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1.....Mittwoch, 30. April 2014

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Ich beendete das Telefonat und hatte noch die Stimme meiner Sekretärin im Ohr. Ich überprüfte in Gedanken die Punkte, die ich Frau Sievers aufgetragen hatte. Das Mehrfamilienhaus direkt am Strelasund hatte wieder einmal mein Schwiegervater ausgegraben. In seinem Namen war ich an diesem Montagmorgen ganz in der Frühe von Hamburg aufgebrochen und hatte es doch tatsächlich in weniger als zweieinhalb Stunden bis nach Stralsund geschafft. Die Autobahnen in diesem Land sind Gold wert und als gebürtiger Highway-Schleicher weiß ich nun wirklich, was ich an ihnen habe.

Ich war bei Punkt Nummer zwei auf der Liste in meinem Kopf. Bei dem Mehrfamilienhaus mussten wir mit Renovierungskosten rechnen, die ich grob auf unter dreißigtausend Euro schätzte. Diese Summe kam noch zum ohnehin schon hohen Kaufpreis hinzu. Es konnte ein Killerkriterium sein, doch Gustav ließ sich nicht immer nur von den nackten Zahlen leiten. Gerade deswegen hatte er sein Bauchgefühl, was für die endgültige Entscheidung beim Kauf einer Immobilie oft maßgeblich war.

Ich glaube, seitdem ich vor fast fünf Jahren in das Immobiliengeschäft meines Schwiegervaters eingestiegen war, habe ich dieses Bauchgefühl so nach und nach ebenfalls entwickelt. Gerade in letzter Zeit sind Gustav und ich immer öfter derselben Meinung. In meinem früheren Beruf war ein anständiges Bauchgefühl ebenfalls von Nutzen. Beim New York City Police Department hat mir mein Bauchgefühl bestimmt das ein oder andere Mal das Leben gerettet. Aber auch nachdem ich New York verlassen hatte, gehörte das Bauchgefühl eines Profilers zum Unterrichtsstoff, den ich an junge Polizisten und angehende Agenten weitergegeben habe. In der Academie in Quantico habe ich sogar einmal versucht, dieses Bauchgefühl in eine Formel zu fassen. Es ist mir natürlich nicht gelungen.

Punkt drei, die Mietverträge. Das Haus am Strelasund ist noch bewohnt, was eigentlich ganz gut ist. Nichts ist schlimmer, als ein Gebäude, das Monate, vielleicht sogar Jahre leerstand. Die Mietverträge müssen aber in jedem Fall überprüft werden. Dies kann nämlich ebenfalls ein Killerkriterium für die Kaufentscheidung sein.

Punkt vier. Moment! Was mache ich da? Ich hatte mir eigentlich für den Nachmittag freigenommen. Ich war schon nicht mehr in Stralsund und ich war auch noch nicht auf dem Heimweg. Ich hatte noch einen Besuch zu machen. Mit meinem Century war ich auf dem wunderschönen Rügen unterwegs. Ja genau, als Highway-Schleicher, denn das ist man der Landschaft auf Rügen schuldig. Ich war schon über den Damm gefahren, der den großen und den kleinen Jasmunder Bodden voneinander trennt. Hinter Lietzow kündigte gleich das erste Straßenschild Sassnitz an. Es waren noch gut elf Kilometer.

Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner hatte mich in den alten Sassnitzer Fährhafen bestellt. Ich gab jetzt doch noch einmal Gas und schaffte es in zehn Minuten. In der kleinen Stadt hatte ich mich schnell zurechtgefunden. Ich sollte mich an dem U-Boot-Museum orientieren. Direkt am Quai, gegenüber der H.M.S Otus gab es ein kleines Restaurant. Ich fand gleich einen Parkplatz, stieg aus und sah mich um. Ich musste kurz an das Café Brinckshafen denken. Im letzten August war ich es gewesen, der Bruckner eingeladen hatte. Diesmal wollte er sich revanchieren. Ich atmete noch einmal die Ostseeluft ein, da hörte ich Bruckner auch schon rufen. Ich drehte mich um. Das Restaurant hatte eine erhöhte Außenterrasse und das Wetter Anfang Mai ließ es zu, dass man draußen sitzen konnte. Bruckner dirigierte mich zum Eingang des Restaurants, der sich seitlich am Gebäude befand. Innen führte eine schmale Treppe hinauf, direkt auf die Terrasse. Die Tische hatten sich bereits geleert. Es war kurz nach eins, viele der Mittagsgäste verließen das Restaurant. Bruckner saß an einen Tisch ganz rechts außen mit direktem Blick auf das von einer Mole umgebene Hafenbecken.

»Mr. Halls, interessieren Sie sich für U-Boote?«, fragte er mich sofort, gab mir zur Begrüßung die Hand und zog einen der Stühle vor.

Wir setzten uns. Ich blickte zum Quai hinunter. »Ist das eines von Hitlers Wölfen?«

»Wölfe?« Bruckner sah mich fragend an, dann hatte er aber verstanden. Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ist ein britisches Nachkriegs-U-Boot.«

»Eigentlich interessiert mich so etwas nicht«, gestand ich. »Die Vorstellung, dass man mit so einem Boot hundert oder zweihundert Meter unter der Wasseroberfläche ist, behagt mir irgendwie nicht.«

Bruckner lachte. »Keine Angst, die Otus taucht nicht mehr. Die Führung ist aber sehenswert, wenn man etwas für Technik übrighat.«

»Technik ist schon in Ordnung, aber eben keine U-Boote.«

Bruckner grinste. »Wenn Sie mal mit Ihrer Familie nach Sassnitz kommen, werden Ihre Jungs ganz bestimmt in die Otus wollen.«

»Das befürchte ich auch und darum reicht es mir, wenn ich frühestens dann in die Stahlröhre muss.«

»Lassen wir das Thema«, sagte Bruckner schließlich. »Ich habe heute Nachmittag ohnehin etwas Anderes mit Ihnen vor. Wie lange können Sie bleiben.«

Ich sah auf meine Armbanduhr und überlegte. »Ich brauche eine Stunde nach Stralsund und von dort etwa drei Stunden zurück nach Hamburg. Also bis vier Uhr hätte ich schon Zeit.«

»Ja, das passt, dann lohnt sich Ihr kleiner Ausflug doch«, sagte Bruckner euphorisch. »Aber jetzt lade ich Sie erst einmal zum Essen ein.«

Bruckner hatte bereits zwei Speisekarten auf dem Tisch liegen und schob mir eine hinüber. Ich klappte den Deckel auf und blätterte unschlüssig durch die Seiten.

Bruckner sah von seiner Karte auf. »Natürlich müssen Sie hier Fisch essen.« Er beugte sich über den Tisch und blätterte in meiner Karte. »Unbedingt empfehlen kann ich das Zanderfilet in der Kartoffelkruste oder gebratenen Aal.« Er tippte auf die Seite.

»Was nehmen Sie?«

»Natürlich den Aal«, antwortet Bruckner. »Das machen die hier ganz lecker, mit Kräuterbutter, Petersilienkartoffeln und einem anständigen Gurkensalat.«

»Dann nehm’ ich den Aal.«

Bruckner sah mich an und lächelte. Dann drehte er sich nach dem Ober um, der uns schon eine Zeitlang beobachtet hatte und jetzt schnellen Schrittes an unseren Tisch kam. Bruckner bestellte. Bei der Getränkewahl fragte er mich gar nicht mehr.

»… und dazu zwei große Störtebeker alkoholfrei, bitte.«

Der Ober nickte und ging.

»Ein Bier muss es schon zum Aal sein«, meinte Bruckner. »Das ist Ihnen doch recht, oder wollten Sie ein Cola?«

»Bier ist in Ordnung, ist ja alkoholfrei.«

Die Getränke ließen nicht lange auf sich warten. Wir prosteten uns zu und nahmen beide einen tiefen Schluck. Zwei Minuten später kam auch schon das Essen.

Bruckner grinste, als ich den Ober überrascht ansah. »Ich wusste, dass Sie den Aal nehmen würden. Ich habe bestellt, als Sie mit Ihrem schwarzen Kugelporsche gerade auf den Parkplatz gefahren sind.«

»Und wenn ich den Zander genommen hätte?«

»Dann hätte der Ober gesagt, Zander ist aus.« Bruckner sah zu dem Mann auf, der uns die Teller servierte. »Nicht wahr Hein?«

Hein nickte. »Sie können aber gerne noch den Zander haben, wenn Ihnen diese Portion nicht reicht.«

Ich sah auf den üppig gefüllten Teller und schüttelte den Kopf. »Ich liebe gebratenen Aal.«

Der Ober mit dem schönen norddeutschen Namen lächelte und zog davon. Bruckner nahm Messer und Gabel in die Hand und gab den Startschuss. »Einen Guten …«

Der Aal war wirklich ausgezeichnet. Wir aßen ein paar Minuten schweigend, bis Bruckner eine ausladende Handbewegung machte.

»Gefällt mir ganz gut hier«, sagte er. »Meine Frau ist auch auf den Geschmack gekommen. Sie hat mich in der ersten Zeit nur am Wochenende besucht. Dann hat sie einen kleinen Laden aufgetan, eine Boutique, so ein Modegeschäft, und die suchten gerade eine Verkäuferin. Ist aber nur für halbtags.«

»Ihre Frau ist Verkäuferin?«, fragte ich.

»Nein, das eigentlich nicht. Sie mag halt diese kleinen Läden, wo man die Kunden von seinem eigenen Geschmack überzeugen kann.« Bruckner machte eine Pause und trank von seinem Bier. »Auf jeden Fall hat sie da jetzt eine Beschäftigung und ist die ganze Woche über mit mir in Sassnitz. Besser konnten wir es nicht arrangieren. So eine Wochenendbeziehung ist eben nichts für ein altes Ehepaar.«

Ich nickte. »Warum haben Sie Ihre Frau nicht zum Essen mitgebracht? Ich glaube, ich hatte noch nicht das Vergnügen.«

Bruckner lächelte. »Sie ist im Laden.« Er sah auf seine Uhr. »Das ist jetzt ihre Schicht, von zehn bis vier. Außerdem interessiert sie sich nicht so sehr für Kriminalistik.«

Ich musste lächeln. Es war ganz klar, dass Bruckner mir von seiner Arbeit hier in Sassnitz berichten wollte. Schon gestern Abend am Telefon hatte er Andeutungen gemacht. Ich war immerhin sein Chefprofiler, sein großes Vorbild, wie er es gerne und besonders vor seinen Polizistenkollegen betonte. Ich nahm es gelassen, spießte noch ein Stück Aal auf meine Gabel und ließ es mir schmecken. Bruckner dagegen legte das Besteck zur Seite. Er räusperte sich.

»Das Ganze steckt ja noch in den Kinderschuhen«, begann er. »Ich habe ein winziges Budget, aber man ist schon aufmerksam geworden. Es soll eine Kooperation zwischen mehreren Bundesländern werden. Hamburg ist da nicht unbedingt führend. Ich glaube, die Schwaben haben so einige Tillman Halls am Start, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.«

»Was heißt am Start?«, fragte ich sofort, obwohl ich es mir denken konnte.

»Na ja, die Behörden kaufen sich Know-How ein«, erklärte Bruckner. »Früher waren das mehr so Wissenschaftstypen. Biologen mit Hang zu verwesten Leichen, Psychologen, die am Liebsten auch noch den Profiler in die Klapse gesteckt hätten, Sie verstehen.«

»So in etwa. Das Thema ist mir nicht ganz fremd.«

»Ja, ja, genau. Jedenfalls dieses Interdisziplinäre, so wie wir beide immer zusammengearbeitet haben, das ist jetzt erst richtig im Kommen. Man will die Strippenzieher, die Profiler, ans Haus binden, das sollen wieder richtige Polizisten sein. Das kostet natürlich Ausbildung und damit fängt man jetzt so langsam an.«

»Das ist das Programm, von dem sie gesprochen haben«, unterbrach ich Bruckner.

»Ganz genau, das Programm.« Bruckner nickte und widmete sich kurz wieder seinem halbgeleerten Teller. Er zerschnitt eine Kartoffel, ohne etwas zu essen.

»Sie halten hier Seminare ab, wenn ich es richtig verstanden habe?«

»Mittlerweile schon«, sagte Bruckner. »Die erste Veranstaltung war aber mehr ein Meinungsaustausch, ein Arbeitstreffen. Wir hatten einige Wissende und viele Unbefleckte hier.«

»Unbefleckte?«

»Ja, so nenne ich das. Auf jeden Fall haben wir schnell gemerkt, dass wir etwas tun müssen. Vier Wochen später hatten wir dann den ersten Kurs auf die Beine gestellt. Ich habe das übernommen. Die anderen Kollegen haben sich um das Budget gekümmert und vor allem die Häuptlinge davon überzeugt, dass das Ganze eine gute Sache ist. Seitdem laufen die Seminare. Für den Sommer ist aber jetzt eine Pause geplant.«

»Gerade, wo es hier richtig schön wird.«

»Ich bin nur sechs Monate freigestellt, dann will mein Chef mich zurück in Hamburg haben.« Bruckner zögerte kurz. »Es ist aber auch so, dass ich mal eine Pause brauche. Beim letzten Seminar hat mich ein Kollege aus Berlin begleitet. Er wird im Herbst die zweite Staffel übernehmen. Und danach müssen die Verantwortlichen entscheiden, ob und wie es weitergeht.«

»Aber das Dozieren macht Ihnen Spaß?«, fragte ich.

Bruckner tippte sich an den Kopf. »Hier oben steckt eine Menge Erfahrung drin. Ich merke, dass ich was weitergeben kann und vor allem, dass man mir zuhört.«

»So ist mir das in Quantico auch gegangen«, stellte ich nickend fest. »Was bringen Sie den Leuten denn bei, woraus besteht Ihr Lehrstoff?«

Bruckner lächelte. »Nach dem allerersten Kurstag bin ich nachts um drei aufgewacht und habe mich an den Computer gesetzt. Der erste Kurstag war nicht schlecht, aber mir hat etwas gefehlt.«

»Und was hat Ihnen gefehlt?«

»Die Fälle, echtes Anschauungsmaterial. Wir hatten den Kurs sehr theoretisch aufgebaut. Das habe ich übrigens von Ihnen übernommen. Sie sind mir doch immer mit Ihrer Theorie gekommen, mit den Checklisten und Anleitungen, mit den Herleitungen. Ihretwegen habe ich damals doch den Sherlock Holmes gelesen.«

»War das keine gute Idee?«, fragte ich.

»Doch, doch, aber bei dem Seminar haben mir eben die echten Fälle gefehlt. Genau das habe ich morgens um drei gemerkt. Ich habe mich in sämtliche Polizeidatenbanken eingewählt, die mir eingefallen sind …«

»Und da haben Sie Ihre Fälle gefunden?«, unterbrach ich Bruckner.

»Genauso war es. Ich habe ein paar Folien gemacht. War nicht schwer, denn ich bin ja eigentlich Praktiker, und genau das wollte ich den Kursteilnehmern vermitteln.« Bruckner stutzte. »Wollen Sie meine Unterlagen mal sehen? Wollen Sie mal sehen, wie ich meinen Kurs aufgebaut habe?«

»Natürlich, aber es ist Ihr Kurs. Erwarten Sie keine Beurteilung von mir.«

»Nein, nein, das will ich gar nicht. Wir haben in unserer Gruppe darüber gesprochen, das ist längst optimiert, also zumindest so, wie wir es für richtig halten.«

Bruckner ließ sein Besteck fallen und bückte sich unter den Tisch. Dort stand seine Aktentasche, in der er zu wühlen begann. Ich beugte mich vor und sah ihm interessiert zu. Er prüfte einige Papiere, zog dann eine rote Mappe hervor und legte sie auf den Tisch. Er schaute mich an, während er die Gummibänder von der Mappe löste.

»Ich präsentiere die Sachen hier sonst mit dem Beamer und blende die Fakten der einzelnen Folien nach und nach ein.«

Er zog ein farbiges Blatt aus der Mappe und schob es mir hin. Ich beugte mich darüber. Ein Frauenkopf, kein Foto der Leiche, aber offensichtlich das Opfer eines Verbrechens. Neben dem Bild standen die Falldaten.

»Das ist immer der Einstieg«, kommentierte er. »Ich nenne sie Maria Müller. Das ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Ich arbeite nie mit den echten Identitäten, aber dennoch haben die Opfer der Schulungsfälle oft einen Namen. Das erleichtert die Erklärungen, auch für die Kursteilnehmer.«

Ich nickte. »Das ist ja gerade das Prinzip von Jane oder John Doe, das in den Staaten angewendet wird.«

»Mit dem Unterschied, dass ich natürlich weiß, wer Maria Müller wirklich war, denn es ist selbstverständlich ein echter Fall«, erklärte Bruckner weiter.

»Aber Sie haben einige Details konstruiert, damit Sie besser schulen können?«

»In der Regel mache ich das schon, damit es in der Schulung für die Teilnehmer schlüssiger ist und wir schneller zum Ziel kommen. Bei diesem Fall war das aber nicht notwendig, der gibt auch so genug her.«

»Und das wäre?«

Bruckner überlegte kurz, wie er beginnen sollte. »Sie war neununddreißig, geschieden, aber dem männlichen Geschlecht nicht abgeneigt. Natürlich nicht im Sinne von Prostitution, ganz und gar nicht. Sie hatte einige Liebhaber hintereinander, in relativ kurzer Zeit. Sie war ja ungebunden und konnte machen, was sie wollte.« Bruckner zog die zweite Folie aus der roten Mappe. »Das ist der Leichenfundort.« Er tippte auf die Fotografie, aus der die gesamte Folie bestand.

Ich hatte schnell den Überblick. Es war offensichtlich ein Park, eine Bank neben einer Laterne. Dahinter ein Gebüsch in voller Blüte, weiter nichts. »Macht es nicht Sinn, den Fundort zu fotografieren, bevor die Leiche abtransportiert wurde?«, stellte ich spöttisch fest.

Bruckner schüttelte den Kopf. »Die Leiche ist noch da.«

Er zog eine dritte Folie hervor. Ein Zoom auf das Gebüsch hinter der Bank. Und dann sah ich es auch. Ich tippte auf die Fotografie.

»Der schwarze Sack, der hier durch die Zweige schimmert.« Ich überlegte. »Die alte Frage, wollte der Täter, dass die Leiche gefunden wird, oder wusste er es nicht besser?«

Bruckner lächelte. »Sehr schön Ihre Reaktion. Genau darauf versuche ich meine Kursteilnehmer auch zu bringen. Ich habe hier noch fünf, sechs weitere Bilder, aber sie können sich wohl schon denken, wie es um den Fall steht, wobei Sie natürlich auch den Vorteil haben, dass ich Ihnen schon Einzelheiten über das Opfer genannt habe. Die Informationen gebe ich immer erst, wenn der Leichenfundort ausgiebig diskutiert wurde.«

»Sie diskutieren in Ihren Kursen?«

»Die Teilnehmer diskutieren, ich nicht«, antwortete Bruckner. »Das sind alles Polizisten, die ich da in meinen Kursen habe. Die nehmen den Fall sofort an. Das ist der große Vorteil. Einige ahnen dann schon, wie es zusammenpasst …«

»Aber genau das sollte man nicht tun«, unterbrach ich Bruckner. »Nie die Objektivität verlieren, ansonsten übersieht man etwas. Es wird immer Fälle geben, die nicht aus dem Repertoire der Fälle stammen, die, wie soll ich es formulieren, üblich sind.«

Bruckner nickte zustimmend. »Genau, und von den Fällen, an die man mit seiner hochgelobten Routine herangegangen ist, landen zehn Prozent als Cold Cases in den Kellern des Polizeipräsidiums.«

»Und das hier war auch so ein Fall?« Ich nickte in Richtung der Fotos vor mir auf dem Tisch.

Bruckner schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Nach zweiundsiebzig Stunden hatte man den mutmaßlichen Täter, nach einer Woche sein Geständnis.«

»Und so etwas bringen Sie in Ihren Kursen?«, fragte ich skeptisch.

»Ich sagte nicht, dass man den Täter eine Woche lang verhört hat. Das Verhör hat nur sechsundzwanzig Minuten gedauert, die Zeit, die die Profiler brauchten, um den Täter mit den Fakten zu konfrontieren.«

»Und diese Fakten lassen Sie Ihre Kursteilnehmer erarbeiten?«

»Ganz richtig. Ich werfe nur ein paar Informationen hinein und dann geht das Spiel los«, erklärte Bruckner weiter. »Ich habe es erst in der ganzen Gruppe probiert, dann habe ich Zweierteams gebildet, die hinterher vorgetragen haben. Das ist viel besser. Jede Gruppe kommt natürlich irgendwie zur Lösung. Ich achte dabei nur auf das Wie.«

Ich nickte. »Lassen Sie es mich auch einmal probieren«, forderte ich Bruckner auf.

»Das ist natürlich zu leicht für Sie.« Er lächelte. »Also, stellen Sie sich eine Liste vor, mit männlichen und weiblichen Bekannten und Freunden des Opfers. Wen verhören Sie zu erst?«

»Ich verhöre nicht, ich befrage, und zwar die Frauen.«

»Warum?«, fragte Bruckner, obwohl er meine Antwort schon kannte.

»Weil der Täter auf der Liste fehlt und nur die weiblichen Bekannten des Opfers kennen den Beziehungstäter, der selten zu dem normalen Freundeskreis gehört.«

»Warum muss es ein männlicher Täter sein?« Bruckner lächelte wieder.

»Wenn nicht, wird aus der Befragung der Frauen schnell ein Verhör. Und wenn das auch nichts bringt, dann war es keine Beziehungstat. Dann würde ich mir die Spuren näher ansehen, Ihre Säcke da und vor allem was drin ist, wie die Leichenteile aussehen und das ganze Drumherum.«

»Sie haben recht, die Säcke waren mit den Leichenteilen des Opfers gefüllt«, bestätigte Bruckner. »Der Gerichtsmediziner hatte nur ein Wort dafür: Panik.«

»Dann war es eine Beziehungstat«, folgerte ich.

»Nicht so schnell«, wollte mich Bruckner bremsen. »Wie begründen Sie das?«

»Wenn ich keine Beziehung zum Opfer hätte, dann würde ich mich nicht so lange mit ihm beschäftigen, da reicht ein Gebüsch, ein Feldweg oder vielleicht ein Gewässer und das wäre schon zu viel.« Ich überlegte. »Alkohol?«

»Die Obduktion hat zwar etwas gefunden, aber nicht viel.«

»Dann war es viel«, sagte ich. »Was glauben Sie, wo das Blut bleibt, wenn der Metzger sich an dem Opfer zu schaffen macht.«

»Stimmt!«, bestätigte Bruckner. »Das war auch die Einschätzung des Gerichtsmediziners.«

»Das ist aber Fachwissen und hat nichts mit der Arbeit des Profilers zu tun.«

»Darum verlässt sich ein guter Profiler auch auf die Hilfsdisziplinen, wenn er nicht gerade wie Sie schon alles gesehen hat.«

Ich überlegte noch einmal und gab dann die Analyse preis, die Bruckner von mir erwartete. »Sie wurde erdrosselt, so mordet meistens der Laie. Erschlagen schließe ich aus, weil dann bei der Tat schon das Blut spritzt und den Täter veranlasst zu flüchten und die Leiche liegen zu lassen.«

Bruckner nickte. »Erdrosselt, richtig.«

Ich fuhr mit meiner Analyse fort. »Opfer und Täter wurden in einer Kneipe gesehen, oder auf einer Feier. Es gab Zeugen, die gar nicht wussten, dass sie Zeugen waren.«

»Es waren sogar mehrere Kneipenbesuche, über die Opfer und Täter in Beziehung standen. Im Freundeskreis gab es nur eine Person, die es wusste. Und Sie haben recht, es war eine Frau und Sie hätten sie bei Ihrer Befragung tatsächlich auf der Liste gehabt.«

»Jetzt wird es mir zu langweilig«, sagte ich und verzog das Gesicht. »Und das finden Ihre Leute spannend?«

»Darum geht es nicht, es geht um den Weg. Der Weg ist wie immer das Ziel.« Bruckner suchte erneut in seiner roten Mappe und zog einen weiteren Fall hervor. »Das hier ist vielleicht besser.«

Er schob mir zwei Fotos über den Tisch, die ich einige Sekunden betrachtete. »Hier an der Klippe hat ein Kampf stattgefunden«, analysierte ich. »Zwei Personen.« Ich sah mir das zweite Foto an. »Und der hier hat den Kürzeren gezogen. Ist das unterhalb der Klippe?«

Bruckner nickte, hielt sich aber zurück, erwiderte weiter nichts.

»Ist das aus einem schlechten Film?«, fragte ich.

»Wieso?«

»Komm wir gehen an den Rand der Klippe und hauen uns, wenn einer runterfällt, hat der andere gewonnen.« Ich nahm mir noch einmal das Foto mit der Leiche. »Wenn ich der Mörder gewesen wäre, hätte ich ihm die Schuhe ausgezogen und behalten. Dann hätte ich nämlich zwei identische Paare.« Ich deutete auf das andere Foto und dort auf die Schuhabdrücke im dunklen Sand direkt an der Klippenkante. »Größe achtundvierzig, schätze ich. Die bekommt man nicht so leicht. Ich hätte es mir mit dem zweiten Paar Schuhe wirklich überlegt.«

Bruckner atmete tief aus. »Das ging aber schnell, zu schnell für meinen Kurs. Sie sind ja eine Spaßbremse.«

»Moment, ich bin noch nicht fertig.« Ich hatte wieder das Foto von der Leiche in die Hand genommen. »Sind das Messerwunden?«

»Ah, Sie sind sich nicht mehr sicher«, wollte Bruckner schon jubeln.

»Ich bin mir absolut sicher«, erwiderte ich. »Die Klippe war hoch, die Messerwunden nicht tödlich. Es hätte gereicht, wenn er gesprungen wäre. Er wollte noch jemanden mit hineinreißen, stimmt’s?«

»Das ist jetzt aber geraten«, sagte Bruckner fast beleidigt. »Das Messer wurde bei jemandem gefunden, mit dem das Opfer oder besser gesagt, der Selbstmörder, Ärger hatte. Der Grund des Suizids waren sehr hohe Schulden. Mehr steckte nicht dahinter, aber in meinem Kurs ist der Fall sehr beliebt, allerdings wohl nur so lange Sie nicht mitmischen.«

Ich nickte zu der roten Mappe. »Einen haben Sie doch noch?«

»Hier drin?«, fragte Bruckner, als wenn er mich nicht verstanden hätte. Er zögerte kurz. »Diesen Fall wollte ich meinem Kurs eigentlich heute Nachmittag präsentieren. Sie haben doch gesagt, dass Sie bis vier Zeit haben?«

»Aber allerhöchstens.« Ich zögerte. »Was haben Sie denn mit mir vor?«

»Eine kleine Expedition«, sagte Bruckner grinsend. »Eigentlich spielt sich mein Lehrgang fast ausschließlich im Seminarraum ab, aber mit diesem Fall hier«, er hielt die rote Mappe hoch, »gehen wir ins Feld oder besser gesagt ans Meer.«

»Bei diesem Wetter«, sagte ich lachend und schaute hoch zum Blau des Himmels, »kann ich bestimmt noch etwas Zeit erübrigen.«

*

Wir wechselten noch einmal das Thema, aßen in Ruhe zu Ende und nahmen uns auch noch die Zeit für einen abschließenden Kaffee. Dann fuhren wir in meinem Century. Es war ein Katzensprung von zehn Minuten. Der neue Fährhafen lag etwas außerhalb und hatte nichts von der Beschaulichkeit, des maritimen Sassnitz. Nüchterne Zweckbauten rund um die Fähranleger, mehrspurige Autorampen, ein Parkhaus, Verwaltungsgebäude und sogar Eisenbahnschienen. Bruckner erklärte mir, dass der Eisenbahnverkehr nach Schweden im Juni dieses Jahres eingestellt werden soll. Er dirigierte mich näher ans Hafenbecken. Es gab sogar eine Station der Wasserschutzpolizei, die sich einen hässlichen Stahlbetonklotz mit dem Zoll teilte. Ich durfte direkt vor dem Gebäude auf einem Parkplatz für Einsatzfahrzeuge halten.

Bruckner zückte eine Plakette aus seiner Jackentasche und schob sie zwischen Armaturenbrett und Windschutzscheibe meines Centurys.

»So, damit die Kollegen nicht auf dumme Gedanken kommen.«

Wir stiegen aus. Ich folgte Bruckner um das Gebäude herum. Wir steuerten auf eine Gruppe von zwei Frauen und einem Mann zu, die wie brave Schüler ihre Zigaretten auf dem Boden austraten, als wir uns näherten. Bruckner wurde gleich von dem Mann begrüßt, ein sportlich schlanker Typ, Ende dreißig, mit gegelten, zurückgekämmten Haaren.

»Na Kurt, bringst du uns Ersatz für Manuel?«

Bruckner stutzte. »Wieso, was ist denn mit ihm?«

»Dem ist die Scholle nicht bekommen.«

Eine der beiden Frauen schüttelte den Kopf. »Klaus erzählt Mist. Manuel war heute Morgen schon nicht richtig fit. Er hat sich ins Hotel aufs Zimmer gelegt und lässt sich entschuldigen.«

»Danke Gisela, hätte er mir aber auch selbst sagen können, na egal.« Bruckner überlegte. »Den Ersatzmann habe ich allerdings nicht mitgebracht.« Er wandte sich kurz an mich. »Das ist Mr. Tillman Halls, ein amerikanischer Kollege, oder besser gesagt, ein Ex-Kollege, ein Ex-Cop.«

Schlechter konnte Bruckner mich nicht vorstellen, dachte ich sofort. Er war aber noch nicht fertig.

»Mr. Halls hat mich bei einigen interessanten Fällen der letzten Jahre unterstützt und er ist in gewisser Weise dafür verantwortlich, dass es unseren Profilerkurs überhaupt gibt.«

Das war mir neu. Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt übertreiben Sie bitte nicht, Herr Oberkommissar.« Ich lachte und die zweite Dame in der Runde, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat vor und reichte mir die Hand.

»Hallo, ich bin die Ute. Wir duzen uns hier alle, ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dich Tillman nenne.«

»Freut mich Ute«, antwortete ich mit einem Nicken. Dann gaben auch Gisela und Klaus mir die Hand.

Bruckner räusperte sich. »Na, dann haben wir das ja geklärt.« Er wandte sich wieder an mich. »Der Kurs hat ja eigentlich fünf Teilnehmer. Außer Manuel haben wir einen weiteren Abgang. Ein Kommissar aus Berlin hat den halben Kurs bereits vor einem Monat absolviert und sich entschieden, den Teil, den er schon kennt, auszulassen.«

»Kurt spricht von Mr. Wichtig«, kommentierte Ute und sah mich lächelnd an.

Gisela nickte. »Wir haben hier eine Regel: keine Handys. Aber der Typ war immer auf Sendung, hat irgendwie genervt.«

»Ich mache es gleich aus«, sagte ich lachend. »Bin jetzt sowieso privat hier.«

»Nein, nein nicht nötig«, sagte Bruckner. »Das gilt nur für die Kursteilnehmer.«

»Schon geschehen«, sagte ich und steckte mein Smartphone wieder in die Jackentasche. Ich sah mich um. »Und jetzt möchte ich die Show sehen, bin ganz gespannt.«

»Stimmt!«, sagte Bruckner und sah auf seine Armbanduhr. »Wir müssen tatsächlich ein wenig auf die Zeit achten, sonst ist unser Tatort wieder auf See.«

Bruckner deutete zum Fähranleger. Alle drehten sich zu dem Schiff um, das dort direkt vor den Autorampen angedockt lag. Die MS Dargast erschien mir nicht sehr groß.

»Wir sind angemeldet und müssen uns wirklich beeilen.« Bruckner und Klaus schritten voran.

Ute ging neben mir. »Bist du wirklich ein Ami? Ich meine, dein Akzent verrät dich nicht gerade?«

Ich nickte. »New York, aber wir haben zu Hause viel Deutsch gesprochen. Meine Großeltern. Darum habe ich wohl auch gleich noch eine Deutsche geheiratet. Jetzt leben wir in Hamburg.«

»Ach!«, sagte Ute. »Ich komme aus Bremen.«

»New York!« Gisela ging jetzt auch neben mir. »Dann stimmt das mit dem Cop.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte ich. »NYPD, aber das ist wirklich nichts Besonderes. Ich bin schon ein paar Jahre in anderen Geschäften unterwegs. Darum lebe ich auch in Hamburg.«

»Was sind das für Geschäfte?«, fragte Ute.

»Immobilien, ich bin Makler. Häuser, Wohnungen, Grundstücke, Vermietungen, das ganze Repertoire.«

»Immobilien! Wie passt das denn zum NYPD?«

»Gar nicht! Meinem Schwiegervater gehört das Geschäft. Ich habe eingeheiratet. Sagt man das hier so?«

Ute nickte. »Klingt lustig, eingeheiratet, ein gezähmter Bulle.«

»Hey, ich suche wirklich eine neue Wohnung«, rief Gisela. »Da könnte ich ein paar Tipps gebrauchen.« Sie lachte. »Das sind ja manchmal Schweinehunde, diese Makler.« Sie räusperte sich. »Anwesende natürlich ausgenommen.«

Ute ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Und dann konntest du deine Polizeimarke einfach so an den Nagel hängen?«

Ich schüttelte den Kopf. »So einfach war das tatsächlich nicht. Wären wir in New York geblieben, dann hätte ich es nicht gekonnt. Das mit Hamburg war schon entscheidend. Ich habe nur einen Fehler gemacht.«

»Und welchen?« Ute sah mich von der Seite an.

»Als wir damals nach Hamburg gezogen sind, konnte ich es nicht lassen und habe ein Internetformular des BKA ausgefüllt und meine Profilerkenntnisse großzügig angepriesen. Ja und da hat mich der Herr Kriminaloberkommissar ausgegraben.«

»Und da hat er dich bequatscht?«, sagt Ute spöttisch. »Und du hast natürlich einen riesen Vorsprung mit diesem ganzen Profilerkram, wenn du aus den Staaten kommst.«

»Ja, das hat Bruckner auch gehofft«, sagte ich lachend. Ich dachte an Quantico, hatte jetzt aber nicht das Bedürfnis, den beiden Damen auch noch davon zu erzählen. Bruckner würde es bestimmt irgendwann für mich übernehmen. Ich spürte, dass Ute mich gerne noch weiter befragt hätte, wir mussten aber etwas schneller gehen, um Bruckner und den Kollegen Klaus wieder einzuholen. Bruckner stand jetzt neben einem Mann in Schiffsuniform, der etwas in sein Walkie-Talkie sprach. Klaus winkte uns heran.

»Wir müssen wirklich Gas geben«, erklärte er. »Die machen diesmal vor der Abfahrt noch eine Übung mit den Passagieren und dann müssen wir wieder von Bord sein.«

Bruckner gab Zeichen und wir wurden mittschiffs über eine Fußgängerrampe hinauf aufs Deck geleitet. Dann ließ man uns ohne Führer gehen, weil Bruckner den Weg natürlich kannte. Ein schmaler Korridor erstreckte sich über die gesamte Schiffslänge Richtung Bug. Wir gingen jetzt hintereinander, Bruckner voraus. Ich machte den Schluss. Alle paar Meter wurde die geschlossene Schiffswand durch eine Öffnung unterbrochen und gab den Blick auf das Hafenbecken frei. An einigen Stellen roch es nach frischer Farbe. Wir erreichten das erste Schott. Eine Schiene verlief ebenerdig quer über den Korridor. Bruckner hatte die Tür bereits entriegelt und zur Seite geschoben. Er deutete mir an, dass ich den Zugang wieder verschließen solle. Das Schott ließ sich leicht bewegen und rastete mit einem sanften Klicken in die Arretierung des Türhebels ein. Wir befanden uns jetzt im Inneren der Fähre, am Rande des großen Autodecks. Es gab vier Spuren, die darauf warteten, wieder mit PKWs und LKWs gefüllt zu werden. Wir gingen weiter, kamen an zwei Aufgängen vorbei, über die die Passagiere zu den oberen Decks gelangen konnten. Fast am Ende des Parkdecks blieb Bruckner vor einer unscheinbaren Tür stehen, die in die Bordwand eingelassen war und die Aufschrift Zutritt verboten trug.

»Wir müssen noch einen Moment warten«, erklärte Bruckner, schlug seine rote Mappe auf und holte einen dünnen Stoß Papiere heraus. »Bevor ihr mit eigenen Augen seht, was sich hinter der Tür befindet, sollt ihr euch ein theoretisches Bild von der Situation machen, so als wenn ihr bereits von den Kollegen über die Gegebenheit informiert worden wäret.«

Ute meldete sich. »Aber es ist doch besser, wenn man unvoreingenommen an einen Tatort kommt.«

»Das stimmt zwar«, bestätigte Bruckner nickend, »aber wir haben hier natürlich ein Problem. Der Tatort ist längst abgeräumt. Wir werden die Situation so durchspielen müssen, als wenn der Fall neu aufgerollt wurde.«

Bruckner sah mich kurz an. Ich verzog jedoch keine Mine. Ich wusste, dass er auf unseren ersten gemeinsamen Fall anspielte. Bei einem Cold Case gab es natürlich keinen realen Tatort mehr, man musste sich auf die Sorgfalt der Kollegen verlassen, die den Fall ursprünglich bearbeitet hatten, aber letztendlich gescheitert waren. Ich war gespannt, was es diesmal sein würde. Bruckner hatte die Zettel verteilt und ließ jedem seiner Schüler etwas Zeit, die darauf abgedruckten Fotografien und den Text zu studieren. Ich schaute Gisela über die Schulter, bekam dann aber von Bruckner meine eigene Unterlage. Auf dem ersten Foto war eine schmale Metalltreppe zu sehen, die über mehrere Podeste hinunter ins Schiffsinnere führte. Zwischen Treppe und Schiffswand befand sich ein Schacht. Die zweite Fotografie war eine Aufnahme dieses Schachtes, der mit starken Scheinwerfern ausgeleuchtet war. Das Ende des Schachtes am unteren Teil der Treppe war zu den Seiten vollständig abgekapselt und musste noch ein Deck tiefer reichen, als das Ende der Metalltreppe. Der Boden des Schachtes war mit einem Pfeil und dem Wort Leichenfund gekennzeichnet.

Wir blickten alle auf, als sich Schritte näherten. Ein Besatzungsmitglied der Fähre war erschienen. Bruckner begrüßte den Mann kurz. Er schloss die Tür auf und ging ein paar Meter zur Seite. Der Matrose sollte offenbar solange warten, bis Bruckners Exkursion beendet war, um danach den Einstieg wieder zu verschließen.

Ich widmete mich noch einmal den Unterlagen. Meine Augen wanderten zwischen den beiden Fotografien hin und her, dann begann ich den Text zu lesen, wurde aber durch Giselas Frage unterbrochen.

»Sollen wir unsere Einschätzung der Situation auf der Rückseite des Blattes notieren?« Sie hatte bereits einen Kugelschreiber gezückt.

Bruckner schüttelte den Kopf. »Diesmal machen wir es anders. Wenn alle fertig sind, werden wir hineingehen und uns die Lokalität ansehen.«

Gisela klickte zweimal mit ihrem Kugelschreiber, nickte dann und nahm sich wieder den Zettel vor. Ich tat dasselbe und las den Text zu Ende. Es waren nur wenige Absätze. Bei dem Toten, der auf dem Schiff gefunden wurde, handelte es sich um einen männlichen Weißen, Mitte bis Ende vierzig. Die Kleidung wurde beschrieben: schwarze Halbschuhe, hellblaue Jeans, dunkelgraues Oberhemd, eine schwarze Übergangsjacke aus Nylon. Im Innenfutter der Jacke steckte ein nagelneuer Stockholmer Stadtplan der Marke Falk. Auf der zweiten Hälfte des Zettels gab es dann noch ein paar Fakten aus dem Obduktionsbericht, der mit der Tatsache schloss, dass keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod durch Einwirkung Dritter festgestellt werden konnten. Bruckner hatte mit Absicht diese bürokratisch sachliche Formulierung gewählt, weil sie im ersten Moment davon ablenkte, dass ein Mensch gestorben war.

Eine wichtige forensische Information bot der Obduktionsbericht dann aber doch noch. Der Tote hatte offensichtlich einen kardiologischen Befund, was allein durch die Tatsache unterstrichen wurde, dass Rückstände eines Herzglykosids in den Organen nachgewiesen werden konnten und dass das Mittel voraussichtlich nicht länger als einen Tag vor dem Tod eingenommen worden war. Auffällig war, dass das Herzglykosid den Laborwerten zufolge in einer sehr hohen Dosis eingenommen wurde.

Fast zeitgleich blickten alle auf. Bruckner nickte und öffnete die Tür. Er ließ uns vorangehen. Wir drängten uns auf dem schmalen Podest vor dem Treppenabgang. Wir wechselten mehrfach die Position, bis alle die Gelegenheit hatten, in den Schacht zu blicken, der jetzt natürlich nicht mehr ausgeleuchtet war. Das Ende des Schachtes lag dunkel in der Tiefe des Schiffsrumpfes. Ich ging auf der Metalltreppe zunächst ein Podest tiefer, konnte beim Blick in den Schacht den Boden aber immer noch nicht erkennen.

»Ihr könnt gerne ganz nach unten gehen«, sagte Bruckner über mir zum Rest der Gruppe. »Bitte immer zu zweit, es ist ja sehr eng, wie ihr seht.«

Ute war plötzlich hinter mir und wir unternahmen den Abstieg gemeinsam. Die Metalltreppe führte über sechs Podeste, die schätzungsweise durch drei ganze Decks gingen. Wir waren noch nicht ganz unten, als die Einsicht in den Schacht durch senkrecht stehende Metallbleche versperrt wurde. Der Boden des Schachtes war also nur zu erreichen, wenn man auf den letzten vier, fünf Metern direkt von oben in den Schacht einstieg. Auch am Ende der Metalltreppe kam man nicht mehr an den Schacht heran. Der Weg nach unten endete vor einer weiteren Tür. Ich probierte es, aber die Tür, wo immer sie hinführte, war verschlossen. Wir machten uns auf den Weg zurück nach oben und wurden durch Klaus und Gisela abgelöst. Bruckner blieb als Einziger oben und führte uns wieder hinaus auf das Parkdeck, nachdem auch Klaus und Gisela wieder aus der Tiefe des Schiffes zurückgekehrt waren. Der Matrose wartete noch, schloss direkt hinter uns die Tür ab und ging davon.

»So, nun habt Ihr den Leichenfundort gesehen«, begann Bruckner. »Ihr solltet jetzt ein paar Informationen zu diesem Fall erfragen, sodass wir auf ein Täter-Opfer-Profil hinarbeiten können, auch wenn sich hinterher herausstellt, dass es sich nicht um ein Tötungsdelikt gehandelt hat.« Bruckner sah in die Runde, bevor er fortfuhr. »Bezogen auf den Fundort ist noch zu bemerken, dass das Opfer laut Obduktion seit etwa einer Woche tot war.«

Gisela meldete sich und deutete auf die Unterlage, die wir alle noch in Händen hielten. »Dann ist aber der Obduktionsbericht nicht neutral.«

»Doch, weil es Fakten sind«, warf Bruckner ein. »Der Gerichtsmediziner hat keine Indizien einer Gewalteinwirkung durch Dritte feststellen können. Eine Bestätigung oder Beweise dagegen muss der Fallanalyst vorlegen. Das ist Eure Aufgabe als angehende Profiler.«

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Klaus.

»Jemand von der Besatzung«, antwortete Bruckner. »Zum Glück war das hier in Sassnitz, nachdem die Fähre sich gerade geleert hatte und die neuen Passagiere noch nicht an Bord waren. Natürlich wurde die Fähre nicht mehr aus dem Hafen gelassen. Man hat dann sofort die Polizei verständigt. Die Kollegen der Kriminalpolizei sind gekommen und ein Mordermittler aus Brandenburg, der auch gleich ein Team der Spurensicherung mitgebracht hat. Die Fähre wurde sogar für den Rest der Woche stillgelegt. Die Fachleute haben sich Zeit gelassen, die Leiche zu bergen.« Bruckner deutete auf die Tür hinter sich. »Es ist nicht so einfach einen Körper aus einem verschlossenen Schacht zu befreien, und dabei gleichzeitig mögliche Tathergangsspuren zu erhalten. Am Ende waren die Fakten allerdings ganz eindeutig. Das Opfer wurde nicht beraubt. Er hatte noch seine Brieftasche bei sich und man konnte ihn sofort identifizieren. Den Rest kennt ihr aus dem Fazit des Obduktionsberichtes, darum sollte unsere Aufmerksamkeit auch auf etwas Anderem liegen.«

Den letzten Satz hatte Bruckner wie eine Frage formuliert und er hatte die ganze Angelegenheit so dargestellt, als sei der Fall noch ganz frisch. Ich verstand, dass dies das Vorgehen bei der Schulung war. Die Teilnehmer sollten die nächsten Ermittlungsschritte vorgeben. Dann würden sie es diskutieren und Bruckner würde am Schluss darlegen, wie der Fall tatsächlich abgelaufen war. Dann benutzte Bruckner noch ein Hilfsmittel. Er zückte sein Mobile und wählte eine Diktier-App aus. Das hatte er von mir gelernt. Voicememos nenne ich das.

Ute meldete sich, Bruckner hielt ihr das Telefon hin. Sie kannte die Prozedur bereits. Sie beugte sich zu dem Gerät. »Wenn er schon eine Woche in dem Schacht lag, wird es schwierig sein, die Mitpassagiere zu ermitteln und zu befragen.«

»Warum?«, warf Klaus sofort ein und ging ebenfalls näher an Bruckners Mobile heran. »Es gibt doch bestimmt Passagierlisten.«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Bei so einer Fähre nicht. Niemand braucht beim Ticketkauf seinen Personalausweis vorzeigen. Die Reederei kennt nur in Ausnahmefällen die Namen der jeweiligen Passagiere.«

»Was ist mit dem Zoll?« Klaus blieb an dem Thema dran. »Die Leute mussten in Trelleborg doch zur Passkontrolle.«

»Hey, Klaus, weißt du nicht, dass du im Schengenerraum lebst. Da gibt es keine Grenzkontrollen mehr«, rief Ute lachend.

Klaus sah sie böse an.

»Die Idee mit dem Zoll ist gar nicht so abwegig«, beschwichtigte Bruckner. »Es gibt immer noch Kontrollen, wenn den Zollbeamten etwas merkwürdig vorkommt, aber diese Erhebung ist natürlich bei Weitem nicht vollständig.«

»Gibt es eine Videoüberwachung?«, fragte Gisela. »Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Bereich hier, wo die Fahrzeuge aufs Schiff kommen, videoüberwacht ist.« Sie sah sich um, suchte nach einem Hinweis auf Kameras.

»Das wäre ein Ansatz«, bestätigte Bruckner, »aber so gut sind die hier nicht ausgerüstet.«

»Also keine Videoaufzeichnungen, die den Tathergang zeigen oder vielleicht sogar, mit wem der Tote während der Überfahrt Kontakt hatte«, stellte Klaus nachdenklich fest und überlegte. »Bleibt also nur die Mannschaft. Wurde die Mannschaft verhört?«

Alle traten jetzt näher an Bruckner heran, damit die kommende Diskussion besser vom Mikrophon des Smartphones erfasst werden konnte.

»Stimmt, die Mannschaft ist der erste Ansatz«, bestätigte Bruckner. »Ein Matrose hat ihn gefunden, als er diesen Aufgang vom Bilgendeck zum Parkdeck genommen hat. Der Mann hat mit seiner Taschenlampe in den Schacht geleuchtet.«

»Benutzt denn sonst niemand diese Treppe?«, fragte Klaus. »Eine Woche ist doch schon eine sehr lange Zeit.«

»Es ist nicht klar, wie oft einzelne Besatzungsmitglieder den Aufgang benutzt haben, ohne etwas zu bemerken. Der besagte Matrose hat laut Aussage einen Geruch wahrgenommen, einen Verwesungsgeruch. Er hat zunächst an Ratten gedacht und daraufhin seine Taschenlampe in den Schacht gehalten.«

»Und ist wahrscheinlich vor Schreck umgefallen«, kommentierte Ute.

»Ganz im Gegenteil. Der Mann hat sich sehr professionell verhalten. Er hat nichts unternommen, sondern hat gleich seine Offiziere gerufen und die haben auch nichts unternommen, außer die Polizei zu informieren.«

»Wann wurde die Leiche eigentlich gefunden, ich meine, wann hat sich das Ganze ereignet?«, fragte Gisela.

»Richtig, diese Fakten fehlen noch«, antwortete Bruckner. »Es ist für unsere Schulung zwar nicht primär wichtig, aber vielleicht verstecken sich dahinter doch Informationen, die den Profiler interessieren sollten.« Bruckner überlegte, machte dann die Angaben aus seinem Gedächtnis. »Am 17. Dezember 2012, einem Montag, morgens um neun. Die Fähre sollte um 10:30 Uhr ablegen. Die Schutzpolizei war gegen halb zehn an Bord und hat den Tatort gesichert. Erst gegen Mittag waren der Mordermittler und die Spurensicherung in Sassnitz. Die Leiche wurde noch am selben Tag geborgen. Bei der ersten Leichenbeschau wurde auffällig, dass es nur geringe äußere Verletzungen aufgrund des Sturzes gab. Getötet wurde das Opfer durch einen beim Aufprall auf dem Schachtboden erlittenen Genickbruch.« Bruckner zögerte und sah in die Runde. »Und mit diesen Fakten seid ihr jetzt hier an Bord. Stellt euch vor, dass ihr bei der Leichenschau anwesend wart und mir auch eure Fragen an den Gerichtsmediziner stellen könnt.«

Gisela meldete sich. »Genickbruch. Könnte der auch von einem Schlag herrühren, den das Opfer vor dem Sturz erlitten hat?«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Es gab keine Verletzungen, die darauf hinweisen. Alle erlittenen Verletzungen stammen mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vom Sturz.«

»Neunzig Prozent«, wiederholte Ute. »Die restlichen zehn Prozent lassen also Raum für Spekulationen?«

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Du wirst nie eine Hundertprozentaussage von der Obduktion bekommen. Aber wir können das dennoch einmal durchspielen. Einer Person das Genick zu brechen, zum Beispiel mit einer Keule, würde eine große Kraftausübung erfordern, die wiederum eindeutig erkennbare äußere Verletzungen nach sich zieht. Die wurden aber nicht gefunden.«

Ute nickte. Gisela meldete sich erneut. »Es stellt sich die Frage, wie der Tote da hineingefallen sein kann? Erstens: Er ist gefallen, in Form eines Suizids. Zweitens: Er ist gefallen, in Form eines Unfalls. Drittens: Ein oder mehrere Personen haben nachgeholfen.«

»Genau so müsst ihr das aufbauen«, sagte Bruckner nickend. »Und in diesem Stadium noch keine Entscheidung treffen. Hütet euch vor einer Entscheidung. Gibt es eine vierte Möglichkeit?«

Gisela und Ute schienen zu überlegen. Klaus ging zur Tür, die zum Schacht führte. »Kann man da noch einmal rein?«

Bruckner sah sich um, der Matrose mit dem Schlüssel war nicht mehr zu sehen. »Ich fürchte nicht. Worum geht es dir denn?«

»Ich würde das Geländer der Treppe vermessen. Vielleicht war er nur zu schnell auf der Treppe unterwegs und ist gestolpert«, sagte Klaus.

»Das hatte Gisela schon, Punkt zwei, Unfall«, erklärte Bruckner. »Aber du hast recht, es ist natürlich wichtig, die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls anhand dieser Indizien abzuwägen.«

Ich durchschaute Bruckners Methode, die tatsächlich noch besser in einem Zweierteam funktionierte. Man hätte die Fragen und Antworten natürlich auch aufschreiben können, zum Beispiel an einem Flipchart, um später auch Querverbindungen anlegen zu können. Ganz sicher würde das beim Abspielen der Tonaufnahme noch geschehen, sobald die Gruppe wieder in ihrem Unterrichtsraum war.

Gisela hob die Hand. »Die Unfall- und die Suizidthese lassen sich vorerst am wenigsten belegen. Wir sollten also nach dem Ausschlussverfahren vorgehen und weitere Hinweise sammeln, die ein Verschulden Dritter eindeutig ausschließt, um wieder auf die Thesen Unfall und Suizid zu kommen.«

»Das klingt kompliziert, so wie Gisela es gesagt hat, aber die Herleitung ist sauber«, bestätigte Bruckner. »Was gibt es also zu überlegen?«

»Die Passagiere sind im ersten Ansatz nicht zu greifen, wie wir gehört haben«, begann Klaus. »Die Mannschaft also. Was hat die Mannschaft gesehen. Welches Ergebnis haben die Befragungen ergeben?«

»Der Bericht enthält insgesamt siebenunddreißig Zeugenbefragungen.« Bruckner erzählte diese Details nicht das erste Mal. »Es gab tatsächlich neun Besatzungsmitglieder, die sich anhand der Fotografie des Toten, an den Mann erinnerten.«

»Moment«, unterbrach Ute. »Es wurde aber doch ein Lebendbild von dem Opfer verwendet, ansonsten wäre die Wiedererkennungsquote sicherlich niedriger.«

»Da wurde sauber gearbeitet«, bestätigte Bruckner. »Neun Zeugen konnten sich an den Mann erinnern, dass er als Passagier auf der Fähre war. Schwieriger war es allerdings mit dem Datum und der Häufigkeit. Einige Zeugen meinten, dass der Tote öfter auf der Fähre gewesen sei und nicht nur bei einer Überfahrt.«

Klaus hob die Hand. »Wer war er? Anonyme Mitpassagiere müssen wir zwar ausschließen, aber vielleicht ist er nicht allein gereist. Was haben die neun Zeugen aus der Mannschaft gesagt, haben sie den Toten eventuell in Begleitung gesehen?«

»Gutes Argument.« Bruckner hatte Klaus Worte aufgezeichnet. »Weiter.«

Ute sah sich um. »Das hier ist eine Autofähre«, stellte sie fest. »Wurde sein Auto auf der Fähre gefunden?«

»Sehr gut!« Bruckner nickte. »Info für euch, kein Auto. Wenn eines auf der Fähre gefunden worden wäre, hätte man vermutlich nach dem Fahrer gesucht. Welche Thesen zum fehlenden Auto?«

»Beziehungstat«, sagte Gisela. »Opfer und Täter gehen gemeinsam aufs Schiff, nur der Täter fährt allein wieder runter.«

»Warum Täter, warum keine Täterin?«, warf Klaus ein.

Ute nickte zustimmend. »Beziehungstaten schließen alles ein, Liebesbeziehung, Freundschaft und sogar geschäftlich. Wichtig, Täter und Opfer waren sich nicht unbekannt und davon wusste voraussichtlich auch die persönliche Umgebung des Opfers. Im Umfeld des Opfers muss daher geklärt werden, mit welcher der genannten Beziehungspersonen eine Reise auf der Fähre möglich war oder angekündigt oder sogar nachweislich vollzogen wurde.«

»Toll, jetzt kommt ja einiges zusammen«, sagte Bruckner euphorisch. »Bei diesem Fall können wir natürlich nicht mit den echten Beziehungspersonen oder dem persönlichen Umfeld des Toten arbeiten, aber ich habe für unsere Nachbesprechung einiges vorbereitet, das aus Datenschutzgründen natürlich fiktiv ist. Was noch?«

Klaus machte weiter. »Aus welcher Richtung kam er? Ist er auf dem Weg nach Trelleborg gestorben oder befand er sich auf dem Rückweg? Hat sich in Schweden etwas ereignet, das einen Suizid nach sich gezogen hat? Gibt es in Schweden Beziehungspersonen, die darüber Auskunft geben können?«

»Sehr gut. Diese Schlüsselfragen halten wir ebenfalls fest«, sagte Bruckner.

»Wir haben noch keine Antwort«, sagte Ute zu Bruckner.

»Entschuldigung, was war noch mal die Frage?«

»Das Auto des Toten war nicht auf der Fähre. Wie ist er nach Trelleborg gekommen oder nach Sassnitz oder stammte er sogar von hier?«

»Gut, verstehe. Ich habe euch noch nichts von seinen Papieren erzählt«, sagte Bruckner. »Seine Papiere waren alle noch vollständig da. Er hatte einen Führerschein und Wagenpapiere. Sein Wagen wurde später im Parkhaus nebenan gefunden. Nehmt das als Fakt um die Fragen zu stützen, die ihr schon gestellt habt.«

Ute überlegte. »Der Wagen wurde also gefunden. Hat sich die Spurensicherung den Wagen vorgenommen?«

»Das ist ein Aspekt, den ihr sicherlich aufnehmen solltet«, sagte Bruckner. »Auto, Parkhaus, Fähre mir fehlt noch etwas.«

»Das machen doch viele Touris so«, rief Klaus. »Die kommen mit dem Auto nach Rügen und steigen um in den Reisebus. Schwedenrundtour.«

»Oder einen Tag in Trelleborg.« Gisela reckte sich zu dem Gerät in Bruckners Hand. »Da wird die Beziehung zu den Mitreisenden nicht so stark gewesen sein, wenn man eben nur einen Tag zusammen ist.«

»Sehr gut, das Stichwort Städtetrip ist meiner Ansicht nach wichtig«, erklärte Bruckner.

»Ach, ich weiß.« Klaus fasste sich an die Stirn. »Wir quatschen die ganze Zeit hier und keiner erinnert sich mehr an den Stadtplan, der bei dem Toten gefunden wurde.«

»Stockholm, der Mann war auf einer Busreise nach Stockholm«, folgerte Ute. »Das grenzt die Busreisen ein, es lassen sich leichter Beziehungspersonen, zum Beispiel unter Busmitreisenden ermitteln. Wegen der Versicherung wird das Reisebusunternehmen Passagierlisten haben.«

»Ist aufgenommen!« Bruckner wedelte mit seinem Smartphone.

Ich bekam den Eindruck, dass sich in kurzer Zeit schon einiges angesammelt hatte. Ich sah auf die Uhr. So kurz war die Zeit gar nicht. Wir waren schon beinahe eine dreiviertel Stunde an Bord der Fähre. Bruckner war es jetzt auch bewusst. Er kündigte eine letzte Runde an.

»Ich möchte zum Abschluss von jedem eine Einschätzung zum Leichenfundort haben«, erklärte er. »Was sind eure Emotionen?«

»Ungewöhnlicher Ort zum Sterben.« Klaus räusperte sich.

»Es war Glück, dass er gefunden wurde. Eine Leiche an Bord schippert jahrelang über die Ostsee.« Gisela zitterte bei ihrer Einschätzung.

»Menschliches Versagen. Warum konnte der Passagier da überhaupt rein.« Ute schüttelte den Kopf. »Ich wette, seit der Sache sind die dreimal so gründlich.«

Gisela nickte. »Haben wir ja gesehen.«

Bruckner sah schließlich auch mich an. Ich zögerte kurz, aber mir fiel eben nur ein Wort ein. »Mord!«

Klaus wollte etwas erwidern, doch Bruckner drückte demonstrativ auf den Off-Knopf seiner Diktier-App. »Kein Kommentar, ihr kennt die Regeln.«

Wir verließen das Parkdeck, nahmen denselben Weg zurück über den Deckskorridor an Backbord und gingen über die Rampe vom Schiff. Wir steuerten auf einen VW-Bus zu. Ich brauchte Bruckner nicht zurück nach Sassnitz zu bringen, er würde bei seinen Kursteilnehmern mitfahren. Bruckner und ich blieben ein paar Meter hinter den anderen.

»Das wird gleich noch einmal interessant, wenn wir wieder im Seminarraum sind. Willst du noch mitkommen«, fragte er mich und schien das Du extra zu betonen.

Ich lächelte. »Das könnte es, aber ich muss nicht jedem Cold Case hinterherrennen, auch wenn alles zur Hälfte konstruiert ist. Ich werde mir den Unterricht ein anderes Mal ansehen. Vielleicht findet der Kurs ja irgendwann einmal in Hamburg statt, dann hätte ich bestimmt auch weniger Zeitdruck.«

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Schade. Es ist aber schon ein echter Fall, nur weil die Lösung so unspektakulär ist, übergehe ich das Lösungsstadium und konzentriere mich darauf, alle möglichen Profilerwege mit den Kursteilnehmern durchzugehen.«

»Jedenfalls war das heute doch recht interessant für mich, lieber Kurt«, sagte ich, klopfte Bruckner auf die Schulter, wandte mich dann von ihm ab und gab den Damen die Hand.

Ute hielt mich eine Sekunde länger fest. »Ich würde gerne mal richtige amerikanische Fälle kennenlernen, aber nicht solche aus dem TV.«

»Kurt kennt einige meiner alten Fälle«, antwortete ich lächelnd. »Ihr müsst ihn mal danach fragen.«

Ich wandte mich weiter an Klaus, der grinste. »Wir wissen mehr über dich, als du denkst.«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Niemand kennt Agent Tillman Halls so richtig, nicht einmal ich.«

Ich ließ es so stehen und ging zu meinem Wagen. Es lagen noch mindestens vier Stunden Autofahrt vor mir.

Leiche an Bord

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