen Moment. »Es passt sehr gut zu den Verletzungen der Toten. Hohe Auftreffgeschwindigkeit der Schrotkugeln, bei geringer Streuung.«

»Was sagten Sie noch, aus welcher Entfernung wurde geschossen?«

Dr. Loos überlegte. Er wandte sich zu der Toten, als wenn er seine vorherige Aussage noch einmal überprüfen wollte. Dann sah er Bruckner wieder an.

»Ich bin davon überzeugt, dass die Mündung der Flinte nicht auf der Brust lag. Es gibt nämlich keine unmittelbaren Verbrennungsspuren und es ist auch eine ganz leichte Schrotstreuung zu erkennen. Ich bleibe dabei, zehn Zentimeter, auf keinen Fall mehr.«

»Und weiter?«, fragte Bruckner.

Dr. Loos nickte. »Sie muss den Lauf mit der rechten Hand gehalten haben, und zwar ziemlich weit oben. Sie hat die Mündung zu sich herangezogen.«

»Moment, das verstehe ich nicht, wie kommen Sie darauf?«, fragte Bruckner. »Die Waffe kann doch auch herausgekippt sein, während unser Opfer im Schrank hantierte?«

Dr. Loos trat vor die Tote, beugte sich über sie, nahm ihren rechten Arm hoch und drehte die Handfläche nach oben. »Hier können Sie die Verbrennungsspuren sehen. Das kommt vom Mündungsfeuer.«

»Alle Achtung«, sagte Bruckner, »da nehmen Sie ja die Arbeit des Gerichtsmediziners vorweg.«

»So etwas ist wohl nicht sehr schwer zu erkennen«, entgegnete Dr. Loos mit einem Achselzucken.

Er legte den Arm der Toten wieder behutsam auf dem Fußboden ab und erhob sich.

»Was glauben Sie, was passiert ist?«, fragte Bruckner weiter.

Dr. Loos räusperte sich erneut. »Sie hat den Lauf der Flinte zu sich gezogen, ihn wie gesagt mit der rechten Hand gehalten und dann muss sich der Schuss gelöst haben.«

»Wie meinen Sie das, der Schuss muss sich gelöst haben?« Bruckner sah mich kurz an, wartete aber auf Dr. Loos’ Antwort.

»So etwas kann schnell passieren, wenn die Waffe noch geladen war. Es ist natürlich unverantwortlich, eine geladene Flinte im Schrank abzustellen.«

»Also das ist Ihre Theorie«, fasste Bruckner zusammen. »Das Opfer geht an den Schrank, öffnet ihn, nimmt das Gewehr mit der rechten Hand und zieht es am Lauf heraus. Daraufhin löst sich ein Schuss. Warum hat sich der Schuss gelöst?«

Es war Bruckners Art zu fragen, denn genau wie ich, wusste er die Antwort bereits. Dr. Loos ließ sich auf das Spiel ein.

»Das Sicherungskabel«, antwortete er und ging an den Schrank heran. »Es ist aber absolut gefährlich, wenn man das Sicherungskabel so verlegt wie hier.« Der Arzt sah Bruckner wieder an. »Sie wissen schon, was ich meine. Das Kabel sollte eigentlich unterhalb der Abzüge laufen.«

Bruckner verzog keine Mine. »Also, sie hat die Flinte aus irgendeinem Grund mit der rechten Hand am Lauf angefasst, den Lauf zu sich gezogen. Das Sicherungskabel hat sich gespannt und den Abzug ausgelöst. Dann ergeben sich mehrere Fragen für mich.«

Bruckner schien kurz zu überlegen. Jetzt sprach er nicht mehr zu Dr. Loos, sondern zu Hartmann und mir.

»Warum hat sie die Waffe angefasst? Wollte sie sich umbringen oder war alles nur eine Verkettung unglücklicher Umstände? Warum war der Abzug nicht gesichert, denn sonst hätte sich kein Schuss lösen können? Hat sie die Waffe selbst geladen? Hat sie die Waffe selbst entsichert?«

Bruckner wandte sich direkt an Hartmann, der gleich verstand und den Kopf schüttelte.

»Moment, Moment, wir haben den Schrank noch nicht untersucht. Wann denn auch.«

Hartmann holte ein zweites Paar Venylhandschuhe hervor, streifte es sich über die Hände und beugte sich in den Schrank.

»Vorsicht!«, rief Dr. Loos, der einen Schritt zurückgetreten war. »Erst den Abzug sichern, das ist ein Doppelläufer, da kann noch eine zweite Patrone im anderen Lauf stecken.« Er blieb auf seiner sicheren Position stehen, reckte sich etwas und dirigierte mit den Händen. »Einfach den Schlossbügel oben auf der Flinte nach rechts drücken und den Lauf brechen, das heißt den Lauf herunterkippen.«

Hartmann ging mit dem Oberkörper ein Stück zur Seite und zeigte auf den Bügel der ganz rechts stehenden Waffe. »Hier drücken?«

»Ja, und den Lauf beim Brechen festhalten.« Dr. Loos näherte sich einen Schritt.

Hartmann nickte und klappte den Lauf der Flinte nach vorne. »Nicht schlecht«, sagte er und deutete auf die beiden Patronen, die beim Öffnen der Waffe ein Stück aus ihren Läufen geschoben wurden.

»Einsammeln!«, rief Bruckner.

Hartmann zog einen Plastikbeutel aus seiner Jackentasche. Die Patrone im unteren Lauf hatte noch ein glänzendes Zündhütchen und war unversehrt. Von der im oberen Lauf war nur noch die Kunststoffhülse übriggeblieben. Hartmann tütete beide Patronen ein. Bruckner kam wieder auf seine Fragen zurück.

»Wollen wir ein kleines Fazit ziehen«, schlug er vor. »Ein vorläufiges Fazit, meine ich. Die Frage ist nämlich, Selbstmord oder Unfall, suizidal oder akzidentell.«

Dr. Loos fühlte sich wieder angesprochen und nickte. »Soll ich das so in meinen Bericht schreiben?«

Bruckner wandte sich zu ihm und schüttelte den Kopf. »Ja Herr Doktor, jetzt sind Sie hier doch schneller fertig, als wir gedacht haben. Sie müssen nur noch den Totenschein ausfüllen, das ist Ihre einzige Pflicht. Ich erkläre das hier nämlich offiziell zu einer polizeilichen Angelegenheit und entbinde Sie von der Leichenschau.« Bruckner zögerte einen Moment. »Ich bedanke mich bei Ihnen, war gute Arbeit.«

»Soll ich noch einmal nach Frau von Treibnitz schauen?«

»Das kann ich natürlich nicht entscheiden, Sie sind hier der Arzt«, antwortete Bruckner.

»Ich werde nach ihr sehen«, entschied Dr. Loos, ohne zu zögern.

Bruckner nickte. Er deutete zur Tür. »Kollege Seitz soll Sie nach oben begleiten. Bitte bedenken Sie, dass Frau von Treibnitz eine Zeugin ist. Vielleicht können Sie ihr auch etwas geben, damit Sie wieder auf die Beine kommt.«

Dr. Loos hatte Bruckner verstanden. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«

Hermann Seitz hatte bereits die Tür geöffnet. Dr. Loos und er verließen die Bibliothek. Hartmann, Bruckner und ich blieben bei der Leiche. Es gab noch ein paar Punkte, über die wir uns austauschten, die uns aber zunächst nicht weiterbrachten.

Morgentod

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